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Machtverschiebungen in der imperialistischen Pyramide in der „Coronakrise“

Kommentatoren in den bürgerlichen Zeitungen spekulieren momentan oft über die „Welt nach Corona“: Wird das Wirtschaftswachstum nachhaltig geschwächt? Wird die EU scheitern? Werden die „Demokratien“ an Boden verlieren angesichts von „Populisten“ und einem Aufstieg des „autokratischen China“? 

Die herrschende Klasse ist in Unruhe. Die Sorge um ihr System ist nicht gespielt, sondern echt, denn die Krise ist tief und trifft die alten Zentren des Kapitalismus, vor allem Europa und die USA, ins Mark. Wie die Welt nach der Pandemie im Detail aussehen wird, kann natürlich niemand vorhersagen. Doch sicher ist, dass die Krankheit und die durch sie verschärfte Wirtschaftskrise weitreichende Auswirkungen haben werden – auch für die Arbeiterklasse und den Kampf gegen den Kapitalismus. Als Kommunisten müssen wir daher versuchen, bedeutende Verschiebungen auf globaler Ebene möglichst frühzeitig zu erkennen und zu analysieren, um zu begründeten Prognosen zu kommen. Nur so können wir es schaffen, auf schlagartige Veränderungen der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und neu auftretende politische Probleme, Herausforderungen und Taktiken des Gegners vorbereitet zu sein. Wir werden uns daher in diesem Artikel mit der Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse, wie sie sich aktuell in der „Coronakrise“ abzeichnet, beschäftigen und insbesondere mit der Frage, wie sich das Verhältnis zwischen der EU, den USA und China momentan verändert. 

Pandemie und Krise

Weltweit sind zum aktuellen Zeitpunkt weit über 300.000 Menschen bestätigt an Covid-19 gestorben, die Zahl der bestätigten Infektionen geht auf die 5 Millionen zu. Bei beiden Zahlen ist jedoch von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Während die Infektionszahlen vor allem in den USA weiterhin rapide nach oben gehen und die Marke von einer Million mittlerweile deutlich überschritten haben, konnte China die Infektionen auf etwa 80.000 bestätigte Fälle und die Zahl der Toten auf etwas über 4.600 begrenzen. Während in Europa und den USA das Wirtschaftsleben heruntergefahren werden musste, um eine ungebremste Durchseuchung zu verhindern, wurden die Betriebe in China längst wieder geöffnet. Der schwere Pandemieverlauf in den USA und Europa trägt damit zu einem schweren Krisenverlauf bei. In den ersten vier Wochen der Krise gingen in den USA mehr Jobs verloren, als seit der Krise 2009 neue Jobs geschaffen wurden. Insgesamt reichten zwischen Mitte März und Mitte April über 22 Millionen US-Amerikaner einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe ein (Dörner / Rickens 2020). In Deutschland haben die Unternehmen inzwischen für mehr als 10 Millionen Beschäftigte Kurzarbeit angemeldet (Brinkmann 2020). Seit April gehen für die deutsche Wirtschaft die Konjunkturprognosen von einem Wirtschaftseinbruch von -4% bis -7% im laufenden Jahr aus. Die mittel- und langfristige wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, Europa und weltweit liegt aufgrund zahlreicher Unwägbarkeiten weitgehend im Dunkeln.  

In China, dem Land, in dem das Virus nach bisherigen Erkenntnissen als erstes aufgetaucht ist, wurde die COVID-19-Epidemie mit allen Mitteln bekämpft. China konnte dabei, wie viele Staaten in Südostasien, auf Erkenntnisse und Methoden zurückgreifen, die schon gegen SARS eingesetzt wurden. So wurden zum Beispiel infizierte Menschen konsequent isoliert, und zwar nicht zu Hause, sondern in Krankenhäusern. Zu diesem Zweck wurden innerhalb von wenigen Tagen Krankenhäuser für jeweils bis zu 1.000 Personen gebaut. Grundlage dafür waren modulare Bauteile, die nach der SARS-Epidemie 2003 entwickelt und einsatzbereit gehalten wurden. Zusätzlich hat China von Ende Januar einen strengen wirtschaftlichen Lockdown angeordnet. Dies führte dazu, dass Chinas Wirtschaftsleistung das erste Mal seit mehreren Jahrzehnten nicht gewachsen, sondern im Vergleich zum Vorjahr um 6,8% zurückgegangen ist. Chinas Exporte sind in den drei ersten Monaten von 2020 um 21% eingebrochen, im Handel mit den USA sogar um 25%. Der Umfang der industriellen Produktion ging um 14% zurück, und Einzelhandelsumsätze um mindestens 20%, da die meisten Läden außer Supermärkte seit Anfang des Jahres geschlossen waren (Tan / Cheng 2020; Mistreanu 2020). Dies betrifft auch den amerikanischen und deutschen Imperialismus: vier von zehn Volkswagen und drei von zehn BMW- oder Mercedes-Autos werden jeweils in China verkauft. Der chinesische Lockdown hat also, durch das Wegbrechen von Absatzmärkten innerhalb Chinas, auch eine enorme negative Auswirkung auf die Umsätze großer Monopolunternehmen in Europa und den USA gehabt.

Durch diese Maßnahmen war es China möglich, die Neuinfektionen gegen Null gehen zu lassen und nach scharfen Maßnahmen in den ersten 3 Monaten das Land Ende März wieder nahezu uneingeschränkt zu öffnen. Nach einem starken Einbruch des BIPs im ersten Quartal gehen Analysten deshalb davon aus, dass Chinas Wirtschaft im zweiten Quartal wieder anfangen wird zu wachsen, wenn auch in geringerem Ausmaß. Während China die Betriebe erst wieder öffnete, als es nur noch ein paar tausend aktive Fälle im Land gab, wollen westliche Länder mit zehn- oder  hunderttausenden von aktiven Infektionen schon fast alle Maßnahmen aufheben. Gleichzeitig zeigt sich der relativ entschlossene Umgang Chinas mit der Pandemie auch daran, dass jetzt, wo erneut Fälle von Covid-19 aufgetreten sind, erneut Millionenstädte abgeriegelt werden, um die Ausbreitung zu verhindern. 

Die Krise in der Europäischen Union

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sind nicht nur wegen des fatalen Pandemieverlaufs besonders krisenanfällig. Hinzu kommen auch mindestens zwei weitere gewichtige Faktoren.

