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Deutschlands Griff nach Osten

von Paul Oswald, Jean Raubalt, Ann-Kathrin R. und Fritzi Stein


Anmerkung der Redaktion

Dieser Text ist im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine und der Imperialismusdiskussion entstanden. Wir haben 2022 beschlossen uns kollektiv der Einschätzung des Charakter und der Vorgeschichte des Krieges zu widmen.
Hierfür wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die sich u.a. mit den Interessen und der Politik des westlichen imperialistischen Block, mit Russlands Ukrainepolitik sowie mit den Erkenntnissen der sozialistischen Arbeiterbewegung zum Imperialismus und der Bedeutung der Nationalen Frage beschäftigen. Die Ergebnisse werden fortlaufend veröffentlicht und können von jedem unter dem Artikel kommentiert werden. Längere Kommentare können auch direkt an info@kommunistische-organisation.de gesendet und als Beiträge zur Debatte veröffentlicht werden.


Editorischer Hinweis:

Da die Fertigstellung des Textes im Juli 2023 erfolgte, könnten an einigen Stellen aktuelle Ereignisse und Entwicklungen ergänzt werden. Nach Einschätzung der Verfasser hat sich jedoch an den zentralen Thesen des Textes nichts geändert. Im Gegenteil finden sich diese in den aktuellen Entwicklungen wieder: In den im November veröffentlichen Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundeswehr wird u.a. konstatiert, dass die Rolle der Bundeswehr „über die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeiten hinausgehen“ solle und der Fokus weiterhin auf der „europäischen Nachbarschaft liegen“ müsse. Zudem müsse Deutschland bereit dazu sein, „international Verantwortung zu übernehmen und handlungsfähig zu sein“ sowie „Führungswillen und Führungsverantwortung“ zu zeigen.1https://www.bmvg.de/de/aktuelles/verteidigungspolitische-richtlinien-2023-veroeffentlicht-5701338 Die Aufrüstung nach außen erfordert natürlich auch die Aufrüstung nach innen und so prägen die Begriffe Resilienz und Kriegstüchtigkeit aktuell die Debatte. Zudem wird der im Text beschriebene deutsche Drang nach Osten weiter fortgesetzt, so wurde beispielsweise der Weg für die feste Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen mit 4000 Soldaten geebnet.2https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9427 Auch wenn der weitere Verlauf des Ukraine-Krieges noch nicht ganz klar ist, zeichnen sich doch Tendenzen ab: Die Forderungen innerhalb US-amerikanischer Regierungskreise zur Drosselung der militärischen Unterstützung der Ukraine werden lauter, während Deutschland seine Ukraine-Hilfe verdoppelt hat und ggf. die Stellung übernehmen wird, wenn sich die USA militärisch zurückziehen.


Abstract

Warum führt der deutsche Imperialismus einen wirtschaftlichen und militärischen Krieg gegen Russland und was sind die deutschen Kriegsziele? Um einen Beitrag zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen zu leisten, setzt der vorliegende Bericht die zentralen Einschätzungen der Kommunistischen Bewegung in einen Zusammenhang mit dem empirischen Material relevanter Autoren und Denkfabriken.

Ausgehend von einer Fokussierung auf das Verhältnis von Deutschland und Russland ließ sich relativ schnell feststellen, dass jene Beziehung nicht analysiert werden kann, ohne die Konkurrenz innerhalb der EU und das Verhältnis der USA zu Deutschland mit ihr in Beziehung zu setzen.

Mit dem vorliegenden Zwischenstand lässt sich festhalten, dass die Beziehung von Deutschland und Russland immer von einer Bewegung zwischen Kooperation und Konfrontation geprägt war. Aufgrund Russlands eigenständigem Agieren in Osteuropa und Zentralasien sowie dessen Kooperation mit China besteht für den deutschen Imperialismus ein Interesse an der Schwächung Russlands.

Im Rahmen der Strategie Pivot to Asia ist der US-Imperialismus auf ein verstärkt eigenständiges Auftreten seiner europäischen Partner angewiesen, um sich selbst im Kampf gegen China den Rücken freizuhalten. Ein Bruch mit der NATO ist für den deutschen Imperialismus auf absehbare Zeit nicht möglich: Während er die NATO für seine dominierende Rolle innerhalb der EU nutzt, dient ihm die EU als Machtmittel zu mehr Eigenständigkeit gegenüber den USA. Militärischer Aufrüstung wurde aus historischen Gründen mit starker Ablehnung innerhalb der deutschen Bevölkerung begegnet, die Stimmungsmache gegen Russland diente dem Zweck seinem Führungsanspruch in Zukunft auch militärisch gerecht werden zu können. Dafür ist es notwendig, die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland (vor allem in der Energiepolitik) zu reduzieren.

Weiterführende Forschungsarbeiten müssten zu den deutschen Expansionsplänen im Allgemeinen, seiner Bündnispolitik in NATO und EU im Speziellen sowie zur langfristigen Transformation der deutschen Wirtschaft geleistet werden.

Der Hauptfeind steht im eigenen Land – aber was ist seine Strategie?

Deutschland ist mit Waffenlieferungen und Militärausbildung Kriegspartei im Krieg gegen Russland. In der Einschätzung der Gründe für die deutsche Kriegsbeteiligung zeigen sich große Unterschiede: So gibt es die Einschätzung, dass die USA Deutschland in diesen Krieg gezwungen hätten und Deutschland kein eigenes Interesse daran habe. Eine andere Einschätzung ist, dass der Krieg primär ein Krieg zwischen den USA und Deutschland um die zukünftige Weltmachtstellung sei. Um unseren Hauptfeind in Deutschland bekämpfen zu können, müssen wir seine Strategie und Motive verstehen.

Der deutsche Imperialismus nimmt seit jeher eine besondere Rolle in der Geschichte ein. Von der Kleinstaaterei und den feudalen Überresten gebremst gilt er als zu spät und zu kurz gekommener Räuber, woraus seine besondere Aggressivität in den beiden vergangenen imperialistischen Weltkriegen erklärt wird. Nach 1945 konnte sich der US-Imperialismus jedoch gegen Deutschland und Japan durchsetzen und zum stärksten imperialistischen Land werden. Das Verhältnis des deutschen und des US-Imperialismus ist in der Kommunistischen Bewegung und innerhalb der gesamten Linken eine stark diskutierte Frage, die auch in der Einschätzung des Ukraine-Krieges eine wichtige Rolle spielt. In der Kommunistischen Bewegung besteht weitestgehend Einigkeit in der Hauptfeindlosung (Kampf gegen den eigenen Imperialismus im Besonderen), allerdings unterscheidet sich die Einschätzung des Verhältnisses von Deutschland und den USA grundsätzlicher.

Während die einen davon ausgehen, dass die USA Deutschland in diesen Krieg gedrängt hätten, um die Kooperation mit Russland zu schwächen und der deutschen Ostexpansion Einhalt zu gebieten,3Schiefer, Renate und Schindlbeck, Stephan. 2022. Das Geheimnis des Krieges – Der deutsche Imperialismus und der Ukraine-Krieg. Offensiv – Zeitschrift für Sozialismus und Frieden. 130 sehen andere Deutschland an der Seite des US-Imperialismus, „dem Hauptfeind der Völker der Welt“4Ahlreip, Heinz. 2022. Lenins Überlegungen zu Fragen des Krieges im Zusammenhang mit dem am 24. Februar 2022 ausgebrochenen Ukraine-Krieg, S. 9.. Der sich im Umfeld der KKE formierte sogenannte ´revolutionäre Pol´ der internationalen Kommunistischen Bewegung zeichnet in seinen gemeinsamen Stellungnahmen zum Kriegsausbruch und zum Jahrestag des Krieges ein sehr starres Bild der unterschiedlichen Interessen.5O A. 2023. Joint Statement of Communist and Workers’ Parties, On the one year since the imperialist war in Ukraine. solidnet.org
O A. 2022. Urgent! Joint Statement of Communist and Workers’ Parties, No to the imperialist war in Ukraine! solidnet.org
Diesem Bild folgend stehen sich auf der einen Seite zwei imperialistische Blöcke in ihrem Kampf um die Neuaufteilung der Welt gegenüber, während auf der anderen Seite die internationale Arbeiterklasse nun den Sozialismus erkämpfen muss. Obwohl die Konkurrenz als Triebkraft der Bewegung von ihnen benannt wird, scheinen die Interessen der unterschiedlichen Mächte in NATO und EU deckungsgleich zu sein. Auf internationaler Ebene steht die World Anti-imperialist Platform in einem Gegensatz zu diesem Zusammenhang. In der Deklaration von Belgrad halten die teilnehmenden Organisationen fest, dass die russische Seite in seinem Bündnis mit dem Volk des Donbass einen gerechten Krieg um nationale Befreiung und Selbstverteidigung gegen die imperialistische Attacke, vor allem des US-Imperialismus, führen würde.6The World Anti-imperialist Platform. 2022. Belgrade Declaration: The rising tide of global war and the tasks of anti-imperialists. https://wap21.org/?p=1472 Der US-Imperialismus müsse diesen und den kommenden Krieg gegen China führen, um seine Hegemonie in der Welt zu sichern.7Ebd. Die DKP als relevanteste Organisation der Kommunisten in Deutschland argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenngleich sie nicht an der Plattform beteiligt ist: Sie erkennt den Ukraine-Krieg als Beginn einer Auseinandersetzung der USA (und EU) einerseits und Russland und China andererseits, bei der es um nicht weniger als die Vormachtstellung in der Welt gehen wird.8DKP, Hrsg. 2022. Der Krieg in der Ukraine. https://dkp.de/wp-content/uploads/Der-Krieg-in-der-Ukraine.pdf. Die USA und EU werden von ihr klar als Verursacher dieses Krieges benannt, während Russland und China eine friedensstiftende Rolle in der internationalen Konkurrenz zugesprochen wird.9DKP, Hrsg. 2022. Für Frieden. https://dkp.de/wp-content/uploads/Fuer-Frieden.pdf

Betrachtet man die Sozialdemokratie, finden sich auch Stimmen wie die von Sevim Dagdelen, die behauptet, der deutsche Imperialismus sei eine Kompradorenbourgeoisie, die sich an den Vorgaben der USA orientieren würde.10Dagdelen, Sevim. 2023. Hegemoniemodell der USA in der Krise. https://www.sevimdagdelen.de/hegemoniemodell-der-usa-in-der-krise/ (Zugegriffen: 13. Juni 2023) Dieser Standpunkt ist auch für Kommunisten von Bedeutung, weil er in Teilen der Friedensbewegung und der Gesellschaft Zuspruch erhält, wie man beispielsweise auf der Anti-Kriegsdemonstration am 25.02. in Berlin beobachten konnte. In diesem Standpunkt liegt die Gefahr, die Arbeiterklasse dem deutschen Imperialismus in die Hände zu treiben, wenn behauptet wird, Deutschland hätte keinerlei Interesse an diesem Krieg, da dieser die Deindustriealisierung vorantreibe und müsse sich nun unabhängiger von den USA machen.

Während die eine Seite das Verhältnis von Deutschland zu den USA betont, hebt die andere Seite das Spannungsverhältnis aus Kooperation und Konkurrenz zwischen Deutschland und Russland hervor. Richard Corell betont in dieser Auseinandersetzung, dass der Fokus rein auf den deutschen Imperialismus oder rein auf den US-Imperialismus undialektisch ist.11Corell, Richard. 2016. Der Klarheit einen Bärendienst erwiesen – BRD Vasallenstaat? Kommunistische Arbeiterzeitung, März https://www.kaz-online.de/artikel/brd-vasallenstaat (Zugegriffen: 13. Juni 2023) Ganz im Sinne des Militärtheoretikers Clausewitz muss es uns darum gehen die Politik, in deren Schoß sich der Krieg entwickelt hat, umfassend und in ihrem Gesamtzusammenhang zu betrachten.12von Clausewitz, Carl. 1832. Vom Kriege Es muss darum gehen, den politischen Zweck aller beteiligten Staaten (und von unserem Hauptfeind im Besonderen) und ihres Kräfteverhältnisses, den Charakter der Regierungen und Völker und die politischen Verbindungen der Staaten zueinander zu bestimmen.13Ebd. 

Um zu dieser komplexen Diskussion beitragen zu können, haben wir uns anhand von historischen Quellen und aktuellen Beiträgen mit konkreten Fragen wie der Zielstellung des deutschen Imperialismus im Ukraine-Krieg sowie möglichen Widersprüche zwischen der NATO-Politik, der EU-Politik und der deutschen Imperialismus-Strategie gegenüber Russland auseinandergesetzt. Hierfür wird im ersten Kapitel auf das deutsch-russische Verhältnis und seinen Doppelcharakter eingegangen. So wird unter anderem die Bedeutung der günstigen russischen Energie für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gegenüber den USA und anderen europäischen Ländern herausgearbeitet und gleichzeitig auf die Grenzen der deutsch-russischen Wirtschaftsverflechtungen eingegangen. Anschließend wird die Bedeutung der Ostexpansion für den deutschen Imperialismus dargestellt und herausgearbeitet, wie der deutsche Imperialismus mit dem Projekt der Östlichen Partnerschaft die eigene Einflusssphäre vergrößern will und dabei in Auseinandersetzung mit Russland gerät. In diesem Zusammenhang wird die spezifische Bedeutung der Ukraine in diesem Prozess herausgearbeitet.

Das Agieren Deutschlands gegenüber Russland kann nicht unabhängig von seinen Beziehungen zu anderen Staaten gesehen werden. Daher setzt sich das zweite Kapitel intensiver mit der Bündnispolitik des deutschen Imperialismus auseinander. Die Strategie des deutschen Imperialismus, die Bündnisse, die Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg offenstanden, wie die NATO, für den Wiederaufstieg zu nutzen und seinen Einfluss immer weiter auszubauen, wird erläutert. Dass diese Bündnispolitik Grenzen hat, wird anhand des Pipelineprojekts Nord Stream II dargelegt, an dem die Bereitschaft des deutschen Imperialismus, sich in seinem eigenen Interesse des geostrategischen Vorteils als Empfängerland europäischer Energie gegen seinen Verbündeten USA zu wenden, sichtbar wird. Die auf den Bau der Pipeline folgenden massiven Sanktionen der USA und die deutschen und europäischen Reaktionen werden im Anschluss behandelt. Daran anschließend werden die Möglichkeiten, die sich für den deutschen Imperialismus aus seiner Bündnispolitik ergeben, genauer skizziert. Dabei wird den Fragen nachgegangen, wie der deutsche Imperialismus die NATO und die EU für seinen Aufstieg nutzte und ob ein Ausstieg aus der NATO zugunsten der EU-Militarisierung gerade realistisch ist oder nicht. Abschließend wird der Blick zurück auf die Ausgangslage des Ukraine-Krieges geworfen. In diesem Zusammenhang werden anschließend überblicksartig die Differenzen zwischen Deutschland und den USA bezüglich der Entwicklung der Ukraine und herausgearbeitet.

Am Ende jedes Unterkapitels befindet sich ein Zwischenfazit, das die wichtigsten Ergebnisse umfasst. Zum Abschluss wird unser aktueller Diskussionsstand in sechs Thesen zusammengefasst. Wir argumentieren, dass der deutsche Imperialismus ein eigenes Interesse an der Schwächung Russlands hat und nicht nur als Anhängsel der USA agiert. Die Widersprüche zwischen Deutschland und den USA sind zu komplex, um solch allgemeinen Schlüsse zu ziehen, sondern müssen in jeder Auseinandersetzung neu bewertet werden. Der Krieg in der Ukraine bietet Deutschland die Möglichkeit, massiv aufzurüsten sowie die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland zu reduzieren, was für ein weiteres aggressives Vorgehen gegen Russland notwendig ist.

