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Amílcar Cabral über Neokolonialismus und nationale Befreiung (1966)

Wir haben uns vor dem Hintergrund unserer Imperialismus-Debatte und anlässlich von 65 Jahren „Afrikanisches Jahr“ vorgenommen, uns verstärkt mit den Kämpfen gegen Imperialismus, Kolonialismus und Neokolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent zu beschäftigen. Dazu zählt u. a. natürlich auch, dass wir uns mehr mit dem theoretischen Wirken afrikanischer Marxisten und Revolutionäre auseinandersetzen.

Wir werden daher in der kommenden Zeit Auszüge aus den Werken von Genossen veröffentlichen, deren Schriften mittlerweile als „Klassiker“ der antikolonialen Befreiung und der Klassenkämpfe in den unterdrückten, unterentwickelten und abhängen Ländern gelten, die aber in der kommunistischen Bewegung – jedenfalls in Deutschland – noch immer viel zu wenig berücksichtigt und gewürdigt werden. Wir werden uns dabei auf Auszüge konzentrieren, die, trotz der Tatsache, dass die Texte häufig Jahrzehnte alt sind, auch für die heutige Zeit wichtige Analysen, Erkenntnisse und Denkanstöße liefern.

Wir beginnen mit einem Text von Amílcar Cabral. Cabral wurde 1924 in Guinea-Bissau geboren und entwickelte sich später zu einem der herausragendsten revolutionären Führer und Theoretiker Afrikas: 1956 gründete er die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit von Guinea und Kap Verde (PAIGC) und – gemeinsam mit Agostinho Neto, den er während seines Studiums in Lissabon kennengelernt hatte – die Volksbewegung zur Befreiung Angolas (MPLA). Beide Parteien nahmen Anfang der 1960er Jahre den bewaffneten Kampf gegen das portugiesische Kolonialregime auf. In Ghana, wo Kwame Nkrumah Präsident war, ließen sich die PAIGC-Kämpfer ausbilden. Auch zum sozialistischen Lager knüpfte Cabrals Befreiungsbewegung enge Kontakte und erhielt von dort zum einen Waffen und sogar Kämpfer, aber auch Ausbildung, mit deren Hilfe sie in den befreiten Gebieten eine flächendeckende medizinische und landwirtschaftliche Versorgung sicherstellen konnte. Am 20. Januar 1973, acht Monate vor der Unabhängigkeit Guinea-Bissaus, wurde Amílcar Cabral von einem portugiesischen Agenten ermordet. Auf Deutsch erschienen drei Bücher mit gesammelten Texten von ihm: 1968 beim Verlag Oberbaumpresse, 1974 im Rotbuch-Verlag und 1983 bei Edition CON.

Der folgende Textauszug stammt aus einem Vortrag, den Amílcar Cabral im Januar 1966 auf der 1. Konferenz der Tricontinentale in Havanna hielt. Er wurde später unter dem Titel „Grundlagen und Ziele der nationalen Befreiung in Bezug auf die Sozialstruktur“ veröffentlicht. Cabral trat dort als Vertreter der Konferenz der nationalistischen Organisationen der portugiesischen Kolonien (CONCP) auf, in der zu dem Zeitpunkt die PAIGC, die MPLA und die mosambikanischen FRELIMO zusammengeschlossen waren. Wie Jorge Risquet, ein kubanischer Revolutionär und hochrangiger Politiker, der zuvor an der Seite Che Guevaras in Kongo-Brazzaville gekämpft hatte und später auch Guinea-Bissau und Angola militärischen Beistand leistete, bezeichnete Cabrals Vortrag als „brillant“ und berichtete: „Alle waren beeindruckt von seiner großen Intelligenz und seiner Persönlichkeit.“1 Cabral geht in dem Vortrag auf die Rolle des Klassenkampfs als Motor der Geschichte und die Auswirkungen des Imperialismus auf die sozio-ökonomische Entwicklung der kolonisierten Völker, auf die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfs und auf die Rolle des Kleinbürgertums im nationalen Befreiungskampf sowie auf die Funktionsweise von Kolonialismus und Neokolonialismus ein. Von Letzterem handelt der folgende Auszug.

„(…) Es ist nützlich, die allgemeinen Formen imperialistischer Herrschaft zu untersuchen. Es gibt zumindest zwei:

1. Direkte Herrschaft – mittels politischer Macht, ausgeübt durch dem beherrschten Volk fremde Agenten (Truppen, Polizei, Verwaltungsbeamte und Siedler) – allgemein klassischer Kolonialismus oder Kolonialismus genannt.

2. Indirekte Herrschaft – mittels politischer Macht, ausgeübt größtenteils oder ganz durch einheimische Agenten – allgemein Neokolonialismus genannt.