Zum ersten hat die EU gerade erst ihre letzte tiefgreifende Krise mit Mühe und Not überstanden. Die 2008/2009 ausgebrochene Krise hatte in einigen südeuropäischen Ländern und in Irland zum faktischen Staatsbankrott geführt – ohne Notkredite der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF), ohne massive Interventionen der Europäischen Zentralbank EZB wären diese Staaten zahlungsunfähig gewesen. Ursache dafür waren nicht, wie die herrschende Propaganda unermüdlich behauptete, überhöhte Staatsausgaben der südeuropäischen Staaten, sondern eine kapitalistische Wirtschaftskrise, die durch die Konstruktion der EU verschärft wurde. Besonders erschwerend hatte sich der massive Anstieg der Kapitalverflechtungen nach der Einführung des Euro ausgewirkt – denn dieses investierte Kapital, v. a. deutscher und französischer Banken, wurde in der Krise schlagartig wieder abgezogen und vertiefte damit in Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal massiv die ohnehin eingetretene Rezession. In Griechenland, das am schwersten betroffen war, stürzte die Wirtschaftsleistung von 2008 bis 2016 kontinuierlich ab und erholte sich danach nur langsam – auf Kosten der Arbeiterklasse, die dies mit Hungerlöhnen bezahlte. 2019 lag das BIP niedriger als 15 Jahre zuvor, also 2004, und bei ungefähr 60% des Wertes von 2008. Die Arbeitslosenquote nach offiziellen Statistiken lag Ende 2019 in Griechenland bei über 16%, in Spanien bei fast 14%, in Italien bei 10%. 

Die Krise wurde in der EU also nie wirklich überwunden. In Deutschland wurde zwar schon früh die Illusion geschürt, wonach das der Fall sei. Allerdings war das Potenzial eines erneuten Kriseneinbruchs auch in den letzten Jahren weiterhin gegeben. 2018 drohte in Italien und Griechenland eine neue Bankenkrise. Auch wenn diese nicht voll ausbrach, könnte die Insolvenz vieler kleiner Unternehmen sie jetzt wieder in die Pleite treiben. Wenn jedoch Großbanken, die allgemein als „systemrelevant“ bezeichnet werden, d. h. für die Stabilität des Finanzsystems eines Landes essenziell sind, bankrott gehen, ist der kapitalistische Staat fast schon gezwungen, einzuspringen und das durch große Geldspritzen an die Banken zu verhindern. Diese Bankenrettung hatte die EU-Länder in der letzten Krise über eine Billion Euro gekostet. Durch die Bankenrettung, Konjunkturprogramme und andere Faktoren war die Staatsverschuldung in der Eurozone stark in die Höhe geschossen. In einigen Ländern wie Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Zypern, aber auch Belgien und Frankreich ist sie immer noch auf einem sehr hohen Niveau. Das bedeutet, dass diese Länder in einer neuen Krise verwundbarer sind, weil die finanziellen Spielräume des Staates geringer sind.

Der zweite Faktor, weshalb die EU krisenanfälliger ist, liegt darin begründet, dass die EU kein Staat ist, sondern ein Staatenbündnis. Die Nationalstaaten vertreten jeweils die Interessen ihres Kapitals – und nicht ein Gesamtinteresse eines „EU-Kapitals“, was es so auch nicht gibt. Diese unterschiedlichen, oft auch gegensätzlichen Interessen der Mitgliedsstaaten und ihrer nationalen Kapitalistenklassen machen ein entschiedenes, schnelles Krisenmanagement von zentraler Stelle unmöglich. Jede Maßnahme muss als Kompromiss ausgehandelt werden, weil sie die Interessen der einen Staatengruppe zugunsten einer anderen Gruppe verletzen könnte. Sowohl in der sogenannten „Euro“- bzw. „Schuldenkrise“ ab 2009/2010 als auch in der Covid19-Pandemie gibt es keinerlei Einigkeit, sondern ein Gezerre um nahezu jede Maßnahme des Krisenmanagements

Und weil die EU aus Nationalstaaten mit abweichenden Interessen besteht, wächst sie in der Krise auch nicht mehr zusammen – auch wenn die offizielle Propaganda das behauptet – sondern driftet unweigerlich weiter auseinander. Schon Marx schrieb über die zunehmenden Rivalitäten der Kapitalisten in der Krise: „Sobald es sich aber nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um Teilung des Verlustes, sucht jeder soviel wie möglich sein Quantum (d.h. seine Menge) an demselben zu verringern und dem andern auf den Hals zu schieben. Der Verlust ist unvermeidlich für die Klasse. Wieviel aber jeder einzelne davon zu tragen, wieweit er überhaupt daran teilzunehmen hat, wird dann Frage der Macht und der List, und die Konkurrenz verwandelt sich dann in einen Kampf der feindlichen Brüder.“ (Marx: Das Kapital, Band III, S. 264).

Aus demselben Grund besteht in jeder Krise eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass in manchen Ländern das Kapital infrage stellt, ob es von der EU-Mitgliedschaft überhaupt noch profitiert – oder ob die verschärfte Konkurrenz auf dem EU-Binnenmarkt, das Fehlen einer nationalen Währung und die zahlreichen Regulierungen aus Brüssel nicht eher nachteilig sind und die Profitaussichten außerhalb der EU nicht besser wären. Ein solcher Zerfall der EU, wie er durch die Krise vorangetrieben wird, wirkt sich insgesamt aber eher krisenverschärfend aus, beispielsweise weil Exporte in andere europäische Länder, die dann u. U. wieder Zollschranken aufrichten könnten und eine eigene Währung hätten, erschwert würden. 

Für die imperialistischen Mächte Europas, vor allem Deutschland, ist die Existenz der EU und des Euro jedoch die Voraussetzung dafür, ihr ökonomisches, politisches und militärisches Gewicht weltweit im Sinne ihres Kapitals ausspielen zu können. Eine Schwächung der EU bedeutet damit auch eine Schwächung des deutschen, aber auch z. B. des französischen Imperialismus in der Hierarchie des imperialistischen Weltsystems. 

Wenn heute einige bereits spekulieren, die EU sei de facto bereits Geschichte, ist das eine Übertreibung. Die EU ist nach wie vor als Akteur des Krisenmanagements – und als Feind der Arbeiter aller Länder – relevant. Sie hat immerhin zur Eindämmung der Wirtschaftskrise ein dreistufiges Maßnahmenpaket von insgesamt bis zu 540 Mrd. Euro beschlossen (240 Mrd. Euro Kreditlinien des Eurorettungsschirms ESM, 200 Mrd. Euro Kreditprogramm der Europäischen Investitionsbank und 100 Mrd. Euro für die Unternehmen im Rahmen des Kurzarbeiterprogramms). Zudem hat die EZB den Kauf von Anleihen im Umfang von weiteren 750 Mrd. Euro angekündigt. Tatsächlich lassen sich jedoch sehr deutliche Tendenzen zur Auflösung der EU bereits erkennen. Besonders zwischen Italien und Deutschland nehmen die Spannungen zu: Deutschland hatte Anfang März eine Exportbeschränkung für medizinische Schutzausrüstung verfügt und Italien mitten in der ausbrechenden Epidemie damit von Lieferungen abgeschnitten. Zudem weigert sich die Bundesregierung kategorisch, Gemeinschaftsanleihen (Eurobonds) in der Eurozone, die den italienischen Staatshaushalt in der Krise entlasten würden, auch nur in Erwägung zu ziehen. Auch der neue Vorschlag von Merkel und Macron Mitte Mai ändert daran nichts, da auch hier keine gemeinschaftlichen Staatsanleihen der Eurostaaten vorgesehen sind, sondern lediglich in einem begrenzten Maße eine Verschuldung der EU-Kommission zur Finanzierung eines Wiederaufbaufonds, die von den Mitgliedsstaaten garantiert wird. Einen (wenn auch eher kleinen) EU-Haushalt gab es aber auch schon vorher, sodass der Vorschlag, wenn er denn durchkommt, zwar nicht unwichtig, aber auch nichts grundsätzlich Neues ist.

