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Zur Klärung der Imperialismusfrage – Eine Selbstkritik

Seit Wochen sind die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine geprägt. Wir gehen davon aus, dass die russische Militäroperation tatsächlich einen Umbruch markiert: 

Mit dem Einmarsch und den darauffolgenden Reaktionen der anderen Staaten zeichnet sich eine Veränderung auf der Ebene der Konfrontation im internationalen Gefüge ab. Nicht nur die NATO-Staaten und Russland sind damit gemeint. Es ist zu erwarten, dass sich nachhaltige Verschiebungen in den gesamten internationalen Beziehungen ergeben werden.

Gleichzeitig spiegeln sich die Veränderungen in der deutschen Politik wider. Geradezu beflügelt und enthemmt geben sich insbesondere die transatlantischen Kräfte der deutschen Bourgeoisie. Dient ihnen der russische Einmarsch doch als ultimative Legitimierung ihrer scheinbar alternativlosen Aufrüstungs- und Verarmungspolitik.

Eigentlich wäre nun die Diskussion über die Perspektiven dieser Veränderungen zu führen. Es ginge darum, politische Antworten auf die sich aufdrängenden Fragen zu finden. Doch ganz im Gegenteil zeigten sich in der Debatte unserer Organisation schon auf der Ebene der Analyse, also der Einordnung und Bewertung der eingetretenen Ereignisse, grundsätzliche Kontroversen.

Zwar sind wir uns einig darin, dass wir gegen die Aufrüstung, die Waffenlieferungen und gegen die Unterstützung der ukrainischen Regierung sind. Außerdem sind wir uns einig in der Ablehnung der anti-russischen Hetze, insbesondere des aktuell aufkeimenden Chauvinismus und Rassismus. Uneinig sind wir uns aber vor allem darin, wie die Militäroperation bzw. der Einmarsch Russlands zu bewerten ist und welchen Anteil jeweils die NATO und Russland an der Eskalation haben. 

Unerwartet hält uns die Entwicklung der vergangenen Wochen also den Spiegel vor, indem sie deutlich die Unklarheit in der Organisation ans Tageslicht bringt. Wir müssen konstatieren, dass wir vor dem Problem von mangelndem Wissen stehen, aber besonders auch vor dem Problem eines mangelhaften theoretischen Fundaments in der Imperialismusanalyse.

Während sich diese Situation zunächst in einer Lähmung unserer zentralen Leitung ausdrückte, konnten wir eindrücklich beobachten, dass es die verschiedenen Positionen in der kommunistischen Bewegung insgesamt waren, die in unserer Diskussion kontrovers auf einander prallten. 

Die Schlussfolgerung, die die Redaktion aus dieser Situation zieht, ist die Formulierung einer Selbstkritik, was mit diesem Text erfolgen soll. Wir denken, dass es dringend erforderlich ist, den Hintergrund dieser Mängel nachzuvollziehen. Außerdem sind wir der Meinung, dass es einen organisierten Diskussionsprozess braucht, um uns einen produktiven Umgang mit unseren Problemen zu ermöglichen.

Worin besteht die Kontroverse?

Um deutlich zu machen, worin die Kontroverse besteht, soll sie im Folgenden grob skizziert werden. Dabei können natürlich nicht alle Positionen wiedergegeben werden, die im Zuge unserer Diskussionen formuliert wurden. Auch sollen dadurch nicht zwei tatsächlich so existierende „Lager“ mit einheitlicher Meinung bestimmt werden. Stattdessen sollen die Grundlinien der sich wiedersprechenden Argumentationen und die damit verknüpften Einwände gegen andere Positionen nachgezeichnet werden.

Vor allem bei der Beurteilung der spezifischen Rolle Russlands im Ukraine-Konflikt, zeigen sich gegensätzliche Positionen. Explizit der Einmarsch am 24. Februar wird unterschiedlich bewertet: 

Auf der einen Seite wird der Einmarsch als eine Maßnahme der Verteidigung gegen die NATO-Aggression verstanden. Russland reagiere damit letztlich auf eine gefährliche Position, in die es gedrängt wurde. Zur Option stand für Russland entweder die Aufgabe elementarer Sicherheitsinteressen auf der einen Seite oder aber die wirtschaftlichen und politischen Kosten der nun erfolgten Militäroperation auf der anderen Seite. Der Charakter des Einmarsches sei daher im Kern ein Akt der Verteidigung, der durch die NATO strategisch und bewusst herbeigeführt wurde.

