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„Die in Europa gestrandeten ‚Verdammten dieser Erde‘ müssen sich vereinen“

Am 7. Januar 2005 wurde Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau ermordet und verbrannt. Freunde von ihm organisierten sich und kamen mit The VOICE Refugee Forum sowie der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen zusammen. Anfang 2006 begannen sie eine bundesweite Informations-Kampagne und organisierten am 1. April eine Großdemo für die Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh. In der Folge kämpften sie vor Gericht und in der Öffentlichkeit für Gerechtigkeit und organisierten Solidarität mit den Angehörigen von Oury Jalloh. Die für den Tod von Oury Jalloh sowie weiteren Menschen – Mario Bichtermann und Hans-Jürgen Rose – verantwortlichen Polizisten wurden bis heute zu keinen nennenswerten Strafen verurteilt. 

Wir sprachen mit zwei Genossen von der Karawane über den Fall Oury Jalloh, die kolonialen Wurzeln des in Deutschland herrschenden Rassismus und die Zusammenhänge zwischen Kolonialismus, Imperialismus, Flucht und Migration. 

Das Interview wurde von Noel Bamen mit Araz und Mbolo geführt, die seit Jahren in der Karawane politisch aktiv sind, in schriftlicher Form geführt. 

KO: Seit 2005 kämpft ihr gemeinsam mit anderen für Aufklärung und Gerechtigkeit im Fall Oury Jalloh. Könnt ihr die wichtigsten Etappen dieser 20 Jahre und den aktuellen Stand kurz zusammenfassen? 

Karawane: Nach dem barbarischen Mord an Oury Jalloh ging es darum, der Familie und den Freundinnen und Freunden beizustehen und nach Aufklärung zu verlangen. Gleichzeitig waren wir alle, ohne die Einzelheiten und Fakten zu kennen, überzeugt, dass Oury Jalloh brutal ermordet und anschließend verbrannt worden war. In dieser ersten Phase ging es darum, einen öffentlichen Prozess herbeizuführen, dies gelang nur über Beharrlichkeit und mit der Parole „Oury Jalloh, das war Mord!“. Diese Parole störte nicht nur die Polizei und die staatlichen Institutionen, sondern auch linke deutsche Aktivistinnen und Aktivisten sowie Mitglieder der Antirassismus-Szene. Denn ohne Beweise dürfen solchen Parolen nicht gerufen werden. Für uns, Menschen aus Abya Yala [vorkolonialer Name Amerikas, Anm. KO], Afrika und Asien, war jedoch diese Art der Barbarei nichts Neues und reihte sich in die 500-jährige Unterwerfung unserer Kontinente ein. Wir vertrauten unseren jahrhundertelangen Erfahrungen, vor allem dann, wenn uns Freunde von Oury über seine Lebensfreude und über seinen Stolz als Vater erzählten. Wir mussten uns also mit der Parole nicht nur in Dessau gegen die Polizei und die Verwaltungsbehörden durchzusetzen, sondern auch gegen gutgemeinte Ratschläge aus der den Flüchtlingen wohlwollenden Szene deutscher Menschen.

Der erste Etappensieg wurde erreicht und der erste Prozess wurde eröffnet. Hier ging es dann darum, alle zu Tage tretenden Ungereimtheiten zu nutzen, um den rassistischen und barbarischen Hintergrund aufzudecken. Gleichzeitig war es aber allen innerhalb des Netzwerks der Karawane und The VOICE klar: Dieser Kampf muss dazu führen, dass sich Flüchtlinge und Migranten – bewaffnet mit dem Bewusstsein über die menschenfeindliche Haltung der Gesellschaft –  stärker engagieren für ihre Zukunft. Das heißt, die Kämpfe gegen Polizeibrutalität, gegen Abschiebung und gegen Eingriffe in unsere Herkunftsländer zu verbinden und der Herrenmentalität als kolonialem Erbe zu begegnen. 

Leider haben wir nach dem ersten Gerichtsurteil einen Zerfall und eine Fragmentierung beobachten müssen, wir haben erlebt, wie Vereine und NGOs die Kämpfe in das bürgerliche Lager integrierten und dem Kampf die Spitze nahmen. Jeder wusste, dass Oury Jalloh ermordet worden war, sie wollten alle darüber reden, doch keiner forderte Konsequenzen.  

Oury Jalloh war nicht das erste Todesopfer und nicht der letzte Ermordete. Alle konnten gerade im Dezember 2024 sehen, wie die fünf Beamten, die Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund mit 18 Kugeln niedergestreckt hatten, freigesprochen wurden. Uns ging es darum, das Thema weiterhin, wenn notwendig, hochzuhalten, es aber zu verknüpfen mit allen anderen Fällen und unserer generellen Arbeit, damit die Kämpfe sich aufeinander beziehen und den Kern des Problems ins Visier nehmen können. 

