Von Noel Bamen
Wilhelm Langthaler / Werner Pirker: Ami go home. Zwölf gute Gründe für einen Antiamerikanismus, Wien: Promedia 2003. 159 Seiten.
Auf dem Zenit der Macht
Vor 20 Jahren erschien im Wiener Promedia-Verlag das Buch „Ami go home“, gemeinsam verfasst von Wilhelm Langthaler und Werner Pirker (1947-2014). Letzterer war zwischen 1975 und 1991 Redakteur der Wiener Volksstimme, anschließend als Korrespondent in Moskau tätig und in den Jahren 1997-2000 stellvertretender Chefredakteur der jungen Welt. Danach arbeitete er als freier Journalist in Wien. Willi Langthaler, aus dem trotzkistischen Spektrum stammend, war um die Jahrtausendwende herum vor allem aktiv gegen die Zerstörung Jugoslawiens durch die NATO, gegen die US-Invasion im Irak und in der Palästina-Solidarität. Später engagierte er sich u. a. für den Euro-Exit und in der Donbas-Solidarität. Als Vertreter der Antiimperialistischen Koordination (AIK) wird er an unserem Kommunismus Kongress auf dem Podium zur antiimperialistischen Strategie und dem Verhältnis zwischen Antiimperialismus und Kampf für den Sozialismus sitzen.
Das Buch erschien im Hochsommer 2003, ein halbes Jahr nachdem die US-Imperialisten und ihre Verbündeten in den Irak einmarschiert waren und knapp zwei Jahre nachdem die NATO in Afghanistan eingefallen war. Vier Jahre zuvor hatte der Westen Jugoslawien endgültig den Rest gegeben und seit drei Jahren wurden die Palästinenser, die sich zur Zweiten Intifada erhoben hatten, von den Zionisten wieder reihenweise abgeschlachtet. Putin, seit vier Jahren an der Macht, versuchte noch, Russland auf Augenhöhe in den Westen zu integrieren, und China galt weithin als verlängerte Werkbank Europas und als Zulieferer von Billigprodukten. Moskau wie Peking nahmen die Kriege des Westens in Südosteuropa und im Nahen und Mittleren Osten hin, arrangierten sich sogar mit ihnen. Mit anderen Worten: Die USA und der Westen waren auf dem Zenit ihrer Macht und konnten tun und lassen, was sie wollten, ohne auf zwischenstaatlicher Ebene auf nennenswerten Widerstand zu stoßen.
Antiamerikanismus gleich Antisemitismus?
Diese mit Gewalt abgesicherte globale Vorherrschaft war im Westen selbst durch ideologische Hegemonie auf dem Gebiet der sog. Zivilgesellschaft gegen ihre zahlenmäßig immer geringeren Kritiker gerüstet: „Antiamerikanismus“ lautete jener Kampfbegriff, den transatlantisch ausgerichtete (Neo-)Konservative, (Links-)Liberale und „Antideutsche“ gegen „Globalisierungskritiker“, Antiimperialisten und Friedensaktivisten in Stellung brachten. Er galt (und gilt vielfach noch bis heute) als „Amoklauf der Irrationalität und des dumpfen Ressentiments“, wie die Autoren einleitend festhalten. Und noch schlimmer: „Damit ist seine Geistesverwandtschaft mit dem Antisemitismus quasi per Definition belegt.“ (S. 7)
So abstrakt und absurd dieser Zusammenhang erscheint: Wer sich je in die Schusslinie der Transatlantiker begeben hat, weiß, dass diese Brücke tatsächlich ganz konkret geschlagen wird. Die ideologischen Wurzeln für diese Behauptung liegen wohl darin, dass Israel (fälschlicherweise) mit dem Judentum gleichgesetzt und die USA und ihre Vorherrschaft in der Welt (korrekterweise) als Garant für die Existenz des zionistischen Regimes angesehen wird. Wenn dann noch mit einer völlig verqueren Brille auf die Tatsache geschaut wird, dass ganz allgemein der Aufstieg des liberalen Bürgertums im Westen die Emanzipation der Juden vorangetrieben hat, dass in den USA der Rassismus gegen Juden angesichts anderer, dominierender Feindbilder (Schwarze, Latinos, Asiaten, Iren, Italiener, Katholiken, …) nie so stark war wie in Europa und daher viele Juden dort Schutz suchten, und dass es in der Folge in der herrschenden Klasse der USA vergleichsweise viele Personen mit jüdischem Background gibt, dann kommt man schnell zu dem im Grunde antisemitischen, allerdings philosemitisch gewendeten Bild, wonach die USA und der Kapitalismus mit dem Judentum gleichzusetzen seien. Dann ist Occupy Wall Street die Wiederholung des Judenboykotts der Nazis, die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon sind „antisemitische Pogrome“ und jeder Protest gegen die Kriege von Washington (und Tel Aviv sowieso) ist die Wiederholung der Appeasement-Politik der Westmächte gegenüber dem faschistischen Deutschland. Von derlei Propaganda konnten die Autoren wohl schon damals ein Liedchen singen: beide wurden selber wiederholt als „Antisemiten“ beschimpft.
