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Antonio Gramsci, die kommunistische Partei und die Massenarbeit

Beitrag zur Diskussion um den Beschluss der 2. VV – keine Positionierung der Kommunistischen Organisation (siehe Beschreibung der Diskussionstribüne)

Ein Beitrag von Bob Oskar

Im Politischen Beschluss wird ausführlich ein Herangehen an die Massenarbeit und das Verhältnis einer kommunistischen Organisation und Massenorganisationen thematisiert. Richtigerweise steht zum Beispiel in der politischen Begründung:

Was ist also die Aufgabe von Kommunisten bei der Arbeit in den Massen? Was ist ihr Ziel? Unser Ziel muss die Politisierung der Massen, die Hebung ihres Bewusstseins sein. Bewusstsein darüber, dass das Ziel ihres Kampfs nur der Sturz der Kapitalistenklasse sein kann und sie sich dafür unter Führung der Kommunistischen Partei zusammenschließen und organisieren müssen.

Kommunistische Organisation “Zur Arbeit in den Massen – Thesen zum Kampf der Arbeiterklasse”

Eine der wichtigsten Funktionen der Massenarbeit ist es also, Klassenbewusstsein zu entwickeln. Es ist primär der Kampf um das Bewusstsein in der Arbeiterklasse, dass die kapitalistische Gesellschaftsformation überwunden werden kann und muss, und sekundär, und nur auf einer Entwicklung dieses proletarischen Bewusstseins aufbauend, der Kampf um eine Hegemonie der Arbeiterklasse in Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Gruppen, die gegen die Bourgeoisie in Stellung gebracht werden können. Im Beschluss wird sehr gut ausgeführt, wie sich die Entwicklung von klassenkämpferischen Massenorganisationen und einer kommunistischen Partei gegenseitig bedingen. Auch die Erläuterungen zu Aktivität, Unabhängigkeit und Solidarität sind wertvoll.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Auseinandersetzung mit einem Denker der III. Internationale auf, der sich in Anschluss an Marx, Engels und Lenin ausführlich damit beschäftigt hat, wie unter den Bedingungen einer relativ stabilisierten kapitalistischen Gesellschaft der Bruch mit dieser Gesellschaft vorbereitet werden muss, um einer sozialistischen Revolution zum Sieg zu verhelfen und eine sozialistische Gesellschaft mit proletarischer Staatsmacht aufzubauen: die Auseinandersetzung mit Antonio Gramsci.

Der in Sardinien geborene Gramsci ist neben Rosa Luxemburg vermutlich einer der umkämpftesten Theoretiker der kommunistischen Bewegung. Der Hauptgrund dafür ist, dass die bekannteste Schriftensammlung, die Gefängnishefte, unter denkbar widrigsten Bedingungen im Kerker der italienischen Faschisten verfasst wurde, ohne die Möglichkeit zur umfassenden Literaturarbeit und zum Teil mit neuen Begriffen, um die Zensur zu unterlaufen. Der unvollständige und zum Teil unsystematische Charakter der Gefängnishefte öffnete Tür und Tor für zum Teil grob willkürliche Interpretationen, die in Steinbruchmanier Gramscis Gedanken aus dem Zusammenhang rissen und Gramscis Texte vor 1926 (vor dem Gefängnis) ignorierten. Ich kann mit diesem Beitrag leider nicht ausführlich darlegen, welche Schlussfolgerungen Gramsci selber zog und was Kommunisten im Anschluss an ihn daraus machten, dazu fehlt mir momentan noch der umfassende Überblick über seine Schriften und auch konkretes historisches Wissen beispielsweise zur Kommunistischen Partei Italiens (KPI). Ich will aber anhand der Frage von Kommunistischer Partei und Massenorganisationen versuchen zu begründen, warum wir uns im Klärungsprozess mit Gramsci, seiner Vereinnahmung von opportunistischer Seite und seiner Verteidigung als Leninist beschäftigen sollten. Bei einer solchen Auseinandersetzung muss unbedingt scharf herausgearbeitet werden, ob und wo Gramscis Theorie selbst – und nicht lediglich eine Entstellung dieser Theorie – revisionistische Tendenzen und Linien besitzt. Ich denke wir können daraus erstens lernen, wo Gefahren lauern, die letztendlich in die Sackgassen der Spielarten von Sozialdemokratie und Eurokommunismus führen. Und auf dem Weg dahin können wir zweitens unsere eigene Herangehensweise an die Massenarbeit überprüfen und kritisch mit den Ideen abgleichen, die Gramsci und andere Kommunisten vor über achtzig Jahren hinterlassen haben.