Die Zielstellung des deutschen Imperialismus bezüglich Russlands ist ein hochrelevantes Thema für uns Kommunisten in Deutschland. Mit der vorliegenden Ausarbeitung möchten wir einen Beitrag zu der Diskussion leisten, indem wir an die geleistete Vorarbeit anschließen, sie kritisch diskutieren, Leerstellen benennen und die fortwährende Bewegung in der Praxis des Klassenkampfs der aktuellen Zeit berücksichtigen. Wir hoffen, dass unsere Thesen zur kritischen Debatte anregen. Nur durch einen offenen Austausch können wir unser Verständnis vertiefen, Lücken in der Diskussion der Kommunistischen Bewegung schließen und damit die Grundlage für ein kämpferisches Vorgehen gegen den Hauptfeind und seine Verbündeten schaffe.

Deutschland – Russland: Ein ambivalentes Verhältnis

Das deutsch-russische Verhältnis ist von Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Konkurrenz und Konfrontation geprägt. Deutsche Strategen bezeichnen Russland als „Herausforderer“, was sich z.B. in dem 2014 erschienenem Strategiepapier Neue Macht. Neue Verantwortung in folgender Frage ausdrückte:

„Welche Instrumente sollte deutsche Außenpolitik im Umgang mit ihnen [den Herausforderern] einsetzen, um das Ziel einer friedlichen und regelbasierten internationalen Ordnung zu verfolgen? Und welchen Preis ist deutsche Außenpolitik bereit, im Falle von Zielkonflikten für dieses übergeordnete Ziel zu zahlen?“.14Stiftung Wissenschaft und Politik & German Marshall Fund of the United States (2013): Neue Macht. Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch , S.34

Der deutsche Imperialismus warf immer schon den Blick Richtung Osten, um gegen die Konkurrenz aus dem Westen zu bestehen. In Zeiten der Schwäche, wie nach dem ersten Weltkrieg, suchte der deutsche Imperialismus die Kooperation mit der Sowjetunion (u.a. im Vertrag von Rapallo), um sich gegen den Westen zu stärken. In Zeiten der Stärke strebte der deutsche Imperialismus die militärische Expansion nach Osten an. Daher muss das deutsch-russische Verhältnis auch immer im Zusammenhang mit dem Verhältnis Deutschlands zu den anderen westlichen imperialistischen Staaten gesehen werden.

Die Expansion nach Osten sollte dem verspäteten deutschen Imperialismus neue Gebiete und Absatzmärkte erschließen. Diese Expansionsversuche sind in den beiden Weltkriegen, dem Jugoslawien-Krieg und der erfolgreichen Osterweiterung der Europäischen Union (EU) klar erkennbar. Um den Umgang mit Russland wurde in Regierungskreisen und Think Tanks stets gerungen. Jörg Kronauer stellt in seinem Buch Allzeit bereit die Ideen des einflussreichen deutschen Russland-Strategen Paul Rohrbach vor und wie sich dieser den Zugriff Deutschlands auf Russland vorstellte: Rohrbach sprach 1914 davon, dass das Zarenreich „in seine innerlich nicht zusammengewachsenen historisch-geografischen Bestandteile zerlegt“ werden müsse, um sie dann durch „ein osteuropäisches Staatensystem zu ersetzen. Ein Jahr später erläuterte Rohrbach:

„Nur wenn eine starke Verkleinerung Rußlands stattfindet, […] eine Verkleinerung, die unter geschichtlichen, kulturellen, geographischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten allein durch Abtrennung des ganzen Weltgebiets verwirklicht werden kann, ist für Deutschland und die abendländische Kultur Ruhe und Sicherheit vor Rußland zu erhoffen.“15Zitiert nach Kronauer, Jörg (2015): Allzeit bereit. Die neue deutsche Weltpolitik und ihre Stützen, S.27f.

Der bereits angesprochene Doppelcharakter des deutsch-russischen Verhältnisses findet sich auch in vielen Strategiedebatten wieder. Wolfgang Ischinger sprach in diesem Zusammenhang 2015 von einer Politik des „congagement“, die sich aus der Einhegung (containment) und der Einbeziehung (engagement) zusammensetzt.16Kronauer, Jörg (2014): »Ukraine über alles!«. Ein Expansionsprojekt des Westens, S.166f. Der Doppelcharakter des deutsch-russischen Verhältnisses soll im Folgenden konkreter herausgearbeitet werden.

Die deutsch-russische Zusammenarbeit und ihre Grenzen

Die BRD setzte bereits früh auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Als ein prominentes Beispiel wird hier oft das Röhrengeschäft mit dem deutschen Unternehmen Mannesmann genannt. Nach der Konterrevolution und dem Zusammenbruch der Sowjetunion witterte der deutsche Imperialismus eine Chance auf noch engere Wirtschaftsbeziehungen.17Renate Schiefer und Stephan Schindlbeck haben in ihrer Arbeit Das Geheimnis des Krieges. Der deutsche Imperialismus und der Ukraine-Krieg eine ausführliche Chronik zu den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen erstellt, vgl. S.90-126.

Russlandbeziehung als Chance für den Aufstieg

Russland ist aufgrund seiner hohen Rohstoffvorkommen, seines großen Absatzmarktes und seiner Investitionsmöglichkeiten seit jeher interessant für den deutschen Imperialismus, weil Deutschland durch seine Rohstoffarmut auf Importe angewiesen ist und das deutsche Wirtschaftsmodell auf hohem Export basiert. Mithilfe der billigen Energieimporte aus Russland konnte die eigene Wirtschaft konkurrenzfähig gegen die USA und die EU-Konkurrenz wie z.B. Frankreich gehalten werden. Deutschland hatte nach der Annexion der DDR den Vorteil, dass es intensive wirtschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion unterhalten hatte. Dies ermöglichte dem deutschen Imperialismus einen internationalen Vorsprung in der Investition von Kapital in Russland. Die wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland ermöglichten Deutschland neben weiteren Faktoren, wie z.B. der Einverleibung der DDR sowie der deutsch dominierten EU-Osterweiterung, einen steilen Aufstieg. Der deutsche Imperialismus investierte auch politisch Mühen, um Zugriff auf die Rohstoffe und den Markt Russlands zu erhalten. So wurde bereits 1995 der Verband der Deutschen Wirtschaft in Russland gegründet, der eine Schnittstelle zur russischen Regierung bildete.18Lindner, Franziska (2018): Die deutsch-russischen Energiebeziehungen. Kontinuitäten und Brücke im geopolitischen Umfeld, S.44-46.

Aus russischer Sicht spielte die BRD sowohl als Abnehmer als auch Weiterverteiler der russischen Energie eine wichtige Rolle. Während in den 90er Jahren der Fokus vor allem darauf lag, durch die Energiegeschäfte an die begehrten Devisen zu kommen, spielten ab dem Regierungsantritt Wladimir Putins zunehmend die erhoffte Industrialisierung und Technologisierung eine wichtige Rolle. Der Anspruch der deutschen Monopolunternehmen war dabei stets, den kompletten Zugriff auf die großen Energiereserven Russlands zu erhalten.19Kronauer, Jörg (2015): Allzeit bereit. Die neue deutsche Weltpolitik und ihre Stützen, S.103-107 In diesem Zusammenhang zitiert Franziska Lindner in ihrem Buch Die deutsch-russischen Energiebeziehungen den deutschen Unternehmer und zeitweise Vorsitzenden des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Otto Wolff von Amerongen. Lindner führt aus, dass Otto Wolff von Amerongen 1992 in seinem Buch Der Weg nach Osten den Einstieg in die russische Erdöl- und Erdgasförderung auf der Grundlage von Konzessionen vorschlug. Nach von Amerongen sei die umfangreiche Bereitstellung von Kapital für die Erschließungsvorhaben die einzige Möglichkeit gewesen, den damaligen Rückgang der Erdölproduktion aufzuhalten.20Lindner (2018), S.45 Von Amerongen bezeichnete dies selbst als „Kolonialmethode, so fruchtbar das klingen mag“, die sich dadurch auszeichne, „dass die Ausländer in Russland die volle Autorität über Förderung und Verkauf, auf dem Inlandsmarkt, hätten“. Dieses Ziel wurde 2015 mit dem Milliardengeschäft zwischen dem russischen Monopolunternehmen Gazprom und dem deutschen Monopol BASF/Wintershall erreicht: BASF erhielt Anteile an Erdgasfeldern in Sibirien, dafür wurden Gazprom Anteile an deutscher Energieinfrastruktur zugesichert. Diese Übernahme von Rohstoffquellen wurde u.a. durch intensive politische Lobbyarbeit vorbereitet, wie z.B. die deutsche Einflussarbeit im russischen Oblast Tjumen, die zu den rohstoffreichsten des Landes gehört.21Zitiert nach Lindner (2018), S.45

Neben dem direkten Zugriff auf russische Rohstoffe spielten verschiedene Pipeline-Projekte eine entscheidende Rolle in den deutsch-russischen Beziehungen. 2005 wurde der Bau an Nord Stream begonnen, der 2011/2012 fertiggestellt wurde. Nord Stream sollte die Energiesicherheit garantieren, da Transitländer umgangen werden konnten. Zudem konnte die überschüssige Energie an andere EU-Staaten weitergeleitet werden und die politische Stellung Deutschlands innerhalb der EU gestärkt werden. Darüber hinaus konnten die davor zu entrichtenden Transitgebühren eingespart werden, was zu einem gesteigerten Wettbewerbsvorteil und Profit führte.

Dieses Projekt sollte mit der 2015 beschlossenen Erweiterung von Nord Stream II fortgesetzt werden. Trotz großer Widerstände seitens der EU-Staaten und der USA sowie Kontroversen innerhalb der deutschen Regierungskreise wurde an dem Projekt festgehalten. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Pipeline-Projekte stets bilateral waren und nicht im Rahmen der EU geplant wurden. Die Auseinandersetzung um das Nord Stream II-Projekt innerhalb der EU und mit den USA werden im zweiten Kapital genauer skizziert.

Während Nord Stream II trotz großer Sanktionspakete fertiggestellt wurde, gab es weitere Pipelineprojekte, die an den Auseinandersetzungen zerbrachen. So plante Russland die Pipeline South Stream, um die Transitstaaten Ukraine, Belarus und Polen umgehen zu können. An dem Projekt war auch deutsches Kapital prominent beteiligt. 2014 stoppte die russische Regierung jedoch den Bau von South Stream, da die EU versucht hatte, Russland im Rahmen des Ukraine-Konfliktes mit dem Bau zu Zugeständnissen zu erpressen. Dem wollte sich Russland nicht aussetzen und orientierte stattdessen auf die Pipeline Turkish Stream, bei der die Türkei zu Ungunsten der EU zu einem wichtigen Verteilerzentrum wurde, das das Erdgas über die türkisch-griechische Grenze in die EU lieferte.22Kronauer (2015), S.109-111.

Eine Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok

Eine sowohl von russischer als auch deutscher Seite ausformulierte Ziellinie der Wirtschaftskooperation stellt eine gemeinsame Wirtschaftszone dar, die erklärtermaßen von Lissabon bis Wladiwostok reichen soll. Der Kern dieses Projektes ist die Verknüpfung der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) mithilfe von einheitlichen Zoll- und Handelsbestimmungen sowie erleichtertem Waren- und Kapitaltransfer. Auf deutscher Seite war es v.a. der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, der in dieser vergrößerten Handelszone große Chancen für das deutsche Kapital witterte und diese in einem 2017 veröffentlichten Strategiepapier folgendermaßen ausformuliert:

„Die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok mit einer weitgehend deckungsgleichen Anwendung von Zollverfahren, Zertifizierungsregeln, Rechtsgrundsätzen bis hin zu freiem Reise- und Kapitalverkehr wäre aus Sicht der europäischen Unternehmen der Idealzustand. Wie verschiedene Wirtschaftsstudien nachweisen, würde dies zu einem Aufschwung von Handel und Investitionen führen und Europa und Eurasien im globalen Wettbewerb mit Nordamerika und Asien stärken.“23https://www.ost-ausschuss.de/sites/default/files/pm_pdf/OA-Positionspapier-EU-EAWU_final.pdf

Als Hindernis für die erweiterte Wirtschaftszone mit Russland werden die Bedenken einiger EU-Mitgliedsländer angeführt, dann jedoch nicht weiter spezifiziert:

„Eher sind derzeit die politischen Bedenken einiger EU-Mitgliedsländer gegen Kontakte mit Russland ursächlich für die insgesamt fehlende Dialogbereitschaft. Ausgerechnet mit einer Region, die vor der Haustür der EU liegt, die für die Entwicklung der europäischen Wirtschaft nicht zuletzt aufgrund des Rohstoffreichtums ein entscheidender Faktor ist und nicht nur für die deutsche Wirtschaft ein großer Chancenraum wäre, liegt damit die Weiterentwicklung der Handelsbeziehungen praktisch auf Eis.“24https://www.ost-ausschuss.de/sites/default/files/pm_pdf/OA-Positionspapier-EU-EAWU_final.pdf

Auch wenn eine gemeinsame Wirtschaftszone sicherlich eine bevorzugte Option für Teile des deutschen Kapitals darstellt, muss man doch festhalten, dass in den letzten Jahren wenig sichtbare Fortschritte in diese Richtung unternommen wurden. Im Gegenteil haben sich die politischen Differenzen zwischen Deutschland und Russland weiter zugespitzt, worauf im Unterkapitel Das deutsch-russische Kräftemessen in Osteuropa und in der Ukraine genauer eingegangen wird. Auseinandersetzungen gab es jedoch auch auf wirtschaftlicher Ebene, die im nächsten Abschnitt genauer skizziert werden.

Grenzen der Wirtschaftsbeziehungen

Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Deutschland und Russland waren keineswegs widerspruchsfrei. So stellte bereits die Konrad-Adenauer-Stiftung 2007 fest, dass es verschiedene Problempunkte in den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen gäbe. Einer davon war die „unausgewogene Struktur des Warenaustauschs“, die sich dadurch kennzeichne, dass Deutschland Technologieprodukte exportiere, während es v.a. Öl und Gas importiere.25https://www.kas.de/de/arbeitspapiere/detail/-/content/deutschland-und-russland-zwischen-strategischer-partnerschaft-und-neuer-konkurrenz1

Daneben wurde mehrfach angemerkt, dass die deutsche Investitionstätigkeit nicht so umfassend sei wie eigentlich möglich. Als ein Hemmnis für deutsche Investitionen in Russland wurden die fehlende Liberalisierung sowie der staatliche Zugriff auf Wirtschaftszweige durch Verstaatlichungen benannt. Die in den 2000er Jahren eingeleitete Verstaatlichung der Energieindustrie unter Putin sollte Russland wirtschaftlich stabilisieren und zu einem wichtigen Akteur in der internationalen Energiepolitik machen.26Lindner (2018), S.53 Die Verstaatlichungen und der dadurch eingeschränkte Zugriff ausländischen Kapitals wurden in den westlichen Staaten zunehmend kritisch gesehen. Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik hält dazu fest:

„Die noch junge »Partnerschaft für Modernisierung« steckt in Schwierigkeiten, weil die EU unter Modernisierung etwas anderes versteht als Russland. […] Schließlich zeigte das Treffen des russischen Kabinetts bei der Europäischen Kommission in Brüssel im Februar 2011, dass für beide Seiten die Energiethematik alle anderen möglichen Kooperationsfelder überlagert. Hier entstand weiterer Streit, weil Russland nicht bereit ist, die Folgen des »dritten Pakets« zur Liberalisierung des EU-Energiemarktes zu akzeptieren. Sie sieht die Entflechtung der Teilbereiche Produktion, Transit und Vertrieb vor. Gefordert wird auch der ungehinderte Zugang zu Transitnetzen“.27https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2011A42_stw_ks.pdf

Daneben stellte die Konrad-Adenauer-Stiftung 2007 noch weitere „Unsicherheiten“ fest:

„Der Einsatz von Ressourcen (Öl, Gas) gegenüber anderen Staaten (Belarus, zentralasiatische Staaten, Ukraine, Georgien, Polen, EU, Deutschland) als politisches Druckmittel; eine zunehmende Verstaatlichung der russischen Energiewirtschaft und die damit einhergehende Abschottung dieser Industriezweige für westliche Investitionen; eine fehlende Rechtssicherheit und Garantie für westliche Investitionen (Sachalin II); Anzeichen für Versuche zur Bildung von Erzeugerkartellen nach dem Vorbild der OPEC; Unsicherheit im Hinblick auf die Zuverlässigkeit in der Erfüllung von russischen Lieferverbindlichkeiten gegenüber Europa angesichts eines überalterten und dringend modernisierungsbedürftigen Pipelinesystems sowie einer Überforderung Russlands durch zu weitreichende gleichzeitige Lieferverpflichtungen gegenüber mehreren Abnehmern“.28https://www.kas.de/de/arbeitspapiere/detail/-/content/deutschland-und-russland-zwischen-strategischer-partnerschaft-und-neuer-konkurrenz1 S.12+13

Rolf Fürst und Gretl Aden führen in ihrem Artikel Die EU und der deutsche Drang nach Osten die Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Russland auf ökonomischer Ebene aus. Sie arbeiten heraus, dass die deutschen Monopole immer offener den russischen Staat dazu aufgeforderten, Wirtschaftsbereiche zu privatisieren und bürokratische Prozesse abzubauen, um so alle Hürden für die Anlage- und Zugriffsmöglichkeit für das deutsche Kapital zu nehmen. Sie halten fest:

„Die Beteiligung westlicher und dabei nicht zuletzt deutscher Unternehmen ist zwar erwünscht, auch um die russische Wirtschaft zu modernisieren, doch die Bedingungen will der russische Staat im Auftrag derjenigen Kapitalvertreter, die einen Großteil der russischen Wirtschaft kontrollieren, selbst bestimmen. Die Forderung nach „freiem Unternehmertum“, die Förderung des Mittelstands durch z.B. die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die in den Demonstrationen gegen Putin erste Erfolge zeitigte, ist für diese russischen Kapitalvertreter durchaus als Kampfansage zu verstehen“.29https://www.kaz-online.de/artikel/die-eu-und-der-deutsche-drang-nach-osten

Aufgrund der verschiedenen angeführten Aspekte orientierten sich sowohl Deutschland als auch Russland immer wieder anderweitig. Die Bundesregierung strebte beispielsweise bereits vor 2014 Energiediversifizierungen an, während Russland sich bzgl. der ausbleibenden Technologisierung des Landes zunehmend auf China orientierte. Nachdem nun die deutsch-russischen Wirtschaftsverflechtungen und deren Grenzen betrachtet wurden, wird im folgenden Abschnitt auf die Entwicklung des deutsch-russischen Handels eingegangen. Neben seiner großen Rohstoffvorkommen ist Russland auch aufgrund seines großen Marktes relevant.