„Amerikanismus“ als realexistierender Imperialismus
Mit dem Büchlein stellten sie dem Anti-Antiamerikanismus eine Sammlung von Fakten entgegen. Dabei betonen sie: „Der Antiamerikanismus, den wir meinen, ist nicht gegen das amerikanische Volk gerichtet. (…) Einer der Gründe, die wir für den Antiamerikanismus anführen, ist die innere Repression, die sich gegen Amerikaner richtet.“ (Ebd.) Was der „Amerikanismus“, gegen den sich die Autoren richten, im ideologischen Sinne aus ihrer Sicht ist, versuchen sie im letzten Kapitel zu fassen: eine „direkte Demagogie des Kapitalismus“ (S. 134), zwar durchaus mit allerlei religiösem (konkret protestantischem) und patriotischem Firlefanz geschminkt und mit Rassismus und Chauvinismus abgesichert, aber im Gegensatz etwa zu Faschismus oder Sozialdemokratie ohne soziale oder völkische Demagogie verschleiert und verleugnet. Dafür jedoch mit einem von Grund auf universalistischen Anspruch, der die Rolle der Herrschenden in den USA als Weltpolizei legitimiert. Im Vorwort heißt es mit Blick auf die politische Manifestation dieser Amerikanismus-Ideologie in den letzten Jahrzehnten: „Zwar sind die USA mit dem System des neoliberalen Globalismus nicht identisch, doch sie sind sein Hegemon, gewalttätiger Vollstrecker und Hauptnutznießer.“ (S. 7) An diese Aussage ließe sich indes folgende, erst kürzlich von Willi Langthaler geäußerte Einschätzung bezüglich der Frage, ob China und Russland imperialistische Konkurrenten der USA seien, anschließen: „Der Kapitalismus-Imperialismus ist um die USA organisiert. Keine Macht ist nur annähernd dazu fähig, Washington zu ersetzen.“i
Was der hier noch sehr allgemein bzw. auf ideologischer Ebene gefasste „Amerikanismus“ ganz real für hunderte Millionen weltweit bedeutet, beleuchten die Kapitel 1 bis 11 des Buchs. Dabei wird der Bogen von der durch die siedlerkolonialistische, auf Rassismus, Genozid und Sklaverei beruhende Geschichte der USA bedingte Kultur der Gewalt, die strukturellen Mängel der US-Demokratie und die hemmungslose Ausbeutung von Mensch und Natur über die Dollarhegemonie und die gezielte Zerstörung und Unterwerfung anderer Nationalökonomien mittels IWF und Weltbank bis hin zur zügellosen Kriegspolitik geschlagen. Die Kapitel 7 bis 10 sind gleichsam eine Chronik der Übernahme der Weltherrschaft durch die USA: angefangen bei der Konterrevolution in der Sowjetunion, bei der die USA ihre Finger im Spiel hatten, über die Zerstörung Jugoslawiens, bei der sich die Westeuropäer und vor allem Deutschland laut den Autoren wie „Zauberlehrlinge“ verhielten, die schließlich den „Meister“ (die USA) riefen, (S. 78) um das von ihnen verursachte Chaos wieder zu ordnen (natürlich nicht in Form eines Bundes-, sondern vieler Kleinstaaten), bis hin zu den Invasionen in Afghanistan und Irak.
Im elften Kapitel werfen die Autoren eine in der kommunistischen Bewegung und der antiimperialistischen Linken hoch umstrittenen Frage auf: Sind Deutschland und die EU ein Vasall der USA oder Konkurrenten? Ihr Antwort lautet, dass sich künftige Entwicklungen zwar kaum vorhersagen ließen, die bisherige Geschichte seit 1945 aber klar die Unterordnung Westeuropas unter die USA belege. „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es nur zwei größere Versuche einer von den USA unabhängigen Politik in Europa: de Gaulles Frankreich in den 1960er Jahren und das wiedervereinigte Deutschland Anfang der 1990er Jahre. (…) Beide Versuche scheiterten, beide erwiesen sich als zu schwach.“ (S. 116) Dabei werden diese Versuche von den Autoren durchaus nicht als automatisch positiv dargestellt. So betonen sie etwa, dass Deutschland unter Kohl die Aggressionen gegen Jugoslawien vom Zaun gebrochen hat. Es handelt sich also erst einmal um eine simple Feststellung. Die halbherzige Opposition Deutschlands und Frankreichs gegen den Irak-Krieg 2003 wird ebenfalls in diese Reihe gestellt. Daher schlussfolgern sie: „Der Irakkrieg hat bewiesen: Die Europäische Union ist entweder proamerikanisch oder sie kann nicht als politische Einheit funktionieren.“ (S. 116 f.)
Aktualisierungsbedürftig, aber lesenswert
Das Büchlein ist durchaus noch heute spannend: Gerade für frisch politisierte Menschen oder Personen, die sich noch nicht besonders mit dem US-Imperialismus auseinandergesetzt haben, gibt es viele Impulse und nennt Fakten, die heutzutage noch unbekannter sein dürften als noch vor 20 Jahren. Allerdings wären mehr Belege und Literaturverweise, bevorzugt in Fußnotenform, hilfreicher als die wenigen verstreuten Hinweise, die in Oxford-Manier in Klammern im Fließtext versteckt sind.
