English
русский
عربي

Interview: “Ich denke, es ist eine Illusion der Sowjets gewesen, dass es mit dem Faschismus vorbei sei”

Holger Michael studierte an der Offiziersschule Plauen im Vogtland und an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam. Seine Diplome in Geschichte und Germanistik erwarb er 1977-1981 an den Universitäten Warschau und Wroclaw. Er beendete seine dreijährige Aspirantur mit Spezialisierung Geschichte und Landeskunde Polens und Deutschlands an der Karl-Marx-Universität Leipzig mit seiner Promotion zum Dr.phil. Nach einer Tätigkeit als Sprachmittler für Polnisch nahm Michael 1986 eine Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Allgemeine Geschichte (Fachbereich Osteuropa) an der Akademie der Wissenschaften der DDR auf. Seit den neunziger Jahren arbeitete Dr. Holger Michael als Fachlehrer in deutsch-polnischen Schulprojekten, bildete im Auftrag des Goethe-Instituts Deutschlehrer in Kasachstan aus und war schließlich Dozent für Integrationskurse in Fürstenwalde.

Holger Michael ist Autor verschiedener Bücher zur Geschichte Osteuropas  darunter das hier mehrfach erwähnte Buch “Vom Baltikum nach Mittelasien: Legenden und Tatsachen um ehemalige Sowjetrepubliken”, erschienen 2009 im Kai Homilius Verlag.

Lieber Holger, kommen wir zunächst zum Nationalismus in den baltischen Staaten, den du in deinem Buch historisch aufarbeitest. Beginnen wir mit Litauen. Dort forderten die litauischen Kommunisten selbst den Einmarsch der sowjetischen Truppen, um ihre gewählte Volksregierung gegen die Nationalisten abzusichern. Die heutige nationalistische Geschichtsschreibung in vielen baltischen Staaten spricht dagegen von einer sowjetischen, vom Volk abgelehnten Annexion. Diese Annexionspläne habe Russland auch heute wieder. Kannst du auf die Ereignisse 1939-1940 eingehen: Welche Bedeutung spielt dieses Narrativ in den baltischen Staaten heute?

In meinem Buch beschreibe ich, dass der Sturz der reaktionär-faschistoiden bürgerlichen Regierung im März 1940 in Litauen maßgeblich von Kommunisten und fortschrittlichen Linken, vor allem aus der Intelligenz, angeführt wurde. Der Sturz der Regierung war, im Gegensatz zu den Behauptungen der heutigen Nationalisten, zunächst nicht von der Sowjetunion gewünscht. Das primäre Interesse auf sowjetischer Seite war erst einmal eine Regierung, die sich an die noch kurz vorher beschlossenen Beistandsverpflichtungen zwischen Litauen und der Sowjetunion hält. Diese wurden, je mehr sich diese Regierung Hitlerdeutschland annäherte, immer weiter ausgehöhlt. Gleichzeitig geriet das Land in wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten, die die litauischen Linken und Kommunisten nutzen konnten. Die nationalistische Geschichtsschreibung heute verschweigt, dass es sich um eine breite, in der Bevölkerung Litauens verankerte Bewegung gehandelt hat. Natürlich gab es, so ist es ja immer, auch Leute, die dagegen waren – insbesondere unter Leuten aus dem Bürgertum, deren Privilegien von der alten Regierung abgesichert wurden. Aber die Linken und Kommunisten und letztlich die aus ihnen gebildete Volksregierung hatten breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Ihre Machtergreifung war staatsrechtlich sogar von der damaligen bürgerlichen Verfassung Litauens garantiert und keinesfalls das Resultat einer „sowjetischen Okkupation“, wie heute behauptet wird. Das schreibe ich auch in meinem Buch.

Zum Nationalismus im Baltikum allgemein: Er kann sich nur erhalten, in dem die dort lebenden Russen ständig diskriminiert werden, d.h. ihnen bspw. die Staatsbürgerschaft nicht zuerkannt wird. Das gilt vor allem in Lettland und Estland. Faktisch wird dort eine Apartheidpolitik betrieben, worauf sich die Leute in den letzten Jahren auch schon eingestellt haben. Weder Putin noch Jelzin haben sich dort ausreichend um ihre Landsleute gekümmert. Dazu kommt die historisch-kulturelle Dimension: In Litauen herrschte eine ganz andere Mentalität als in Estland und Lettland. Die Esten und Letten waren wesentlich vorsichtiger, da sie eine Handelsbourgeoisie hatten, die Beziehungen auch zu Russland pflegen musste. Die Litauer besaßen einen eigenen Staat und waren auf großen Landbesitz, auch in Polen, aus. Das ist der historisch-kulturelle Hintergrund für die besondere Aggressivität des litauischen Nationalismus – auch noch heute. Man sieht die Aggressivität Litauens auch im jüngsten Konflikt um die Zulieferwege nach Kaliningrad.