All das hat zu einer zunehmenden Abneigung der italienischen Bevölkerung gegen Deutschland – und damit auch zu einem verstärkten Aufhetzen der Völker gegeneinander – geführt. Nach einer Umfrage, die zwischen „befreundeten“ und „feindlichen“ Ländern unterschied, wurden als feindliche Länder allen voran Deutschland (mit 45%) und Frankreich (38%) genannt, als befreundete Länder hingegen China (52%) und Russland (32%) (Russia Today 2020). In Italien, wo große Teile der Bevölkerung die EU immer befürwortet hatten, sind mittlerweile 67% der Ansicht, dass die EU-Mitgliedschaft überwiegend Nachteile für ihr Land bietet. Sobald auch ein wachsender Teil der herrschenden Klasse diese Auffassung mit Blick auf die eigenen Profitaussichten übernimmt, ist die Möglichkeit eines Auseinanderbrechens der EU real. 

Für den deutschen Imperialismus, der durch seine starke Industrie und – damit zusammenhängend – einen extrem starken Kapitalexport in der weltweiten Konkurrenz gut aufgestellt ist, ist diese Schwäche der EU gleichzeitig eine Achillesferse. Denn anders als China und die USA kann Deutschland sich nicht auf einen starken und politisch geeinten Binnenmarkt stützen. Es ist daher auf die Konstruktion des „gemeinsamen“ Binnenmarktes der EU angewiesen – dieser ist aber, wie gezeigt wurde, instabil und kann im Prinzip jederzeit auseinanderbrechen.  

Die USA

Die USA haben gegenüber der EU den Vorteil, einen einheitlichen Staatsapparat zu haben, der, wenn auch mit bedeutenden Einschränkungen durch den Föderalismus, eher zu einem zentralen Krisenmanagement in der Lage ist als die EU. Die Wirtschaftskrise von 2008/2009 hatte in den USA auch nur 2009 zu einer kurzen Rezession geführt, ohne dass der Staat sich jahrelang mit der Gefahr eines Auseinanderfallens des gesamten Binnenmarktes hätte beschäftigen müssen, wie es in der EU der Fall war. Auch mithilfe von „Fracking“, also der Öl- und Erdgasförderung aus Schieferböden, machten die USA sich von Öllieferungen unabhängig und erreichten in den vergangenen Jahren ein relativ stabiles Wirtschaftswachstum. Der Wert des Dollar gegenüber dem Euro ist seit 2018 kontinuierlich gestiegen, was die Position des US-amerikanischen Finanzkapitals gegenüber der europäischen Konkurrenz gestärkt hat. 

Ob die USA durch die gegenwärtige Krise als imperialistischer Akteur wirklich massiv geschwächt werden, ist zu einem gewissen Grad Spekulation. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass die tiefe Wirtschaftskrise, von der die US-Ökonomie erfasst wurde, allzu schnell überwunden werden kann. Die rasant explodierenden Arbeitslosenzahlen werden wohl für längere Zeit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage entscheidend schwächen und damit eine wirtschaftliche Erholung behindern. Es kann zudem schon jetzt als sicher gelten, dass der Seuchenverlauf in den USA sich nur noch mit härtesten und lang andauernden Lockdown-Maßnahmen unter Kontrolle bringen ließe, was aber die US-Wirtschaft so massiv schädigen würde, dass die Regierung dazu nicht bereit sein wird. In Kombination mit einem extrem teuren, aber auch sozial extrem exklusiven Gesundheitssystem, das Dutzenden Millionen US-Bürgern den Zugang zu Gesundheitsversorgung verwehrt, steht den USA wahrscheinlich eine katastrophale Durchseuchung mit sehr vielen Toten bevor, was auch die gesellschaftliche Stabilität untergraben und der kapitalistischen Wirtschaft Schaden zufügen wird. 

Längerfristig gesehen hatten die USA ihren Status als „einzige Supermacht“ schon lange vor der „Coronakrise“ eingebüßt. Der Anteil der USA am BIP der Welt hat sich von 40% im Jahr 1960 auf 22% 2014 etwa halbiert. Weltpolitisch scheinen die USA momentan weiter an Einfluss zu verlieren: Ihre Versuche, mittels Krieg die Region des „Mittleren Ostens“/Westasien unter Kontrolle zu bekommen, können im Wesentlichen als gescheitert gelten. Der „Regime change“ in Syrien ist vorerst gescheitert, im Iran ist er schon gar nicht in Sicht. Selbst im Irak ist es nach vielen Jahren extrem teurer Besatzung nicht gelungen, auf Dauer ein US-freundliches Regime zu installieren. Und in der Covid19-Pandemie konnte China als Hauptrivale der USA sich als Freund und Helfer der betroffenen Länder profilieren, während die USA das Problem zuerst herunterspielten und dann auf ein weitgehend nationales Krisenmanagement setzten. Auf eine verlogene „Solidaritäts“-Propaganda wie in der EU wurde hier weitgehend verzichtet, stattdessen stellten die USA Mitte April ihre Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation WHO ein – was China wiederum für sich nutzen konnte und erklärte, freiwillig 30 Mio. US-Dollar zusätzlich an die WHO zu spenden.  

Die Rivalität zwischen den USA und China ist dabei natürlich nicht neu. Sie entwickelt sich bereits seit den 2000er Jahren, nachdem die USA davor jahrzehntelang eher ein gutes Verhältnis zur VR China gepflegt hatten: Als Bündnispartner gegen die Sowjetunion und den Warschauer Vertrag und in den 90ern als ein Land, das die Planwirtschaft abgeschafft hatte und sich immer mehr für ausländische Investitionen öffnete. 2001 unterstützten die USA den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation WTO. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Bereits wenige Jahre später begannen in den USA Diskussionen um eine Verlagerung ihres weltpolitischen Schwerpunkts von West- nach Ostasien, d. h. vor allem in die Länder und Gewässer um China herum. Unter Präsident Trump verschärften sich die Konflikte, seit die USA Anfang 2018 einen Handelskonflikt begannen und chinesische Waren mit Importzöllen belegten. Erst zwei Jahre später, im Januar 2020, wurde ein Teilabkommen zwischen China und den USA beschlossen, wonach beide Seiten zumindest eine weitere Verschärfung ausschlossen. Damit ist der Konflikt allerdings noch lange nicht beendet. Im Gegenteil bereiten die USA den nächsten Eskalationsschritt bereits vor. Im Fadenkreuz steht dabei vor allem der chinesische Konzern Huawei, der wirtschaftlich erdrosselt werden soll, indem die USA sich vorbehalten wollen, Chipherstellern, die US-Ausrüstung verwenden, den Export ihrer Waren zu verbieten. Den Huawei-Konzern zu vernichten, hat für die USA strategische Bedeutung, um zu verhindern, dass China vom Ausbau der immer wichtiger werdenden 5G-Netze auf der ganzen Welt profitieren kann. Ob dieser Plan Erfolg hat oder ob es China gelingt, die Importe aus den USA durch die schnelle Entwicklung einer eigenen Halbleitertechnologie zu ersetzen, bleibt abzuwarten (Kronauer 2020).

