Wieder einmal hat Gaza uns überrascht und überwältigt. Wer hätte am 6. Oktober 2023 gedacht, mit welcher Wucht sich dieses Freiluftgefängnis erheben kann? Wer hätte im November 2023 geahnt, wie lange und mit welcher Vehemenz die Menschen und der Widerstand im Gazastreifen dem zionistischen Terror standhalten würden? Wer hätte vor zwei Wochen erwartet, dass die Palästinenser jetzt einen derartigen Sieg feiern können?
Nach 470 Tagen des Genozids gilt seit Sonntag ein Waffenstillstand zwischen dem palästinensischen Widerstands in Gaza und dem zionistischen Kolonialregime. Dieser Waffenstillstand ist verbunden mit dem Austausch von Gefangenen – 2.000 palästinensische Inhaftierte sollen aus den zionistischen Folterkellern entlassen werden, darunter zahlreiche Minderjährige und zu lebenslanger Haft Verurteilte –, dem Zulassen humanitärer Hilfe für Gaza – 600 LKWs pro Tag –, der Rückkehr der Menschen in den nördlichen Gazastreifen und der Öffnung des Grenzübergangs von Rafah. All das soll innerhalb der ersten Stunden und Tage umgesetzt werden. Hinzu kommen der schrittweise und relativ weitgehende Rückzug der zionistischen Besatzungstruppen, die Öffnung der Grenzen Gazas für Waren- und Personenverkehr, der Wiederaufbau und ein dauerhafter Waffenstillstand. Im Gegenzug lässt der Widerstand schrittweise die im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Gefangenen frei.1
Keine Illusionen in die Kolonialherren und ihre Vasallen!
Selbstverständlich trauen wir den Zionisten kein Stück. Sie haben schon immer gelogen, betrogen und Verträge gebrochen, wo sie nur konnten. Die Garantiemächte des Waffenstillstands sind nicht besser: Die USA sind die führende imperialistische Weltmacht, verantwortlich für unzählige Aggressionen, Angriffskriege und Völkermorde. Und noch dazu sind sie der wichtigste Verbündete des zionistischen Regimes. Ägypten hat die Palästinenser seit 1978 stets verraten und sich fest an die Seite des Westens gestellt. Außerdem ist es Komplize bei der völkerrechtswidrigen Hungerblockade gegen den Gazastreifen und das aktuelle Regime unter al-Sisi gehört zu den brutalsten und korruptesten Schlächtern unter den arabischen Machthabern. Und schließlich ist da Qatar, das noch als am palästinenser- und Hamas-freundlichsten unter den dreien gelten kann. Doch ist die Monarchie ebenfalls eng an den Westen gebunden und fördert aktiv opportunistische Einflüsse innerhalb des palästinensischen Widerstands.
Es gibt bereits Berichte, dass die zionistischen Besatzer den Waffenstillstand gebrochen und Palästinenser im Gazastreifen beschossen haben.2 Und Netanyahu hat betont, dass sowohl Biden als auch Trump ihm die Erlaubnis gegeben haben, den Waffenstillstand jederzeit zu beenden.3 Auch geht der zionistische Besatzer- und Siedlerterror in der Westbank unvermindert weiter.4 Israel hält zudem große Teile Syriens besetzt und ein erneuter Krieg gegen den Libanon oder auch ein großangelegte Krieg mit unvorhersehbaren Folgen gegen den Iran sind weiterhin realistisch.
Ein Sieg für den palästinensischen Widerstand
Und doch – trotz all dieser Einschränkungen und Sorgen und trotz der Tatsache, dass der Waffenstillstand das Leben hunderttausender Menschen und die Zerstörung von weiten Teilen des Gazastreifens gekostet hat und dass er kein Ende der seit fast zwei Jahrzehnten bestehenden Blockade bringen wird – handelt es sich um einen Sieg des Widerstands!
- Israel hat keines seiner Ziele erreicht: Die Vernichtung des Widerstands, die militärische Befreiung der Kriegsgefangenen, die komplette ethnische Säuberung des Gazastreifens, die Besiedlung von Nordgaza oder auch nur die Einrichtung einer „Pufferzone – all diese Ziele sind gescheitert. Diese Ziele konnte man doppelt herleiten: Zum einen aus der Strategie des zionistischen Siedlerkolonialismus zur vollständigen Eroberung Palästinas. Zum anderen aus der Notwendigkeit, die Sicherheit und Stabilität der zionistischen Entität wiederherzustellen, die am 7. Oktober 2023 so massiv erschüttert wurden. Hier sei zudem darauf verwiesen, dass auch der Waffenstillstand mit der Hisbollah bislang nicht zur Rückkehr der aus dem Norden Israels geflohenen Siedler geführt hat.