Ein weiterer Grund für ihre Aggressivität ist Angst: Sie haben große wirtschaftliche Einbußen, sie haben große Probleme mit Arbeitslosigkeit, vor allem in Lettland. Russland hat die Häfen von Riga und Tallin blockiert, das macht natürlich große Einbußen, etwa 20-30% des BIP! Das ist einer der Gründe für ihre sehr wilde Politik: Sie wollen vom Westen als Frontstaat gegen Russland anerkannt werden, was die USA auch sehr gerne annehmen und teilweise bezahlen. Das ist der Grund dafür, dass sie so scharf agieren.

Der bis 2009 amtierende litauische Staatspräsident Valdas Adamkus organisierte sich, wie du in deinem Buch schreibst, in den 40er-Jahren in der faschistischen Litauischen Aktivistenfront (LAF), die maßgeblich am antisowjetischen Widerstand beteiligt und am ersten Tag nach der Besetzung von Litauen durch Nazideutschland 3500 Juden erschlug. Er konnte nach der Befreiung Litauens durch die Rote Armee mit weiteren 60.000 litauischen Nazis in die BRD fliehen und war später an der Konterrevolution und am Aufbau eines bürgerlichen Litauens beteiligt. Kannst du uns über weitere faschistische Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten Russlands berichten, die eine maßgebliche Rolle bei der Konterrevolution spielten? Welche Rolle spielen sie heute?

Erst einmal muss man sagen, dass Litauen ursprünglich ein sehr gutes Verhältnis zur Sowjetunion hatte, was auch korrekt war, da die Sowjetunion Litauens Kampf gegen Polen unterstützt hatte und als Schutzmacht agierte, obwohl sie keine gemeinsamen Grenzen hatten. Sie waren zwar antikommunistisch aber nicht unbedingt antisowjetisch. 1926 wurde das liberal-demokratische Litauen dann durch einen Putsch des Faschisten Antonas Smetona beseitigt. Diese faschistische Regierung pflegte widersprüchliche Beziehungen zum faschistischen Deutschland, worauf ich in meinem Buch mehr eingehe. Es herrschten widersprüchliche Interessen in diesem Bündnis. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs verstärkten sich diese Widersprüche, die in einer maßgeblichen Schwächung dieser faschistischen Regierung mündeten. Sie wurde in diesem Moment der Schwäche von der Volksbewegung gestürzt. Die neue Regierung hatte allerdings mit vielen wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen. Auf Grundlage dieser Probleme machten die Nationalisten aller baltischen Staaten gemeinsame Pläne zur Beseitigung der neuen Volksregierung.  Das haben die Sowjets mitbekommen und gesagt, dass sie eine Regierung haben wollen, die auch wirklich die gemeinsamen Verträge mit der Sowjetunion erfüllt- sie wurden ja offiziell nicht infrage gestellt. Daraufhin haben sie dort eine Regierungsumbildung gemacht. Die Sowjetunion hat dort dann Truppen stationiert, die aber de facto nichts bewirkt haben – sie hatten keinen Einfluss im Land. Allerdings: Dadurch, dass eine neue Regierung kam (eine Regierung, die maßgeblich von linken Intellektuellen besetzt war) kam die Sache natürlich in Schwung: Sie haben mit der neuen Regierung die nationalistischen, faschistischen Parteien verboten. Die Sowjetunion hatte definitiv nicht die Absicht, die baltischen Republiken in die Union einzugliedern. Ihr Interesse war ein Bündnis ähnlich dem Warschauer Pakt. Aber: Die baltischen Kommunisten selbst sagten, dass es nicht ohne Anschluss an die Sowjetunion geht. Sie wollten den Anschluss an die Union. Der Widerspruch war folglich der: Es gab keine Volksabstimmung über den Anschluss an die Sowjetunion – sondern das war die Entscheidung dieser linken Volksregierungen durch Parlamentsbeschlüsse. Die Sowjets waren also in einer üblen Situation- einerseits wollten sie den Anschluss nicht, anderseits konnten sie die Kommunisten dieser Regierungen nicht im Stich lassen.

Man kann also durchaus sagen, dass in Litauen eine Revolution stattgefunden hat und diese Revolution die Litauer selbst gemacht haben. Die Sowjets haben dort selbst sehr wenig bewegt. Die Revolution hat es gegeben – bevor die Russen dort stationiert wurden gab es ja schon eine neue Regierung.