Der Aufstieg Chinas im imperialistischen Weltsystem

Das imperialistische Weltsystem kann mit der Metapher einer Pyramide beschrieben werden: Dieses Bild verdeutlicht, dass es ein streng hierarchisch geordnetes System ist, in dem eine Spitze von Führungsmächten existiert, die in ökonomischer, politischer und militärischer Hinsicht – oft bei ungleichmäßigem Gewicht dieser verschiedenen Aspekte – vorherrschend sind. Diesen steht aber nicht einfach eine Vielzahl völlig abhängiger, quasi kolonialer Länder gegenüber, sondern eine Hierarchie mit vielen weiteren Abstufungen nach unten. Zwischen den imperialistischen Führungsmächten und den am stärksten unterentwickelten und abhängigen Ländern gibt es also verschiedene Zwischenstufen, auf denen die Länder in unterschiedlichem Maße ebenfalls imperialistische Entwicklungstendenzen aufweisen. 

Der Aufstieg Chinas innerhalb der imperialistischen Pyramide vollzieht sich seit Jahrzehnten unaufhaltsam. Nach manchen Berechnungen (in Kaufkraftparität, d. h. nachdem unterschiedliche Preisniveaus in den Volkswirtschaften einkalkuliert wurden) hat China die USA bereits als größte Volkswirtschaft der Welt abgelöst, in der Berechnung nach Wechselkursen ist sie zumindest die zweite oder, wenn man den EU-Binnenmarkt als eine Volkswirtschaft zählt, drittgrößte Ökonomie der Welt. In der Fortune 500-Liste der 500 größten Konzerne der Welt kommen 119 aus China gegenüber 121 aus den USA (Tagesspiegel 2019). Damit einher geht ein wachsendes politisches und immer mehr auch militärisches Gewicht Chinas innerhalb der imperialistischen Pyramide. 

Zahlreiche Kommentare in den bürgerlichen Medien gehen heute davon aus, dass China die aktuelle Krise nutzen können wird, um sein Gewicht und seinen Einfluss auf der Welt zu stärken. Zum jetzigen Zeitpunkt, in den ersten Krisenmonaten, ist es natürlich noch relativ schwierig, darüber weitreichende Aussagen zu treffen. Trends lassen sich jedoch bereits feststellen.

So schreibt der ehemalige NATO-Generalsekretär Rasmussen in einem Kommentar: „Es besteht kein Zweifel daran, dass China aktuell versucht, die Covid-Krise zu seinem geopolitischen Vorteil zu nutzen. (…) China setzt dabei auf strategische Investitionen. Die Staaten der EU müssen sich deshalb jetzt auf einen unvermeidlichen Ansturm vorbereiten. Chinas Strategie basiert auf einem entscheidenden Vorteil: Lange vor dem Westen wird es den Gipfel dieser Pandemie überwunden haben und wieder handlungsfähig sein“. Sein Plädoyer: „Die Abwehrmöglichkeiten der EU müssen dringend verschärft werden, bevor ihre Mitgliedstaaten beginnen können, das Gleichgewicht ihrer Volkswirtschaften wiederherzustellen.“ (Rasmussen 2020).

Tatsächlich haben die VR China bzw. chinesische Konzerne in den letzten Jahren ihren Einfluss in Europa stark ausgebaut.  „Eisenbahnlinien und Autobahnen, Häfen und Stromnetze, Maschinenbau und Autoindustrie, Tourismus und Finanzwesen – in all diesen Branchen kaufen sich chinesische Unternehmen in die europäische Wirtschaft ein. Schon weit mehr als 300 Milliarden Euro haben sie seit 2009 hier investiert“, heißt es z. B. in einem Artikel im Tagesspiegel vom September 2019. Schlagzeilen machte 2016 der Aufkauf des deutschen Robotik-Unternehmens Kuka durch einen chinesischen Konzern, seitdem wurden über 160 weitere europäische Unternehmen von chinesischen Investoren aufgekauft, wobei einzelne dieser Übernahmen ein Volumen von bis zu 43 Mrd. US-Dollar erreichten. Das betrifft auch große Monopole wie den Reifenhersteller Pirelli aus Italien, den Agrarchemiekonzern Syngenta und den deutschen Konzern Kraus-Maffei, die inzwischen alle dem chinesischen Konzern ChemChina gehören (Tagesspiegel 2019). Nach der Nachrichtenagentur „Bloomberg“ wurden insgesamt bereits 360 europäische Unternehmen von chinesischen Investoren übernommen (Stand September 2019), davon allein etwa 200 Unternehmen in Italien. Die chinesische Zentralbank hält zudem Anteile an mehreren italienischen Top-Konzernen wie Fiat-Chrysler, Telecom Italia, Generali und dem Energieversorger Eni.

Diese Entwicklung ist natürlich im Kontext des Kapitalexports der Konkurrenten Chinas zu betrachten. Weltmeister beim jährlichen Kapitalexport ist weiterhin die Bundesrepublik Deutschland. Die Auslandsvermögen der USA lagen 2018 bei über 25 Billionen US-Dollar, die Chinas bei „nur“ 7,4 Bio. US-Dollar, die Japans bei 9,2 Bio. US-Dollar und die Deutschlands bei knapp 10 Bio. US-Dollar. Wenn man das gegen die Verbindlichkeiten der Länder im Ausland aufrechnet, erhält man das Nettoauslandsvermögen. Dieses zeigt, ob ein Land mehr Kapital exportiert, als es importiert. Hier lagen im Jahr 2018 die BRD mit 2,4 Bio. US-Dollar und Japan mit 3 Bio. US-Dollar ebenfalls vor China (2,1 Bio US-Dollar) (Daten: IWF). Diese Gegenüberstellung zeigt, dass die Darstellung, wonach China die ganze Welt mit seinem Kapitalexport überrollt, mehr mit antichinesischer Propaganda zu tun hat als mit der Realität. Trotzdem ist China auch beim Kapitalexport eine der führenden Mächte geworden, und auch wenn die chinesische Regierung teilweise auch gegensteuert, um mehr Investitionen im Inland anzuregen, wird das wohl so bleiben.

