English
русский
عربي

Es war damals Völkermord und es ist heute Völkermord

Zum Jahrestag des Sieges über die Blockade von Leningrad und zum Holocaust-Gedenktag

von Alexander Kiknadze

Steht auf, ihr Kinder, die ihr schon vor Jahren
Von Henkersknechten totgemartert seid
Ergreift die Mörder, richtet in Talaren
Im Namen aller Kinder künft’ger Zeit
Und Ihr, die Ihr noch lebt aus diesen Tagen
In Warschau, Minsk, Paris, am Rhein, am Belt
Erinnerung soll aus dem Schlaf euch jagen
Solang die Mörder leben auf der Welt!
Solang die Mörder leben auf der Welt

(Ernst Busch – Solang die Mörder leben auf der Welt)

Am heutigen Tag jährt sich der Sieg der Leningrader Bevölkerung über die Blockade durch den deutschen Faschismus zum 81. Mal. Ziel der Blockade war die Vernichtung Leningrads und seiner Bevölkerung als zentraler Bestandteil der Vernichtung der Sowjetunion und seiner Völker für die Kolonisierung eines „neuen Lebensraums im Osten“. Dies sollte durch Abriegelung, Aushungerung und permanenten Beschuss der Stadt erreicht werden: Dystrophie, Krankheiten und Massensterben sollten zum Zerfall der öffentlichen Ordnung und Zersetzung der Bevölkerung Leningrads führen. Die ganze Feigheit und Niedertracht, aber auch Angst, zeigen sich an Hitlers Aussage, dass man es der Wehrmacht nicht zumuten könne, gegen die Massen der „wildgewordenen roten Arbeiter von Leningrad“ zu kämpfen1. Hitlers Sorge war berechtigt: Die „Wildgewordenen“ haben gekämpft. Die Stadtbevölkerung hat sich organisiert und diszipliniert: Die knappen Nahrungsmittel wurden rational verteilt, um möglichst viele überleben zu lassen. Die Leute arbeiteten so, wie die Kalorien es gerade zuließen, um die Leningrader Front zu stärken. Und der Sieg war da!

Das organisierte Leningrad schlug den übermächtigen und hochgerüsteten faschistischen Feind: Nach 872 Tagen Blockade und schätzungsweise 1,1 Millionen Toten, 90% davon Verhungerte, wurde die Blockade von der Roten Armee durchbrochen2.

Leningrad war Völkermord

Die Fakten sprechen Klartext und sind unter vielen auch westlichen Historikern Konsens: Leningrad war per definitionem ein Völkermord. Hitlers, Himmlers und Goebbels‘ Aussagen dazu sind klar: Die Stadt sollte nicht belagert werden, sondern die Sowjetbevölkerung in Leningrad sollte durch Hunger vernichtet werden3.

Diese Anerkennung fordert die Russische Föderation seit 2024 von der BRD. Deren Antwort: Abgelehnt, die Blockade war nur ein „einfaches Kriegsverbrechen“. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, kritisierte außerdem, dass die BRD nur an die jüdischen Opfer der Blockade Entschädigungen zahle und forderte, diese Entschädigungen auf alle Nationalitäten auszuweiten. Der Umgang der BRD sei ethnische Diskriminierung4.

Die Antwort der BRD auf diese Forderung ist der Gipfel des Zynismus: Juden hätten unter der Blockade mehr gelitten als andere Nationalitäten. Darüber hinaus habe die Sowjetunion nach dem Prager Aufstand 1953 auf Reparationszahlungen aus der DDR verzichtet. In der Rechtsform, in der die DDR in die BRD eingegliedert wurden, übertrage sich diese Rechtsauffassung auf die BRD, die wohlgemerkt nie Reparationszahlungen geleistet hat. Das Thema sei für die BRD damit abgeschlossen5.

Die Forderungen Russlands lösten in den deutschen Medien eine Welle der Empörung aus: Die Frankfurter Rundschau titelte: „Mitten im Ukraine-Krieg: Deutschland soll Genozid an Russen eingestehen“6. Und der Spiegel konstatierte, dass der russische Präsident in seiner ganzen Gemeinheit mit dieser Forderung „Deutschland als Schwachstelle in Europa“ ausgemacht habe7. Das ist bemerkenswert: Die genozidale Vergangenheit Deutschlands wird als Schwachstelle ausgemacht und „gerade jetzt“ (!) sollen „wir“ einen Genozid „an Russen“ anerkennen. Was sagt das über „unsere historische Verantwortung“, von der BRD-Politiker seit 1949 sprechen, aus?