Hierbei wird die hegemoniale Stellung der USA und der maßgeblich durch sie gesteuerten NATO betont. Aus dieser Position ergebe sich eine aggressive Strategie, die aktuell insbesondere gegen Russland und China gerichtet sei. Die USA müsse als Aggressor bestimmt werden, eine Gleichstellung der Akteure wird explizit abgelehnt. Die Handlungsfähigkeit und Orientierung der internationalen Arbeiterbewegung müsse die Unterschiedlichkeit der kapitalistischen Länder und ihrer sich daraus ergebenen weltpolitischen Rolle genau berücksichtigen.

Auf der anderen Seite wird betont, dass auch Russlands Handeln imperialistischen Charakter trägt und erklärt, dass es nicht im Interesse der Arbeiterklasse Russlands oder der Ukraine sein könne. Zwar erfolge der Einmarsch Russlands im Kontext des Ukraine-Konfliktes und in seiner Widersprüchlichkeit habe der Einsatz natürlich auch eine defensive Seite, vor allem stelle er aber den Versuch dar, die geopolitischen Interessen der russischen Bourgeoisie zu sichern. Der Einmarsch sei insofern nicht durch die NATO erzwungen worden, sondern sei ein Ausdruck der imperialistischen Konkurrenz, in dessen Rahmen Russland ebenso wie die NATO-Staaten den Versuch unternehme, seinen Einflussbereich beizubehalten und auszudehnen. 

Zentral für diese Argumentation ist die Betonung, dass die genannten Akteure allesamt imperialistischen Charakter tragen und die Unterscheidung in Aggression und Verteidigung nicht ausreichend ist, um das Wesen innerimperialistischer Konflikte zu beschreiben.

Damit entspringt die Differenz sowohl einer unterschiedlichen Einschätzung der konkreten Weltlage und seiner einzelnen Akteure, als auch der zugrunde liegenden theoretischen Konzeption des heutigen imperialistischen Weltsystems.

Über die Relevanz dieser Differenzen sollten wir uns keine Illusionen machen. Wir können sie nicht einfach auflösen oder durch einen Minimalkonsens ersetzen. Spätestens in der politischen Auseinandersetzung auf der Straße wird eine Positionierung zur Rolle Russlands eingefordert. Wir alle sehen, dass die Stimmung von der bürgerlichen Propaganda dominiert ist und dass diese eine regelrechte Russland-Hetze betreibt. Viele lehnen diese Hetze explizit ab und doch existiert eine allgemeine Tendenz dazu, Russland für den Krieg verantwortlich zu machen und den Einmarsch zu verurteilen. Der Druck, sich ebenso zu distanzieren, ist groß, denn es geht soweit, dass schon der Anspruch, über die Hintergründe des Krieges sprechen zu wollen, als „pro-russisch“ verleumdet wird.

Vor diesem Hintergrund drängen sich eine Reihe trügerischer Kompromisse geradezu auf. So dient beispielsweise der Bezug auf das Völkerrecht dazu, das Handeln Russlands ganz unabhängig vom Handeln der NATO zu beurteilen. Ein anderes Beispiel ist die Positionierung ganz allgemein „gegen jeden Krieg“ einzustehen. Beide Positionen dienen dazu, einen Kompromiss zu formulieren, indem man auf der einen Seite die Rolle der NATO in der Vorgeschichte des Konfliktes kritisieren kann, während man Russlands Handlung ganz unabhängig davon ebenso verurteilen kann. Anstatt der Betonung und Bewertung der Zusammenhänge, werden sie auf diese Weise ausgeblendet.

Würden wir also auf die Straße gehen, auf Basis eines solchen Minimalkonsenses, der in einer Kritik an der NATO besteht, ohne aber zu einer echten Klarheit in den zugrunde liegenden Fragen gekommen zu sein, würden wir entweder wenig überzeugend wirken oder aber der Druck würde dazu führen, dass die meisten Genossen auf die eine oder andere Weise eben doch die Position einnehmen, Russland zu verurteilen, ohne dass dies aus einer klar begründeten Sicht heraus erfolgt.

Unabhängig davon, welche Position wir als Organisation beziehen werden, sollte klar sein, dass wir diese Position anhand einer Diskussion und Klärung entwickeln müssen.