Entwicklung des deutsch-russischen Handels

Neben dem Zugriff auf russische Rohstoffvorkommen schaffte es der deutsche Imperialismus, den russischen Absatzmarkt für sich zu erschließen. So nahm der deutsche Export im Zeitraum 2001 bis 2008 von 10,3 Milliarden auf 23,3 Milliarden Euro zu.30Kronauer, Jörg (2022): Der Aufmarsch. Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen, S.15f. Es waren u.a. die hohen Exporte nach Russland, die Deutschland die wirtschaftliche Vormachtstellung in der EU sicherten, nachdem die Exporte in die krisengeschüttelten Länder wie Italien, Griechenland und Spanien eingebrochen waren.31Kronauer, Jörg (2014): »Ukraine über alles!«. Ein Expansionsprojekt des Westens, S.165

Mit dem 2014 beginnenden Konflikt um die Ukraine wurden von Seiten der EU und USA Sanktionen gegen Russland verhängt, die auch immer wieder Aushandlung zwischen den beteiligten Staaten waren. Im Energiebereich tangierten die Sanktionen das deutsch-russische Verhältnis eher weniger.32Lindner, Franziska (2018): Die deutsch-russischen Energiebeziehungen. Kontinuitäten und Brücke im geopolitischen Umfeld, S.77 Von 2013 bis 2016 reduzierten sich die deutschen Exporte nach Russland um knapp 40%. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft hält hier allerdings fest, dass die Sanktionen nur ein Faktor für den Rückgang des Handels waren. Weitere Faktoren seien der gesunkene Ölpreis, der schwache Rubel-Kurs sowie „innerrussische Modernisierungsdefizite“ gewesen. Bei den von den Sanktionen betroffenen Firmen handele es sich vorrangig um mittelständische Unternehmen, die meist in Ostdeutschland angesiedelt seien. In einem Positionspapier hält der Ost-Ausschuss fest, dass die verstärkt zu beobachtenden protektionistischen Maßnahmen in Russland für die deutsche Wirtschaft kritisch seien. Zwischen 2009 und 2015 hat Russland ungefähr 500 solcher Maßnahmen eingeführt, die mit den verhängten Sanktionen noch zugenommen haben. Der Ost-Ausschuss hält fest, dass er weiterhin dafür eintritt:

„dass ausländische Produzenten in Russland mit russischen Produzenten gleichgestellt werden. Insgesamt belasten die gegenseitigen Sanktionen weiterhin die wirtschaftliche Entwicklung. Nach drei Jahren stellt sich in der Wirtschaft aber ein spürbarer Gewöhnungseffekt ein. Der Schaden ist eingetreten, jetzt versuchen die Unternehmen im Rahmen der bestehenden Sanktionsauflagen das Beste aus der Situation zu machen“.33https://www.ost-ausschuss.de/sites/default/files/pm_pdf/OA-Positionspapier-Drei-Jahre-Wirtschaftssanktionen.pdf S.11-16

Nicht nur die Ausfuhr nach Russland sank 2016 auf ein neues Tief von ca. 21 Mrd. Euro – sie betrugen 2014 noch ca. 29 Mrd. Euro – sondern auch die Einfuhr russischer Waren sank vom höchsten Wert 2014 mit knapp 38 Mrd. auf ca. 26 Mrd. Euro. In diesem Zeitraum sank vor allem der deutsche Import von Erdöl und Erdgas. Dieser Warenposten ist der mit Abstand wichtigste im Außenhandel zwischen Deutschland und Russland. Mit durchschnittlich 19,3 Mrd. Euro pro Jahr zwischen 2014 und 2022 stellt Erdöl und Erdgas ca. 60% des Einfuhrwertes aus Russland dar.

Ab 2017 verstärkte sich der Handel zwischen Russland und Deutschland wieder. So konnte Deutschland ab 2017 bis Februar 2022 konstant Waren im Wert von ca. 25-27 Mrd. Euro exportieren. Lediglich 2020 im Rahmen der Corona-Pandemie sank die Ausfuhr um ca. 13%. Auch der Import russischer Waren blieb zwischen 2017 und 2022 konstant über 30 Mrd. Euro, dabei konnten 2018 Waren im Wert von 36 Mrd. Euro importiert werden – ähnlich wie 2022.   In diesem Jahr konnte ein Rekordwert von 4,65 Mrd. Euro an Metallen aus Russland importiert werden – Grund dafür ist allerdings kein höheres Einfuhrvolumen in Tonnen, sondern der gestiegene Metallpreis. Wie auch bei den Ausfuhren wurden 2020 wesentlich weniger Erdöl und Erdgas oder auch Metalle oder Kokereierzeugnisse importiert.

Während sich die russische Militärintervention in der Ukraine in den Ausfuhrwerten Russlands 2022 nicht bemerkbar machte, sanken die Ausfuhrwerte Deutschlands von 26 auf 14,5 Mrd. Euro. Vor allem die Steckenpferde der deutschen Industrie, wie etwa Maschinenbau, Fahrzeuge und Kraftwägen sowie die chemische Industrie waren davon betroffen. Einzig der Export pharmazeutischer Ereignisse konnte von 1,8 auf 3 Mrd. Euro steigen.

Abbildung 1:Der verwendete Datensatz von 2014 bis 2022 besteht aus 30 verschiedenen Warensystematiken und wurde online vom Internationalen Währungsfonds bezogen am 31. Mai 2023. Grafiken und kurze Erklärungen dazu finden sich im Anhang

Nachdem in den bisherigen Abschnitten v.a. auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland eingegangen wurde, werden im folgenden Abschnitt Versuche der politischen und militärischen Kooperation zwischen den beiden Ländern vorgestellt.

Politische und militärische Kooperation mit Russland

Neben den wirtschaftlichen Kooperationen wurden punktuell auch immer wieder Vorstöße für politische und teilweise sogar militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland unternommen. 1998 wurde Russland in den Staatenverbund der G8 aufgenommen. Nach den verschärften Spannungen rund um den Ukraine-Konflikt wurde Russland 2015 davon ausgeschlossen und ist seitdem nicht erneut aufgenommen worden. Angela Merkel sprach sich damals deutlich für den Ausschluss Russlands aus, auch wenn sie betonte, die diplomatischen Beziehungen zu Russland nicht abbrechen zu wollen. Im Rahmen einer Rede äußerte sie sich folgendermaßen:

„Denn es ist doch offenkundig. Solange das politische Umfeld für ein so wichtiges Format wie die G8, sowie im Augenblick, nicht gegeben ist, gibt es die G8 nicht mehr, weder den Gipfel noch das Format als solches.“34bundestag.de/mediathek… (03:45-03:58)

Auch wenn die wirtschaftlichen Kooperationen mit dem Konflikt in der Ukraine von deutscher Seite nicht abgebrochen, sondern teilweise sogar noch verstärkt wurden, positionierte sich die Bundesregierung in den gemeinsamen G7-Stellungnahmen gegen Russland. So unterzeichnete sie 2014 wie 2022 die gemeinsamen Erklärungen, die das russische Vorgehen in der Ukraine verurteilen und der Ukraine eine westliche Unterstützung in Form von Krediten des Internationalen Währungsfonds sowie anderweitiger Mittel zusichern.35bundesregierung.de … g7-leaders-statement

Neben der russischen Mitgliedschaft in der G8 wurde 2002 der NATO-Russland-Rat gegründet. Dieser sollte einen Rahmen für diplomatische Gespräche zwischen der NATO und Russland bieten. Im Januar 2022 fand das letzte Treffen statt, das jedoch keine Einigung im Ukraine-Konflikt bewirkte. Neben den internationalen Formaten wie G8 oder NATO-Russland-Rat wurden auch bilaterale Austauschformate zwischen Deutschland und Russland mittlerweile eingeschränkt bzw. beendet. Ein Beispiel ist der Petersburger Dialog, eine Austauschplattform verschiedener Think Tanks und Auslandsorganisationen wie der Konrad-Adenauer-Stiftung oder dem Zentrum Liberale Moderne. 2001 wurde der Petersburger Dialog von Putin und Schröder gegründet, während der Spannung in der Ukraine 2014 wurde dieser für ein Jahr ausgesetzt, bevor der Verein 2023 aufgelöst wurde.

Ein Beispiel für die militärische Kooperation der beiden Länder stellt das 2011 geplante Trainingszentrum Mulino des deutschen Waffenherstellers Rheinmetall in der Nähe des russischen Nischni Nowgorod dar. Dieses sollte das größte Trainingszentrum Rheinmetalls zur Ausbildung von Soldaten werden. Nachdem die Bauarbeiten durch die 2014 verhängten Sanktionen verzögert wurden, gibt es Informationen, dass das Trainingszentrum mittlerweile von russischer Seite fertig gebaut wurde.36zeit.de Es gibt Recherchen, die nahelegen, dass die Sanktionen umgangen werden konnten und Rheinmetall sich nicht komplett aus dem Projekt zurückgezogen habe. Dies kann an dieser Stelle nicht weiter auf Stichhaltigkeit überprüft werden.37t-online.de

Zwischenfazit

Die deutsch-russischen Wirtschaftsverflechtungen sicherten dem deutschen Imperialismus seine ökonomische Konkurrenzfähigkeit im weltweiten Maßstab. Sie waren jedoch immer von Auseinandersetzungen geprägt, die ihren Ursprung in der Nicht-Unterordnung der russischen Politik hatten, wie z.B. eingeschränkter Marktzugriff für das deutsche Kapital aufgrund von Verstaatlichungsmaßnahmen. Diese Auseinandersetzungen fanden keineswegs auf Augenhöhe statt, was u.a. die deutschen Ansprüche auf die russischen Rohstoffquellen sowie die Forderung nach einem freien Marktzugang zeigen. Diesen Zugriff möchte der deutsche Imperialismus auf verschiedenen Ebenen absichern – die militärische Absicherung ist eine Option. Eva Niemeyer hält dazu fest: „Deutschland und die EU wollen in Zukunft ihren Zugang zu Energierohstoffen auch militärisch absichern. Daher das Geschrei um die “Versorgungssicherheit”, die in der jüngeren Vergangenheit vor allem anlässlich tatsächlicher und befürchteter Erfahrungen der ehemals an Russland gebundenen Länder (Polen, Ukraine, Armenien, Moldawien) thematisiert und die IEA (Internationale Energieagentur) hierfür als Sprachrohr benutzt wird”.38Niemeyer, Eva (2009): Der BRD-Imperialismus nach 1989. Von territorialer zu hegemonialer Expansion, S.60ff.

Neben den Wirtschaftsbeziehungen gab es auch Formate der politischen und sogar militärischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland. Man muss jedoch festhalten, dass diese Zusammenarbeit in den letzten Jahren zunehmend eingeschränkt wurde und spätestens seit 2022 auf einigen Ebenen ganz zum Erliegen gekommen ist. Dies muss nicht bedeuten, dass Deutschland perspektivisch die Kooperationen mit Russland nicht wieder aufnehmen oder weiter ausbauen möchte. Dennoch stellt man im Verlauf der Ereignisse fest, dass Deutschland in den letzten Jahren zunehmend konfrontativ gegen Russland agiert. Die Hintergründe und Zusammenhänge werden im nächsten Kapitel genauer ausgeführt.

Das deutsch-russische Kräftemessen in Osteuropa und in der Ukraine

Der deutsche Imperialismus besiegelte mit der EU-Osterweiterung in den 2000er Jahren seine ökonomische Vormachtstellung in der EU. Neben den EU-Beitritten wurde die Strategie der Europäischen Nachbarschaftspolitik entworfen, die vorsieht, einen Ring von EU-freundlichen Staaten zu etablieren, ohne diese direkt in das Bündnis zu holen. Der Hintergrund ist die expansive Ausdehnung der EU, ohne sich in wirtschaftliche Verpflichtungen mit den Staaten begeben zu müssen. Diese Ausdehnung soll sich bis nach Nordafrika erstrecken, wo es um die Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten, aber auch um die Kontrolle von Flüchtlingsströmen geht.39https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8386/

Seitdem die EU 2003 dieses Vorhaben gefasst hat, sind in einer Reihe von Ländern Kriege und Konflikte entflammt, die dem Ring zugerechnet werden und in denen sich die EU vergeblich um die Kontrolle bemüht. Dazu gehören Libyen, Mali, Libanon, Syrien und die Ostukraine. Aber auch die Proteste in Belarus sowie die Konflikte mit der Türkei reihen sich darin ein.40https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8439/ Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass Russland meist eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung dieser Länder gespielt hat. In den folgenden Abschnitten wird das Projekt der Östlichen Partnerschaft vorgestellt und die sich abzeichnenden Konfrontationen mit Russland herausarbeitet. Dabei wird im Besonderen auf die Bedeutung der Ukraine und die deutsche Rolle eingegangen.

Das Projekt der Östlichen Partnerschaft

Im Rahmen des von der EU initiierten Projektes Östliche Partnerschaft wurde versucht, sechs ehemalige Sowjetrepubliken anzuschließen. Dazu gehörten Belarus, Armenien, Georgien, Moldawien, Aserbaidschan und die Ukraine. Nach dem erfolgreichen Putsch in der Ukraine wurde das EU-Assoziierungsabkommen mit dem Land unterzeichnet. Im selben Jahr wurden Assoziierungsabkommen mit Georgien und Moldawien beschlossen.