- Diese Erschütterung hat die bestehenden Risse in der zionistischen Siedlergesellschaft weiter vertieft und massive Verwerfungen hervorgerufen: Wirtschafts- und Regierungskrisen, Binnenflucht und Massenauswanderung, Straßenschlachten und Ausweitungen der Wehrpflicht. Der Waffenstillstand ist der nächste Spaltpilz: Viele, gerade im Regierungslager, sehen in diesem Abkommen eine Kapitulation Israels. Der Faschist Ben Gvir ist mit seiner Partei aus Protest bereits aus Netanyahus rechtsradikaler Regierung ausgetreten. Und tatsächlich: Das Abkommen entspricht relativ genau einem Vorschlag der Hamas vom letzten Sommer.5 Dass die israelische Regierung das damalige Abkommen ablehnte, zeigt, dass es nicht in ihrem Sinne ist.
- Die Operation „Al-Aqsa-Flut“ ist mit dem Waffenstillstand perspektivisch zu ihrem relativ erfolgreichen Abschluss gekommen: Das Ziel, den Mythos der Unbesiegbarkeit Israels zu zerstören, war absolut erfolgreich. Die Befreiung tausender Palästinenser, die von der Besatzungsmacht eingekerkert wurden, ist ein weiterer wichtiger Erfolg – auch wenn die Zionisten bereits damit begonnen haben, neue Palästinenser zu entführen.6 Das Ziel, die „Normalisierungspolitik“ der arabischen und muslimischen Länder gegenüber dem zionistischen Kolonialregime nachhaltig zu stören, hat einigermaßen funktioniert, auch wenn sich gezeigt hat, dass Saudi-Arabien, die Emirate, Marokko, die Türkei und Ägypten unverbesserliche Opportunisten und Kollaborateure gegenüber dem Zionismus sind. Das Ziel, die Welt auf die Lage der Palästinenser aufmerksam zu machen und Israel vor aller Augen als den barbarischen Terrorstaat zu entlarven, der er ist, war dagegen vollkommen erfolgreich. Die weltweiten Massenproteste und die Anklagen vor dem IGH und dem Internationalen Strafgerichtshof sind wichtige Ausdrücke davon. Was dagegen bislang nicht erreicht werden konnte, ist, die Besetzung und Blockade des Gazastreifens zu beenden. Dieses Ziel war das wohl wichtigste, aber auch das am höchsten gesteckte.
- Der 15-monatige Krieg hat nicht nur die Stärke und das Durchhaltevermögen des Widerstands in Gaza demonstriert – die Widerstandskräfte konnten ihre Reihen immer wieder nachfüllen und verfügen übereinstimmenden Berichten zufolge über so viele Kämpfer wie vor dem Oktober 2023. Er hat den Widerstand auch politisch weiter gestärkt. Und zwar über den Gazastreifen hinaus. Die arroganten Kolonialherren, die Ende 2023 behaupteten, die Hamas habe sich als politischer Akteur disqualifiziert, wurden durch die Realität widerlegt: Niemand wird nun mehr an der Hamas vorbeikommen! Israel nicht, die Regierungen der Region nicht, die UNO nicht, Mahmoud Abbas nicht. Eine Garantie auf die palästinensische Einheit, die im Sommer in Peking vereinbart wurde, gibt es weiterhin nicht. Aber sie ist mit einem gestärkten Widerstand in Gaza realistischer.
- Hinzu kommt die Einheit der Widerstandskräfte in der Region, die trotz des Umsturzes in Syrien heute größer ist als vor dem 7. Oktober 2023. Vom 8. Oktober an hatte sich der libanesische Widerstand an die Seite Gazas gestellt – und zwar ohne Bedingung. Ähnliches gilt für den Jemen. Dieser hat sich nun sogar als faktische Garantiemacht hinter den Waffenstillstand gestellt: Auch Sanaa wird Israel nicht mehr angreifen, solange der Genozid in Gaza beendet ist – doch man werde sofort wieder zuschlagen, wenn der zionistische Terror weitergeht, erklärte der Sprecher der jemenitischen Armee.7 Und schließlich sind auch der Iran sowie bewaffnete Kräfte im Irak und in Syrien militärisch gegen das zionistische Regime vorgegangen. Dabei haben all diese Akteure stets ihre Einheit und Brüderlichkeit betont. 470 Tage lang wurde der Welt vor Augen geführt, dass es tatsächlich eine Achse des Widerstands gibt.
