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Im Visier des Westens

Eine spannende Einführung mit Aktualisierungsbedarf

Von Noel Bamen
Der ehemals beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk tätige Osteuropakorrespondent der jungen Welt, Reinhard Lauterbach, hat bislang zwei Bücher verfasst. Das erste von 2014 bzw. in überarbeiteter und ergänzter Auflage von 2015 behandelt, wie der Titel schon sagt, den Bürgerkrieg in der Ukraine. Obwohl sich in den letzten sieben bis acht Jahren natürlich einiges getan hat und das Buch entsprechend eine Aktualisierung nötig hätte, eignet es sich durchaus als Einstieg in das Thema, denn der Großteil des Textes behandelt die Vorgeschichte dieses Konflikts, dessen internationale Seite spätestens seit Februar diesen Jahres überhandgenommen und ihn zu einem offenen Krieg zwischen dem Westen und Russland gemacht hat. Zudem ist es in einem lockeren, journalistischen Stil geschrieben, sodass es keine sprachlichen oder akademischen Hürden setzt.
 
Ritt durch die Geschichte
Zunächst gibt Lauterbach einen gerafften Überblick über die Geschichte und Genese der ukrainischen Nation und des ukrainischen Nationalismus, angefangen bei der »Kiewer Rus« (9. bis 13. Jahrhundert) über die wechselnden Dynastien, die bis zum frühen 20. Jahrhundert die verschiedenen und kaum jemals in einem Staatswesen zusammengefassten Gebiete der heutigen Ukraine beherrschten (Russen, Ungarn, Polen, Litauer, Osmanen) bis hin zu den ersten Gebilden mit ukrainischem nationalstaatlichem Anspruch im Zuge der beiden russischen Revolutionen 1917 ff. Wer sich für das Thema der ukrainischen Historie interessiert, sollte sich definitiv weitere Lektüre suchen, denn Lauterbach vermittelt allenfalls eine grobe Vorstellung, auf deren Grundlage er zugleich die nationalen Mythen der heutigen ukrainischen (und auch westlichen) Geschichtsnarrative kritisiert – ohne sie gänzlich zu verwerfen.

Besonders deutlich wird dabei, dass die Ukraine seit Beginn ihrer nationalstaatlichen Konstituierung zutiefst gespalten war und zwar entlang der Grenze zwischen der ehemals durch Österreich-Ungarn beherrschten und beeinflussten, bürgerlich-nationalistisch geprägten Westukraine einerseits und der vom Zarenreich beherrschten, multinationalen und ab Ende des 19. Jahrhunderts vom dort entstehenden Industrieproletariat geprägten Ostukraine andererseits.

Ebenso auffällig wird die (groß-)deutsche Einflussnahme auf den ukrainischen Nationalismus: Wurde die ukrainische Identitätsbildung Ende des 19. Jahrhunderts — zumindest indirekt — noch durch eine kaiserliche und königliche Monarchie gefördert, so fand der militante ukrainische Nationalismus seit dem Ersten Weltkrieg seinen Patron im deutschen Kaiserreich und dann in der Weimarer Republik: Angefangen beim Skoropadskyj-Regime, das die Deutschen nach der Zerschlagung der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik in der heutigen Ostukraine installierten, über die Unterstützung der Ukrainischen Militärorganisation, die im polnisch beherrschten Galizien bewaffnet für die Unabhängigkeit kämpfte, bis hin zur Zusammenarbeit mit den – mittlerweile zur hegemonialen Kraft unter den ukrainischen Nationalisten aufgestiegenen – Faschisten unter Stepan Bandera und Andrej Melnyk, welche die Zerschlagung des Nazi-Regimes in Form der Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst mit Bandera noch überdauerte.
 
Konterrevolution, „Orangene Revolution“ und „Euro-Maidan“

Auf den rund 12 Seiten zur Geschichte der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik geht es vor allem um die sowjetische Nationalitätenpolitik mit ihren großartigen Erfolgen (Förderung der Kulturen der vielen Nationen und Nationalitäten der SU), ihren Schattenseiten (kollektive Bestrafungen für tatsächliche und vermeintliche Kollaboration mit dem Feind) und ihrer taktischen Bevölkerungspolitik (bewusst große nationale Minderheiten in den Teilrepubliken); um Probleme im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung und um die Zerschlagung der faschistischen und bürgerlich-nationalistischen ukrainischen Terror-Banden nach 1945. Spannend sind dabei vor allem die Ausführungen über den scheinbar nicht tot zu kriegenden ukrainischen Nationalismus bzw. Chauvinismus unter Teilen der Bevölkerung auch in der Sowjetunion sowie die Schilderungen über die Hintergründe der „Schenkung“ der Krim an die Ukraine unter Chruschtschow.