Ab Herbst 1940 gab es Widerstandsgruppen, die sich gegen die Volksregierung und den Anschluss an die Union stellten. Diese Widerstandsgruppen wollten sich gegen die neue Regierung wehren und wurden dabei ertappt und verhaftet. Die Behauptung ihrerseits, dass die Volksregierung gegen den Willen des Volkes handele, ist in diesem Kontext dann natürlich eine Behauptung, die man von ihrer Seite aus nachvollziehen kann – schließlich haben sie sich selbst als wahre Volksvertreter gesehen.

Fakt ist aber: Es hat in allen drei Republiken einen ordentlichen Parlamentsbeschluss zum Anschluss gegeben.  Und das vor allem aus ökonomischen Gründen: Es sollte gegen die Arbeitslosigkeit gekämpft werden, es sollten Schulden der Bauern gestrichen werden. Das ist auch geschehen, und der Lebensstandard, vor allem die Lebensmittelversorgung, hat sich wesentlich verbessert. Die Beschlüsse, die für den Anschluss an die Sowjetunion getroffen wurden, lassen sich  nicht infrage stellen – entsprechend sind die Erzählungen über eine angebliche sowjetische Annexion großer Unsinn.

In Estland und Lettland sind diese Umwälzungen wesentlich komplizierter abgelaufen als in Litauen. In Estland war es sehr schwierig.

Ich hatte noch nach faschistischen baltischen Geflüchteten in den Westen gesagt- kannst du noch prominente Beispiele nennen?

Ein wichtiger Name ist Vytautas Landsbergis-Zemkalnis. Er war einer der Minister der nach dem Überfall 1941 gebildeten faschistischen Regierung, die schon antisemitische Gesetze auf den Weg gebracht hatte. Allerdings wurde er von den Deutschen dann abgesetzt und ist über Deutschland nach Australien geflohen. Er hat nach der Befreiung allerdings immer wieder um die Erlaubnis gebeten, zurückzukehren und dies hat ihm die Sowjetregierung unter Chruschtschow tatsächlich auch erlaubt. Er ist der Vater des ersten Präsidenten Litauens ab 1990, Vytautas Landsbergis. Der hat dann noch lange gelebt und war noch lange Diplomat. Man sieht die Verbindungen.

Es ist also nicht so, dass die SU dort brutal vorgegangen sei. Sie haben viele deportiert, nämlich die aktiven Rechten. Allerdings durften diese Leute alle wieder zurückkehren nach 1956. Das war natürlich ein schwerer Fehler Chruschtschows. Damit wurden Gerichtsurteile außer Kraft gesetzt, es sind Leute verurteilt worden, sie sind ja nicht umsonst deportiert worden – da waren richtige Faschisten dabei. Da war übrigens auch der letzte Ministerpräsident dabei – der ist dann allerdings zurückgetreten und hat politisch keine weitere Rolle gespielt. Ich denke, es war eine Illusion der Sowjets gewesen, dass es mit dem Faschismus vorbei sei.

 .. und offensichtlich war es dann ja nicht vorbei – wie man an Valdas Adamkus gesehen hat, der sich an der Konterrevolution beteiligt hat.

Genau – sie haben vor allem in der Zeit, als sie zurückgekehrt sind, eine Rolle gespielt und haben erzählt, wie schlimm es mit dem Sozialismus gewesen sei. Das Problem war auch, dass die baltischen Kommunisten teilweise leider auch nationalistische Züge hatten und in ihren Bildungssystemen nationalistische Tendenzen zugelassen haben. Sie sind davon ausgegangen, dass sich die politische Bedeutung des Nationalismus mit steigendem Lebensstandard von selbst erledigen würde – das war wie gesagt ein Fehler und sicher auch ein Faktor, warum es den Nationalisten dann wieder so leicht gemacht wurde, eine starke politische Rolle einzunehmen.

Auch in Kasachstan wurden bzw. werden antisowjetische bzw. antirussische Separationsbestrebungen vom Westen unterstützt. Du schreibst, dass sich im Gegensatz zu den baltischen Staaten dort nie eine wirklich nationale Bewegung entwickelt hat, da sich bis zur Errichtung der Sowjetmacht dort noch gar keine bürgerliche Klasse herausgebildet hatte. Aufgabe der Sowjetmacht sei es gewesen, die regionalen Feudalherren zu enteignen und politisch zu entmachten. Kasachstan habe sich insbesondere während des zweiten Weltkriegs zu einer stabilen Sowjetrepublik entwickelt. Das Land sei nach der Konterrevolution in ein innenpolitisches, wirtschaftliches und soziales Chaos  versunken. Der Präsident Nursultan Nasarbajew, der als ehemaliger KP-Funktionär selbst an der Loslösung von Russland beteiligt war, wolle gegen dieses Chaos seit 1997 mit dem Programm “Kasachstan 2030” vorgehen. Dieses Programm sehe im wesentlichen eine innenpolitische und wirtschaftliche Stabilisierung des Landes durch eine stark staatliche geführte Entwicklung auf Grundlage der Marktwirtschaft vor. Ob dieser Plan aufginge, sei bei der mittlerweile starken Präsenz von ausländischem und privatem Kapital fragwürdig, außerdem seien konjunkturelle Einbrüche gar nicht einberechnet. Er sei zuletzt durch starken Einfluss der USA und antirussischer Nationalisten gefährdet.