Es gibt Stimmen, die sagen, dass man angesichts der Zerstörungen und des erlittenen Völkermords nicht von einem Sieg sprechen könne. Zumal kein Ende der Besatzung und der Blockade des Gazastreifens und erst recht kein Ende des Kolonialismus in Palästina erreicht wurde. Dem lässt sich vor allem eines entgegenhalten: Das zionistische Kolonialprojekt befindet sich in einer tödlichen Krise. Strategisch ist es auf der Verliererstraße. Die Palästinenser müssen vor allem zwei Dinge tun, um es endgültig zu besiegen: 1. Sie müssen ihm möglichst viele Nadelstiche und möglichst heftige Schläge versetzen. Und 2. müssen sie durchhalten. Der 7. Oktober war ein solcher heftiger Schlag. Ob der Waffenstillstand ein weiterer Schlag oder nur ein Nadelstich ist, muss sich noch zeigen. Dass die Palästinenser auch unter den unmenschlichsten Bedingungen ausharren können, haben sie immer wieder bewiesen – ganz im Gegensatz zu den Siedlern. Das ist auch der Grund, wieso Israel zu ihrer massenhaften physischen Vernichtung übergegangen ist. Umso wichtiger war es – nicht nur aus menschlicher, sondern auch aus strategischer Sicht –, dieses Abschlachten zu stoppen. Der Waffenstillstand bedeutet damit nicht nur ein Ende der schrecklichsten Auswüchse des zionistischen Terrors. Er dürfte auch ein weiterer Nagel im Sarg des Zionismus sein.
Gaza wird nicht untergehen!
Wie gesagt: Nichts garantiert, dass der Waffenstillstand lange hält. Und wir wissen auch, dass der Kampf für die Befreiung Palästinas und der Region von Imperialismus und zionistischem Kolonialismus weitergehen muss und weitergehen wird. Ob es sich nur um einen taktischen Sieg und eine kurze Verschnaufpause oder aber um einen strategischen Sieg über das zionistische Gebilde handelt, bleibt abzuwarten. In jedem Fall aber zeigt dieses Abkommen, genau wie die Bilder, die uns aus Gaza und der Westbank erreichen – Bilder von den jubelnden Massen, den Menschen, die in ihre Wohnorte zurückkehren, von den heldenhaften Sanitätern, Ärzten und Journalisten, von den unzähligen Fidayin und Sicherheitskräften, die sich nun wieder offen in den Straßen zeigen, von den Freigelassenen, die nach Hause zurückkehren – dass Gaza nicht besiegt und nicht gebrochen ist. Der Widerstand dort ist ein Volkswiderstand. Tief in den Massen verankert, rekrutiert er sich aus ihnen und bewegt sich wie ein Fisch im Wasser unter ihnen.
Und diese Massen sind nicht irgendwelche Massen. Die Palästinenser und insbesondere die Menschen in Gaza kämpfen seit über hundert Jahren für ihre Rechte. Und sie haben der Welt einmal mehr vor Augen geführt, dass sie nicht nur ungeheures Leid ertragen und ungeheure Anstrengungen auf sich nehmen können – sondern dass sie dazu auch bereit sind, um ihre Heimat zu verteidigen! Ihre Stärke ist kaum in Worte zu fassen und erst recht kaum zu begreifen. Gaza ist im wahrsten Sinne unbeugsam, unbezähmbar und deshalb auch unbesiegt und unbesiegbar.
- https://occupiednews.com/was-du-ueber-den-waffenstillstand-in-gaza-wissen-musst/ ↩︎
- https://t.me/thecradlemedia/28564 ↩︎
- https://www.presstv.ir/Detail/2025/01/18/741173/Israel-resuming-war-Palestinians-Gaza-genocide ↩︎
- https://www.presstv.ir/Detail/2025/01/20/741251/Settlers-attack-Palestinian-towns-after-Gaza-truce-deal ↩︎
- https://occupiednews.com/was-du-ueber-den-waffenstillstand-in-gaza-wissen-musst/ ↩︎
- https://t.me/thecradlemedia/28600 ↩︎
- https://t.me/alakhbar_english/13613 ↩︎