Für die Bolschewisierung der KP

Die Frage, welche Organisationen die Arbeiterklasse benötigt, kann an Lenin anschließend nur beantwortet werden, wenn klar ist, welche Rolle und Aufgaben der kommunistischen Partei (KP) zufallen. Gramsci entwickelte nach der Oktoberrevolution eine zunehmend klare Vorstellung dazu. Es gibt eine historisch begründete Skepsis gegenüber Gramsci, insbesondere was die Frage des Staates und die Rolle der kommunistischen Partei angeht. Diese Skepsis wurzelt in der Erfahrung, dass nach dem zweiten Weltkrieg die Parteien (insbesondere die KPI), die sich am stärksten explizit auf ihn bezogen, grundlegende marxistische Erkenntnisse über Staat, Partei und Revolution über Bord warfen und auf einen reformistischen Kurs einschwenkten. Ich will Gramsci daher selbst zu Wort kommen lassen. In einer Auseinandersetzung innerhalb der PSI schrieb er 1920 zur Parteifrage:

Die Partei muss ihre spezifische, deutliche und präzise Gestalt annehmen, aus einer kleinbürgerlichen parlamentarischen Partei muss sie zur Partei des revolutionären Proletariats werden, die für die zukünftige kommunistische Gesellschaft auf dem Weg des Arbeiterstaates kämpft, sie muss eine homogene, zusammengeschweißte Partei mit einer eigenen Theorie, einer eigenen Taktik, einer strengen und unerbittlichen Disziplin werden. Wer kein revolutionärer Kommunist ist, muss aus der Partei entfernt werden, und die von der Sorge um die Erhaltung der Einheit und des Gleichgewichts zwischen den verschiedenen Tendenzen und deren verschiedenen Exponenten befreite Leitung muss ihre ganze Energie darauf verwenden, die militanten Kräfte der Arbeiterklasse zu mobilisieren“

Gramsci: Für eine Erneuerung der Sozialistischen Partei, 1920

Und wenige Jahre später führte er in „Die Partei des Proletariats“, einem kurzen, aber gehaltvollen Artikel aus:

Die Kommunistische Partei ist nicht nur die Vorhut der Arbeiterklasse. Wenn die Partei im Kampf der Arbeiterklasse wirklich die Führung übernehmen will, muß sie auch deren organisierte Abteilung sein. Im kapitalistischen Regime hat sie äußerst wichtige und vielfältige Aufgaben zu erfüllen. Sie muß das Proletariat auch unter schwierigsten Bedingungen in seinem Kampf leiten und es zur Offensive führen und, wenn die Situation es erfordert, es zum Rückzug führen, um es den Schlägen des Feindes zu entziehen, wenn es damit rechnen muß, von ihm überwältigt zu werden; und sie muß der Masse der Parteilosen [die Grundsätze] (fehlt im Original, BO) der Disziplin, der Methode der Organisation und der zum Kampfe notwendigen Festigkeit beibringen. Aber die Partei wird ihre Aufgabe nur erfüllen können, wenn sie selbst die Verkörperung der Disziplin und der Organisation ist, wenn sie die organisierte Abteilung des Proletariats ist. Sonst kann sie keinen Anspruch erheben, die Führung der proletarischen Massen zu übernehmen. Die Partei ist also die organisierte Vorhut der Arbeiterklasse.“

Antonio Gramsci: Die Partei des Proletariats, 1924

Diese Zitate, gemeinsam mit vielen weiteren Stellen (beispielsweise in „Die kommunistische Partei“ (1920), „Für eine Erneuerung der sozialistischen Partei“ (1920), „Die Partei des Proletariats“ (1924), „Der Parteitag von Lyon. Rede vor der politischen Kommission“ (1926) und in den gemeinsam mit Palmiro Togliatti ausgearbeiteten Thesen zum III. Parteitag der KPI in Lyon 1926) sprechen dafür, dass Gramsci eine klar leninistische Position in der Parteifrage einnahm, er war explizit ein Verfechter der Bolschewisierung der Partei. Es ist insofern auch nicht erstaunlich, dass die KI auf ihrem II. Weltkongress selbst die Ausführungen von 1920 als den richtigen Standpunkt innerhalb der PSI hervorhob [1]. Wir werden im Klärungsprozess uns damit auseinandersetzen können, inwieweit Gramsci Ausführungen in den Gefängnisheften seinen früheren Positionen widersprechen.