Viele Kommunisten schätzten die Eindämmung der Proteste in Kasachstan 2021 durch die OVKS-Truppen als Niederschlagung von Arbeiteraufständen, maßgeblich vom kapitalistischen Russland initiiert, ein. Wie schätzt du die Ereignisse ein? Hat es sich um einen Machtkampf zwischen Nasarbajew und Tokajew gehandelt? Welche Kräfte haben bei den Aufständen eine Rolle gespielt?

Die Vorgänge in Kasachstan hatten nichts mit einem Arbeiteraufstand zu tun. In Almaty gibt es so gut wie keine Arbeiterklasse. Die Kasachen selbst stellen nur einen sehr kleinen Teil der Arbeiterklasse dar- zu Sowjetzeiten bspw. nur ca. 18%. Die Bewegung ist nicht groß gewesen, es waren nur sehr wenige Leute auf der Straße. Es ist schlecht vorbereitet gewesen, ich nehme stark an, dass auch die USA etwas damit zu tun hatten: Kasachstan ist ein Schlüsselpunkt im Kampf gegen China und Russland. Es ist ein Kampf zwischen zwei oligarchischen Systemen. Es ging überhaupt nicht um die Verbesserung der sozialen Verhältnisse. In anderen Städten waren die Nationalisten sehr präsent. Darüber hinaus waren auch viele Studenten aktiv, denen es vor allem um ihre eigenen Privilegien -sie studieren vor allem an von der EU und USA finanzierten Universitäten- ging. Außerdem hörte ich davon, dass auch islamistische Truppen beteiligt waren.

Kannst du weiter darauf eingehen, wie die Verbindungen der liberal und westlich orientierten Teile der kasachischen Gesellschaft -du spricht vor allem von Studenten- in Richtung USA und EU aussehen?

Die Proteste müssen organisiert gewesen sein, die Studenten haben ja ihre Studienplätze riskiert. Die Sicherheitskräfte müssen das toleriert haben, die Regierung muss das geduldet haben. Es war in Kasachstan im System Nasarbajew ansonsten nicht möglich, wirkliche Proteste zu organisieren: Die Kommunistische Partei ist verboten und ich schätze die Lage in Kasachstan nicht so ein, dass es dort breite, wirklich in der Bevölkerung verankerte Proteste gab. Die Bevölkerung ist an einer ruhigen Lage interessiert, diese Proteste kamen definitiv von außen. Es gibt kaum eine Industrie und eine Arbeiterklasse; die meisten jungen Leute wollen studieren und ins Ausland. Es kann kein breit in der Bevölkerung angelegter Arbeiteraufstand gewesen sein.

Kommen wir zur Ukraine und den Wurzeln des Nationalismus in diesem Land. Du beschreibst sehr verständlich, dass die ursprüngliche ukrainische nationale Bewegung die politische Bewegung einer sich herausbildenden Bourgeoisie (insbesondere Händler, Kaufleute und Handwerker) unter der 300 Jahre währenden polnischen Adelsherrschaft im Gebiet der heutigen Ukraine war. Der polnische Adel realisierte seine Herrschaft mittels der in der Ukraine ansässigen Juden. Der Kampf gegen den Feudalismus wurde also gegen Polen und Juden geführt, dies sei die Wurzel des bis heute starken Antisemitismus und antipolnischen Rassismus im ukrainischen Nationalismus. Weiterhin richtete sich der Nationalismus gegen die herannahende Sowjetmacht, die das Eigentum der Großbauern und bürgerlichen Klasse gefährdete. Er setzte zuletzt auf die Unterstützung durch die deutschen Faschisten. Kannst du genauer auf die Zusammenarbeit der ukrainischen Nationalisten und deutschen Faschisten eingehen?