Die Bewältigung des Faschismus durch die BRD

Der Spiegel hat hier tatsächlich einen Punkt. Denn die BRD hat in der Bewältigung ihres Vorgängerstaates sehr genau zwischen „brauchbaren“ und „unbrauchbaren“ Verbrechen, die sachlich die gleichen waren, unterschieden:

Sie lässt die Anklage Völkermord im 2. Weltkrieg ausschließlich für die europäischen Juden gelten. Als ihr Gesamt- und Alleinvertreter wurde 1948 der „Staat Israel“ definiert – eine Identität, der sich alle Juden weltweit gefälligst anzunehmen haben und für die sie, wenn sie sich in Deutschland dem nicht fügen, auch schon einmal von der Polizei verprügelt werden. Alle anderen Völker der Sowjetunion, die im Zuge der Kolonisierungsbestrebungen des „Lebensraums im Osten“ genau so gezielt vernichtet wurden wie die Juden, werden entgegen dieser offensichtlichen Realität als ebensolche Opfer eines Völkermords explizit nicht anerkannt. Eine „Schwachstelle“ – tatsächlich – deren Entlarvung durch den alten neuen Feind Russland nun mit entsprechend nervösem Geschrei kommentiert wird. Warum?

Die BRD wurde 1949 als zentraler Rammbock der NATO für einen Angriff auf die Sowjetunion gegründet und aufgebaut. Die Anerkennung eines Genozids am sowjetischen Volk durfte es deshalb nicht geben. Das ist der Grund für die Verdrehungen, Verharmlosungen und Lügen, um die zahlreiche westdeutsche Historiker in ihren Instituten bemüht waren ­– z. T. in direkter personeller Kontinuität mit ihren faschistischen Vorgängern. Das ist die Wahrheit über die Aufarbeitung des Faschismus durch die BRD: Mehr, als sich moralisch von ihrer genozidalen Vergangenheit freizukaufen, um neue Angriffskriege führen zu dürfen, ist an ihr nie drangewesen.

Die Sowjetunion ist Geschichte, die NATO nicht. Sie führt heute einen Krieg gegen ihren Rechtsnachfolger Russland und die vielen Völker, die in in diesem Staat leben. Sie will Russland „ruinieren“ (Baerbock) – wenn nicht heute, dann in ein paar Jahren. Das ist der Kern des nervösen Aufschreis der deutschen Presse bei den russischen Forderungen. Man könnte diese Artikel schon fast so lesen, als müsste man Mitleid mit der BRD haben, dass sie „ausgerechnet jetzt“ von den Nachfahren der Opfer mit störenden Erinnerungen an ihre genozidale Vergangenheit ausgebremst werden soll.

Gaza ist Völkermord

Vermutlich ist den Gründern der BRD 1949 außerdem klar gewesen, dass Völkermord auch nach dem Ende der Nazidiktatur Mittel der zukünftigen Kriegsführung sein wird. Dass das so ist, zeigt sich (nicht erst) heute in Palästina. Die Aussagen des faschistischen Ministers Itamar Ben-Gvir legen das offen: Humanitäre Hilfe nach Gaza soll reduziert werden8, der Gazastreifen „wiederbesiedelt“ werden9 und es sollen nicht so viele Gefangene gemacht werden10. Im Klartext heißt das: Die Menschen in Gaza sollen durch die Blockade ausgehungert und durch Bombenangriffe vernichtet werden, solange, bis der kleine übriggebliebene Rest endlich auf den Sinai vertrieben werden kann. Das Land soll anschließend durch jüdische Siedler kolonisiert werden.

Dass auch dies ein Völkermord ist, ist so klar, wie die Blockade Leningrads einer war. Zynischerweise werden als Argument für seine Leugnung hierzulande auf Unterschiede in der „Anzahl der Ermordeten“ („nur“ 50.000!) hingewiesen, wobei auch diese Zahl stark untertrieben ist. Diesen Zynikern muss klar sein: Unabhängig von der „Anzahl“ ist Völkermord die gezielte Vernichtung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen und nationalen Zugehörigkeit. Das ist in Gaza der Fall.

Und auch in diesem Fall fallen die Reaktionen der BRD grotesk aus: Israel habe das Recht, sich selbst zu verteidigen. Staatsräson und Lehren aus der Vergangenheit.

Jagt die Heuchler aus dem Schlaf!

Heute ist Holocaust-Gedenktag. BRD-Politiker werden mit Krokodilstränen in den Augen begründen, dass „die Vergangenheit“ „gerade uns als Deutsche dazu verpflichte“, wieder „mehr Verantwortung in Europa und der Welt zu übernehmen“. Das heißt im Klartext, den großen Krieg in Europa vorzubereiten und in der Lage zu sein, ihn zu führen. Dafür werden Genozide so genommen, wie sie gebraucht werden.