Der deutsche Think Tank Stiftung Wissenschaft und Politik skizziert in seinem Strategiepapier Deutsche Außenpolitik im Wandel, dass die 2009 ausgerufene Östliche Partnerschaft die Region gespalten hat. Der Think Tank hält fest, dass der Fokus vor allem auf die Assoziierungsprozesse mit der Ukraine, Moldau und Georgien gelegt werden sollte:

„Es ist aber in Deutschlands primärem Interesse, dass diese Staaten sich nachhaltig entwickeln und stabilisieren. Ihre Reformanstrengungen müssen deshalb zu einer prioritären Aufgabe gemacht und mit aller Kraft unterstützt werden. Entsprechende Schritte sind von großer Bedeutung für das Verhältnis der EU zu Russland, weil sie den Gestaltungsanspruch der EU in der Region festigen und zur Konsolidierung der Reformen in den assoziierten Staaten beitragen können“.41https://www.swp-berlin.org/publikation/deutsche-aussenpolitik-im-wandel S.46-47

Es ist hervorzuheben, dass das Projekt der Östlichen Partnerschaft nicht nur ökonomische Beziehungen vorsah, sondern auch militärische Zusammenarbeit. Die militärische Anbindung an die EU wurde im Assoziierungsabkommen mit der Ukraine geregelt, u.a. in Form von gemeinsamen Militärmanövern.42Kronauer, Jörg (2014): »Ukraine über alles!«. Ein Expansionsprojekt des Westens, S.155[4] Die Staaten der Östlichen Partnerschaft bzw. der EU-Assoziierung waren allesamt Staaten, die dem ehemaligen Einflussbereich Russlands zuzurechnen sind. Die besondere Rolle der Ukraine in diesem Prozess wird im folgenden Abschnitt herausgearbeitet.

Die Rolle der Ukraine

Die Rolle der Ukraine war darin besonders brisant, vorrangig aufgrund ihrer geostrategischen Lage, die einen Puffer für Russlands Sicherheitslage bedeutet. Daneben spielte die Ukraine für Russland eine wichtige Rolle als Absatzmarkt und Transitland. Jürgen Wagner greift in diesem Zusammenhang auf die Aussagen des langjährigen Leiters des Kiewer Büros der Konrad Adenauer Stiftung, Andreas Umland, zurück. Umland betont die Bedeutung der Ukraine für eine deutsch-europäische Ostexpansion:

„Mit der Annäherung der Ukraine an die EU würde sich nicht nur die Reichweite europäischer Werte und Institutionen um hunderte Kilometer gen Osten ausdehnen. Russland müsste sich mit der Heranführung der Ukraine an die EU endgültig von seinen neoimperialen Träumen verabschieden. […] Die Ukraine hat deshalb nicht nur als solche für die EU eine große Bedeutung. Sie könnte für den Westen insgesamt zum Tor für eine schrittweise Demokratisierung des riesigen, vormals sowjetischen Territoriums im nördlichen Eurasien werden. […] Deutschland sollte es – schon aus historischen Gründen – nicht an Beherztheit, Prinzipienfestigkeit und Weitsicht in seiner künftigen Ukraine-Politik fehlen lassen“.43Wagner Jürgen. Europäische Nachbarschaftspolitik Die Ukraine und Deutschlands Griff nach Osten in Marxistische Blätter 2015/1. S.55

Je weiter sich die EU Richtung Osten ausdehnte, desto kritischere Töne waren aus Russland zu vernehmen. So veröffentliche der Wissenschaftliche Dienst des deutschen Parlaments im Jahr 2009 eine Analyse, die die Ablehnung Russlands bzgl. der Ostexpansion klar benennt.44Kronauer (2014) S.114f. Neben der Verschiebung Richtung Osten veränderte sich auch die Haltung gegenüber Putin, dessen Amtsantritt anfänglich begrüßt worden war:

„Berlin begann im Winter 2011/12, massiv gegen Putin Stimmung zu machen. Er war aus Sicht von Strategen ein lohnendes Ziel. Zum einen gilt er als Architekt der Stabilisierung Russlands und der Bemühungen um einen erneuten Aufstieg Moskaus nach dem Machtverfall unter Boris Jelzin; diesen Architekten muss treffen, wer Russland schwächen will. Zum anderen schoss sich die prowestliche russische Opposition auf ihn ein; sie ging im Umfeld der Wahlen 2011/12 auf die Straße – ganz wie die prowestliche ukrainische Opposition in den Jahren 2004 und 2013/14.“45Ebd., S.166

Eine Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages arbeitet die Konfrontationsstellung der EU gegenüber der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) klar heraus:

„Das Verhältnis zwischen der EAWU und der EU kann eher als Konkurrenz und kaum als gedeihliche Zusammenarbeit beschrieben werden. (…) Auch die weitere Entwicklung der Beitritts- bzw. Assoziierungsverhandlungen mit der Ukraine in den Jahren 2013-2014 bestätigt exemplarisch die Konkurrenz zwischen der EU und der EAWU. Allen Akteuren ist 2013 klar gewesen, dass Ukraine nicht sowohl Mitglied der damals bestehenden Zollunion sein als auch ein weitreichendes Freihandelsabkommen mit Russland unterzeichnen kann. Nachdem der damalige Präsident der Ukraine Viktor Janukowitsch im November 2013 auf Druck bzw. unter Gewährung einen günstigen Darlehens von Russland seine Unterschrift unter das EU-Ukraine-Partnerschaftsabkommen verweigerte, begannen die Maidan-Proteste, die schließlich in Janukowitschs Vertreibung nach Russland mündeten.“46https://www.bundestag.de/resource/blob/678952/0b22965e43781a8915d5ff015c0c1901/WD-2-134-19-pdf-data.pdf

Merkel betonte in diesem Zusammenhang immer wieder, dass sie an einer diplomatischen Beziehung mit Russland festhalten wolle. Bezüglich der Konfrontation zwischen EU und EAWU hielt sie in einer Rede fest: „[…] dass es kein Entweder-oder zwischen einer Annäherung der Länder der Östlichen Partnerschaft an die EU und dem russischen Bemühen um eine engere Partnerschaft mit diesen Ländern geben sollte.“

Wenig später führt sie jedoch aus, dass es diese Option eines Kompromisses nur gäbe, wenn Russland seine Ukraine-Politik zurückhaltend gestalte und beispielsweise auf die Annexion der Krim verzichte, d.h. die Regeln für einen Kompromiss werden von deutscher bzw. westlicher Seite aufgestellt:

„Wenn Russland seinen Kurs der letzten Wochen fortsetzt, dann wäre das nicht nur eine Katastrophe für die Ukraine. Dann empfänden wir das nicht nur als Nachbarstaaten Russlands als eine Bedrohung. Dann veränderte das nicht nur das Verhältnis der Europäischen Union als Ganzes zu Russland. Nein, dann schadete das nicht zuletzt – davon bin ich zutiefst überzeugt – massiv auch Russland, und zwar ökonomisch wie politisch. Denn – ich kann es gar nicht oft genug und nachdrücklich genug sagen – die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Interessenkonflikte mitten in Europa im 21. Jahrhundert lassen sich erfolgreich nur dann überwinden, wenn wir nicht auf Muster des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgreifen.“47https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-443682

Merkel äußerte sich auf der einen Seite weiterhin offen für diplomatische Beziehungen zu Russland, auch wenn diese klar von den deutschen Vorgaben bestimmt seien. Auf der anderen Seite bestärkte sie die militärische Aufrüstung und Beistandsverpflichtung für die baltischen Staaten gegenüber Russland.48https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/assoziierungsabkommen-der-eu-merkel-wirft-russland-einmischung-in-osteuropa-vor-13307188.html

Wenn man sich den Verlauf des Putsches in der Ukraine 2014 genauer anschaut, wird die deutsche Rolle darin schnell sichtbar. Einige gute Ausarbeitungen weisen diese Verstrickung, wie zum Beispiel im Fall der Unterstützung Vitali Klitschko durch die Konrad-Adenauer-Stiftung, nach. Auf diese Abläufe soll hier nicht im Detail eingegangen werden. Dennoch gilt es herauszustellen, dass das Vorgehen in der Ukraine immer Gegenstand von Auseinandersetzungen in den deutschen Regierungskreisen war. So wurde die Spaltung der Ukraine in einen westlichen, pro-europäischen und einen eher autonomen östlichen Teil bereits 2009 in deutschen Militärkreisen diskutiert.49https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/4743 2012 wurde dann über einen möglichen Kurswechsel in der EU-Politik gesprochen. Darin wurde eine primär ökonomische Assoziierung mit Kiew diskutiert, da die Gefahr gesehen wurde, die Ukraine aufgrund der stark spaltenden Politik Deutschlands in die Arme Russland zu treiben.50https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5709     

2013 schien die Beitrittsoption der Ukraine durch den Rückzug des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytschs vom Assoziierungsabkommen gefährdet. Der Putsch Janukowytschs blieb somit als letzte Option, um die Einbindung der Ukraine in die europäische Einflusssphäre zu garantieren. Die Option eines Putsches war bereits bei einem Treffen des deutschen Botschafters mit der rechten Partei Swoboda im Frühjahr 2013 thematisiert worden.51https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6138 Zu Beginn des Jahres 2014 wurden in außenpolitischen Kreisen über mögliche Kurskorrekturen gesprochen, da die Massenproteste in der Ukraine ausgeblieben waren. Zukünftig sollten sich die Anstrengungen zunehmend auf die Zivilgesellschaft sowie rechte Gruppen richten.52https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6160

Nach dem im Februar 2014 geglückten Putsch sicherte Berlin der neuen Regierung direkte Unterstützungsmaßnahmen zu. Außerdem führte eine europäische Delegation unter Führung des deutschen Abgeordneten Elmar Brok (CDU) Verhandlungsgespräche in Kiew über das weitere Vorgehen. Es war auch Brok, der anschließend schnell klarmachte, dass die Versprechung und Realität zwei verschiedene Dinge seien. Er prognostizierte der Ukraine eine „schwierige“ Zeit und äußerte: „Es sind noch nie die Goldtaler vom Himmel gefallen, außer im Märchen“.53https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6215 Dies hielt die ukrainische Putschregierung jedoch nicht davon ab, das EU-Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, das neben der Anpassung an EU-Standards auch eine Einbindung in die deutsch-europäische Außen- und Militärpolitik vorsah. Die Übernahme der Ukraine in das deutsch-europäische Hegemonialsystem war damit geglückt.54https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6247 Neben den sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Russland in der Ukraine verschärfte sich der Ton gegen Russland im Allgemeinen. Darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen.

Der Ton gegen Russland verschärft sich

Wenn man sich strategische Orientierungen im Zeitverlauf anschaut, zeigt sich, dass der Ton gegenüber Russland schärfer geworden ist. Ein Beispiel dafür ist der Strategische Kompass der EU, eines der wichtigsten Strategiepapiere für die Ausrichtung der EU. Wagner hält in seiner Einschätzung zum Strategischen Kompass von 2022 gegenüber dem von 2016 fest, dass die Konkurrenzstellung zu Russland deutlich fokussiert werde. Er arbeitet heraus, dass sich der Ton nach mehrmaligen Überarbeitungen deutlich verschärft habe.55Wagner, Jürgen (2022b): Ein Strategischer Kompass für Europas Rückkehr zur Machtpolitik, S.18 So wird davon gesprochen, dass das „aggressive und revisionistische Handeln“ Russlands eine „ernste und unmittelbare Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung und die Sicherheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger“56Rat der Europäischen Kommission (2022): Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung, S. 7 darstellt. In dem Dokument wurde im Vergleich zum ersten Entwurf Passagen aufgenommen, wie:

„Russlands Angriffskrieg bedeutet eine tektonische Verschiebung in der Geschichte Europas [deshalb] besteht die wichtigste Veränderung in den internationalen Beziehungen in der Rückkehr zur Machtpolitik und sogar zu bewaffneter Aggression.“57Rat der Europäischen Kommission (2022), S. 5

Dass diese Konfrontationsstellung zu Russland nicht neu ist, zeigt ein Blick in das schon vorhin zitierte Strategiepapier der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2007:

„Der zweite große Komplex, der von Belang ist für die deutsche Russlandpolitik, ist der Bereich der äußeren Sicherheit. Von unmittelbarem und vorrangigem Interesse aus deutscher und europäischer Sicht ist dabei zunächst der Raum, der im Osten und Südosten mehr oder weniger direkt an die EU angrenzt (Kosovo, Ukraine, Belarus, Moldau, Südkaukasus und Zentralasien). Hier gilt es Regelungen für akute Probleme wie die sogenannten eingefrorenen Konflikte etwa in Moldau oder Georgien, aber auch für den weiteren Weg der Westintegration der Ukraine und den Umgang mit autoritären Systemen (Belarus, Zentralasien) zu finden. Insbesondere nach der Neuausrichtung der russischen Außenpolitik unter Präsident Putin definiert Russland diesen Raum als russische Einflusssphäre und versucht, in diesem Raum eine russische Vormachtstellung wiederherzustellen“.58https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_10227_1.pdf/1edd23ef-b435-10f6-748c-3247d38f7bab?version=1.0&t=1539664781158 S.14-15

Die Auswirkung der Ostexpansion auf das deutsch-russische Verhältnis war stets Grund für Auseinandersetzungen in deutschen Regierungskreisen und es existiert kein einheitlicher Plan diesbezüglich. Die Vorstellungen reichen von einer Einbeziehung Russlands in einen eurasischen Wirtschaftsraum über die Eindämmung Russlands bis hin zur Balkanisierung Russlands. Dass sich die Auseinandersetzungen um die Ukraine nicht nur zwischen Deutschland und Russland abspielten, zeigt die Frage des NATO-Beitritts der Ukraine. Darauf wird weiter unter noch einmal genauer eingegangen.

Zwischenfazit

Der deutsche Imperialismus strebt traditionell die Expansion Richtung Osten an, um seine Einflussgebiete zu vergrößern. Die Östliche Partnerschaft der EU soll die deutsch-europäische Ausweitung absichern. Russland ist in dieser Expansion ein Störfaktor. Die politische und militärische Konfrontationspolitik Deutschlands gegenüber Russland war immer vorhanden, hat sich jedoch seit 2014 mit dem Konflikt um die Ukraine deutlich verschärft. Für den weiteren Machtausbau des deutschen Imperialismus ist u.a. die Sicherung und Erweiterung der Einflusszonen in Osteuropa und Zentralasien relevant. Russland ist hier immer wieder als Hindernis erschienen, da es einen eigenständigen ökonomischen sowie außenpolitischen Kurs in der Region anstrebt.

Langfristig gilt es für den deutschen Imperialismus also, den russischen Konkurrenten so stark zu schwächen, dass dieser den deutschen Expansionsbestrebungen nicht mehr im Weg stehen kann. Somit ist der Ukraine-Krieg zur Blaupause für das Kräftemessen zwischen den westlichen imperialistischen Staaten und Russland geworden. Gleichzeitig zeigen sich im Krieg auch die teils widersprüchlichen Interessen der in der NATO verbündeten Staaten, worauf im nächsten Kapitel eingegangen wird. Innerhalb der NATO werden Auseinandersetzung vor allem um die politischen Mittel gegen Russland geführt, wie z.B. das Ausmaß der wirtschaftlichen Sanktionen, die auch Deutschland erheblich schwächen. Diese Auseinandersetzungen sollten jedoch nicht davon ablenken, die grundlegende Stoßrichtung des Deutschen Imperialismus gegen Russland zu sehen. Denn trotz dieser Aushandlungen verfolgt auch Deutschland das Ziel, Russland mit dem Ukraine-Krieg in die Knie zu zwingen, um zukünftig seine eigenen machtpolitischen Ansprüche noch besser durchsetzen zu können.

Der deutsche Imperialismus in seiner Bündnispolitik

Der deutsche Imperialismus hat nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg damit begonnen, sich im Rahmen von Bündnissen langsam wieder aufzubauen. So war beispielsweise die Bündnismitgliedschaft in der NATO die einzige Möglichkeit, sich militärisch wieder aufzurüsten, auch wenn Deutschland die eigenständige europäische Aufrüstung bevorzugt hätte. Die Möglichkeiten nach der Kriegsniederlage waren begrenzt, was für den deutschen Imperialismus bedeutete, die sich bietenden Chancen im Rahmen der Bündnisse maximal für den eigenen Wiederaufstieg auszunutzen. Die anderen westlichen Imperialisten hatten mit ihrer Bündnispolitik das Ziel, Deutschland einhegen, kontrollieren sowie für eigene politische Zwecke einspannen zu können. In diesem Zusammenhang ist die Wiederaufrüstung der BRD zu verstehen, mit der sich die USA einen kontinentalen militärischen Arm gegen die Sowjetunion aufbauten.