Also erstmal muss man sagen, dass Deutschland ein sehr wichtiger Emigrationsort für ukrainische Faschisten war. Auch die Tschechoslowkai war ein Ort dafür. Die Tschechen haben die ukrainischen Nationalisten unterstützt, weil sie antipolnisch waren und prosowjetisch. Sie haben sich aber wie gesagt auf polnischem Territorrium organisiert und ihre Kongresse abgehalten. Von deutscher Seite gab es immer ein Interesse an der Ukraine, sie haben 1918 ja dort ihren ersten Marionettenstaat (das als „Hetmanat“ bezeichnete von Pawlo Skoropadskyj aus Kiew regierte Staatswesen, das von deutschen und österreich-ungarischen Truppen nach ihrer Besetzung installiert wurde, Anm. A.K.). Die ukrainischen Nationalisten wussten also, dass die Deutschen dort immer ein Interesse hatten. Zu Beginn des zweiten Weltkriegs gab es eine ukrainische Legion mit ein paar Tausend Leuten, die gegen die Polen mit einmarschiert sind. Als dann jedoch die Sowjettruppen von der anderen Seite einmarschiert waren, hat man diese ukrainischen Legionäre zurückgezogen. Deutschland hatte nie daran gedacht, die Ukraine als eigenständigen Staat zu nehmen, dafür hielten sie die Ukrainer auch für zu unzuverlässig und sie wollten es lieber selbst machen. Die Ukrainer haben mit den Deutschen zusammengearbeitet und sich dann aber gegen die Deutschen gewandt, weil diese ja wiederum Bandera und andere Führer verhafteten, sie haben den Staat nicht anerkannt. Aber sie haben trotzdem gemeinsame Sachen gemacht gegen die Juden.

Kannst du darauf nochmal genauer eingehen? Du hattest in deinem Buch gesagt, dass die Deutschen die ukrainischen Nazis fallengelassen haben, weil sie sie für unzuverlässig hielten. Du hattest in deinem Buch auch geschrieben, dass sich ein hoher deutscher Beamter sehr abfällig über die Ukrainer geäußert hat. Warum konnten die Deutschen nicht einfach zu 100% mit ihnen kollaborieren?

Die Ukrainischen Nazis waren extrem brutal. Ihre politische Agenda war außerdem die, dass sie einen eigenen Staat aufbauen wollten. Die deutschen Faschisten wollten aber keinen ernstzunehmenden Partner mit einer eigenen Staatlichkeit. Sie hatten für sie nur die Funktion als Kraft gegen die Sowjetunion. Die ukrainischen Faschisten waren ja nur in der Westukraine, in den drei polnischen Wojewoidschaften, präsent und nicht in der Zentral- und Ostukraine. Sie waren nicht mehr als eine unsolide, sehr selbstbewusste aber wenig verankerte und für die Deutschen politisch sehr unzuverlässige Mörderbande. Das ist der Grund für dieses widersprüchliche und abfällige Verhältnis der Deutschen zu ihnen.

Du unterscheidest in deinem Buch sehr stark zwischen der Ost- und Westukraine. In ersterer habe sich aufgrund der Rohstoffvorkommen und schnellen Industrialisierung ein Proletariat herausgebildet, das immer sehr wenig mit dem Nationalismus der ukrainischen Bourgeoisie im Westen anfangen konnte und seine Interessen eher in der Sowjetmacht realisiert sah. Wie drückte sich dieser Interessensgegensatz in den 1940er-Jahren aus und welche Rolle spielt diese Spaltung in der Ukraine heute?

Ich muss erstmal grundsätzlich sagen, dass die Ukraine über Jahrhunderte gespalten war. Erstmal war ein Großteil polnisch, die Polen standen ja im 17.Jahrhundert in Moskau. Die Polen haben also einen Großteil der Ukraine gehabt, der musste Stück für Stück befreit werden. Im 17. Jahrhundert wurde die Befreiungsbewegung stark, aber sie konnte nur einen Teil befreien. Die Polen wurden schließlich aus der Ukraine rausgeworfen, allerdings gab es noch einen polnischen Teil, der Rauswurf der Polen ist also zum Preis der ukrainischen Teilung passiert. Die Westukraine blieb nach Brest-Litowsk dann weitestgehend bäuerliches Land. Im Osten war das anders: Diese Region war wegen der großen Bodenschätze stark industrialisiert und gehörte zum Russischen Reich. Dort hat sich eine Arbeiterklasse formiert. Nach dem Bürgerkrieg war dann Charkow (ukr. Charkiw, Anm. A.K.) bis 1934 ukrainische Hauptstadt, erst dann wurde Kiew Hauptstadt. Das lag daran, dass die Nationalisten dort immer sehr starke Positionen besaßen und auch die ukrainischen Kommunisten nicht immer eine ganz saubere Position eingenommen haben, es gab viele Dissidenten, es war eine sehr komplizierte Situation. Im Osten gab es auch mehr Russen. 1922 wurde ja die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik gegründet. Die starke Besiedelung durch Russen hieß aber erstmal nichts, außer dass der ukrainische Nationalismus dort natürlich nicht sehr beliebt war. Der Westen blieb in erster Linie unter polnischer Herrschaft, sodass dort natürlich der Nationalismus weiter blühte. Man hätte, als die Sowjetunion zu Bruch ging, das möglicherweise klären können, aber daran hatte die Ukraine meines Erachtens kein Interesse – sie hätten da nichts hergegeben. Was schlimm ist: Sie haben sich vom Westen “beschwatzen” lassen, vom Westen, dessen Interesse es natürlich war und ist, die Ukraine für sich zu gewinnen. Die Fragen der Einbindung an den Westen/an die EU ist also nicht aus dem Nichts gekommen und hat seine Geschichte. Neben wirtschaftlichen Interessen an der Ukraine will der Westen sie natürlich auch als Gegengewicht gegen Russland haben.