Würde die BRD den Genozid von Leningrad anerkennen, dann müsste sie das auch für Gaza tun. Dann würde das ganze Kartenhaus der Bewältigung ihrer faschistischen Vergangenheit von einem auf den anderen Tag in sich zusammenfallen. Dann wäre Schluss mit Kriegsvorbereitungen gegen Russland und „neuer Verantwortung“. Wer das will, muss nicht nur am heutigen Holocaust-Gedenktag aufstehen und sagen: Leningrad war Völkermord und Gaza ist Völkermord.

Wie Ernst Busch schrieb: Jagt (mit dieser Wahrheit) die Heuchler und Mörder aus dem Schlaf!

1 „Man weiß, daß mit der Bevölkerung von Petersburg bei einer Übergabe der Stadt doch nichts anzufangen wäre, da sie von jeher eine bolschewistische Zelle größten Formats und eines der beiden Hauptreservoirs der kommunistischen Bewegung Rußlands war und ist. Wir wollen keine Verluste durch Straßenkämpfe mit den wildgewordenen roten Arbeitern haben. Daher wird Petersburg nicht gestürmt. Wir wollen vermeiden, daß sich dort ein neues Verdun bildet“ nach: Marlis G. Steinert: Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Düsseldorf 1970, S. 225

2 Eindrückliche und detaillierte Berichte über die Organisation des Stadtlebens gibt es in der deutschen Übersetzung des “Blockadebuchs” von Ales Adamowitsch und Daniil Granin, zu bestellen bei der Bundeszentrale für politische Bildung

3 Eine ausführliche Sammlung von Quellen führender Faschisten hat Telepolis geleistet: https://www.telepolis.de/features/Blockade-Leningrads-Das-schaurigste-Stadtdrama-das-die-Geschichte-jemals-gesehen-hat-9609882.html

4 https://germany.mid.ru/de/aktuelles/pressemitteilungen/pressesprecherin_maria_sacharowa_antwort_der_bundesregierung_auf_offenen_brief_der_blockade_berleben/

5 Diese Rechtsauffassung hat das Finanzministerium der BRD bereits 2017 nach einer kleinen Anfrage der Linksfraktion im Bundestag geäußert, vgl. Bundestag-Drucksache 18/11496 vom 9.März 2017, Anfrage und Antwort abrufbar unter jankorte.de

6 https://www.fr.de/politik/kriegsverbrechen-ukraine-krieg-deutschland-zweiter-weltkrieg-genozid-leningrad-russland-92904200.html

7 https://www.spiegel.de/geschichte/russlands-geschichtspolitik-putin-hat-deutschland-als-schwachstelle-europas-ausgemacht-a-bac2d2bd-1be5-48c6-b9c3-daa5985e3307

8 https://www.commondreams.org/news/ben-gvir-2668477326

9 https://www.timesofisrael.com/12-ministers-call-to-resettle-gaza-encourage-gazans-to-leave-at-jubilant-conference/

10 https://www.theguardian.com/world/article/2024/may/08/cant-you-kill-some-netanyahus-political-survival-in-hands-of-far-right

Aktuelles

Podcast #47 – Studiengang zur Geschichte des Kommunismus

Am 2. Februar 2025 startet der "Studiengang zur Geschichte des Kommunismus". Im Podcast sprechen wir darüber, was die Teilnehmer dabei erwartet, wie es zu der Idee für den Studiengang kam, welche Bedeutung das Wissen um die Geschichte der Arbeiterbewegung für die Klassenkämpfe und Debatten von heute hat, und inwiefern es angesichts der sich zuspitzenden Kämpfen weltweit und auch in Deutschland überhaupt angebracht ist so ein großes Projekt zu starten. Haben Kommunisten nicht eigentlich besseres zu tun? Ist das ein Rückzug in die Studierzimmer? Alle Infos zum Studiengang findet ihr hier: https://studiengang-kommunismus.de Dort könnt ihr euch auch immernoch anmelden!

Berlin/Dresden/Leipzig: 80 Jahre Auschwitz-Befreiung – 81 Jahre Sieg in Leningrad

Dresden: 27.01. – 17 Uhr – Gedenkstätte Münchner Platz / Berlin: 27.01. – 19 Uhr – Anti-War Café (Rochstr. 3) / Leipzig: 28.01. – 18 Uhr – Zweieck (Zweinaundorfer Str. 22)