KO: Oury Jalloh war, wie du gesagt hast, weder das erste noch das letzte Todesopfer rassistischer Polizeigewalt in Deutschland. Besonders häufig sind schwarze Menschen betroffen. Woran liegt das? 

Karawane: Es liegt an der langen Unterdrückung der drei Kontinente während und nach der Kolonialzeit. Es geht darum, dass man die Anderen, denen man das Land, das Eigentum und das Leben brutal nahm und sie ermordete, entmenschlichen musste. Seit dem Disput von Valladolid 1550 [Streit in Spanien um die Rechtmäßigkeit der Versklavung indigener Menschen, Anm. KO] haben diejenigen gesiegt, die die Opfer zum Barbaren erklärten, während sie in den Minen Perus die Menschen abschlachteten, während sie in Kongo die Hände abhackten oder in China die alten Kulturen zerbombten. Diese lange Unterdrückung der Menschheit durch die europäische Minderheit hat zu einem Selbstverständnis geführt, dass hier in Europa und Nordamerika diejenigen sitzen, die wüssten, wie die Welt auszusehen hat. Die anderen Ärmeren und Rückständigeren aus den genannten Kontinenten können es nicht und vor allem nicht besser.

Durch diese Entmenschlichung, die tagtäglich in den Medien, öffentlichen Debatten usw. reproduziert wird, verliert das Leben des „Anderen“ an Bedeutung. Wenn er ein Messer in der Hand hat, wird er sofort erschossen, mit mehreren Kugeln wie Dominique Kouamadio 2006 in Dortmund oder  Mouhamed Lamine Dramé 16 Jahre später. Wenn eine Frau wie N’deye Mareame (Maryama) Sarr darauf besteht, ihre Kinder mit nach Hause zu nehmen, wird nicht ihr Mann, der die Kinder zu Unrecht mitgenommen hat, angegangen, sondern Maryama Sarr erschossen. Es wiederholte sich im Gerichtssaal von Dresden am 1. Juli 2009: Marwa El Sherbini, Opfer eines Rassisten, sitzt im Gerichtsaal und wird von dem Angeklagten angegriffen. Marwas Mann, der ihr zur Hilfe rennt, wird von den Polizisten angeschossen, nicht der angeklagte Rassist mit dem Messer. Die 500 Jahre der kolonialen Erziehung spüren wir im Alltag in den Diskussionen, nicht nur als Schwarze, aber besonders als schwarze Menschen. Jedes Leben in der Ukraine ist mehr wert als das Leben Hunderter palästinensischer Kinder und mehr als das Leben einer halben Million Menschen in Tigray. Der Rassismus als logische Folge der kolonialen Gegebenheiten ist Teil dieser Gesellschaft. Das eine wird nicht ohne das andere verschwinden.

KO: Die Karawane versteht sich als antikoloniale Bewegung. Euer Motto ist: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“. Wie hängen Migration und Flucht mit Kolonialismus und Imperialismus zusammen? 

Karawane: Der Kolonialismus hat Europa zum Reichtum verholfen. Die Beute war das Startkapital für die Industrialisierung und den Kapitalismus, der sich nun in Imperialismus transformiert hat. Die Parole wurde vom Netzwerk erstmals 1999 in Köln auf dem Gipfel der reichen Industrienationen formuliert. Sie wurde auch schon früher in England von Studenten aus den ehemaligen Kolonien verwendet. Wir haben mit der Parole bewusst die Ursache für Flucht und Migration benennen wollen. Es wurde damals durch die Politik versucht, zwischen „guten und schlechten“ Flüchtlinge zu unterscheiden, zwischen politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen. Wir sagten, dies sei unbedeutend, weil auch die wirtschaftlichen Gründe politischer Natur seien und eine Folge der Aufteilung der Welt.

Schau dir die Zahlen heute an: Nach Jason Hickel und seinen Kollegen raubten die reichen Nationen den Arbeiterinnen und Arbeitern des Südens allein im Jahre 2021 826 Milliarden Stunden ihrer Arbeit. Das englische Imperium hat Indien um 64,82 Billionen Dollar beraubt. Während sich in London auf dem Parkett  die Edlen feiern können, verhungern Kinder in Indien oder müssen schon in frühen Jahren arbeiten. Flucht und Migration sind natürliche Folgen der Zustände, die von den alten Kolonialländer geschaffen worden sind und durch die Konzentration der Macht in den entsprechenden globalen Institutionen (Finanzen, Technology, Kommunikation, Agrarwirtschaft, …) immer noch fortgesetzt werden. 

Die Parole soll jeden hier in Europa dazu bringen, über seine Rolle als Mensch zu reflektieren und zu entscheiden, was zu tun ist. 