Du führst in deinem Buch aus, dass die in der Ukrainischen Aufständischenarmee UPA organisierten Faschisten sich nach dem Vorrücken der Roten Armee nach Westeuropa absetzten oder von der Sowjetmacht liquidiert oder deportiert wurden. Allerdings konnten nicht alle unschädlich gemacht werden – der Faschismus in der Westukraine war folglich auch in den folgenden Jahren weiterhin stark in der Bevölkerung verankert. Wie ist diese Verankerung in der westukrainischen Bevölkerung historisch zu erklären und wieso konnte die Sowjetmacht den Faschismus nicht vollständig beseitigen?

Heute hat der ukrainische Nationalismus in der Westukraine eine Mehrheit, ganz klar. Damals war es so, dass die Sowjettruppen nach der Befreiung die ukrainischen Kollaborateure bestraft haben. Außerdem gab es die Situation, dass ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung nicht wieder zurück zur Kollektivierung wollte. Es ging – vor allem bei den Klein- und Großbauern – um ganz einfache Besitzfragen und die ukrainischen Nationalisten standen auf dem Standpunkt des Privateigentums. Damit verbunden spielte das Gefühl, mal eine große und starke bedeutende Bewegung gewesen zu sein, natürlich eine Rolle. Außerdem ist der Nationalismus natürlich mit Antisemitismus und Hass auf alles Russische verbunden. Auch die Polen haben den Hass gegen Russland gepredigt. Nationalismus kriegt man also unter besten Bedingungen nicht weg.

Es gab diesen Nationalismus auch bei uns in der DDR – auch dort haben wir ihn nicht wegbekommen. Die Idee des “Wir waren mal wer” und “Wir haben mal jemanden geschlagen, der uns unterdrückt hat” verfängt immer wieder sehr stark in der Bevölkerung.

Zuletzt wollen wir über den Anfang deines Buchs sprechen. Wir haben jetzt viel über historische Zusammenhänge gesprochen und festgestellt, dass die antirussischen nationalistischen Bewegungen in den Randstaaten Russlands immer vom Westen genutzt wurden, um Russland zu bedrohen und zu schaden. Du sprichst davon, dass Russland sich heute in einer ähnlichen geopolitischen Situation wie im 16. Jahrhundert befinde: Seine staatliche Souveränität sei durch Destabilisierungs- und Separationsstrategien seiner politischen Gegner gefährdet. Allein die USA gäben sehr viel Geld für diese Programm aus, man wolle Russland wieder zu einem Rohstoffversorger degradieren. Dies halten viele Linke in Anbetracht der Größe und ihrer Einschätzung nach Stabilität Russlandsfür sehr unwahrscheinlich. An welchen Akteuren, Papieren, Ereignissen machst du diese Strategie konkret fest und für wie wahrscheinlich hältst du einen Erfolg?

Das Problem der westlichen Separationsstrategie für den Westen selbst ist, dass diejenigen, die das in Russland durchsetzen wollen, keine große politische Rolle spielen. Außerdem sagen Schätzungen des Russlandspezialisten Alexander Rahr, dass die prowestlich orientierte Bevölkerung in Russland nur ca. 15% ausmacht. Man könnte auch sagen, dass die westlichen Strategen nicht viel von Russland verstehen. Mit diesen 15% haben die westlichen Strategen Verbindungen. Ein Beispiel war Grigori Jawlinski, der bis 2008 Vorsitzender der liberalen Jabloko-Partei war.

Die Strategie besteht darin, Russland entlang der verschiedenen Ethnien, die in den Regionen Russland leben, in verschiedene Teilgebiete aufzuteilen. Das wurde auch öffentlich mehrfach gesagt. Sie sprechen dabei auch von einer „Dekolonisierung“ Russlands, womit eine Zerschlagung gemeint ist. Diese Gebiete sollen unabhängig von Moskau und einzeln von prowestlichen Marionettenregierungen regiert werden.

