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Burgfrieden für’s Kapital

Die Führung der IG BCE stellt sich im Ukraine-Konflikt auf die Seite des deutschen Imperialismus, belügt ihre Mitglieder und akzeptiert Reallohnverlust

Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ist mit über 600.000 Mitgliedern die drittgrößte Gewerkschaft im DGB. In ihrer größten und wichtigsten Branche, der chemisch-pharmazeutischen Industrie, vertritt sie 580.000 Beschäftigte und hätte mit einem durchschnittlichen Organisierungsgrad von etwa 50 % durchaus die Möglichkeit, Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben. Doch sie tut das Gegenteil. Eine kurze Chronologie der Ereignisse in der letzten Tarifrunde:

Die IG BCE geht im Februar 2022 mit der Forderung nach einer langfristigen Steigerung der Kaufkraft der Beschäftigten in die Tarifrunde. Richtig stellt sie fest: „Auf der einen Seite steigen die Gewinne der Chemieunternehmen deutlich. Auf der anderen Seite erhöhen sich die Kosten im Privatleben für Strom, Benzin oder Mieten immer weiter.“[1] In der Tat haben die Monopolkonzerne der chemischen und pharmazeutischen Industrie 2021 Milliardengewinne eingefahren und hohe Dividenden ausgeschüttet.[2] Gleichzeitig ist die Inflation sprunghaft angestiegen und die Lebenshaltungskosten der Beschäftigen haben sich deutlich erhöht.[3]

Ende Februar greift Russland militärisch in den schon vorher bestehenden Ukraine-Konflikt ein. Die IG BCE nimmt das zum Anlass, ihre Forderungen zu korrigieren und will stattdessen „eine Lösung finden, die der unsicheren ökonomischen Lage ebenso gerecht wird wie dem berechtigten Wunsch der Menschen nach Kaufkraftsteigerung.“[4] Ohne dass bereits wirtschaftliche Folgen des Krieges erkennbar wären, zieht sie eine Parallele zur Wirtschaftskrise 2008 und schlägt eine „Brückenlösung“ vor: Einmalzahlung und moderate Gehaltserhöhung, um dann in einigen Monaten erneut zu verhandeln. Die Arbeitgeber begrüßen, dass die IG BCE „Verantwortung übernehmen“ will[5], sind aber nicht bereit auf die Forderung nach Entgelterhöhung einzugehen.[6] IG BCE-Verhandlungsführer Sikorsi betont noch Ende März: „Die Brücke ist kein Verschieben der Tarifrunde. Die Brücke ist kein Aussetzen und keine alleinige Einmalzahlung.“[7] Es folgt eine Aktionswoche mit einigen Social-Media-Aktivitäten[8] und in der Belegschaft werden erste Vermutung laut, dass es Warnstreiks geben könne. Doch diese bleiben aus und am 4. April wird auf einmal ein Ergebnis bekannt gegeben: 1.400 Euro Einmalzahlung für die nächsten sieben Monate.[9]

Dies steht im eklatanten Gegensatz zu den Forderungen der Tarifkommission und den Versprechungen der Gewerkschaftsführer und wird dennoch als Sieg dargestellt. Doch was bedeutet es konkret? Die „Brückenzahlung“ ist steuerpflichtig und erfordert als Einmalzahlung besonders hohe Abgaben. Netto kommt bei den Beschäftigten also nur etwa die Hälfte an. In Betrieben mit wirtschaftlicher Notlage, kann sie auf 1.000 Euro reduziert werden; Auszubildende erhalten ohnehin nur 500 Euro. Laut IG BCE entspricht die Einmalzahlung „im Durchschnitt über alle Entgeltgruppen einem Volumen von 5,3 Prozent“. Dieser mathematische Trick hat wenig Aussagekraft, weil er die Monatslöhne der niedrigen Entgeltgruppen einbezieht, die in der Branche eine absolute Minderheit darstellen. Für die Mehrheit der Kollegen, insbesondere für langjährige Beschäftigte, bedeutet die Einmalzahlung nur eine Nettoerhöhung von ca. 4 %. Die Inflation lag bereits im November letzten Jahres bei über 5 % und ist seitdem noch weiter gestiegen (7,3 % im März 2022).[10] Die meisten Wirtschaftsinstitute machen für den Rest des Jahres eine düstere Prognose von bis zu 6 %.[11] Die zurückliegenden Preissteigerungen machen sich schon jetzt bei den Beschäftigten bemerkbar und werden durch die Einmalzahlung kaum ausgeglichen. Von den 700 Euro, die Vollzeitbeschäftigten nach Abzügen für die nächsten 7 Monate bleiben, können sie pro Monat vielleicht eine Tankfüllung bezahlen – mit Blick auf die Zukunft bedeutet das Ergebnis wahrscheinlich Reallohnverlust. Zwar soll im Oktober weiterverhandelt werden, doch auch hier klingt die Gewerkschaftsführung plötzlich nur noch wenig zuversichtlich: Man will „klären, inwieweit die zunächst kurzfristig gegen die ausufernde Inflation wirkende Entlastung in eine nachhaltige, tabellenwirksame Entgelterhöhung gewandelt werden kann.“

Das Ergebnis reiht sich nahtlos in die schwachen Abschlüsse der letzten Jahre ein. Seit 2015 hat die IG BCE (je nach Bundesland und Entgeltgruppe) ca. 12 % Bruttolohnsteigerungen erzielt, und kann damit kaum die Preissteigerungen ausgleichen.[12] Alle Abschlüsse der letzten Jahre wurden ohne Warnstreiks oder andere ernsthafte Versuche, Druck aufzubauen, erzielt. Zwar wurde oft angekündigt, man müsse sich auf harte Kämpfe einstellen, doch diese wurden nicht geführt und die schlechten Ergebnisse wurden der Mitgliederbasis hinterher als Siege verkauft.