Diese Entwicklung bereitet den herrschenden Klassen der EU selbstverständlich Sorgen, weil sie eine zunehmende Abhängigkeit und ein wachsendes politisches Gewicht des chinesischen Rivalen in Europa befürchten. So empfahl die EU-Kommissarin für Wettbewerb Margrethe Vestager den EU-Staaten, Anteile an Unternehmen zu kaufen, um eine chinesische Kontrolle zu verhindern (blick.ch 2020). In eine ähnliche Richtung geht auch die vom deutschen Wirtschaftsminister Peter Altmaier Anfang 2019 vorgestellte „nationale Industriestrategie 2030“: Gemäß dieser Strategie geht es um den Aufbau von „nationalen und europäischen Champions“, um auf dem Weltmarkt in den hochtechnologischen Branchen konkurrenzfähig zu bleiben – vor allem auch gegenüber der Konkurrenz aus den USA und besonders China. Dabei wird dem Staat eine aktivere Rolle zugedacht, so soll er u. a. auch durch Beteiligungen der öffentlichen Hand an Unternehmen eine „feindliche Übernahme“ durch chinesische Investoren vereiteln (Wirtschaftswoche 2019). 

Das deutsche Kapital steht hier also in einem Widerspruch: Einerseits sind die chinesischen Konzerne und die VR China ein ökonomischer und geopolitischer Rivale – andrerseits sind sie aber auch Geschäftspartner. Dieser Widerspruch ist an sich nicht besonders, sondern die übliche Art und Weise, in der sich zwischenimperialistische Konkurrenzbeziehungen abspielen: Einerseits Kooperation, andrerseits Konkurrenz. In diesem Fall ist China aber gleichzeitig der potenziell mächtigste weltpolitische Gegenspieler und der potenziell wichtigste Absatzmarkt, um aus der Krise wieder herauszukommen – umso mehr, wenn die USA ebenfalls immer weiter in die Krise abrutschen. Deshalb ist das deutsche Kapital in der China-Frage gespalten: Der BDI fordert „eine neue Agenda für den Umgang mit China“: „Die USA, die EU und Japan sollten gemeinsam gegen Marktverzerrungen vorgehen und hierfür auch das trilaterale Forum – USA, EU, Japan – nutzen.“ (BDI 2018). Mit „Marktverzerrungen“ meinen die Vertreter des deutschen Kapitals, dass der Staat im chinesischen Kapitalismus eine stärkere Rolle spielt und Unternehmen gezielt fördert, z. B. durch die Kreditvergabe der staatlichen Banken. Dadurch verschafft der chinesische Staat seinen Kapitalisten oft entscheidende Vorteile gegenüber der europäischen Konkurrenz. Für das deutsche Kapital ist die EU angesichts dessen von entscheidender Wichtigkeit, um in der Konkurrenz gegen chinesische Konzerne zu bestehen. Gleichzeitig fürchtet man aber, Geschäftsmöglichkeiten zu verlieren und will daher die Kooperation mit China grundsätzlich weiterführen. Nach einer Umfrage unter deutschen Unternehmen von 2019 hatten 39% die Geschäftsbedingungen in China als gut oder sehr gut bewertet, jedoch nur 30% sagten das auch über die USA (Hunter 2019).  Aktuell liegen die USA zwar als Ziel deutscher Exporte noch auf Platz 1 (2018: Exporte im Wert von über 113 Mrd. Euro) und China nach Frankreich „nur“ auf Platz 3 (2018: gut 93 Mrd. Euro). Doch dieser – ohnehin nicht übermäßig große – Abstand dürfte sich in der Krise weiter verkleinern. Somit wird sich auch für das deutsche Kapital weiterhin die Frage stellen, wie es seine Profitinteressen am besten verfolgen kann, im Bündnis mit den USA oder durch eine zumindest kooperative Beziehung zu China.

Mit dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ (oder „One Belt – One Road“) versucht der chinesische Staat, im Interesse seines Kapitals eine langfristige strategische Kontrolle über die Fernhandelswege zu erhalten, die Asien und Europa, teilweise auch Afrika verbinden. Durch gewaltige Investitionen in Häfen und Verkehrswege werden Handelswege nach Russland und über Zentralasien nach Europa, vor allem aber der Seeweg vom Südchinesischen Meer über den Indischen Ozean und den Suez-Kanal ins Mittelmeer ausgebaut. 

In der momentanen Krise befürchten die Herrschenden in der EU nun, dass China seine Einflussnahme auch im ökonomischen Bereich verstärken wird. Die Krise bietet dafür jedenfalls erleichterte Bedingungen: „Niedrige Aktienkurse stellen eine Gelegenheit für Unternehmensfusionen und Umstrukturierungen dar“, so z. B. Guntram Wolff, Direktor des in Brüssel ansässigen wirtschaftlichen Think-Tanks Bruegel. Oder Jonathan Hackenbroich vom Europäischen Rat für Aussenbeziehungen: „Die Corona-Krise dürfte die Neigung staatseigener Wirtschaftsakteure verstärken, strategisch in kritische und zukünftige Sektoren der europäischen Volkswirtschaften zu investieren“ (blick.ch 2020). Weil der Kapitalismus in den USA und den europäischen Ländern in die Krise rutscht und daher die Aktienkurse der Unternehmen fallen, ist es für zahlungskräftige Investoren natürlich einfacher, Anteile an diesen Unternehmen zu kaufen. Wenn dies ein rivalisierender Staat wie China tut, ist das aus Sicht der herrschenden Klasse ein politisches Problem.

Die chinesischen Konzerne profitieren bei ihrer Übernahmestrategie einerseits von der wachsenden Stärke der chinesischen Kapitalistenklasse, andrerseits aber auch von der direkten Unterstützung durch den chinesischen Staat. Im Tagesspiegel lesen wir dazu: „Genau das aber macht Europas Wirtschaftslenkern Angst. ‚Die chinesischen Konzerne verfügen mit der Staatskasse im Rücken über eine unbegrenzte Finanzkraft, das ist kein fairer Wettbewerb‘, beklagt ein führender Funktionär der EU-Industrielobby“. Und der BDI beklagt sich: „Die chinesische Hybridwirtschaft (aus Staat und Privatkapital, Anmerkung KO) mobilisiert enorme Ressourcen auch für die strategischen Akquisitionen in Europa“ (Tagesspiegel 2019). 

Die Befürchtungen der europäischen Kapitalisten vor einem weiter steigenden chinesischen Einfluss infolge der Krise sind nicht völlig aus der Luft gegriffen. China nutzte schließlich auch die letzte kapitalistische Krise, die sogenannte „Schulden“- oder „Eurokrise“, um seinen strategischen Einfluss in Europa auszubauen. In Griechenland und Portugal setzte die EU mit Zustimmung der nationalen Regierungen ab 2011 gewaltige Privatisierungen durch, die große Teile der Infrastruktur dieser Länder umfassten. In Portugal übernahmen chinesische Investoren die Kontrolle über große Teile des Finanzsektors. In Griechenland kaufte der chinesische Staatskonzern COSCO zunächst für 650 Mio. Euro die Konzession über zwei Containerpiers im Hafen von Piräus und einige Jahre später für weitere 280 Mio. Euro die volle Kontrolle über den Hafen und die Hafenbehörde. Piräus ist einer der wichtigsten und größten Containerhäfen Europas und ist damit ein wichtiger Baustein im strategischen Projekt der „Neuen Seidenstraße“. Mit der Kontrolle über die Hafenbehörde liegt auch die Entscheidung darüber, welche Waren in Piräus gehandelt werden, bei der VR China. Insgesamt hat China beispielsweise in Griechenland seit 2009 7,3 Mrd. US-Dollar investiert, in Portugal 6,9 Mrd., in Italien 21 Mrd. und in Deutschland 51 Mrd. US-Dollar (Tagesspiegel 2019). 