Das Verhältnis zur internationalen Debatte

Natürlich kommt die Kontroverse um das Verständnis des imperialistischen Weltsystems nicht zufällig über uns. Im Rahmen des Klärungsprozesses haben wir die unterschiedlichen Sichtweisen in dieser Frage bereits als Dissens in der kommunistischen Bewegung identifiziert. In der Einleitung der Dissensbeschreibung hat die AG Politische Ökonomie dessen Bedeutung wie folgt begründet:

Die Analyse der internationalen Kräfteverhältnisse spielt eine wichtige Rolle in der Strategie der kommunistischen Bewegung, da sie untrennbar mit der Bündnisfrage und Friedensfrage verbunden ist. Wie sind die verschiedenen Konfliktparteien in militärischen Auseinandersetzungen zu bewerten? Was muss dafür beachtet werden, was kann dafür ausgeblendet werden? Gibt es fortschrittliche, friedliche oder antiimperialistische Kräfte im kapitalistischen Weltsystem? Die Arbeiterklasse braucht Klarheit in diesen Fragen, um ihre Kämpfe und ihre Solidarität in einen internationalen Rahmen setzen zu können.“[1]

Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass wir uns jetzt mit dieser Fragestellung konfrontiert sehen, angesichts der Eskalation des Krieges und der damit verbundenen Kriegspropaganda, deren ideologischer Angriff zielgenau in diese Kerbe schlägt.

In der sich weiter zuspitzenden Lage, erkennen wir ein Spaltungspotenzial, das wir nicht ignorieren können. Die Debatten sehen wir bereits jetzt in der Friedensbewegung sowie in linken und kommunistischen Kontexten. Der Vorwurf lautet beispielsweise, dass die zerstörerische Rolle Russlands ignoriert werde und vor allem die Arbeiter unter der russischen Flagge versammelt würden. Andererseits wird kritisiert, dass die NATO verharmlost werde, während der bürgerlichen Propaganda der russischen Bedrohung nicht begegnet und somit das Tor für den Opportunismus geöffnet würde.

Besonders problematisch ist es daher, dass eigentlich keine offene Debatte stattfindet. Sowohl in der deutschen, als auch in der internationalen kommunistischen Bewegung werden nur sehr selten andere Positionen und Parteien explizit kritisiert. Stattdessen zirkulieren diverse Stellungnahmen und Erklärungen mit zum Teil sehr widersprüchlichen Positionen. Gleichzeitig ist kaum ersichtlich, auf welcher konkreten analytischen Grundlage diese zustande kamen. 

Gerade weil die Einschätzung der Entwicklungen kompliziert und schwierig ist, wäre es aber die Pflicht der Kommunisten, ihre Positionen öffentlich darzulegen und vor allem auch gut zu begründen. Schon gar nicht sollten wir davor zurückscheuen, Kritik zu formulieren. In diesem Sinne haben wir auch folgendes in der „Resolution zum proletarischen Internationalismus“ aufgeschrieben:

Der Austausch öffentlicher Kritik unter den kommunistischen Parteien darf nicht als Schwäche vor dem Gegner gesehen werden, sondern ist im Gegenteil ein Mittel, um ein höheres Maß an politisch-ideologischer Einheit zu erreichen. Die internationale Diskussion der Kommunisten über den Weg und die Methoden der proletarischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus betrifft nicht nur die Kommunisten selbst, sondern die Arbeiterklasse insgesamt. Eben weil die Kommunisten letztlich vor der Arbeiterklasse Rechenschaft über ihr Handeln ablegen müssen, dürfen sie sich nicht davor fürchten, ihre Positionen und Analysen offen zur Diskussion zu stellen und die Fehler anderer kommunistischer Parteien im Geiste der revolutionären internationalen Solidarität zu kritisieren.“[2]

Ein höheres Maß an politisch-ideologischer Einheit zu erreichen, betrachten wir als das Gebot der Stunde. Die Debatten nicht offen und umfänglich auszutragen, hieße für uns als KO, dass wir die Handlungsunfähigkeit, mit der wir in den letzten Wochen konfrontiert waren, aufrecht erhalten würden. Aber auch in der Bewegung sehen wir die Notwendigkeit einer Debatte, sofern sie sich nicht von der bürgerlichen Propaganda vor sich hertreiben lassen will.