Die Arbeiterklasse braucht Massenorganisationen

Auf diesem Parteiverständnis (und seinem Staatsverständnis) bauen nun Gramscis Überlegungen zu Massenorganisationen und Hegemonie auf. Die Fragen von Staat, Partei, proletarischen Organisationen und proletarischer Kultur und Hegemonie sind dabei m.E. nicht voneinander zu trennen. Der proletarische Staat muss unter der Führung des Proletariats geschaffen werden, wobei die kommunistische Partei die Rolle einer Vorhut einnimmt. Gramsci warnte davor, diese Avantgarderolle misszuverstehen:

Das Prinzip, demzufolge die Partei die Arbeiterklasse führt, darf nicht in mechanischer Weise interpretiert werden. Man soll nicht glauben, dass die Partei die Arbeiterklasse durch einen von außen kommenden autoritären Anspruch führen könne; sie ist weder für die Zeit, die der Machtergreifung vorausgeht, noch für die Zeit, die ihr folgt, richtig… Wir behaupten, dass die Fähigkeit zur Führung der Klasse sich nicht aus der Tatsache ergibt, dass sich die Partei als revolutionäres Organ der Klasse ‚proklamiert‘, sondern aus der Tatsache, dass es ihr ‚effektiv‘ gelingt, als Teil der Arbeiterklasse sich mit allen Sektionen der Klasse zu verbinden und den Massen eine Bewegung in der von den objektiven Bedingungen hervorgerufenen und begünstigten Richtung zu geben“

Gramsci: Redigierte Thesen zum III. Parteitag der KPI 1926 (zitiert nach http://www.kpoe.at/home/positionen/geschichte/antonio-gramsci/2011/antonio-gramsci-persoenlichkeit-politik-theorie-teil-5, 10.08.2019)

Damit das gelingt, braucht die Arbeiterklasse neben der kommunistischen Partei als höchster Organisationsform andere Organisationen, um den Klassenkampf an unterschiedlichen Stellen voranzutreiben, um selbst die Formen zu schaffen, deren Geist in den Rätestrukturen weiterlebt, die später die organisatorische Grundlage der sozialistischen Gesellschaft darstellen. Dieser Geist, dass sind z.B. ein verinnerlichter demokratischer Zentralismus, die Selbsttätigkeit, die gegenseitige Rücksichtsnahme und Hilfe, ein proletarischer Internationalismus. Gramsci sieht hier (siehe obiges Zitat) eine erzieherische Funktion der Partei, die Partei muss den Massen die Disziplin, die Standhaftigkeit und Organisationsprinzipien an die Hand geben. Auch wenn er es hier nicht schreibt können wir m.E. davon ausgehen, dass er dies im materialistischen Sinne meint, als ein aus den eigenen Kampferfahrungen enspringendes Lernen. Was sind es für Organisationen, in denen die Arbeiterklasse diese Erfahrungen macht?

Die Kommunistische Partei ist die organisierte Vorhut, aber nicht die einzige Organisation der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse hat eine ganze Reihe anderer Organisationen, die ihr im Kampf gegen das Kapital unentbehrlich sind: Gewerkschaften, Genossenschaften, Betriebskomitees, Parlamentsfraktionen, Vereinigungen parteiloser Frauen, Presse, Vereine, Kulturorganisationen, Jugendverband, revolutionäre Kampforganisation (bei direkten revolutionären Aktionen), Deputiertensowjets, Staat (wenn das Proletariat an der Macht ist) usw.“