Das Hauptziel dabei ist aber nicht Russland, Russland ist nur Mittel zum Zweck. Das Hauptziel ist China. Wenn der Westen es schafft, Russland auf seine Seite zu ziehen, hat China ein echtes Problem. Dann kommt China  nicht an die wichtigsten Rohstoffe und Erdöl. Dann ist Chinas einzige Möglichkeit, ans Erdöl zu kommen, der Iran, was vom Westen allerdings leicht gesperrt werden kann. Das würde sich katastrophal auf die chinesische Wirtschaft auswirken. Das -die Verhinderung, dass China Nr.1 wird- ist der Grund dafür, dass sie so gegen Russland drängen.

Wir erinnern uns an den Marineoffizier Kay-Achim Schönbach und seine Aussage, man müsse sich auf China konzentrieren und den Konflikt gegen Russland nicht eskalieren lassen, man brauche Russland noch gegen China. Er wurde für diese Aussagen entlassen – da er aus dem Nähkästchen geplaudert hatte. Aus meiner Sicht ist es so: Die westlichen Strategen können sich nicht vorstellen, dass Russland das lange durchhält. Sie kennen die Kraft der russischen Bevölkerung nicht, sich zu stabilisieren und dem zu widersetzen. Es ist nicht das erste Mal, dass Destabilisierung und Separation in Russland geschürt werden sollen, die Bevölkerung kennt das. Russland ist als Staat nicht zu besiegen. Selbst wenn jemand wie Jelzin, der alles verschleudert hat, an der Macht ist. Heute habe ich noch gelesen, dass der Westen bis zu 60-70% der russischen Industriekapazitäten besitzt. Ihnen geht es jedoch darum, alles zu bekommen. Putin fragte mal auf einer Konferenz, was man ihnen denn noch geben solle, man könne ihnen nicht noch mehr geben. Der Westen wird jedoch erst Ruhe geben, wenn Russland seine Kolonie ist.

Ich würde zum Thema Separations- und Destabilisierungsstrategie nochmal gerne konkreter nachhaken, da diese Strategien häufig als Verschwörungstheorien eingeschätzt werden. Welche Separationsbestrebungen wurden und werden heute konkret vom Westen unterstützt?

Ein Beispiel ist Tschetschenien. Dieser Krieg war sehr wichtig für Russland. Hätten sie diesen verloren, hätten sich die Separationsbewegungen in anderen Regionen der Föderation ebenfalls bestärkt gefühlt. Das kann aber gar nicht erfolgreich sein, da in diesen Gebieten neben den ethnischen Minderheiten ja sehr viele Russen leben.  Diese ethnischen Minderheiten sind sehr wenige, sie wären nicht in der Lage, dort selbstständig zu agieren. Die Russen agieren taktisch sehr klug – indem sie diese Minderheiten demokratisch am Staatswesen, beispielsweise durch eigene regionale Parlamente beteiligen. Gegen diese Taktik haben die westlichen Unterstützungsstrategien für radikale separatistische Bewegungen keine Chance.

Um es nochmal ganz klarzuziehen: Du hältst es also für unwahrscheinlich, dass die westliche Strategie für Russland funktionieren wird?

Ja. Auch die nationalen Minderheiten selbst stehen nicht dahinter. Es gibt dort keine ernstzunehmenden separatistischen Tendenzen. Die würden aber möglicherweise größer werden, wenn man ihnen freien Lauf ließe. Diese Erfahrung hat Russland ja historisch gemacht und deshalb reagieren sie auf diese Bestrebungen auch sehr aufmerksam und repressiv, bspw. durch die Gesetze gegen ausländische Agenten.

Mir ist auch noch wichtig zu sagen, dass  die Regierung die Bevölkerung in dieser Frage hinter sich hat. Außerdem kommt natürlich hinzu, dass Russland bzw. die SU immer der größte Staat der Welt ist und war.

Du schreibst weiter, dass der Kampf Russlands um seine territoriale Einheit, Integrität und staatliche Souveränität unsere Solidarität verdiene. In der Debatte sagen viele Linke und Kommunisten, es sei nicht Sache der Arbeiterklasse, sich für die Souveränität eines bürgerlichen Klassenstaates einzusetzen. Wie begründest du deine Forderung? Wofür sollte die internationale Arbeiterklasse in diesem Krieg kämpfen?

Wir haben jetzt eine neue Situation. Lenin hatte nie die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass es große bürgerliche Länder gibt, mit denen man sich solidarisieren könne, bzw. dass es solche Länder gäbe, die  im Interesse für Frieden und sozialen Fortschritt agieren könnten.