In seinen Entstehungskontext eingebettet kann die Schrift zudem als interessante zeitgenössische Quelle gelesen werden, die Einblick in die damaligen Debatten gibt. Den Jugoslawien-Krieg beispielsweise haben die meisten jüngeren Genossen gar nicht mehr miterlebt und es gibt leider wenig aktuelle Literatur, die dieses für die Weltpolitik, aber gerade auch für die deutsche Friedensbewegung wichtige Kapitel aus einer antiimperialistischen Perspektive mit größerem Abstand und für Einsteiger leicht verständlich aufbereitet. Dieser Krieg steckte den Autoren jedoch erkennbar noch tief in den Knochen. Auch der Irak-Krieg scheint nach Syrien und dem Aufstieg und Niedergang des IS ein abgeschlossenes Kapitel, das jedoch ebenfalls den meisten Jüngeren wenig bekannt sein dürfte. Und das, obwohl die Wurzeln des IS doch genau in diesem Krieg liegen. Die Zweite Intifada ist heute ebenfalls halb vergessen, obwohl es gerade angesichts der aktuell laufenden Dritten Intifada so wichtig wäre, sich mit ihr zu beschäftigen. Zu all diesen Themen findet man Informationen und Einschätzungen in diesem Buch, wenn auch nur jeweils wenige Seiten. Sie sollten zum weiteren Lesen anregen.
Dieser zeitgenössische Charakter ist zugleich die offensichtlichste — und natürlich unumgängliche — „Schwäche“, wenn man dieses Buch heute liest. Vieles müsste aktualisiert werden. So beispielsweise die angehängte Liste der Einrichtungen der US-Streitkräfte im Ausland, die damals weit über 700 Standorte umfasste. Erfreulicherweise darf man heute die vier ersten auf der nach Ländern in alphabetischer Reihenfolge gelisteten Aufzählung, nämlich die in Bagram, Kandahar, Khost und Mazar-e-Sharif, wegstreichen. Auch einige der US-Army-Stützpunkte in Deutschland, die damals noch ganze sechs von insgesamt 14 Seiten füllten, mit dem Verweis, dass es 73 weitere gebe, die aber nicht öffentlich benannt würden, wurden mittlerweile dicht gemacht. 2005 beschloss der Oberste Gerichtshof in den USA zudem endlich, dass die Hinrichtung von Minderjährigen, auf die das Buch in Kapitel 4 eingeht, verfassungswidrig sei. Noch immer gültig ist hingegen der 2001 beschlossene American Service-Members’ Protection Act. Dieses Gesetz befähigt die jeweilige US-Regierung, ihre Soldaten, Politiker und sonstigen Handlanger mit militärischer Gewalt aus Den Haag zu befreien, sollten sie jemals dort wegen Kriegsverbrechen vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden.
Es wäre zudem spannend, zu erfahren, wie zumindest der noch lebende Autor die auf das Jahr 2003 folgenden Jahre verarbeiten würde. Der Irak-Krieg beispielsweise hatte, wie gesagt, eben erst begonnen, als das Buch erschien. Die irakische Armee hatte bereits kapituliert. Der Widerstand der sunnitischen irakischen Bevölkerung, den vor allem die AIK später politisch und auch finanziell unterstützte, stand dagegen noch an seinem Anfang. Zwar diskutierten die Autoren schon damals, dass es auch im schiitischen Klerus „radikale antiamerikanische Anführer“ gäbe, (S. 96) der Name Muqtada as-Sadr schien damals jedoch noch nicht so geläufig, dass er hier schon genannt würde. Trotzdem wird der irakische Widerstand bereits als eine Intifada charakterisiert, „die dem Amerikanismus als globales Gegenmodell zu erwachsen“ drohe. (S. 98) Vor dem Hintergrund, dass sowohl der Widerstand im Irak als auch die Zweite Intifada letztlich niedergeschlagen bzw. „befriedet“ wurden, dass es 2011 in verschiedenen arabischen Länder zu Aufständen kam, die teilweise Errungenschaften brachten, teilweise die Region in Chaos stürzten (Libyen und Syrien), und dass es in Palästina derzeit zu einer neuen Intifada kommt, die gewisse Parallelen, aber auch große Unterschiede zu 2000-06 aufweist, wäre eine Fortschreibung hier besonders spannend. Aber auch mit Blick auf Russland und den Ukraine-Krieg: Schließlich erhofften sich die Autoren vom Widerstand im Irak und in Palästina damals, dass diese zum Katalysator für den Verfall der US-Welthegemonie würden. Eine Hoffnung, die nun viele mit dem Krieg zwischen Russland und der NATO in der Ukraine verbinden.
i https://kommunistische-organisation.de/kommunismus-kongress/vom-antiimperialismus-zum-sozialismus-internationale-strategien-der-arbeiterklasse/