Im ersten Fall kann die Sozialstruktur des beherrschten Volkes, ganz gleich auf welcher Entwicklungsstufe es sich befindet, folgende Veränderungen erfahren:

a) Vollständige Zerstörung, im allgemeinen verbunden mit der sofortigen oder fortschreitenden Liquidierung der einheimischen Bevölkerung und infolgedessen mit der Ersetzung dieser durch eine fremde Bevölkerung;

b) Partielle Zerstörung, im allgemeinen verbunden mit einer mehr oder weniger umfangreichen Ansiedlung einer fremden Bevölkerung;

c) Scheinbare Erhaltung, bedingt durch die Eingrenzung der Eingeborenengesellschaft in im allgemeinen an Lebensmöglichkeiten armen Zonen oder Reservaten, begleitet von massiver Ansiedlung einer fremden Bevölkerung. Die beiden letzten Fälle sind die, die für uns im Rahmen der Problematik der nationalen Befreiung von Bedeutung und in Anfrika weit verbreitet sind. Die Auswirkungen des Imperialismus auf die historische Entwicklung jedes beherrschten Volkes sind Lähmung, Stillstand und in einigen Fällen sogar Rückschritt dieser Entwicklung. Trotz allem ist diese Lähmung nicht vollständig. In dem einen oder anderen Sektor des betreffenden sozioökonomischen Bereiches kann man spürbare Veränderungen erwarten, sie werden durch den permanenten Einfluß einiger innerer (örtlicher) Faktoren ausgelöst oder entstehen als Wirkung neuer, von der Kolonialherrschaft eingeführter Faktoren, wie z. B. des Geldkreislaufes und der Zusammenballung in den Städten. Unter diesen Veränderungen ist es in bestimmten Fällen angebracht, den fortschreitenden Prestigeverlust der führenden einheimischen Klassen oder Schichten, den erzwungenen oder freiwilligen Zuzug eines Teiles der bäuerlichen Bevölkerung in die Stadtzentren mit der daraus folgenden Entwicklung neuer sozialer Schichten: der Lohnarbeiter, Beamten, Handelsangestellten, freien Berufe und einer labilen Arbeitslosenschicht, hervorzuheben. Auf dem Land entsteht mit unterschiedlicher Stärke und immer mit dem städtischen Milieu verbunden eine Schicht kleiner Grundbesitzer.

Im Neokolonialismus orientiert sich der Imperialismus unabhängig davon, ob die Mehrheit der kolonisierten Bevölkerung einheimisch oder ausländischer Herkunft ist, an dem Ziel, eine örtliche Bourgeoisie oder Pseudo-Bourgeoisie zu schaffen, die von der herrschenden Klasse der Kolonialmacht abhängig ist. In den unteren Schichten sind die Veränderungen der Sozialstruktur nicht so ausgeprägt. Dies gilt vor allem auf dem Land, wo im allgemeinen die Verhältnisse der Kolonialzeit erhalten bleiben; aber das Aufkommen einer einheimischen Pseudo-Bourgeoisie, die sich aus einer bürokratischen Kleinbourgeoisie und den Zwischenhändlern (Kompradoren) entwickelt, verschärft die Widersprüche zwischen den sozialen Schichten und eröffnet durch die verstärkte Aktivität örtlicher Wirtschaftskräfte neue Perspektiven sozialer Dynamik, besonders mit der fortschreitenden Entwicklung einer städtischen Arbeiterklasse, dem Entstehen landwirtschaftlichen Privateigentums und damit eines Landproletariats.

Diese mehr oder weniger spürbaren Veränderungen der Sozialstruktur, die durch eine beachtliche Steigerung des Niveaus der Produktivkräfte bedingt sind, haben direkten Einfluß auf den historischen Prozeß des sozio-ökonomischen Ganzen. Während dieser Prozeß im klassischen Kolonialismus erstarrt ist, erweckt die neokolonialistische Herrschaft den Anschein, als ob der historische Prozeß wieder eine normale Entwicklung annehme, indem sie die soziale Dynamik, die Interessenkonflikte zwischen den einheimischen sozialen Schichten und den Klassenkampf sich entwickeln läßt. Diese Illusion verstärkt sich, wenn die politische Macht auf nationalistischer Basis von Einheimischen ausgeübt wird. Und dies ist in der Tat nur eine Illusion, denn in Wirklichkeit begrenzt oder hindert die Abhängigkeit der örtlichen führenden Klasse von der führenden Klasse des beherrschenden Landes die Entwicklung der nationalen Produktivkräfte. Unter den gegebenen Verhältnissen der Weltwirtschaft ist diese Abhängigkeit verhängnisvoll und infolgedessen ist die örtliche Pseudo-Bourgeoisie, wie nationalistisch sie auch sein mag, nicht in der Lage, wirksam ihre historische Funktion zu erfüllen. Sie kann die Entwicklung der Produktivkräfte nicht frei bestimmen, kurz: sie kann keine nationale Bourgeoisie sein. Die Produktivkräfte sind aber, wie wir gesehen haben, die treibende Kraft der Geschichte, und die totale Freiheit ihres Entwicklungsprozesses ist eine unerläßliche Voraussetzung für ihre volle Entfaltung. 