Das sind zunächst einmal sehr breit gestreute Anregungen, es erscheint in meinen Augen auch etwas willkürlich, weil gar nicht klar ist welche Gemeinsamkeiten diese Organisationen haben. Offensichtlich sind es nicht alles Massenorganisationen (eine Parlamentsfraktion beispielsweise), bei manchen Beispielen ist es nicht eindeutig (der Jugendverband ist hier z.B. vermutlich als Massenorganisation und nicht als kommunistischer Jugendverband gemeint). Auffällig ist auch, dass der proletarische Staat in eine Reihe mit den anderen Organisationen gestellt wird, Gramscis Bemerkungen zum kapitalistischen Staat aus dieser Zeit lassen aber daraus schließen, dass er in der Staatsfrage bei Lenin ist. Gramsci fährt fort:

Der größte Teil dieser Organisationen ist apolitischer Natur: Manche sind der Partei angeschlossen, ganz oder nur zum Teil. Alle sind in bestimmten Situationen für die Arbeiterklasse absolut notwendig, damit sie ihre Klassenposition in den unterschiedlichen Bereichen des Kampfes festigen und daraus eine Kraft formen kann, die in der Lage ist, die bürgerliche Ordnung durch die sozialistische Ordnung zu ersetzen.“

(Die Bemerkung, dass diese Organisationen apolitischer Natur seien, darf man meines Erachtens nicht so verstehen, dass sie getrennt von politischen Fragen existieren) Erstens stellt Gramsci also fest, dass es sich bei den Organisationen um Organisationen der Arbeiterklasse handeln muss, dass sich in ihnen also primär die Arbeiterklasse organisiert. Zweitens sagt er, die Organisationen seien für die Arbeiterklasse notwendig in bestimmten Situationen um die sozialistische Ordnung zu erkämpfen. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass seine Überlegungen zur Hegemonie davon meinem Verständnis nach nicht zu trennen sind. Es wird keine Hegemonie und keine Führung der Arbeiterklasse ohne die Organisationen der Arbeiterklasse geben, wie Gramsci auch in den Gefängnisheften andeutete: „Jede Unterscheidung zwischen Führen und Organisieren (und im Organisieren ist das ‚Überprüfen‘ und Kontrollieren eingeschlossen) deutet eine Abweichung und oft einen Verrat an“.

Als nächstes stellt Gramsci die Frage, wie diese dermaßen unterschiedlichen Organisationen einheitlich geführt werden können, man könnte sagen: wie sie im Kampf eine Einheit werden und sich gegenseitig unterstützen können. Seine Antwort darauf ist sehr klar:

Aber alle müssen ihre Arbeit unter einer einheitlichen Leitung durchführen, da sie alle einer einzigen Klasse dienen: der Klasse der Proletarier. Wer bestimmt also diese einheitliche Leitung? Welches ist die zentrale Organisation, die sich ausreichend bewährt hat, um diese generelle Linie auszuarbeiten, und die dank ihrer Autorität in der Lage ist, alle diese Organisationen auf diese Linie zu orientieren, die Einheit der Leitung zu erreichen und die Möglichkeit von unbesonnenen Handlungen auszuschalten? Diese Organisation ist die Partei des Proletariats.

In der Tat hat sie alle notwendigen Eigenschaften. Vor allem vereinigt sie in sich den besten Teil der Arbeiterklasse, eine Avantgarde, die direkt mit den nicht zur Partei gehörenden Organisationen des Proletariats, die häufig von Kommunisten geleitet werden, verbunden ist. Zweitens ist die Partei durch ihre Erfahrung und ihre Autorität die einzige Organisation, die in der Lage ist, den Kampf des Proletariats zu zentralisieren und so die politischen Organisationen der Arbeiterklasse in Verbindungsorgane umzuwandeln. Die Partei ist die höchste Form der Klassenorganisation des Proletariats.“

Gramsci, Die Partei des Proletariats, 1924

Das klingt nun so gar nicht nach der weichgespülten Hegemonietheorie, wie sie zuweilen aus den Gefängnisheften herausgelesen wird. Gramsci schreibt in den Heften, dass eine Klasse „auf zweierlei Weise herrschend ist, nämlich ‚führend‘ und ‚herrschend‘. Sie ist führend gegenüber den verbündeten Klassen und herrschend gegenüber den gegnerischen Klassen“. Ohne Gramscis Vorstellungen davon, was das auf organisatorischer Ebene bedeutet, bleiben seine Ausführungen zu Herrschaft und Führung aber recht zahnlos.