Und schließlich spitzen sich die zwischenimperialistischen Widersprüche auch auf dem Gebiet der Impfstoffentwicklung zu: In China gibt es ähnlich viele bestätigte Projekte, die an einem Impfstoff gegen Sars-CoV-2 arbeiten, wie in ganz Europa und zusätzlich eine höhere Zahl unbestätigter Projekte (Le et al. 2020). Die Kontrolle über zukünftige Impfstoffe ist in nie dagewesenem Maße zu einer politischen Machtfrage geworden, dementsprechend nehmen Auseinandersetzungen darum zu. Die USA haben sich beispielsweise bei dem französischen Konzern Sanofi, dem größten Pharmakonzern der EU, ein Vorkaufsrecht für einen Impfstoff gesichert (Schubert 2020). Es ist zudem klar, dass die EU und die USA aufgrund der gravierenden Entwicklung des Virus auf den Impfstoff stärker angewiesen sind als China. 

Was für ein Staat ist die Volksrepublik China?

Die nach außen gerichteten Direktinvestitionen des chinesischen Kapitals wurden 2016 zu über 65% von privaten Firmen aufgebracht. Das Privatkapital ist damit im Verhältnis zu Staatsunternehmen die dominierende Kraft des Kapitalexports allgemein und als Treiber von Fusionen und Übernahmen im Ausland im Besonderen. Über drei Viertel aller chinesischen Firmenübernahmen in Übersee werden von privaten Firmen getätigt (China Daily 2016). Das bedeutet auf der anderen Seite aber eben auch, dass etwa ein Viertel der Übernahmen von Staatskonzernen ausgeht. Und die Privatunternehmen in China werden – worüber sich westliche Kapitalisten immer wieder beschweren – vom chinesischen Staat in vielfacher Hinsicht geschützt und gefördert, was es ihnen erleichtert, Konkurrenzvorteile im Ausland zu gewinnen. 

Bisher sieht es so aus, als würde das staatlich kontrollierte chinesische Finanzsystem auch weiterhin gute Voraussetzungen bieten, um an dieser Strategie der auswärtigen Expansion festzuhalten. Während in den USA und Europa die Banken in der Krise starke Wachstumseinbrüche verzeichnen und bereits Milliarden an Euros bzw. Dollars als Reserven anlegen, um sich auf bevorstehende Probleme vorzubereiten, stehen die chinesischen Großbanken bisher relativ gut dar. Die vier größten chinesischen Banken bauen ihre Gewinne weiter aus: Die ICBC und die Bank of China erwarten einen Gewinnzuwachs von etwa 3%, die China Construction Bank und die Agricultural Bank of China sogar von etwa 5%. Auch wenn diese Fragen von westlichen Analysten infrage gestellt werden, sieht es nicht so aus, als hätten die chinesischen Staatsbanken ähnlich gravierende Probleme wie die Banken in Europa und den USA (Handelsblatt 2020). Und auch wenn es zu einer schwereren Bankenkrise in China kommen sollte, hätte der chinesische Staat bessere Möglichkeiten zur Bankenrettung in der Hand als die meisten westlichen kapitalistischen Länder. All das deutet darauf hin, dass das chinesische Kapital trotz ebenfalls deutlich sichtbarer Krisenerscheinungen im Vergleich zu Europa, den USA und auch Japan gestärkt aus der Krise hervorgehen dürfte und seinen Einfluss im imperialistischen Weltsystem vergrößern können wird. 

Dafür ist es wichtig, den Charakter des heutigen China richtig zu begreifen: Als ein Staat, der aus einer erfolgreichen sozialistischen Revolution und drei Jahrzehnten sozialistischer Wirtschaftsplanung hervorgegangen ist, spielt der Staat bis heute eine weitaus aktivere Rolle als in den allermeisten anderen kapitalistischen Ländern. Die chinesische Wirtschaft ist allerdings bereits seit einigen Jahrzehnten keine sozialistische Planwirtschaft mehr, in der die Betriebe angewiesen werden, gemäß den Bedürfnissen der gesamten Gesellschaft zu produzieren. Der Staat spielt zwar weiterhin eine planende, intervenierende und aktiv steuernde Rolle, allerdings mit dem Ziel, das Wachstum des Kapitals zu fördern und den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aufstieg Chinas zur Weltmacht zu unterstützen. An diese kurze Charakterisierung schließen sich viele weitere Fragen über den Charakter des chinesischen Kapitalismus und der chinesischen Konzerne, die Rolle des Staates und der Partei an. Diese werden in Zukunft zu klären sein und können hier nicht ausgeführt werden.

Der wachsende ökonomische Einfluss Chinas in Europa trifft sich nun in der „Coronakrise“ mit einem ebenfalls zunehmenden politischen Einfluss. Nachdem das Hilfegesuch Italiens nach dem Ausbruch der Pandemie zunächst von den EU-Ländern ignoriert, von China und Russland aber mit Hilfslieferungen beantwortet wurde, dankte die italienische Regierung öffentlich ihren neuen „Freunden“. Ähnlich hält sich auch die spanische Regierung nun zurück, wenn es darum geht, in die übliche antichinesische Propaganda der EU einzustimmen. Und Aleksandar Vučić, der Präsident Serbiens, das von der EU in der Krise völlig sich selbst überlassen wurde, sprach in selten klaren Worten aus: „Die europäische Solidarität existiert nicht. Das war ein Märchen auf dem Papier. Heute schicke ich einen besonderen Brief, weil wir größte Hoffnungen in die einzigen setzen, die uns in dieser schwierigen Situation helfen können, und das ist die Volksrepublik China“ (CGTN 2020). In Serbien sind nun überall große Plakate mit einem Bild von Xi Jinping und der Aufschrift „Danke, Bruder Xi“ zu sehen. 