Man sieht also: sowohl im Kolonialismus wie auch im Neokolonialismus bleibt das wesentliche Charakteristikum der imperialistischen Herrschaft gleich: Verneinung des historischen Prozesses des beherrschten Volkes mittels widerrechtlicher, gewalttätiger Beschneidung des freien Entwicklungsprozesses der nationalen Produktivkräfte.

Dieser Schluß, der die beiden bestehenden Formen imperialistischer Herrschaft in ihrem Wesen einander gleichsetzt, scheint uns für die Theorie und Praxis der Befreiungsbewegungen während des Kampfes wie auch nach Erlangung der Unabhängigkeit von erstrangiger Bedeutung zu sein.

Indem wir von dem bisher Gesagten ausgehen, können wir feststellen: die nationale Befreiung ist die Negation der Negation des historischen Prozesses eines sozio-ökonomischen Ganzen. Mit anderen Worten: die nationale Befreiung eines Volkes ist die Wiedererlangung seiner historischen Persönlichkeit, sie bedeutet seine Rückkehr zur Geschichte mittels der Zerstörung der imperialistischen Herrschaft, der es unterworfen war.

Wir haben gesehen, daß die gewalttätige Knebelung der Freiheit des Entwicklungsprozesses der Produktivkräfte des beherrschten sozio-ökonomischen Ganzen das Hauptkennzeichen der imperialistischen Herrschaft, ganz gleich in welcher Form sie auftritt, ausmacht. Wir haben auch gesehen, daß einzig und allein die Wiedererlangung dieser Freiheit die Normalisierung des historischen Prozesses eines Volks gewährleistet.  Der Schluß, daß die nationale Befreiung dann und nur dann erreicht ist, wenn die nationalen Produktivkräfte vollständig von jeder Art von Herrschaft befreit sind, liegt auf der Hand.

Man sagt gewöhnlich, daß die nationale Befreiung in dem Selbstbestimmungsrecht aller Völker begründet ist, frei ihr Schicksal zu bestimmen, und daß diese Befreiung die nationale Unabhängigkeit zum Ziel hat. Wir lehnen eine solche vage und subjektive Art, eine komplexe Wirklichkeit auszudrücken, ab. Wir ziehen es vor, objektiv zu sein, denn für uns gründet die nationale Befreiung – wie immer das auch in der Sprache des internationalen Rechts ausgedrückt wird – auf dem unveräußerlichen Recht jedes einzelnen Volkes, seine eigene Geschichte zu haben, und das Ziel der nationalen Befreiung ist die Wiedererlangung dieses vom Imperialismus geraubten Rechts, nämlich die Befreiung des Entwicklungsprozesses der nationalen Produktivkräfte. Daher kann unserer Meinung nach wohl jede nationale Befreiungsbewegung, die diese Grundlage und dieses Ziel nicht in Rechnung zieht, zwar gegen den Imperialismus kämpfen, aber sie wird so nicht für die nationale Befreiung kämpfen.

Das bedeutet, wenn man die wesentlichen Merkmale der Weltwirtschaft unserer Zeit sowie die bereits gesammelten Erfahrungen auf dem Gebiet des anti-imperialistischen Kampfes berücksichtigt, daß die wichtigste Voraussetzung der nationalen Befreiung der Kampf gegen den Neokolonialismus ist. Wenn wir uns ferner vor Augen halten, daß die nationale Befreiung eine tiefe Veränderung im Entwicklungsprozeß der Produktivkräfte erfordert, sehen wir, daß die nationale Befreiung notwendigerweise mit einer Revolution verbunden ist. Wichtig ist, sich der objektiven und subjektiven Bedingungen bewußt zu sein, unter denen die Revolution stattfindet, und die ihrer Verwirklichung angemessene Kampfform zu erkennen. (…)“

Der Auszug stammt aus Amilcar Cabral: Die Theorie als Waffe, Westberlin: Oberbaumpresse 1968, S. 29 f. Das gesamte Buch kann man kostenlos und legal unter folgendem Link lesen: https://archive.org/details/die-theorie-als-waffe/

  1. Zitiert nach Wolfgang Mix: Kubas Internationalismus. Angola 1975-1991, Berlin: Verlag Wiljo Heinen 2019, S. 34. ↩︎

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