Mit dem ökonomischen, politischen und militärischen Wiedererstarken des deutschen Imperialismus vergrößerten sich jedoch auch dessen Einflussmöglichkeiten innerhalb der Bündnisse, wie man beispielsweise an der führenden Rolle Deutschlands bei der EU-Osterweiterung oder der aktuell im Rahmen von Air Defender 23 geäußerten Ansprüche, der kontinentale Pfeiler der NATO sein zu wollen, sehen kann. Die Bündnispolitik bietet dem deutschen Imperialismus also immer Möglichkeiten zur Durchsetzung der eigenen Machtpolitik, während sie gleichzeitig Grenzen für diese markiert. Das gilt es zu verstehen, um keine falschen Schlussfolgerungen zu ziehen und nur eine Seite der Bündnispolitik zu betrachten.

Im Folgenden soll daher auf verschiedene Punkte eingegangen werden, die sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen der Bündnispolitik des deutschen Imperialismus skizzieren. Dabei wird zuerst auf den Fall des Pipelineprojektes Nord Stream II eingegangen, das sowohl in der EU als auch in den USA für Konflikte gesorgt hat und dessen Sprengung gezeigt hat, wie Konkurrenzkämpfe im Zweifelsfall gelöst werden. Danach wird auf die Bedeutung der NATO für den deutschen Imperialismus eingegangen und diese in den Zusammenhang mit der angestrebten europäischen Autonomie gesetzt, um zu überprüfen, wie realistisch ein militärischer Alleingang des deutschen Imperialismus derzeit ist.

Grenzen der Bündnispolitik: Nord Stream II

Die Sprengung der Nord Stream II-Pipeline hat unter Beweis gestellt, dass die deutsche Energiepolitik eine Rolle im Ukraine-Krieg spielt. Uneinigkeit besteht darin, wie dieser Schritt einzuordnen ist. Einerseits wird dabei argumentiert, dass die Sprengung ein klarer Beweis dafür sei, dass es sich beim Ukraine-Krieg primär um einen Krieg zwischen den USA und Deutschland handeln würde: Die Russlandbeziehungen sollen zerstört und das deutsche Exportmodell durch die teureren Energiekosten geschwächt werden. Damit verbunden ist die Absicherung des Zugangs zum europäischen Energiemarkt für die USA und die Aufrechterhaltung von Abhängigkeiten. Daneben gibt es Argumentationen, die zwar die zwischenimperialistischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Deutschland im Blick haben, diese allerdings nicht in das Zentrum des Geschehens stellen. Dabei wird die Sprengung vor allem als die Voraussetzung dafür gesehen, dass Deutschland überhaupt in die Lage versetzt wird, militärisch gegen Russland vorzugehen. Die Sprengung könnte hier als eine Art Konfliktbeschleuniger verstanden werden, indem die USA den Druck auf Deutschland erhöhen können, seine konfrontative Außenpolitik gegen Russland zu steigern.

Im Folgenden soll ein grober Überblick über die Konflikte, die mit dem Bauprojekt Nord Stream II verbunden waren, gegeben und eine geopolitische Einordnung des Projektes vorgenommen werden.

Geopolitische Einordnung

Die Sprengung der Pipeline 2022 macht einerseits deutlich, dass die USA zum Äußersten bereit waren, um die Pipelinefertigstellung zu verhindern. Umgekehrt zeigt sie jedoch auch, dass der deutsche Imperialismus sich bewusst über seine Bündnispartner hinweg setzte – das Pipelineprojekt hatte nicht nur Probleme mit den USA, sondern auch innerhalb der EU verursacht. Im Rahmen des Bauprojektes verhängten die USA eine enorme Welle an Sanktionen gegenüber der EU. Durch die US-Sanktionspolitik angetrieben, erhielt die seit Jahren existierende Debatte um eine eigenständige Militarisierung der EU starken Auftrieb. Bei dieser Debatte ging und geht es um die Frage einer von den USA autonom handelnden EU. Für den deutschen Imperialismus kann festgehalten werden, dass der Konflikt rund um Nord Stream II eine große Bedeutung hat, die im Folgenden herausgearbeitet werden soll.

Eva Niemeyer führte im Jahr 2009, d.h. in der Zeit vor dem US-Fracking-Boom, den Vorteil des deutschen Imperialismus gegenüber den USA an: Dieser bestünde darin, dass 80 Prozent der weltweiten Erdgasreserven in einem Radius von 4.500 Kilometer von Deutschland entfernt liegen. Zu diesem Zeitpunkt war es nach Niemeyer genau der Radius, welcher nach verteidigungspolitischen Richtlinien als Einsatzgebiet der Bundeswehr festgelegt worden war. Die drei deutschen Konzerne E.ON, Wintershall und RWE hatten entweder Anteile an russischen Fördergesellschaften oder eigene Förderrechte und dadurch einen direkten Zugriff auf die Erdgasfelder in Russland. Niemeyer betont die Funktion des Energiemarktes für die USA. Der Dollar als Leitwährung sei davon abhängig, dass Öl und Gas in US-Dollar an den Börsen gehandelt werden. Die Konkurrenz um die Energiemärkte bzw. Zugänge zu diesen stellen, aus dieser Sicht, eine Gefahr für die Dollar-Hegemonie dar.59Niemeyer, Eva (2009): Der BRD-Imperialismus nach 1989. Von territorialer zu hegemonialer Expansion, S. 42 ff.

Der Fracking-Boom in den USA hat dafür gesorgt, dass die Energiepreise rapide fielen und dadurch Anreize entstanden, industrielle Produktion in die Vereinigten Staaten auszulagern. Deutsche Konzerne wie Bayer und BASF kündigten milliardenschwere Investitionen in den USA an. Dies sorgte dafür, dass deutsche Unternehmen im Maschinen- und Anlagebau, die bereits damals eine starke Stellung innehatten, überdurchschnittlich vom Aufbau neuer Fabriken in den USA profitierten. Nach der Studie einer Unternehmungsberatung im Jahr 2014, die von der Wirtschaftswoche in Auftrag gegeben wurde, sollten deutsche Maschinenbauer, Fabrikausstatter und Fertigungstechniker im Zeitraum zwischen 2013 und 2017 Industriegüter im Wert von 29 Mrd. Dollar zusätzlich in die USA exportieren als noch im Zeitraum von 2008 bis 2012. Dies ist ein Plus von 28 Prozent.60https://www.wiwo.de/unternehmen/industrie/usa-als-wachstumsmotor-deutschland-profitiert-von-amerikas-industrie/10336602.html Diese prognostizierte Entwicklung sollte überprüft werden. Sollte es so sein, dass sich das US-Geschäft für das deutsche Industriekapital derart prosperierend entwickelte und gleichzeitig die Geschäfte mit Russland stagnierten, sollten diese Aspekte in der Debatte berücksichtigt werden, die heute über eine angebliche „Deindustrialisierung“ des deutschen Imperialismus geführt wird.

Lindner führt aus, dass die USA seit 2014 der größte Erdölproduzent und seit 2009 der größte Erdgasproduzent weltweit sind. Das Hauptziel der USA sei der europäische Markt. Vor diesem Hintergrund sei auch das gescheiterte Freihandelsabkommen TTIP einzuordnen. Auch von Seiten der EU erfolgte eine Annäherung an die transatlantischen Energiemärkte u.a. durch das Konzept der Europäischen Energieunion, welches jedoch nicht umgesetzt wurde. Auch Deutschland unterstützte diese Ausrichtung der EU, hielt jedoch gleichzeitig an den russischen Energiebeziehungen fest. Die von den USA und auch der EU 2014 verhängten Russlandsanktionen beinhalteten ein Exportverbot bestimmter Technologien zur Erdölförderung, z.B. für das Offshore-Gebiet im Polarkreis. Dies erschwerte Russland langfristige Investitionen in ihre Erdölförderung, da das Land auf ausländische Technologie angewiesen ist. Die Sanktionen betrafen vor allem Technologien für das Fracking. Lindner führt aus, dass das Fracking einen enormen Push für die Industriestaaten bedeutete, während darunter Schwellenländer wie Russland oder Saudi-Arabien litten.61Lindner, Franziska (2018): Die deutsch-russischen Energiebeziehungen. Kontinuitäten und Brücke im geopolitischen Umfeld, S. 69-76

Durch die Sanktionen gegen Russland ist der deutsche Außenhandel nach Russland zwar zurückgegangen, allerdings blieb der Energiebereich unberührt. Im Jahr 2015 verzeichneten Gazprom und BASF/Wintershall Geschäfte in Milliardenhöhe. BASF erhielt in dieser Zeit Anteile an Erdgasfeldern in Sibirien, während sich Gazprom Anteile an der deutschen Energieinfrastruktur sicherte. In dieser Zeit begann die Planung von Nord Stream II. Mit der Inbetriebnahme wäre die erste ausschließlich von Russland betriebene Gaspipeline nach Europa in Betrieb genommen worden. Zeitgleich zu dieser enger werdenden Kooperation mit Russland erfolgte eine verstärkt transatlantische Ausrichtung des deutschen Imperialismus. Der deutsche Konzern Uniper (ehemals E.ON) schloss Verträge zur Lieferung von LNG auf den europäischen Binnenmarkt ab. Anfang 2015 schloss Uniper beispielsweise einen Vertrag mit dem US-amerikanischen Unternehmen Gulf South über LNG-Importe aus den USA mit einer Laufzeit von 20 Jahren.62Ebd., S. 76 ff. Ziel der transatlantischen Ausrichtung war die Diversifizierung der deutschen Energieimportstruktur sowie eine Schwächung des energiepolitischen Einflusses der russischen Unternehmen. Kurzfristig war nach Lindner die Loslösung von russischen Energieimporten nicht denkbar. Dies wäre aus deutscher Sicht nur langfristig möglich. Deshalb verfolgte der deutsche Imperialismus laut Lindner eine Strategie der transatlantischen Neuausrichtung mit gleichzeitiger Aufrechterhaltung der kontinentalen Energiebeziehungen nach Russland.63Lindner (2018)., S. 80 f.

Im Jahr 2019 werden die USA durch ihr Fracking-Gas zum größten Erdgasexporteur der Welt. Der Gasüberschuss der USA wird zunehmend zu einem außenpolitischen Werkzeug gegenüber Europa. 2017 heißt es in der National Security Strategy: „Die Vereinigten Staaten werden ihre Verbündeten und Partner dabei unterstützen, widerstandsfähiger gegen diejenigen zu werden, die Energie zur Nötigung einsetzen“64https://trumpwhitehouse.archives.gov/wp-content/uploads/2017/12/NSS-Final-12-18-2017-0905.pdf ; S.23 (eigene Übersetzung), womit die Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber dem billigen Gas aus Russland gemeint ist. Die von Polen initiierte „Drei Meere-Initiative (TSI)“ stellt ein für die USA ein Projekt dar, was dieser Ausrichtung dient. Der Verbund von zwölf Ländern im Baltisch-Adriatischem-Schwarzmeer Dreieck soll die amerikanische Vision eines Ost-/Zentraleuropäischen Nord-Süd-Infrastrukturkorridors umsetzten. Nach dem zweiten TSI-Treffen in Warschau im Juli 2017 heißt es in einem Artikel im Foreign Policy Magazin: „Was Trumps Unterstützung bewirken könnte, so [Piotr] Buras [ein polnischer Journalist, Anmerkung der VG], “ist, dass die polnische Regierung ermutigt wird, die Drei-Meere-Initiative zu politisieren”. Bei dem Plan geht es nicht nur darum, sich von Russlands Energiebissigkeit zu befreien. Es geht auch darum, Deutschland aus diesem Teil Europas zu verdrängen oder zumindest ein gewisses Gegengewicht zu Deutschland zu bilden”, sagt Buras.“65https://foreignpolicy.com/2017/07/06/trump-stumbles-into-europes-pipeline-politics-putin-europe-poland-liquified-natural-gas-three-seas-initiative/

Zusammenfassend kann man festhalten, dass das Projekt Nord Stream II für den deutschen Imperialismus eine enorme politische Bedeutung hatte. Mit der Pipeline hätte sich der Hauptknoten für den Export von russischem Erdgas in die EU nach Deutschland verlagert. Dadurch hätte Deutschland eine zentrale Stelle in der Erdgasversorgung des europäischen Kontinents erhalten. Dieses Vorhaben stieß jedoch sowohl bei den USA als auch den europäischen Verbündeten auf Widerspruch. In diesem Zusammenhang verhängten die USA zahlreiche Sanktionen gegen das Projekt, die im nächsten Abschnitt überblicksartig dargestellt werden. Parallel zu den Energiebeziehungen mit Russland, erfolgten Initiativen der Energiediversifizierung und einem wachsenden Handel mit den USA. Allerdings muss untersucht werden, in welchem Ausmaß diese transatlantische Ausrichtung tatsächlich stattfand. Trotz der seit 2015 geschlossenen LNG-Abkommen, blieben die LNG-Importe sehr marginal. Erst im Zuge des Handelskriegs mit den USA, ab 2018 und den Vereinbarungen zwischen Trump und Jean-Claude Junker, wurde in Europa die LNG-Infrastruktur ausgebaut und die LNG-Importe stiegen im Jahr 2019 um 181 Prozent.66https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_19_1531 (eigene Übersetzung) Es gilt zu untersuchen, ob wie Franziska Lindner annimmt, wirklich von einer transatlantischen „Neuausrichtung“ gesprochen werden kann, oder es sich um eine Absicherung Deutschlands handelte und dieses schließlich dem amerikanischen Druck im Zuge der Sanktionen nachgab.