Selbstkritik

Wir sagen offen, dass uns diese Situation kalt erwischt hat, da wir eine so grundsätzliche Unklarheit nicht haben kommen sehen. Wir haben erkannt, dass wir uns schon im Vorfeld nicht ausreichend mit der Thematik befasst haben. Außerdem stellen wir fest, dass wir zu wenig Fachwissen haben. Sowohl über die konkrete Lage der beteiligten Länder und ihre ökonomische wie politische Struktur, als auch über die maßgeblichen Entwicklungen, die zur aktuellen Weltlage geführt haben.

Insbesondere wollen wir die Planungen und Vorhaben der NATO, genauso wie die Entwicklung Russlands und den sich stetig entwickelnden Konflikt in der Ukraine tiefer durchdringen.

Wir müssen stärker auf die kommunistische Bewegung schauen. Ihre Argumente, ihre Positionierungen und ihre Arbeit zu eben jenen Fragen haben wir nicht ausreichend studiert. Wir werden eine intensivere Prüfung von Publikationen der verschiedenen Akteure vornehmen, und dürfen uns nicht mit einer oberflächlichen Auseinandersetzung zufriedengeben, die keine kritische Kontrolle unserer sowie auch der Positionen anderer erlaubt.

Schließlich erkennen wir, dass wir nicht in der Lage sind, den Wissenschaftlichen Kommunismus wirklich auf die sich verändernde Lage anzuwenden, um eine klare Position zu beziehen. Gleichzeitig wissen wir, dass es ein Fehler wäre, die Positionierungen anderer kommunistischer Kräfte zu übernehmen, ohne sie wirklich durchdrungen zu haben. 

Schlussfolgerungen

Indem wir die genannten Probleme erkennen, schaffen wir die Voraussetzung, um unsere Mängel mit Motivation anzupacken. Auf dieser Grundlage wollen wir einen strukturierten Diskussionsprozess gestalten.

Wir erkennen die Notwendigkeit, jetzt eine Klärung dieser Fragen herbei- und offen die Diskussion zu führen. Wir werden politisch Position beziehen müssen und dafür systematisch die Fragen, die sich uns und der internationalen kommunistischen Bewegung stellen, bearbeiten. Dafür müssen wir die Ebene der konkreten Analyse mit der allgemeinen theoretischen Ebene verbinden. Nur so können wir einer wissenschaftlichen Herangehensweise gerecht werden und die dahinterstehende Imperialismusfrage beantworten. Wir müssen zu einer belastbaren Einordnung der aktuellen Lage gelangen.

Es ist nötig, dass wir besser verstehen, welche Rolle insbesondere der deutsche Imperialismus in der aktuellen Situation spielt. Sowohl wie er nach außen wirkt, als auch wie er die Konfrontation nach innen umsetzt.

Die Debatte, die wir führen wollen, muss begrenzt bleiben und wir dürfen uns nicht im Klein-Klein verlieren. Schließlich müssen wir zu einer Klarheit gelangen, die uns die Frage beantworten lässt, wie wir uns in der politischen Auseinandersetzung positionieren können. Wie genau wir die Diskussion gestalten, werden wir noch entwickeln müssen – klar ist jedoch, dass wir sie mit und in der Bewegung führen müssen, von der wir zu aller erst viel zu lernen haben.

In diesem Rahmen werden wir sowohl unsere bisherigen Aussagen in unserer Publikationstätigkeit wie auch in unseren Programmatischen Thesen [3] reflektieren müssen.

[1] https://wiki.kommunistische.org/index.php?title=Imperialismus_als_Weltsystem

[2] Internationale Resolution

[3] https://kommunistische-organisation.de/programmatische-thesen

Aktuelles

Gegen den Frieden der Unterdrücker!

Eine Friedens- bzw. Anti-Kriegs-Bewegung, welche die aggressive Rolle der NATO, oder der Besatzungsmacht Israel nicht erkennt und das Narrativ der Kriegstreiber bedient, wird damit in letzter Konsequenz eine Pro-Kriegs-Bewegung. Sie verurteilt die Gewalt der Unterdrückten so wie es die Unterdrücker tun.

Bericht zum 5. Mitgliederkongress der Kommunistischen Organisation

Der 5. Mitgliederkongress der KO hat stattgefunden. Erfahrungen aus unserer Spaltung und der akti-ven Beteiligung in Kämpfen gegen den Krieg der NATO und den Völkermord in Palästina geben nachdrücklich Aufgaben für uns selbst und die Bewegung auf. Sie erfordern praktische Konsequen-zen. Ein zentraler Beschluss: Die Organisierung eines umfassenden und öffentlichen Studienganges zur Geschichte des Kommunismus.