KO: Auch Oury Jalloh kam als Flüchtling nach Deutschland. Er galt als „geduldet“. Ihr bezeichnet das deutsche Asylsystem ebenfalls als ein koloniales System. Was meint ihr damit? 

Karawane: Oury Jalloh kam als Opfer des Krieges um Blutdiamanten nach Deutschland. Sein Asylverfahren wurde, wie das vieler anderer, abgelehnt. Danach ist man nach deutschem System bis zur Abschiebung nur noch „geduldet“. Wir bezeichnen das deutsche Asylsystem oder besser: seine Instrumente der Abschreckung und der Disziplinierung als Erbe des kolonialen Systems. Die Residenzpflicht schränkt die Bewegungsfreiheit ein, genauso wie in Südafrika oder anderen afrikanischen Ländern wie Togo und Kamerun den Menschen bestimmte Gebiete zugewiesen worden sind. Das Lagersystem, in dem die Menschen jahrelang gehalten werden, zerstört nicht nur die Psyche der Menschen, sondern schafft noch mehr Hass und Hetze. Es ist in den Kolonien erprobt worden und später im deutschen Faschismus perfektioniert worden. Die ersten Konzentrationslager gab es z. B. im heutigen Südafrika, in Namibia und in Algerien.

Neben vielen anderen Beispielen ist vor allem die Haltung der Behörden und Beamten immer wieder die gleiche: Man wird als kleines naives Wesen aus der Wüste oder aus dem Dschungel behandelt. Also sowohl in den Ausführungen der Verwaltungsregeln als auch in der Haltung könnte man das System als kolonial bezeichnen. Zudem schützt das deutsche oder europäische System die geraubten Reichtümer, indem es die rechtmäßigen Besitzer an den Außengrenzen Europas tagtäglich ermordet. 

KO: In der politischen Linken gibt es verschiedene Positionen bezüglich Flucht und Migration. Wie müssen aus eurer Sicht antiimperialistische und antikoloniale Grundpositionen zu den Fragen Flucht und Migration in einem Land des imperialistischen Zentrums, wie Deutschland? 

Karawane: Wir sind davon überzeugt, dass Flüchtlinge und Migranten sich emanzipieren und solidarisieren müssen. „Die Verdammten dieser Erde“, die in Europa gestrandet sind, müssen sich vereinen und für ihre Anliegen kämpfen. Sie müssen Räume schaffen, um ihre eigenen Anliegen hier formulieren und verteidigen zu können. Sie müssen dabei aufpassen, dass ihre Anliegen nicht von anderen angeeignet und ausgenutzt werden. Grundlage einer echten internationalen Solidarität kann nur eine Analyse der eigenen Geschichte in unseren Herkunftsländern und ein klares Bewusstsein über das tatsächliche Wesen der deutschen Herrschaft sein. Die Demokratie mag eine schöne Hülle sein, um das rassistische Wesen zu verschleiern, welches Oury Jalloh und viele andere ermordet hat, um das brutale kalte Europa zu verstecken, das jährlich Tausende an den Außengrenzen abweist und im Meer oder in Wüsten sterben lässt, um die imperialistische Barbarei zu schmücken, die fast alle aktuell laufenden Kriege zu verantworten hat oder den Genozid in Gaza mit ihrer Waffenlieferungen unterstützt.

Wir können uns nur auf unsere eigene Kraft und Wissen verlassen. Daher sind wir überzeugt, dass wir nur durch gemeinsames Lernen und Solidarität mit den unterdrückten und sich als solche begreifenden Menschen langfristig weiterkommen. 

Aktuelles

Im Februar startet der „Studiengang zur Geschichte des Kommunismus“

In einem dreijährigen Lern- und Diskussionsprozess soll aus den historischen Erfahrungen, Niederlagen, Fehlern und Erfolgen der Bewegung gelernt werden. Die Kämpfe sollen in den historischen Kontext eingeordnet werden, um sie besser zu verstehen. Welche Widersprüche in der Welt haben zu welchen Widersprüchen in der Bewegung geführt und welche Schlüsse sind daraus für heute abzuleiten? Das ist die Fragestellung, die sich durch die Beschäftigung mit der Geschichte zieht.

Ein Kontinent im Aufbruch

Der folgende Text ist ein Bericht von einer Konferenz im Senegal im November 2024. Aber er ist mehr als ein Bericht: Er gibt einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen in Westafrika – über den antiimperialistischen Kampf, über den progressiven Charakter der dortigen Militärregierungen und ihre Unterstützung aus dem Volk.Es ist ein Einblick in die weitreichenden Maßnahmen zur Bekämpfung der neokolonialen Abhängigkeit, zum Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft, zur Mobilisierung der Bevölkerung und auch in die damit verbundenen Schwierigkeiten.