Sanktionspolitik im Zusammenhang mit Nord Stream II

Die Inbetriebnahme von Nord Stream II hätte für die Ukraine den Verlust der Stellung als wichtiges Transitland und das Einbüßen von milliardenschweren Transitgebühren bedeutet. Kronauer führt aus, dass die durch Nord Stream II drohende Schwächung der Ukraine – neben dem Entstehen eines deutsch-russischen Energieblocks – einer der Gründe gewesen sei, dass antirussische Kräfte in Polen, den baltischen Staaten und in den USA das Nord Stream II-Projekt bekämpft hätten.67Kronauer, Jörg (2018), S. 164

Innerhalb der EU wurde Nord Stream II als Widerspruch zu einer gemeinsamen europäischen Energieunion gesehen. Deutschland begann neben dem Bau von Nord Stream II den Ausbau der Gasanbindungsleitung EUGAL, u.a. mit dem Unternehmen Gascade, welches eine Kooperation zwischen Wintershall und Gazprom war. 2017 wurde in den USA der Counterin America’s Adversaries Tought Sanctions Act (CAATSA) verabschiedet. Das Gesetz sah eine Verschärfung von Sanktionen gegen den Iran, Nordkorea und Russland vor. Mit dem Gesetz wurden Sanktionen gegen Personen möglich, die eine bestimmte Summe in russische Pipelines investiert hatten.68Lindner (2018), S. 81 ff. Die Sanktionen dienten den USA als Instrument, die eigenen Energieexporte abzusichern. Teile der deutschen Politik kritisierten das amerikanische Vorgehen stark. Sigmar Gabriel grenzte sich bereits vor der Abstimmung über das neue Sanktionsgesetz im US-Senat sehr scharf von diesem Vorhaben ab. So hieß es, dass Berlin „die Drohungen mit völkerrechtswidrigen extraterritorialen Sanktionen gegen europäische Unternehmen, die sich am Ausbau der europäischen Energieversorgung beteiligen […] nicht akzeptieren“ werde. Denn „Europas Energieversorgung ist eine Angelegenheit Europas. Wer uns Energie liefert und wie, entscheiden wir“.69https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/170615-kern-russland/290664 Dennoch erfolgte 2017 auch eine öffentliche Abgrenzung der CDU, der Grünen und der FDP von Nord Stream II. Die SPD hielt an dem Projekt fest.70Lindner (2018), S.87

Im Dezember 2019 trat der Protecting Europe’s Energy Security Act (PEESA) in den USA in Kraft. Das Gesetz richtete sich gegen den Bau von Nord Stream II und führte zum Abzug eines Schweizer Spezialschiffes. Die USA erreichten den Abzug, indem sie dem Schweizer Betrieb auf der Grundlage des neuen Gesetzes Sanktionen androhten.71https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8338/https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8458 Im Juli 2020 unterzog Mike Pompeo das CAATSA-Gesetz aus dem Jahr 2017 einer Neuinterpretation. Das Gesetz wurde auf alle Akteure ausgeweitet, die in irgendeiner Form am Bau der Pipeline beteiligt sind und waren – das Gesetz trat rückwirkend in Kraft. Unter die Maßnahmen fielen Visa-Sperren, das Einfrieren von Vermögenswerten sowie der Ausschluss von US-Finanzdienstleistungen. Heiko Maas erklärte daraufhin in Berlin, dass er zwar die CAATSA-Sanktionen ablehne, aber dennoch für eine gemeinsame transatlantische Haltung zu den Sanktionen gegen Russland plädiere.72https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8338/ Weitaus kritischer war die Reaktion des Vorsitzenden des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft Oliver Hermes, der in einem Gespräch mit dem Handelsblatt den Schritt der USA als Tiefpunkt der transatlantischen Beziehungen bezeichnete. Der Schritt stelle nach Hermes einen „Eingriff in die europäische Souveränität“ dar und die „EU und Deutschland dürfen sich […] nicht wie ein amerikanisches Protektorat vorführen lassen“.73Mathias Brüggmann: “Erpressungsversuch”: Deutsche Wirtschaft kritisiert US-Drohungen gegen Nord Stream 2

Am 17. Oktober 2020 machte Maas in einem Interview mit dem RND seine Haltung klar: „[ü]ber unsere Energiepolitik und Energieversorgung entscheiden wir hier in Europa“. In dem Gespräch ging Maas davon aus, dass der Bau fertiggestellt werden würde.74https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-rnd/2406270 Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt versucht, die USA mit einem eigentümlichen Deal umzustimmen. Olaf Scholz hatte als Finanzminister angeboten, die Finanzmittel für den Bau von zwei LNG-Terminals in Brunsbüttel und Wilhelmshaven massiv zu erhöhen, um die Fertigstellung zu beschleunigen. Die USA ignorierten das Angebot, da die Fertigstellung sowieso außer Frage stand.75https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8418 Drei Tage später am 20. Oktober wurde das CAATSA-Gesetz erneut ausgeweitet und auch gegen Dienstleistungen im Rahmen von Schiffen für den Bau eingesetzt.76https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8458 Am selben Tag veröffentlichte das Europa Council on Foreign Relations ein Papier mit dem Titel Europas wirtschaftliche Souveränität verteidigen. Erstellt wurde das Papier von hohen Beamten sowie Abgeordneten aus dem Bundestag, der französischen Nationalversammlung sowie nationalen Experten aus Wirtschaftsverbänden. Darin wird u.a. der Vorschlag gemacht, eine „Europäische Exportbank“ zu gründen, um zukünftige Zahlungen von europäischen Unternehmen unabhängig von Sanktionen anderer Mächte durchführen zu können. Weiter wurde die Schaffung einer EU-Behörde gefordert, die sich mit außenwirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen befassen sollte. Interessant ist die Forderung nach einem „Digitalem Euro“ welcher der Dollar-Hegemonie etwas entgegensetzten sollte, um dadurch die europäische Souveränität zu stärken. Das Papier legte großen Wert auf die internationale Stellung des Euros, damit die EU weniger verwundbarer würde. Darüber hinaus wurden mögliche Gegensanktionen gegen Personen, aber auch ganze Branchen besprochen.77https://ecfr.eu/publication/defending_europe_economic_sovereignty_new_ways_to_resist_economic_coercion/

Im Januar 2021 beschloss die EU-Kommission einen Aktionsplan, welcher Maßnahmen zum Schutz für europäische Unternehmen vor extraterritorialen Sanktionen vorsah. Die Kommission veröffentlichte diesen Plan einen Tag vor der Vereidigung Joe Bidens. Kronauer führt aus, dass dieser Beschluss bereits die zweite Handlung war, die sich gegen die USA richtete. Ende 2020 wurde bereits ein Investitionsabkommen zwischen der EU und China geschlossen, ohne sich im Vorfeld mit Biden auf eine gemeinsame China-Strategie zu einigen. Kronauer datiert den Ursprung dieses währungspolitischen Schritts auf den Sommer 2018, als die US-Sanktionen gegen den Iran griffen. Im August 2018 forderte Maas den Aufbau von unabhängigen EU-„Zahlungskanälen“, einen „Europäischen Währungsfonds“ sowie ein unabhängiges „Swift-System“. Ende 2018 wurden bereits einige Schritte angekündigt, um die Dollar-Abhängigkeit zu reduzieren.78https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8499

Das Europa Council on Foreign Relations veröffentlichte im Juni 2021 eine Studie, in welcher der Frage nachgegangen wird, wie die EU Sanktionen, Strafzölle und sonstige wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen abwenden oder bekämpfen könne. Zudem wurde eine Task Force gegründet, die sich konkrete Instrumente zur Abwehr überlegen sollte. Das Papier sprach sich für die Schaffung eines „EU Resilience Office“ aus, das den möglichen Zwang durch Drittstaaten analysieren solle und Handlungsoptionen erarbeiten könne.79https://ecfr.eu/publication/measured-response-how-to-design-a-european-instrument-against-economic-coercion/ Dieses Vorhaben griff Ursula von der Leyen im September rhetorisch auf und sprach von dem Plan, ein „Instrument“ zu schaffen, „das Zwangsmaßnahmen von Drittstaaten abschreckt und ihnen entgegenwirkt“.80https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8787

Im Juli 2021 kam es offiziell zu einer Einigung zwischen Deutschland und den USA mit Blick auf die Fertigstellung von Nord Stream II. Diese sollte in Betrieb genommen werden, ohne dass deutsche Firmen mit US-Sanktionen zu rechnen hätten. Im Gegenzug sicherte Deutschland den USA zu, dass weiterhin russisches Erdgas durch das ukrainische Röhrensystem nach Europa gefördert werde. Deutschland sicherte den USA „effektive Maßnahmen einschließlich Sanktionen“ in der EU gegen Russland zu. Jeder Versuch „Energie als Waffen einzusetzen“ solle durch Deutschland verhindert werden. Bestandteil der Einigung war auch, dass die Ukraine in die EU-Lieferkette für Rohstoffe eingegliedert werde.81https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8665
https://www.wsj.com/articles/u-s-german-deal-on-russian-natural-gas-pipeline-expected-soon-11626813466

Im November 2021 löste das Vorstoßen von Deutschland und Frankreich bezüglich eines EU-Instruments gegen Sanktionen eine Kontroverse in der EU aus. In einer Stellungnahme Tschechiens und Schwedens wurde davon gesprochen, dass das geplante Instrument „weitreichende außenpolitische Auswirkungen“ habe. Deswegen sei es entscheidend, dass die „Mitgliedstaaten voll an der Entscheidungsfindung beteiligt“ würden. Beide Staaten befürchteten, dass sich die Beziehungen zu den USA verschlechtern könnten. Deshalb sollte die EU umgehend „die Gelegenheit ergreifen“ und die „Partnerschaft mit den USA stärken“.82https://www.politico.eu/wp-content/uploads/2021/11/02/Coercion.pdf Mit dem EU-Instrument sind Importrestriktionen, Strafzölle sowie Einschränkungen beim Zugang zum Finanzmarkt der EU geplant gewesen. Sanktionsmaßnahmen sollten für Personen, Organisationen und Staaten zulässig sein.83https://www.ft.com/content/b332058c-5115-401e-b692-737810a40299 Am 08.12.2021 stellte der Vizepräsident der EU-Kommission Valdis Dombrovskis einen Entwurf für die Instrumente vor. Nach diesem Entwurf dürfe die EU Sanktionen verhängen, sobald sich ein Drittstaat „in die legitimen souveränen Entscheidungen der EU oder eines Mitgliedstaates einmischt“, indem er mit der Anwendung oder Androhung von „Maßnahmen bezüglich Handel und Investitionen“ versucht, politischen Einfluss auf die EU zu nehmen.84https://www.politico.eu/newsletter/brussels-playbook/scoop-europe-forges-sanctions-hammer-weber-on-parliament-presidency-pope-slams-eu-wall/

Zwischenfazit

Man kann festhalten, dass die Energiepolitik des deutschen Imperialismus eine Zweigleisigkeit aufweist. Einerseits wurde aggressiv versucht, gegen die USA und auch gegen die EU das Pipelineprojekt Nord Stream II fertigzustellen, um sich dadurch als Energiedrehkreuz in Europa zu etablieren. Parallel dazu erfolgte eine Vertiefung der transatlantischen Beziehung in Form von großen Abkommen über LNG-Importe aus den USA. Die Diversifizierung der deutschen Energieimporte sollte die Abhängigkeiten von Russland reduzieren – mit dem mittelfristigen Ziel, sich von Russland unabhängig machen zu können. Beides sollte die deutsche Osteuropapolitik absichern. Interessant ist, dass die deutsche Energiepolitik dadurch zwei Ebenen in Bezug auf diese Länder aufweist. Gegenüber Russland wurde die Kooperation mit dem Fluchtpunkt intensiviert, sich von diesem mittelfristig lösen zu können. Mit den USA wurde ebenfalls die Kooperation verstärkt und gleichzeitig ein großer geopolitischer Konflikt entfacht.

Die US-Sanktionspolitik gegen Nord Stream II zeigt, dass die Sprengung der Pipeline als militärische Spitze einer seit Jahren existierenden aggressiven Politik gegen den deutschen Imperialismus gesehen werden kann. Dies wirft die Frage auf, ob die Einigung bzgl. der Fertigstellung des Projekts zwischen den USA und Deutschland lediglich ein taktischer Schritt von den USA war, da für sie außer Frage stand, das Projekt langfristig verhindern zu können. Offen bleibt auch, was aus US-Perspektive der Kernpunkt der Auseinandersetzung war. Ging es maßgeblich um den europäischen Markt für LNG-Gas? Dagegen spricht, dass Deutschland diese Beziehung sowieso gestärkt hat, die Russlandkooperation lediglich als mittelfristige Perspektive gesehen wurde und diesbezüglich immer ein ambivalentes Verhältnis in der deutschen Politik existierte. Oder ging es darum den deutschen Imperialismus final in die Position zu bringen, die führende Rolle eines perspektivisch aktiven Kriegs gegen Russland einnehmen zu können?

Wichtig an der US-Politik ist die europäische Reaktion, die sich in größeren Bestrebungen einer wirtschaftlichen Souveränität von den USA ausdrückte und der aktiven Vorbereitung, Schritte in diese Richtung gehen zu können. Eine Lücke in dieser Darstellung ist eine Untersuchung darüber, was aus diesen Vorhaben geworden ist. Ein zentraler Faktor ist, dass der deutsche Imperialismus angesichts der Sanktionen seine Bestrebungen nach militärischer Souveränität erhöht hat, was im Folgenden beschrieben wird.

Möglichkeiten der Bündnispolitik: Militärischer Aufstieg in der NATO

Ein wichtiger Teil in der Debatte darum, wie der Ukraine-Krieg aus der Perspektive des deutschen Imperialismus einzuschätzen sei, ist die Frage nach dem Verhältnis Deutschlands zur NATO. Diese Diskussion spiegelt sich u.a. in der Frage wider, ob die politische Losung „Deutschland raus aus der NATO. NATO raus aus Deutschland.“ richtig sei. Während dies auf der einen Seite bejaht wird, argumentiert eine andere Seite, dass dies ein politischer Trugschluss wäre. Danach würde durch solch eine Losung lediglich eine andere Kapitalfraktion unterstützt werden, die sich auf eher völkische oder rechte Kräfte in der Politik stützt, die sowieso einen Alleingang des deutschen Imperialismus anstreben, das heißt ein Handeln unabhängig von den USA.

Dieses Kapitel soll keine Analyse der Kapitalstruktur in Deutschland aufstellen, sondern sich stattdessen der Frage zuwenden, wie es um die (Re)Militarisierung des deutschen Imperialismus steht, welche Rolle die NATO in ihr einnimmt und wie wahrscheinlich es derzeit ist, dass aus der angenommenen Möglichkeit eines Alleingangs des deutschen Imperialismus Wirklichkeit wird. Zu Beginn wird dabei ein Blick auf die Hintergründe der Remilitarisierung des deutschen Imperialismus geworfen.

Die Remilitarisierung des deutschen Imperialismus

Der Konflikt zwischen einem autonomen europäischen militärischen Bündnis und der NATO fällt zeitlich mit der Remilitarisierung des deutschen Imperialismus zusammen. In den 1950er Jahren machte sich Frankreich für eine politische Einbindung Deutschlands und für einen Anlauf der Militarisierung Europas stark, da eine Remilitarisierung der BRD generell dank der Unterstützung der USA schwer zu verhindern schien. Das französische Ziel war die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die 1950 im Zusammenhang mit Plänen für den Aufbau einer Europäischen Politischen Gemeinschaft diskutiert wurde. Dabei ging es um die Schaffung einer europäischen Armee unter der Beteiligung deutscher Streitkräfte. Geplant war, dass der EVG Frankreich, Belgien, Luxemburg, Niederlande, BRD und Italien angehörten. Die Streitkräfte der Länder sollten einer gemeinsamen Führung unterstellt werden. Der Plan scheiterte jedoch am 30. August 1954 nach langen Verhandlungen, nachdem Gaullisten und Kommunisten in der französischen Nationalversammlung die Ratifizierung des Vertrags ablehnten. Durch die Vertragsverhandlungen war das Tabuthema einer deutschen Wiederbewaffnung gebrochen und das Scheitern eröffnete aus deutscher Sicht eine neue Perspektive. Der deutsche Imperialismus erzielte bei der Londoner Neun-Mächte-Konferenz am 03. Oktober 1954 einen Durchbruch. Auf dieser Konferenz wurde beschlossen, dass der Besatzungsstatuts der BRD aufgehoben werde und die Bundesrepublik ein gleichberechtigter Partner der Westmächte sei.85Ruf, Werner (2020): Vom Underdog zum Global Player. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, S. 16 ff.

Eine Studie des Think Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik äußert die Einschätzung, dass das Scheitern der EVG dafür sorgte, dass die Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Wesentlichen an die bereits 1949 gegründete NATO auslagerten. Dadurch sei, so die Studie, die Unterordnung der Europäischen Gemeinschaft  unter die USA für viele Jahrzehnte festgeschrieben worden.86Lippert, Barbara et al. (2019): Strategische Autonomie Europas. Akteure, Handlungsfelder, Zielkonflikte; SWP-Studie 2, Februar 2019, S. 6 Für den deutschen Imperialismus bedeutete der NATO-Beitritt, dass das Land als einziges Bündnismitglied ihre gesamten Streitkräfte dem NATO-Oberkommando unterstellten. Dies entsprach der bekannten Formel des ersten NATO-Generalsekretär Lord Ismay, der die Aufgaben des Bündnisses mit den folgenden Worten definierte: „To keep the Russsians out, the Americans in and the Germans down“.87Ruf (2020), S. 28 Aufgrund dieses Ziels der NATO sei nach Jürgen Wagner der präferierte Weg für die Wiederbewaffnung des deutschen Imperialismus die EVG gewesen,88Wagner, Jürgen (2022a): Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung, S. 16 welcher aber durch das realen Kräfteverhältnis zwischen Europa und den USA nicht realisiert werden konnte. Dennoch ist die Perspektive einer eigenständigen europäischen Militarisierung nie komplett aus dem Blick geraten, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird.