Auffällig ist, welche Rolle der Ukraine-Konflikt für das Einknicken der Gewerkschaft in der diesjährigen Tarifrunde spielt. Wie der gesamte DGB, stellt sich die IG BCE auf den Standpunkt der Bundesregierung und befürwortet wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland.[13] Dass diese Sanktionen ganz konkrete Verschlechterungen für die Arbeiterklasse bedeuten (z.B. weitere Preissteigerungen), wird nicht problematisiert, stattdessen sorgt man sich um die Konkurrenzfähigkeit der Industrie und fordert Subventionen der Regierung für die Industrie (!) und erneute Kurzarbeit.[14] In der Tarifrunde wird der Ukraine-Konflikt als Grund angegeben, von den geforderten Lohnerhöhungen abzuweichen, obwohl die Lebenshaltungskosten der Beschäftigten eher noch stärker ansteigen werden. Zwar steht die IG BCE bislang den Aufrüstungsplänen der Bundesregierung kritisch gegenüber13, namhafte Vorstandsmitglieder denken aber bereits laut darüber nach, dass man in außergewöhnlichen Zeiten nicht prinzipiell gegen Aufrüstung sein könne.

In dieser Situation kommt der IG BCE eine Vorreiterrolle zu, es ist aber zu befürchten, dass die anderen DGB-Gewerkschaften in den nächsten Wochen eine ähnliche Burgfrieden-Politik machen und die Interessen ihrer Mitglieder für den Standort und die Haltung der Bundesregierung opfern werden.

Prinzipiell ist es die Aufgabe der Gewerkschaften, auch in der Situation von Krieg und Krise an den hohen Forderungen festzuhalten. Es sind nicht die Arbeiter, die von der Kriegspolitik der NATO profitieren, sondern wir sind die Leidtragenden durch Preissteigerungen. Ob die Industrie darunter leidet, kann uns komplett egal sein – die Arbeitgeberseite ist in der Phase der Inflation ja auch nicht zu uns gekommen um uns mehr Lohn anzubieten. Wenn es kein Entgegenkommen der Arbeitgeber gibt, muss der Druck in den Verhandlungen durch Warnstreiks erhöht werden.

Gegen Kriegspolitik, Aufrüstung und Waffenlieferungen der Bundesregierung, die den Arbeitern überall schaden, müssten die Gewerkschaften eine klare Position ergreifen. In vielen anderen Ländern passiert das auch, so haben Arbeiter in Italien und Griechenland versucht, Waffenlieferungen in die Ukraine aufzuhalten, und wurden dabei von ihren Gewerkschaften unterstützt.[15] Daran ist in den DGB-Gewerkschaften heute nicht zu denken, aber dennoch bleibt es unsere Aufgabe, in ihnen aktiv zu sein und um diese Positionen zu kämpfen. Es braucht Druck von der Basis auf die Führung, Kritik am bisherigen Kurs auf den Mitgliederversammlungen und, vor allem, Aktivität in den Betrieben.

[1] https://igbce.de/igbce/mehr-kaufkraft-mehr-wertschaetzung-mehr-sicherheit-203126 (22.02.22)

[2] Gewinne 2021 (in Mio €): BASF: 5.500, Wacker: 828, Bayer: 11.200, Evonik: 746, Boehringer-Ingelheim: 4.600; Dividenden 2021 (in € pro Aktie): BASF: 3,40, Wacker: 8, Bayer: 2, Evonik: 1,17

[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1045/umfrage/inflationsrate-in-deutschland-veraenderung-des-verbraucherpreisindexes-zum-vorjahresmonat/

[4] https://igbce.de/igbce/fragen-und-antworten-zur-tarifrunde-203752

[5] https://www.bavc.de/service/pressemitteilungen/2135-pi-22-03-22

[6] https://igbce.de/resource/blob/205120/614489b44ffa4c9c5bdc25ca11773a1f/blitzinfo-chemie-2022-noch-ein-weiter-weg-data.pdf (23.03.22)

[7] https://igbce.de/igbce/fragen-und-antworten-zur-tarifrunde-203752

[8] https://igbce.de/igbce/den-druck-erhoehen-205236 (01.04.22)

[9] https://igbce.de/igbce/tarifparteien-finden-brueckenloesung-fuer-chemie-beschaeftigte-205866

[10] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1045/umfrage/inflationsrate-in-deutschland-veraenderung-des-verbraucherpreisindexes-zum-vorjahresmonat/

[11]  https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/ifo-prognose-inflation-ueber-sechs-prozent-100.htmlhttps://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/inflation-prognosen-101.html

[12] https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Preismonitor/Preismonitor.html

[13] https://igbce.de/igbce/grossdemos-fuer-frieden-in-der-ukraine-203718https://igbce.de/resource/blob/205154/a86a23a0354b2aeafa3d4ab37da2bb11/ukraine-appell-der-papier-sozialpartner-data.pdf

[14] https://igbce.de/igbce/igbce-fordert-entlastungspaket-fuer-industriearbeit-205250

[15] https://workers.today/italian-airport-workers-stop-arms-shipment-to-ukraine-under-guise-of-humanitarian-aid/https://english.almayadeen.net/news/politics/greek-railway-staff-refuse-to-service-trains-with-military-a

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