Leider gibt es meines Wissens keinen Text von Gramsci, der sich systematisch mit den Prinzipien, mit dem Aufbau und den Aufgaben der Massenorganisationen der Arbeiterklasse auseinandersetzt. An einigen Stellen scheint aber durch, worauf es ankommt, beispielsweise schreibt er 1919 in einem Kommentar zu einem anarchistischen Artikel:

Von Natur aus fordert der sozialistische Staat eine Treue und Disziplin, die sich von der, die der bürgerliche Staat fordert, unterscheidet, ja ihr sogar entgegengesetzt ist. Im Unterschied zum bürgerlichen Staat, der innerlich und äußerlich um so stärker ist, je weniger die Bürger die Aktivität der Machtorgane kontrollieren und verfolgen, fordert der sozialistische Staat die aktive und ständige Teilnahme der Genossen am Leben seiner Institutionen.“

Antonio Gramsci, Staat und Sozialismus, 1919

Wie soll diese aktive Rolle ausgefüllt werden, wenn den Arbeitern im Kapitalismus die Passivität aufgezwungen wird? Sie muss erlernt werden:

„Schon von jetzt an müssen wir uns formieren und jenen Geist der Verantwortung herausbilden, der so schneidend und unversöhnlich sein muß wie das Schwert eines Scharfrichters. Die Revolution ist eine große und schreckliche Sache, sie ist kein Laienspiel oder romantisches Abenteuer.“

Antonio Gramsci, Staat und Sozialismus, 1919

Dieser unversöhnliche Geist der Verantwortung entspricht den im politischen Beschluss formulierten Prinzipien von Aktivität und Unabhängigkeit: das Proletariat muss „schon von jetzt an“ lernen und verinnerlichen, was die Revolution erfordern wird. In diesem Sinne sei es

„notwendig, von jetzt an ein Netz von proletarischen Institutionen zu schaffen, die im Bewußtsein der großen Massen verankert sind und sich auf die Disziplin und die Treue der großen Massen verlassen können, innerhalb derer die Klasse der Arbeiter und der Bauern in ihrer Totalität eine an Dynamik und Entwicklungsmöglichkeiten reiche Form annimmt.“