Die Militarisierung der EU

Eva Niemeyer identifiziert den Irak-Krieg als Schlüsselereignis, durch welches sich die Widersprüche zwischen den USA und den führenden Mächten in der EU erstmals offen zeigten.89Niemeyer (2009), S. 6 Allerdings gehen die Bestrebungen einer europäischen Autonomie in sicherheits- und außenpolitischen Fragen, die im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen EU und NATO betrachtet werden müssen, noch weiter zurück. Wie bereits aufgezeigt wurde, könnte man dieses Spannungsverhältnis mit dem NATO-Beitritt der BRD und dem Scheitern der EVG datieren. Die Autonomiedebatte begleitet alle wichtigen Stationen der EU-Geschichte. Im Folgenden kann nur oberflächlich auf diese Entwicklung eingegangen werden. Dabei soll nachgezeichnet werden, welche immer weiter konkretisierten Schritte gegangen wurden und welche Position der deutsche Imperialismus dadurch erlangte.

1984 war der Höhepunkt der Debatte über die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen. Der damalige Vorsitzende des Ministerrats der Westeuropäischen Union (WEU), der BRD-Außenminister Hans-Dieter Genscher erklärte anlässlich der 30-Jahrfeier der NATO:

„Die WEU wird sich künftig mit allen wichtigen sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen befassen, in denen sich eine gemeinsame europäische Haltung empfiehlt. […] Wir sind bereit, die damit verbundene Verantwortung [gegenüber der NATO] zu tragen. Wir wollen aber auch gehört werden. Die Stimme Europas findet im transatlantischen Dialog das ihr zukommende Gehör, wenn die Sieben gemeinsam auftreten. Die WEU ist das geeignete Forum für die Abstimmung ihrer Haltung in Sicherheitsfragen.“90Zitiert nach Ruf (2020), S. 38

Im Juni 1992 wurde anlässlich einer Tagung des Ministerrats der WEU die sogenannte Petersberger Erklärung verabschiedet. Darin erklärten sich die WEU-Mitgliedsländer dazu bereit, der WEU, der NATO und der EU-Verbände ihre konventionellen Streitkräfte für militärische Einsätze zur Verfügung zu stellen. Werner Ruf schätzt ein, dass der Schritt der EU in Richtung des Aufbaus einer eigenen und von der NATO unabhängigen Streitkraft mit weltweiten Interventionsanspruch (sogenannte Petersberg-Aufgaben) bei den USA Misstrauen auslöste. Das EU-Vorhaben stand vor dem Problem, dass die Mitgliedstaaten erheblich im Rückstand waren und größere Militäraktionen auf hohem technischem Niveau ohne einen Rückgriff auf NATO-Arsenale gar nicht möglich gewesen wären. Die EU und die NATO einigten sich auf einen Kompromiss, der der EU eigenständige militärische Maßnahmen erlaubte. Gleichzeitig wurde sie aber zu einer engen Zusammenarbeit mit der NATO verpflichtet, welche größere Operationen der Europäer ohne das Einverständnis der USA verunmöglichte. Die Vereinbarungen die unter den Begriff „Berlin Plus“ fallen, gehen auf einen bei dem NATO-Gipfel in Berlin am 03. Juni 1996 gefassten Beschluss zurück, nach dem die EU NATO-Einrichtungen für ein regionales Krisenmanagement nutzen kann, wenn die NATO zustimmt. Demnach konnten die USA faktisch ein Veto einlegen. In einem NATO-EU-Abkommen im Jahr 2002 wurde dann verfügt, dass es der EU möglich sein soll, auf NATO-Einrichtungen zurückzugreifen, was allerdings von Fall zu Fall neu verhandelt werden muss.91Ruf (2020), S. 45 f.

Jürgen Wagner stellt den EU-Ratsgipfel in Köln im Juni 1999 als die eigentliche Geburtsstunde von autonomen, d.h. von der NATO/den USA unabhängigen Streitkräften der EU dar.92Wagner, Jürgen (2022b): Ein Strategischer Kompass für Europas        Rückkehr zur Machtpolitik, S. 8 In der Erklärung des Europäischen Rats zur Stärkung der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde Folgendes festgehalten:

„im Hinblick darauf muss die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, dessen Einsatz zu beschließen, um – unbeschadet von Maßnahmen der NATO – auf internationale Krisensituationen zu reagieren.“93https://www.europarl.europa.eu/summits/kol2_de.htm#an3

Bei der EU-Ratstagung in Helsinki im Dezember 1999 vereinbarten die Mitgliedsländer die Schaffung einer schlagkräftigen europäischen Streitkraft mit bis zu 15 Brigaden – was ca. 50.000 bis 60.000 Soldaten darstellt – die rasch verlegbar und mindestens ein Jahr einsatzfähig sein sollten. Dieses Ziel wurde bis 2003 nicht erfüllt, weshalb unter dem Titel Headline Goal 2010 ein Programm für die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten verabschiedet wurde.94Wehr, Andreas (2018): Die Europäische Union, S. 82

Der Vertrag von Lissabon, der 2007 geschlossen wurde, stellte einen weiteren wichtigen Meilenstein für die Militarisierung der EU dar. Damit die dort vertraglich festgehaltenen Vorhaben nicht für neue Spannungen mit den USA sorgten, wurde im Vertrag verankert, dass für die EU weiterhin die im Rahmen des Nordatlantikvertrags festgehaltenen Verpflichtungen das Fundament seien, auf dem die kollektive Verteidigung der EU und das Instrument zur Verwirklichung dieser Verteidigung stehe.95Ruf (2020), S. 40f. Das Spannungsverhältnis durch den Vertrag von Lissabon bezieht sich auf die mit dem Vertrag entstandene, parallel vorhandene Beistandsautonomie: der Artikel 5 der NATO und der Artikel 42-7 der EU. Der Artikel 5 der NATO verpflichtet die Mitgliedstaaten im Falle eines Angriffes zum Beistand. Im Artikel 42-7 des Lissaboner Vertrags heißt es, dass die Mitgliedstaaten im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Unterstützung leisten müssen. Dies müsse im Einklang mit dem Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen geschehen.96Wagner, Jürgen (2022b), S. 28

Auch wenn die USA die Prozesse rund um eine europäische Militarisierung immer kritisch sahen, setzen sie zeitgleich auf eine stärkere Militarisierung der EU und Deutschlands. Dieses vorerst widersprüchlich erscheinende Vorgehen wird im nächsten Abschnitt genauer beleuchtet.

Der Pivot to Asia und die NATO

Die deutsche Zurückhaltung im Libyen-Krieg löste innerhalb Deutschlands und international eine heftige Debatte aus. Mit diesem Schritt stellte sich der deutsche Imperialismus gegen all seine westlichen Verbündeten. Ab 2012 erstellte der German Marshall Fund of the United States, ein US-amerikanischer Think Tank, gemeinsamen mit der Stiftung Wissenschaft und Politik eine erste Initiative für eine (neue) Strategieentwicklung. Eckpunkte waren der langfristige Abstieg der USA und der gleichzeitige Aufstieg Chinas, welcher die bisherige Weltordnung veränderte. Die USA veränderten durch diese Entwicklung ihre Strategie und setzten stärker auf eine Einbindung der westlichen Partner. Ein Beispiel dafür ist der Libyen-Krieg, der unter der Führung Großbritanniens und Frankreichs stand. Gleichzeitig wurde mit dem Pivot to Asia das pazifische Jahrhundert der USA ausgerufen. Die EU-Staaten sollten gemäß des Konzepts des German Marshall Fund of the United States als Ordnungswächter im Nahen Osten und auf dem afrikanischen Kontinent auftreten. Der Zuwachs an Verantwortung für den deutschen Imperialismus im mittleren Osten versprach ihm die Chance, sich in der EU durchzusetzen und seine eigene Machtposition zu stärken. Die Bundesregierung stimmte diesen Projektvorschlägen zu und gab den Auftrag für ein groß angelegtes Projekt. Im Ergebnis wurde 2013 das Strategiepapier Neue Macht. Neue Verantwortung (NMNV) veröffentlicht, an dem viele Akteure, Think Tanks, Journalisten, der Bundestag und NGOs mitwirkten. Der Kern von NMNV ist die Aussage, dass der deutsche Imperialismus seine eigenen Aktivitäten stärker im Rahmen der EU und der NATO entfalten müsse, um die USA im Rahmen ihrer Pazifikpolitik zu entlasten. Dazu solle sich Deutschland stärker in der europäischen Nachbarschaft (Osteuropa, Nordafrika und dem Mittleren Osten) einsetzen. Mit dem groß angelegten Strategiepapier wurde eine Diskussion innerhalb der deutschen Elite über den zukünftigen geopolitischen Kurs angestoßen.97Kronauer, Jörg (2015): Allzeit bereit. Die neue deutsche Weltpolitik und ihre Stützen, S. 11-27

Jürgen Wagner schätzt ein, dass die Kernpunkte, die in NMNV festgehalten wurden, bis heute handlungsleitend für den deutschen Imperialismus seien. Deutschland strebt erstens eine Weltmachtposition an und ist dabei auch bereit dazu, größere militärische Beiträge für den Schutz von Kernstrukturen der Weltwirtschaftsordnung zu leisten. Dafür ist der deutsche Imperialismus zweitens zwingend auf die EU als Kraftverstärker angewiesen, in welcher er ebenfalls einen Führungsposition für sich beansprucht. Als drittes wird in NMNV einem weiteren Bündnis mit den USA der Vorzug gegenüber anderen denkbaren Konstellationen gegeben – dies jedoch möglichst mit einer gleichzeitigen machtpolitischen Aufwertung Deutschlands im transatlantischen Bündnis. Viertens können diese Führungsansprüche und Ambitionen nur auf der Grundlage einer hochgerüsteten Armee mitsamt einer starken nationalen und teils europäischen Rüstungsindustrie erreicht werden.98Wagner (2022a), S. 32

In NMNV wird davon gesprochen, dass den USA militärisch stärker unter die Arme gegriffen werden müsse. Deshalb müssten Europa und Deutschland Formate für NATO-Operationen entwickeln, in denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen seien. Dies müsse mit einer Aufwertung im transatlantischen Bündnis einhergehen. Zur NATO heißt es, dass diese einerseits ein „einzigartiger Kräfteverstärker für deutsche sicherheitspolitische Interessen“ sei. Andererseits müsse Deutschland bei der Frage des künftigen Kurses aufgrund ihres gestiegenen militärischen Beitrages den „gewachsenen Einfluss nutzen, um diese künftige Ausrichtung mitzugestalten“.99SWP & GMF (2013): Neue Macht. Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch, S. 42 f.

Bezogen auf eigene Rüstungsprojekte ist in NMNV zu lesen:

„Moderne Rüstungstechnologien werden immer komplexer und kostspieliger. Eine international wettbewerbsfähige europäische Rüstungsindustrie ist auf Dauer nur durch eine weitgehende Konsolidierung nationaler Industrie im europäischen Rahmen zu erhalten; dies ist deshalb im deutschen Interesse“.100Ebd., S. 43

Neben dem Papier NMNV wurden auch auf europäischer Ebene Strategiepapiere erarbeitet, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden.

Der Brexit und die europäischen Autonomiebestrebungen

Im Jahr 2016 wurde mit der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU (EUGS) das höchste sicherheits- und außenpolitische Papier der EU verabschiedet. Dies wurde erst durch den Brexit möglich, da sich Großbritannien viele Jahre als Bremser beim Ausbau eines EU-Militärapparats erwies, indem es vorhandenen Widerstand organisierte und z.T. unerwünschte Entwicklungen mit einem Veto blockierte. Nur wenige Tage nach dem Brexit billigte der Europäische Rat die EUGS, die seither die Europäische Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 als ranghöchstes EU-Dokument ersetzt.101Wagner, Jürgen (2019): PESCO. Das militärische Herz der Europäischen Verteidigungsunion, S. 11

Als Ziel wurde in der EUGS angegeben, dass die EU zu „militärischen Spitzenfähigkeiten“ gelangen müsse, die es ihr ermöglichen sollten, „autonom zu handeln“.102https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10715-2016-INIT/de/pdf Seit der Verabschiedung dieses Strategiepapiers sei nach Jürgen Wagner die Erlangung einer strategischen Autonomie wahrscheinlich zum zentralsten Ziel der EU geworden.103Wagner (2022b), S. 7 In der EUGS heißt es dazu:

„Die Strategie nährt den Anspruch auf strategische Autonomie der Europäischen Union. Das ist notwendig, um die gemeinsamen Interessen unserer Bürger sowie unsere Grundsätze und Werte zu fördern“.104https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10715-2016-INIT/de/pdf

Wagner gibt an, dass in der EUGS selbst nur zurückhaltend formuliert wird, was unter diesem Anspruch zu verstehen ist. Eine Reihe von Think Tank Papieren haben laut Wagner nach der Veröffentlichung der EUGS gezeigt, dass es in dieser Strategie im Kern darum gehe, die Fähigkeit zu erlangen, in den wichtigen außen- und militärpolitischen Bereichen eigenständig agieren zu können. Dies beziehe sich sowohl auf die USA als auch auf China und Russland.105Wagner (2019), S. 11

Unter einer Autonomie der EU werden im militärischen Bereich drei Ebenen gefasst: die politische Autonomie meint das verfügen über Entscheidungsstrukturen für schnelle und reibungslose Beschlussfassungen. Die operative Autonomie umfasst die Bereitstellung aller Planungskapazitäten sowie Truppen und Materialien, um selbstständig militärisch agieren zu können. Schließlich braucht es eine industrielle Autonomie, d.h. mithilfe der heimischen militärischen Produktion unabhängig agieren zu können. Um unabhängig handeln zu können, ist weiterhin eine industrielle Autonomie erforderlich, was bedeutet, dass man sich auf die heimische militärische Produktion verlassen kann. Dies erfordere die nötige Rüstungsindustrie.106Wagner (2022b), S. 8

Im Juli 2017 verständigten sich Deutschland und Frankreich auf alle wesentlichen Aspekte für gemeinsame europäische Verteidigungsprojekte Permanent Structured Cooperation (PESCO). Nach der Aufnahme von Italien und Spanien war das Projekt mit knapp 60 Prozent der Stimmen und des Bevölkerungsanteils so gut wie sicher. Danach sei es klar gewesen, dass es dem deutschen und französischem Imperialismus mit Geld, Diplomatie oder Drohungen gelingen würde die kleineren EU-Mitgliedsländer zu ‚überzeugen‘.107Wagner (2019), S. 19

Von Seiten der USA wurde Kritik an diesem Kurs der EU laut. Das PESCO-Projekt steht zwar im Prinzip auch Drittstaaten offen, die Aufnahme erfolgt allerdings nur in Ausnahmefällen und unter dem Vorbehalt, dass die Beteiligungen zu einem erheblichen Mehrwert führen. Die Drittstaaten haben keine Entscheidungsbefugnisse im Rahmen der Steuerung der PESCO. 2019 stellten sich die USA gegen das Vorhaben, weil US-Rüstungsfirmen von den Projekten ausgeschlossen wurden.108Ebd., S. 28 Als Grund für die amerikanische Reaktion führt Wagner an, dass die USA nicht nur den Verlust ihres Anteils am EU-Rüstungsmarkt befürchteten. Der Verkauf von Großwaffensystemen sichert einen wichtigen Einfluss auf den jeweiligen Empfänger, den die USA gerne nutzen würden, um ihren Interessen in der EU Geltung zu verschaffen. Da ein selbst erklärtes Ziel der PESCO eine wettbewerbsfähige EU-Rüstungsproduktion sei, müssten die USA folglich nicht nur den europäischen Markt fürchten, sondern auch eine stärkere internationale Konkurrenz.109Ebd., S. 29

2019 schloss die EU den Aachener Vertrag, der sich ausdrücklich als Ergänzung des Èlysèe-Vertrags (Artikel 27) versteht. Bereits in der Präambel wird eine Kritik an den USA formuliert, indem die „Bekräftigung des Engagements der Europäischen Union für eine offene, faire und regelbasierte Weltmacht“ betont wird. In Artikel 1 wird die Notwendigkeit einer „wirksame(n) und starke(n) Gemeinsame(n) Außen- und Sicherheitspolitik“ herausgestellt. In Artikel 3 heißt es dann, dass die Zusammenarbeit „in Angelegenheiten der Außenpolitik, der Verteidigung, der äußeren und inneren Sicherheit und der Entwicklung“ vertieft werden müssen und beide Staaten „wirken zugleich auf eine Stärkung der Fähigkeit Europas hin, eigenständig zu handeln“. In Artikel 4 werden dann die zentralen Paragrafen des Lissabon-Vertrags wiederholt.110Ruf (2020), S. 102