Es ist heute aber so, dass Russland im Bündnis mit China einen Friedensfaktor darstellt, da sie die absolute Hegemonie der USA und Westeuropäer verhindern. Das einheimische Kapital in Deutschland wird durch diese Politik schwächer, was man ja gerade an den Diskussionen um die Gasknappheit innerhalb der deutschen Bourgeoisie erkennt. Deshalb muss diesen Staaten unbedingt unsere Solidarität gehören. Unter Lenin gab es diese Situation nicht, da war Russland natürlich ein imperialistisches Land. Es ist ganz klar, dass das heutige Russland das Resultat einer antikommunistischen Konterrevolution ist – trotzdem gilt diesem Staat unsere Solidarität. Das Bündnis mit China wird nur noch enger werden und es wird für eine günstige Veränderung der Arbeiterklasse international sorgen. Du musst auch sehen, dass die KPRF die russische Regierung in einem gewissen Maße unterstützt – auch wenn uns die Argumente vielleicht nicht immer gefallen. Es geht um Frieden in Europa, deshalb müssen wir diese Kräfte unterstützen.

Es muss uns in Europa und Deutschland darum gehen zu sagen: Der Krieg, den unsere Regierung führt, das ist nicht unser Krieg. Wenn wir diese Losung in Europa und Deutschland durchbekommen, dann kippen die Sanktionen.

Fassen wir zusammen: Du sagst, die RF und China sind Friedensmächte, weil sie die absolute Hegemonie der USA und Westeuropäer schwächen. Schwächen diese die Hegemonie nicht nur, weil sie selbst aufstrebende imperialistische Staaten sind? Was nützt es der Arbeiterklasse auf Dauer, diese Staaten zu unterstützen, wenn sie doch später als imperialistische Staaten agieren?

China ist ein sozialistisches Land. China ist nicht aggressiv und betreibt keine imperialistische Politik. Natürlich versuchen sie Einfluss zu gewinnen, aber ihre Politik bspw. in Afrika ist auch im Sinne der Menschen dort. Das macht der Westen nicht. Russland ist natürlich schwach, es hat aber die Rohstoffe. Es gibt immer imperiale Traditionen, aber dass sie das Baltikum wieder zurückhaben wollen ist großer Unsinn. China betreibt in Afrika wirkliche Entwicklungshilfe, sie bauen dort etwas und sie bekommen etwas dafür. Die afrikanischen Staaten wissen aus ihrer Erfahrung mit  den Briten, Franzosen etc., was koloniale Ausbeutung bedeutet. Man darf nicht davon ausgehen, dass die Afrikaner nicht wüssten, was sie tun. China ist sehr willkommen dort. Sie investieren in Afrika zugunsten der Bevölkerung vor Ort. Viele dieser Staaten lassen sich nicht ins antirussische Konzept reindrängen, das hängt auch mit China zusammen. China ist für Russland sehr wichtig als Rohstofflieferant und logistisch für die neue Seidenstraße. China geht von einer multipolaren Welt aus, die für die Arbeiterklasse und ihre Kampfbedingungen definitiv besser ist als die monopolare Welt der USA und EU. Die USA wissen genau, dass China von dieser multipolaren Welt ausgeht und das ist der Grund dafür, dass sie Russland besiegen wollen: Sie wollen Russland als Rohstofflieferant für China vernichten, um die ökonomische Entwicklung Chinas und damit die Infragestellung der unipolaren Weltordnung zu verhindern.

Das Interview führte Alexander Kikanadse

Aktuelles

Iran hat den Aggressoren eine Grenze aufgezeigt

Die Militäroperation des Iran vom 12./13. April ist ein wichtiges Stoppzeichen an den Terror der zionistischen Besatzungsmacht Israel und seine Unterstützer gewesen. Sie war ein gerechtfertigter Akt der Selbstverteidigung. Die von den Kräften der Region koordinierte Aktion ist eine wichtige Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfs. Die Palästina-Soli-Bewegung darf sich trotz unterschiedlicher Sichtweisen auf die Kräfte der Region nicht spalten lassen. Hände weg vom Iran! Hände weg von Libanon, Syrien und Jemen! Freiheit für Palästina!

Erklärung der Palästinensischen Kommunistischen Partei zum Tag des Bodens – Einschätzungen zur Al-Aqsa-Flut

Wir dokumentierten hier die Stellungnahme der Palästinensischen Kommunistischen Partei  (PalCP), die sie vor etwa zwei Wochen veröffentlicht hat. Darin nimmt sie eine Einschätzung zur Al-Aqsa-Flut vor, die wir für wertvoll für die Debatten in der deutschen kommunistischen und Palästina-Solidaritätsbewegung halten.