Das übliche Spiel in der EU und den USA: Hetze gegen Russland und China

Die Rhetorik der westlichen Imperialisten gegenüber China hat sich im Zuge der Coronakrise deshalb nochmals verschärft. Dem Land wird, ebenso wie Russland, vorgeworfen, Verschwörungstheorien und “Fake News” über den Coronavirus im Westen zu verbreiten. Außerdem soll das Virus laut dem Außenminister der USA nicht auf natürliche Weise auf einem Markt in Wuhan auf den Menschen übertragen worden sein, sondern es soll aus einem Labor in Wuhan stammen. Beweise konnte er dafür bisher noch nicht vorlegen. Diese Behauptung wird an konkrete Aggressionen geknüpft. So sagt zum Beispiel Donald Trump, sollte China das Virus absichtlich in Umlauf gebracht haben, müsse das Land “mit Konsequenzen rechnen”. Die deutsche Presse ging sogar zum Teil soweit, China für das Aufkommen des Coronavirus verantwortlich zu machen und Schadensersatz von der chinesischen Regierung zu fordern. Neben dem Ablenken von eigenen Verfehlungen in der Coronakrise sind diese Drohungen vor allem auch als Vorbereitung von Auseinandersetzungen um globale Kräfteverhältnisse zu sehen. Außerdem bedienen sie oft rassistische Vorurteile, was zu einer weiteren Spaltung der Arbeiterklasse führt. Viele Menschen mit asiatischem Familienhintergrund sehen sich seit Beginn der Corona-Pandemie verstärkt rassistischen Angriffen ausgesetzt.

Die imperialistischen Kriegsvorbereitungen werden ebenfalls leider kaum von der Corona-Pandemie beeinträchtigt, auch wenn das nahezu ganz Europa einbeziehende US-Manöver „Defender 2020“ stark reduziert wurde. So hat das deutsche Verteidigungsministerium Mitte April einen Kauf von 150 Kampfjets, auch aus den USA, empfohlen. Wenig später wurde ein Bericht vom Internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm (SIPRI) veröffentlicht, nachdem Deutschland seine Militärausgaben im Vergleich zum Vorjahr um 10 Prozent erhöht hat (Heinrich 2020). Als Begründung dafür wird angeführt, „dass Russland wieder vermehrt als Bedrohung wahrgenommen wird“ – in Wirklichkeit ist es aber nicht Russland, von dem die Aggression gegen den „Westen“ ausgeht, sondern umgekehrt die NATO, die immer weiter nach Osten vorgerückt und ihre Truppen inzwischen an der russischen Grenze positioniert hat. Seit Anfang Mai kreuzen auch erstmals seit dem Kalten Krieg wieder Kriegsschiffe der USA in der Barentssee nördlich von Finnland, was als Drohung gegen die russische Präsenz dort verstanden werden sollte (Deutschlandfunk 2020).

Fazit:

Die Krise, die wir erleben, ist eine tiefe Weltwirtschaftskrise. In dieser Krise werden mit Sicherheit zu einem gewissen Grad „die Karten neu gemischt“ werden: Manche Länder werden in der imperialistischen Hierarchie aufsteigen, andere werden absteigen. Vieles deutet darauf hin, dass das Gewicht der EU und der USA sich in der Krise eher verringern wird, während das von China weiter zunehmen wird. Damit wird auch vieles in der Krise von der Rolle Chinas abhängen. Dabei ist China selbst von der Krise betroffen und kann durch sein geschwächtes Wachstum nur noch sehr eingeschränkt die Rolle als „Wachstumsmotor“ für exportorientierte Länder wie Deutschland spielen. Dieser Faktor ist von großer Bedeutung, denn die Abhängigkeit des globalen Wirtschaftswachstums von China ist gewaltig, wenn auch starken Schwankungen unterworfen: Im Jahr 2019 machte China über 46% des Weltwirtschaftswachstums aus und 2012 sogar 76% (Heide 2020). Anders als in der damaligen Krise, als China mit einem Konjunkturpaket von umgerechnet 500 Mrd. US-Dollar seiner Wirtschaft einen starken Schub verlieh und damit der deutschen Exportindustrie große neue Absatzmöglichkeiten eröffnete, hat es nun selbst mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Auch wenn China nicht so hoch verschuldet ist wie viele europäische Länder, ist die Gesamtverschuldung (Staat, Unternehmen und Haushalte) mit über 300% des BIP durchaus hoch. Gleichzeitig deutet aber wenig darauf hin, dass China aktuell in eine ähnlich schwere Krise rutschen könnte wie der „Westen“. Deshalb ist wiederum andrerseits davon auszugehen, dass der chinesische Einfluss im imperialistischen Weltsystem momentan zunimmt.

Weil wir von einem wachsenden Gewicht Chinas ausgehen, ist eine korrekte marxistische Einschätzung und Position zur Rolle Chinas eine wichtige Aufgabe. Bedauerlicherweise herrschen gerade in dieser Frage in der internationalen kommunistischen Bewegung große Verwirrung und revisionistische Einflüsse vor. Zahlreiche kommunistische Parteien schätzen die VR China weiterhin als ein Land ein, dessen gesellschaftliche Entwicklung trotz „marktwirtschaftlicher“ Reformen weiterhin auf das Ziel des Sozialismus/Kommunismus ausgerichtet ist. Die Verlautbarungen der KP Chinas werden dabei weitgehend unkritisch übernommen. Diese Tendenz hat sich bereits seit dem Amtsantritt von Xi Jinping, der sich in seinen Reden durchaus oft einer sozialistischen Rhetorik bedient, was natürlich an den realen ökonomischen Verhältnissen wenig ändert, verstärkt. Dass nun China im Gegensatz zu den meisten westlichen Ländern aufgrund eines entschlossenen Vorgehens gegen die Pandemie diese erfolgreich eindämmen konnte, sehen viele als Beleg für ihre These, wonach China eben doch im Kern als sozialistischer Staat und Verbündeter der Arbeiterbewegung hierzulande zu sehen sei. Diese Analyse ist jedoch falsch und führt die Arbeiterklasse auf eine falsche Fährte: Anstatt sich unabhängig vom Kapital für seine eigenen Interessen zu organisieren und eine revolutionäre Strategie zu entwickeln, wird die Arbeiterklasse dazu aufgerufen, sich unter einer Fahne zu versammeln, die nicht ihre ist, sondern die des chinesischen Kapitals. Die chinesische Hilfe in der Corona-Pandemie war und ist real und sie sollte angenommen werden. Sie geschah jedoch nicht uneigennützig und aus purer Wohltätigkeit, sondern geht einher mit einem wachsenden politischen und ökonomischen Einfluss Chinas. 

Auf der anderen Seite müssen wir jedoch auch betonen, dass die Hetze der deutschen, amerikanischen und anderen Imperialisten gegen China, die nun ebenfalls zunimmt, vollkommen chauvinistisch und reaktionär ist. In China selbst wird sie verständlicherweise als Fortsetzung der Rhetorik der ehemaligen Kolonialmächte gesehen, die China lange Zeit unterjochten und für den Tod von Millionen Chinesen verantwortlich waren. Gleichzeitig lenkt die antichinesische Propaganda, die auf Lügen und grober Verzerrung der Fakten beruht, davon ab, dass es vor allem die Verantwortung der US-Regierung und der europäischen Regierungen ist, dass die Pandemie sich so rapide ausbreiten konnte. Selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO, die nur die offensichtliche Tatsache ausspricht, dass der chinesische Umgang aus rein epidemiologischer Sicht besser war, wird nun absurderweise als „Instrument der chinesischen Propaganda“ diffamiert, obwohl die Behauptung eines besonderen chinesischen Einflusses auf die WHO jeglicher Grundlage entbehrt.