In weiten Teilen des Buches geht es um schier unerträgliche Korruption, Machtgezerre und Opportunismus. Das alles spielte vor allem in den Jahrhunderten vor der Nationalstaatsbildung, unter den bürgerlichen Nationalisten und dann schließlich wieder in der Zeit ab den 1990ern eine wichtige Rolle. So erfährt der Leser etwa, wie sowohl die ukrainische kommunistische Partei als auch die Arbeiter im Donbass sich vor den Karren der bürgerlichen Nationalisten spannen ließen und den Austritt der Ukraine aus der Sowjetunion mit vorantrieben. Während letztere allerdings über den Tisch gezogen wurden, waren es – wie auch in Russland – ehemalige Kommunisten und staatliche Kader, die sich das Volkseigentum unter den Nagel rissen und eine Art Mafia-Kapitalismus ins Leben riefen, der seither geprägt ist durch Machtkämpfe zwischen den verschiedenen „Oligarchen“. Diese Kämpfe waren ein wesentlicher Teil der sog. „Orangenen Revolution“ 2004/05 wie auch des Maidan-Putsches neun Jahre später. 

Der andere Teil besteht in den Versuchen des Westens, die Ukraine von Russland abzutrennen und ins eigene Lager zu ziehen. Lauterbach ist als Journalist vorsichtig, was Behauptungen über Verschwörungen angeht – daher sind seine zahlreichen Belege und Indizien umso mehr wert. Dabei geht es um Millionen an Geldern, die an genehme politische Kräfte flossen, um Agententätigkeiten, False Flag-Aktionen und Propaganda. Dabei stützt er sich sowohl auf offizielle Aussagen von westlichen Politikern und Recherchen Dritter – bevorzugt (pro)westliche Quellen –, als auch auf eigene Beobachtungen vor Ort.
 
Der Donbass als Faustpfand
Schließlich geht es auch um den sog. „Anti-Maidan“, den Aufstand in der Ost- und Südukraine, die daraus hervorgegangenen sog. Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie den für das Buch namensgebenden Bürgerkrieg, den Lauterbach tatsächlich als etwas zunächst genuin Ukrainisches sieht, ohne die Rollen des Westens und Russlands dabei auszublenden. Der Aufstand und die Kämpfe werden nicht chronologisch dargestellt und auch über die inneren Strukturen wusste der Autor 2015 offenbar nicht viel zu sagen.

Stattdessen geht es vor allem um die Rolle, die regionale Oligarchen zunächst spielten, indem sie den Aufstand zu nutzen versuchten, um ihre durch den Putsch gegen Janukowitsch geschwächte Position wieder zu stärken. Die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation wird übrigens gar nicht behandelt, sondern findet nur am Rande Erwähnung. Damit hinterlässt dieser Teil viele Fragen: Handelt es sich bei diesem Aufstand nun im Kern um eine Erhebung der Bevölkerung oder nur um ein Werkzeug regionaler Eliten? Welche Rolle spielen Kommunisten, Gewerkschaften usw.? Ist das antifaschistische Selbstverständnis der Volksrepubliken ernst zu nehmen oder nur folkloristischer Kitt?

Im letzten Kapitel wagt Lauterbach schließlich einen Ausblick, der mittlerweile größtenteils überholt ist bzw. durch eine Geschichtsschreibung der tatsächlichen Ereignisse ersetzt werden müsste. Spannend ist allerdings auch oder vielleicht gerade heute die These des Autors, dass die Eingliederung der Krim ein „Pyrrhussieg“ für Russland gewesen sei und dass Moskau eigentlich kein Interesse am Anschluss des Donbass habe. Denn erstens sei das Gebiet geo- und machtpolitisch uninteressant, dafür seien aber teure Wideraufbaumaßnahmen notwendig; zweitens sei der politische Schaden, den eine solche Eingliederung auf internationaler Bühne anrichte, vergleichsweise viel zu hoch; und drittens wolle man die dortige russische und russisch-sprachige Bevölkerung viel lieber als „Hebel“ nutzen, um die Ukraine zurück auf einen neutralen Kurs zu bringen (S. 147). Wie der Autor diese Thesen rückblickend beurteilt und was er für die Zukunft für realistisch oder wahrscheinlich hält, lässt sich im Podcast nachhören, der auf der Website der KO zu finden ist.

■ Reinhard Lauterbach: Bürgerkrieg in der Ukraine. Geschichte, Hintergründe, Beteiligte, Berlin: Berolina³ 2015. 163 Seiten.

Aktuelles

Vortrag zur Geschichte des Zionismus

Im Oktober hielten wir als KO in Leipzig im Rahmen der Aktionswoche des Kufiya-Netzwerks einen Vortrag zur Geschichte des Zionismus. Der Vortrag soll einen Einstieg in das Thema leisten und gibt Argumentationshilfen für die politische Auseinandersetzung an die Hand.

Lenin und seine Imperialismus-Broschüre

Paul Oswald setzt sich im folgenden Beitrag mit Teilen des Quellenmaterials von Lenins Imperialismus-Broschüre auseinander. Anhand eines vergleichenden Blicks zwischen Lenins Broschüre und vorangegangenen theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung sowie der bürgerlichen Wissenschaft wird das Alleinstellungsmerkmal von Lenins Untersuchung herausgearbeitet. Durch diesen Vergleich wird insbesondere Lenins Entwicklung des Begriffs des Imperialismus aufgezeigt und damit ein Zugang zur Imperialismus-Broschüre eröffnet wird, der in der Debatte unterrepräsentiert ist.