Gramsci, Zur Eroberung des Staates, 1919

Gramscis Erben und der Niedergang der KPI

Gramsci starb 1937 an den Folgen der Haft. Die KPI durchlebte bis zu ihrer Auflösung 1991 unterschiedliche Phasen, die nach dem zweiten Weltkrieg, spätestens aber nach Hinwendung der französischen KP unter Georges Marchais, der spanischen KP unter Santiago Carillo und der KPI unter Enrico Berlinguer zum „Eurokommunismus“, als Schritte des Niedergangs erachtet werden müssen. Was für uns hier von Interesse ist, ist die Tatsache, dass die politische Linie der KPI sich als Fortsetzung von Gramscis Überlegungen verstand. Die Generalsekretäre der KPI, Togliatti (1943 – 1964), Longo (1964 – 1972) und Berlinguer (1972 – 1984) entwickelten dabei jeweils eigene Ideen. Bereits Togliatti verwarf die noch von Gramsci vertretene Bolschewisierung der Partei (entsprechend Lenins „Partei neuen Typs“) und entwickelte 1944 im Zuge der sogenannten „Wende von Salerno“ die Konzeption einer „Neuen Partei“: eine Partei, „die sich nicht mehr nur auf die Kritik und die Propaganda beschränkt, sondern die Einfluss nimmt auf das Leben des Landes mit einer positiven und konstruktiven Aktivität, die mit der Zelle in der Fabrik und im Wohnort beginnt und sich bis zum Zentralkomitee und jenen Personen erstrecken muss, die wir zwecks Vertretung der Arbeiterklasse und der Partei in die Regierung delegieren“ [2]. Die „Neue Partei“ zeichne sich durch drei Momente aus: 1. den gesamt-nationalen Charakter der Partei (was für Italien auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht unmittelbar selbstverständlich war), 2. die aktive Beteiligung an der Regierung und 3. einen Massen- und Volkscharakter. Abgesehen von der problematischen generellen Orientierung auf eine Regierungsbeteiligung findet hier ein Bruch statt: das Verhältnis zwischen KP und Masse wird falsch aufgelöst, indem die KP ihren Klassencharakter aufgibt und stattdessen zu einer Volkspartei wird. Mit diesem Schritt verlieren aber auch Gramscis Massenorganisationen ihren Dreh- und Angelpunkt, nämlich die orientierende, vereinheitlichende, führende, bolschewistisch organisierte Kommunistische Partei. Bei Gramsci bilden KP und Massenorganisationen eine Einheit, deren Elementen unterschiedliche, jeweils unverzichtbare Rollen im Klassenkampf zukommen – bei Togliatti wird die KP selbst (und zwar als Teil der Strategie) zu einer Massenorganisation. Man sollte dabei jedoch beachten, dass dieser Bruch damals nicht unbedingt so offensichtlich war, wie er im Rückblick erscheint (jedoch wurde auch damals, insbesondere von alten KPI-Kadern, die Neuausrichtung stark kritisiert). Dabei hat sicherlich eine Rolle gespielt, dass Togliatti betonte, dass die ideologische Linie der Partei nur marxistisch und leninistisch sein könne, und dass die Partei ihre entscheidenden Kräfte aus der Arbeiterklasse schöpfe; ein weiteres Beispiel dafür, dass solche Proklamationen nur allzu häufig Phrasen bleiben. Die Gründe dafür, dass der Bruch nicht stärkeren Protest hervorrief scheinen mir folgende zu sein: Erstens befand sich die KPI gegen Ende des zweiten Weltkriegs in einer historisch-national neuartigen Rolle, in der die Umgestaltung der Partei durchaus naheliegend erschien. Zweitens schien Togliatti an die Partei-Autorität Gramsci anzuschließen, was die praktische Rolle der Kommunisten bei der Aktivierung der Massen anging, sein Ziel war, dass sich die Kommunisten sehr viel lebendiger in den Massen verankerten und im gemeinsamen Kampf zum Sozialismus fänden. Dies war eine trügerische, scheinbare Kontinuität, weil sie einherging mit der beginnenden Demontage der KP (die Parteienfrage ist dabei nicht zu trennen von Staatstheorie, kommunistischer Strategie etc.). Und das ist auch eine Lektion, die wir meiner Meinung nach am Beispiel von Gramsci und der KPI versuchen müssen zu lernen: Bei allen praktischen Orientierungen die wir uns geben, bei allen Schritten die wir gehen, um die Massen zu organisieren, müssen wir das richtige Verhältnis zur revolutionären, kommunistischen Organisation wahren. Das klingt banal, ist aber einfacher gesagt als getan, ebenso wie das Abdriften der KPI vom revolutionären Weg einfacher im Rückblick zu sehen ist als während des Prozesses. Um uns besser zu wappnen gegen Fehlentwicklungen sollten wir deshalb die historischen Erfahrungen wie hier der KPI noch viel genauer studieren. Welche Massenorganisationen hatte die KPI anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts? In welchem Verhältnis standen sie zur KP? Inwiefern entsprachen KP und Massenorganisationen Gramscis Vorstellungen? Was änderte sich nach der Befreiung beispielsweise Italiens in der KPI und ihrem Herangehen an die Massenorganisationen?

[1] Kommunistische Internationale, Leitsätze über die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale, 1920

[2] Togliatti, „Che cosa è il ‚partito nuovo‘?“ in: Riniscita 4/1944, zitiert nach Neubert: Linie Gramsci – Togliatti – Longo – Berlinguer

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Der 5. Mitgliederkongress der KO hat stattgefunden. Erfahrungen aus unserer Spaltung und der akti-ven Beteiligung in Kämpfen gegen den Krieg der NATO und den Völkermord in Palästina geben nachdrücklich Aufgaben für uns selbst und die Bewegung auf. Sie erfordern praktische Konsequen-zen. Ein zentraler Beschluss: Die Organisierung eines umfassenden und öffentlichen Studienganges zur Geschichte des Kommunismus.