Die EU wird in der Krise dagegen voraussichtlich weiter destabilisiert werden, die Tendenzen zur Desintegration werden zunehmen. Möglich ist auch ein völliges Auseinanderbrechen der EU. Auch hierauf muss die Arbeiterklasse vorbereitet werden. Denn mit zunehmenden Konflikten und wachsender Instabilität der EU werden auch die Versuche der Herrschenden zunehmen, die Arbeiterklasse in das falsche Dilemma „entweder EU oder nationale Abschottung“ zu drängen. Weder die EU, die eine Konstruktion durch und durch im Interesse des Kapitals ist, noch ein Auseinanderbrechen in die einzelnen kapitalistischen Nationalstaaten wird das Leben der Arbeiterklasse verbessern. Im Gegenteil wird die herrschende Klasse in beiden Fällen die Kosten der Krise auf das Volk abwälzen. Dagegen müssen wir den Widerstand organisieren, vor allem durch den Wiederaufbau einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung und kommunistischen Partei. Der bürgerliche „Euroskeptizismus“, wie er vor allem von rechten Kräften, teilweise aber auch von sozialdemokratischen „linken“ Kräften propagiert wird, ist dabei keine Hilfe, sondern ein Problem. Die Arbeiterklassen der verschiedenen Länder werden mit wachsenden zwischenstaatlichen Konflikten stärker gegeneinander ausgespielt werden, der vom Kapital geführte Klassenkampf „von oben“ wird sich verschärfen. Beide Tendenzen erfordern, dass auch die Arbeiterklasse Fortschritte auf dem Weg des Aufbaus einer internationalen Organisation macht. Nur wenn der Widerstand gegen die Angriffe des Kapitals über nationale Grenzen hinweg koordiniert werden kann, nur wenn die revolutionäre Strategie der kommunistischen Parteien in eine international verfolgte Strategie eingebettet wird, haben sie Aussicht auf Erfolg. 

Die Kräfteverhältnisse im imperialistischen System verschieben sich. Das kann der Arbeiterbewegung teilweise neue Spielräume im Kampf gegen die „eigene“ herrschende Klasse eröffnen – es wird sie aber auch vor neue Herausforderungen stellen und zu neuen Irrwegen verleiten. All das macht einen Klärungsprozess, der wissenschaftliche Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit entwickelt, so notwendig wie noch nie.

Literatur:

BDI 2018: Eine neue Agenda für die transatlantischen Handelsbeziehungen, Positionspapier 11.7.2018.

Blick.ch: EU-Kommissarin warnt vor Firmenübernahmen durch chinesische Konzerne, 13.04.2020.

Brinkmann, Bastian: Deutschland in Kurzarbeit, Süddeutsche Zeitung, 1.5.2020

CGTN 2020: Serbia’s state of emergency: ‘China is the only country that can help’, online: 

Serbia’s state of emergency: ‘China is the only country that can help’ , abgerufen 7.5.2020

China Daily 2016: ODI led for first time by private firms, 23.9.2016.

Deutschlandfunk: Erstmals seit dem Kalten Krieg wieder Kriegsschiffe in der Barentsee, 5.5.2020. 

Dörner, Astrid / Rickens, Christian: 22 Millionen neue Arbeitslose, Handelsblatt 17.-19.4.2020

Handelsblatt: Chinesische Banken überraschend stark, 30.4.-3.5.2020.

Heide, Dana 2020: China schwächt die Weltwirtschaft, Handelsblatt 16.4.2020.

Heinrich, Daniel: SIPRI: Deutschland steigert Rüstungsausgaben deutlich, Deutsche Welle 26.4.2020. 

Hunter, John Stanley 2019: Die China-Falle: Umfrage zeigt überraschende Einschätzung deutscher Firmenbosse, Businessinsider 28.5.2019. 

Katiousa 2018: Was treibt der Fuchs auf dem Basar? Treffen eines Abgeordneten der Goldenen Morgendämmerung mit der Botschaft von China (im Original: Τι γυρεύει η αλεπού στο παζάρι; Συνάντηση βουλευτή της ΧΑ με την πρέσβειρα της Κίνας), 10.12.2018, http://www.katiousa.gr/epikairotita/tigyreveialepoustopazarisynantisivouleftitischatinpresveiratiskinas/ ,abgerufen 19.5.2020.

KKE: Die Goldene Morgendämmerung – „Krücke“ des Kapitalismus in Griechenland (im Original: Χρυσή Αυγή – «δεκανίκι» του καπιταλισμού στην Ελλάδα, KOMEP 5/2018. 

Kronauer, Jörg: Ein aussichtsloses Unterfangen, junge Welt 29.4.2020.

Le, Tung Thanh et al. 2020 : The Covid-19 vaccine development landscape, Nature, 9.4.2020. 

Marx, Karl: Das Kapital, Band III, MEW 25.

Mistreanu, Simina: Coronavirus Causes A Dramatic Collapse Of China’s Economy, Forbes 17.3.2020. 

Rasmussen, Anders Fogh 2020: Europa muss Chinas Angriff abwehren, Süddeutsche Zeitung 29.4.2020. 

RussiaToday: Umfrage: Deutschland für Italiener ‚Feindland‘ Nummer 1, 20.4.2020. 

Schubert, Christian 2020: Sanofi: Die Amerikaner bekommen den Impfstoff von uns zuerst, FAZ 13.5.2020.

Tagesspiegel: China: Der gefürchtete Partner, 16.9.2019.

Tan, Huileng/ Cheng, Evelyn: China says its economy shrank by 6.8% in the first quarter as the country battled coronavirus, CNBC, 16.4.2020.

Wirtschaftswoche: Peter Altmaier – Schutzpatron der Großindustrie, 5.2.2019.

Aktuelles

Russland-Hetze und Faschismusrelativierung von „links“

Zur Veranstaltungsreihe „Good bye Stalin?!“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat 2023 in Leipzig eine Veranstaltungsreihe gestartet, deren Hauptinhalt antikommunistische, antisowjetische und Anti-DDR-Propaganda war. Worauf das Ganze hinauslaufen sollte, wurde dann spätestens bei der letzten Veranstaltung deutlich: die Einreihung der Linken in die Zeitenwende-Politik. Die Beteiligung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des lokalen Parteibüros der Linken linxxnet sollte mittlerweile nicht mehr verwundern. Eine neue Stufe war jedoch die Veranstaltungsunterstützung durch die VVN-BdA.

Vortrag zur Geschichte des Zionismus

Im Oktober hielten wir als KO in Leipzig im Rahmen der Aktionswoche des Kufiya-Netzwerks einen Vortrag zur Geschichte des Zionismus. Der Vortrag soll einen Einstieg in das Thema leisten und gibt Argumentationshilfen für die politische Auseinandersetzung an die Hand.