Die US-Sanktionspolitik und der Strategische Kompass

Ab Mitte 2020 kam es inmitten der sich verschärfenden Sanktionspolitik der USA gegenüber der EU zu entscheidenden Schritten Richtung Autonomiebestrebung. Auf die genaue Entwicklung wird nur oberflächlich eingegangen, aber wichtige Stationen sind in der Chronik im Anhang nachzulesen. Im Juli 2020 wurde unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft der Auftrag erteilt, einen Strategischen Kompass der EU zu realisieren. Dieser sollte von der Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU (EUGS) ausgehen. Kernelement dieses gemeinsamen Vorhabens der EU war eine gemeinsame „Bedrohungsanalyse“. Diese Analyse wurde als „Dokument der Nachrichtendienste“ konzipiert.111https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8341/ Im November 2021 wurde die Bedrohungsanalyse fertiggestellt und den EU-Außenministern präsentiert. Dieses Dokument wurde dann von den EU-Staats- und Regierungschefs diskutiert und im März 2022 beschlossen. Im ersten Aufschlag aus dem November 2021 wurde eine strategische Autonomie der EU nicht ausdrücklich erwähnt. Es wurde lediglich festgehalten, dass die EU-Staaten „mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen“. Dabei soll, wenn möglich, mit Partnern agiert werden und wenn nötig allein. Ebenso wird ein „Sicherheits- und Verteidigungsdialog“ mit den USA für das Jahr 2022 erwähnt.112https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8760

Jürgen Wagner führt eine Studie aus dem Jahr 2018 des führenden EU-Think Tanks Institute for Security Studies (ISS) an, um die Ausrichtung des Strategischen Kompass in Bezug auf die EU-USA-Beziehung zu skizzieren.113Wagner (2022b), S. 29 In dieser Studie werden drei mögliche Autonomieformen unterschieden. Diese können verkürzt als Anbiederung, Rückversicherung und Gegenmachtbildung bezeichnet werden. Dabei beschreibt die Anbiederung den Aufbau von umfassenden operativen Kapazitäten, die der maximalen Unterstützung der NATO und den USA dienen – dies allerdings ohne eine politische oder institutionelle Unterfütterung. In dieser Ausrichtung werden Rüstungsgüter bei den USA von der Stange gekauft. Aus Sicht der USA bedeute das eine autonome Einsatzfähigkeit der EU ohne autonome industrielle Kapazitäten. Bei der Rückversicherung wird hingegen eine substanzielle von der NATO abgekoppelte Industrie aufgebaut – dies allerdings noch nicht mit dem Ziel der Gegenmachtbildung. Für das Handeln sei sie aber bereits Grundlage, um im Krisenfall möglichst schnell in eine Vollautonomie übergehen zu können. Dieses Vorgehen zeichne sich dadurch aus, dass weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit der NATO bestehe, gleichzeitig aber mit dem Aufbau von autonomen Truppen für Einsätze mittlerer Intensität, einschließlich der Planungs- und Führungsfähigkeiten sowie eine intensive Stärkung der eigenen Rüstungsindustrie, begonnen wird. Eine ganz andere Dimension ist dann die aktive und offensive Gegenmachtbildung. Dabei sind die vollen planerischen und operativen Kapazitäten erkennbar. Diese Strategie beinhalte Versuche einer Europäisierung der französischen Atomwaffen und der Anhebung der Militärausgaben auf 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes.114https://www.iss.europa.eu/sites/default/files/EUISSFiles/Brief%2012__Strategic%20Autonomy.pdf

Nach Wagners Einschätzung zeichnet sich der Strategische Kompass durch eine Strategieverlagerung in Richtung einer Teilautonomie (Rückversicherung) aus. Sollten die USA von einer deutlichen Umverteilung der Machtverhältnisse im transatlantischen Bündnis nichts wissen wollen, wird so die Möglichkeit für eine Vollautonomie und sogar eine mögliche Gegenmachtbildung offengehalten. Dies decke sich, so Wagner, mit der Bundeswehrplanung bis 2032. Diese legt den Fokus auf den NATO-Rahmen, während es die wesentlichen Rüstungsvorhaben auch ermöglichen sollen, notfalls auf einen Konfrontationskurs mit den USA zu gehen.115Wagner (2022a), S. 47 Obwohl man die Autonomiebestrebungen des Strategischen Kompasses nicht übersehen kann, wird in ihm gleichzeitig auch die Bedeutung der USA und der engen NATO-EU-Beziehung betont:

„Dieser Strategische Kompass wird die strategische Autonomie der EU und ihre Fähigkeit stärken, mit Partnern zusammenzuarbeiten, um ihre Werte und Interessen zu wahren. Eine stärkere und fähigere EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung wird einen konstruktiven Beitrag zur globalen und transatlantischen Sicherheit leisten und bildet eine Ergänzung zur NATO, die das Fundament der kollektiven Verteidigung ihrer Mitglieder bleibt. Beides geht Hand in Hand“.116Rat der Europäischen Kommission (2022): Ein Strategischer Kompass für Sicherheit und Verteidigung, S. 13

Im letzten Kapitel des Kompasses werden die EU-Prioritäten deutlich: An erster Stelle steht die NATO, gefolgt von den Vereinten Nationen und darauf die OSZE. So wird auch davon gesprochen, dass die „strategische Partnerschaft der EU mit der NATO“ für die euro-atlantische Sicherheit „von entscheidender Bedeutung“ sei. Die „Aggression Russlands in der Ukraine“ haben dies gezeigt.117Rat der Europäischen Kommission (2022), S. 39

Da der Strategische Kompass den Aufbau von autonomen Kapazitäten außerhalb der Kontrolle der NATO/den USA vorantreibt, legt er die Grundlage für eine vollständige Autonomie der EU.118Wagner (2022a): S. 61 f. Ganz konkret wird geäußert, dass eine ständig strukturierte Zusammenarbeit und ein europäischer Verteidigungsfonds dafür genutzt werden sollen, die folgenden strategischen Ziele zu entwickeln: im Bereich Luft „vollständig interoperable Fähigkeiten der nächsten Generation, insbesondere Kampfsysteme der Zukunft (FCAS)“, für den Bereich Land ein „Hauptkampfpanzer“, für See ein „Schwerpunktbereich Europäisches Überwasserpatrouillenschiff“ und für den Weltraum Kapazitäten der „weltraumgestützten Erdbeobachtung sowie Technologien für die Weltraumlageerfassung und weltraumgestützte Kommunikations- und Navigationsdienste“. Schließlich werden im Bereich Cyberspace „neue Technologien, insbesondere Quanteninformatik, künstliche Intelligenz und Big Data“ genannt.119Rat der Europäischen Kommission (2022), S. 32

Wagner schätzt ein, dass 2018 noch einige Autoren die EU zwischen Anbiederung und Rückversicherung einstuften. Trotz der häufig genannten Thesen, der Ukraine-Krieg habe eine Stärkung der NATO zur Folge, ist es nach Wagner relativ offensichtlich, dass die meisten Maßnahmen, die im Kompass festgehalten wurden, stärker in Richtung Rückversicherung gehen. Dafür würden z.B. die geplanten schnellen Eingreiftruppen für Einsätze mittlerer Intensität, inklusive eigener Planung und Führung sprechen. Auch die Projekte, die explizit auf den Aufbau eines europäischen rüstungsindustriellen Komplexes zielen, würden dafürsprechen. Ein paar EU-Staaten, wie z.B. Deutschland würden sogar bezüglich der Verteidigungsausgaben in den Bereich einer möglichen Gegenmachtbildung übergehen. Dennoch urteilt Wagner, dass weiterhin planerische und operative Kapazitäten für Kriege mit hoher Intensität fehlen. Dadurch bleibt die Abwehr möglicher Großangriffe auch künftig eine Angelegenheit der NATO.120Wagner (2022b), S. 30 f. Das Interesse der EU bestehe darin, dass Partnerschaften die Aufgabe hätten, zu der Verwirklichung des „Ziels der EU beizutragen, als globaler strategischer Akteur in Erscheinung zu treten“.121Rat der Europäischen Kommission (2022), S. 39 Solange dies mit den USA und der NATO der Fall sei, würde die EU nach Wagner kaum in Richtung einer Gegenmachtbildung wirken.122Wagner (2022b), S. 31 Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten Stationen der EU-Militarisierung von 1954 bis 2022.

1954„Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) scheitert.
1992Vertrag von Maastricht und die Einführung einer „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP)
1997Mit dem Vertrag von Amsterdam werden die „Westeuropäische Union“ (WEU) und die sogenannten „Petersberg Aufgaben“ in den Vertrag der EU überführt.
1999„Helsinki Headline Goal“: der Aufbau von eigenen EU-Eingreiftruppen wird beschlossen.
2003Erster Militäreinsatz in Mazedonien und Kongo. Die „Europäische Sicherheitsstrategie“ wird beschlossen.
2004Mit dem „Headline Goal 2010“ werden eigene Battlegroups beschlossen, die weltweit einsetzbar sein sollen.
2009Der Vertrag von Lissabon tritt in Kraft. Der EU-Militärbereich wird in „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ umbenannt.
2010Der „Europäische Auswärtige Dienst“ (EAD) beginnt mit der Arbeit.
2013Der erste EU-Rüstungsgipfel. Der Europäische Rat widmet sich erstmals allein mit militärischen Fragen.
2015Es wird eine hochrangige Gruppe eingesetzt für die Frage von EU-Rüstungsaufgaben, die fast ausschließlich aus militärnahen Politikern und Rüstungsvertretern besteht. Die Gruppe macht Vorschläge für den späteren Europäischen Verteidigungsfonds.
2016Die EU-Globalstrategie wird verabschiedet, als wichtigstes Dokument im Sicherheitsbereich.
2017Der „Militärische Planungs- und Führungsstabs“ (MPCC) wird eingerichtet und die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO) aktiviert.
2018Die Kommission schlägt die Einrichtung des „Europäischen Verteidigungsfonds“ (EDP) vor.
2019Der erste Zyklus der „koordinierten jährlichen Verteidigung“ (CARD) ist abgeschlossen. Es wird die „Generaldirektion Verteidigugsindustrie und Weltraum“ (DG DEFIS) eingerichtet.
2020Es wird sich auf den EU-Haushalt 2021-2027 geeinigt, inklusive Rüstungstöpfe.
2021Es wird ein Europäischer Verteidigungsfonds eingerichtet sowie der „Europäische Friedensfazilität“ (EPF)
2022Der Strategische Kompass wird verabschiedet.
Quelle: Wagner 2022b, S. 11 ff.

Deutschlands Position und Stellung in diesem Prozess

Laut Jürgen Wagner präferieren die meisten osteuropäischen Staaten eine Stärkung der operativen europäischen Militärkapazitäten bei gleichzeitiger Unterordnung unter die NATO. Frankreich hingegen setzt vor allem auf einen möglichst weitreichenden eigenständigen Militärapparat, der perspektivisch durchaus in Konkurrenz zu den USA treten kann. Deutschland nimmt eine Mittelposition ein und ist bemüht, beide Partner auszubalancieren.123Wagner (2022b), S. 27 Dieser Position folgt auch der Strategische Kompass, in dem es heißt:

„Dieser Strategische Kompass wird die strategische Autonomie der EU und ihre Fähigkeit stärken, mit Partnern zusammenzuarbeiten, um ihre Werte und Interessen zu wahren. Eine stärkere und fähigere EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung wird einen konstruktiven Beitrag zur globalen und transatlantischen Sicherheit leisten und bildet eine Ergänzung zur NATO, die das Fundament der kollektiven Verteidigung ihrer Mitglieder bleibt. Beides geht Hand in Hand“.124Rat der Europäischen Kommission (2022), S. 13

Wagner schätzt ein, dass die USA mittelfristig einen stärker werdenden rüstungsindustriellen EU-Sektor akzeptieren werden, da die USA die EU bereits länger in Richtung Militarisierung drängen und der einzige Weg, über den die EU-Länder dazu bereit wären, eine wachsende industrielle Autonomie sei.125Wagner (2019), S. 29 Werner Ruf argumentiert, dass die geballten militärischen Fähigkeiten der NATO erklären, warum ein Verzicht auf dieses Bündnis für Deutschland unrealistisch ist. Lediglich die NATO-Mitgliedschaft ermöglicht dem deutschen Imperialismus die Teilhabe an der politischen und militärischen Planung sowie die Gestaltung der Herrschaftsverhältnisse im Rahmen von Militär Einsätzen. Laut Ruf entspricht die NATO-Mitgliedschaft dem Ziel Deutschlands, weltweit agieren zu können.126Ruf (2020), S. 79 f. Diese Auffassung deckt sich auch mit der Einschätzung Wagners, dass die EU noch weit davon entfernt ist, Einsätze mit großer Intensität führen zu können.

Gleichzeitig ist Deutschland auch für die NATO unverzichtbar, weshalb Deutschland eine Führungsrolle zugesprochen wird. Deutschland nimmt im Bündnis die Rolle einer Rahmen- oder Scharniernation ein. Dadurch erhält Deutschland eine doppelte Fähigkeit: Deutschland kann einmal im Rahmen der NATO und einmal im Rahmen der EU auftreten. Deutschland könne sich sowohl als führende Kraft in Europa als auch als unverzichtbarer Pfeiler der NATO und schließlich auch als Waage zwischen beiden präsentieren.127Ebd., S. 81 f.

Durch das Zwei-Prozent-Ziel der NATO wird Deutschland aufgrund seiner Wirtschaftskraft als größter Truppensteller zur zentralen europäischen Säule des Bündnisses, auf die die USA nicht verzichten können, wenn sie weiter Einfluss in Europa ausüben wollen. Heiko Maas äußerte einmal öffentlich, dass ohne Deutschland die NATO militärisch wie geostrategisch ein Torso wäre.128Ebd., S. 109 Durch seine geografische Position ist Deutschland laut Werner Ruf die Scharniermacht im NATO-Aufmarsch gegen Russland. Dadurch kann Deutschland sich als unverzichtbarer Partner für die USA präsentieren und gleichzeitig in Europa signalisieren, dass ohne Deutschland eine eigenständige europäische Sicherheits- und Außenpolitik nicht möglich ist. Dies führt Ruf zu dem Schluss, dass die balancierte Partnerschaft zum Trumpf des deutschen Imperialismus wird, die eigene Position in dem jeweiligen Bündnis zu stärken und so gegenseitig hochzuschaukeln.

Wagner resümiert, dass ein baldiger Bruch mit den USA derzeit kaum vorstellbar ist, da die militärischen Fähigkeit der NATO für die heraufziehenden Großmachtauseinandersetzungen kurz- bis mittelfristig kaum zu kompensieren sind.129Wagner (2022a), S. 43 Dies lässt den Schluss zu, dass es genau das beschriebene strategische Balancieren ist, welches Deutschland nun seit geraumer Zeit betreibt und durch welches es sich mehr und mehr als militärische Großmacht etablieren wird.

Zwischenfazit

Seit dem Scheitern der EVG 1954 und dem NATO-Beitritt findet eine sicherheits- und verteidigungspolitische Unterordnung unter die USA statt. Aufgrund dieser Unterordnung geht es aus Sicht des deutschen Imperialismus seither um einen größeren Spielraum im Verteidigungsbündnis, um so die eigenen Interessen besser durchsetzen zu können. Mit den Petersberg-Aufgaben von 1992 formulierte die EU den Anspruch, weltweit militärisch eigenständig intervenieren zu können. Auch wenn dieser Anspruch Misstrauen seitens der USA auslöste, stellte er keine Gefahr dar, weil die EU nicht über die notwendigen Kapazitäten verfügt, um dem formulierten Anspruch gerecht zu werden.

Im Jahr 2013 wurde gemeinsam mit den USA das Strategiepapier Neue Macht. Neue Verantwortung erarbeitet, welches seither die strategischen Leitplanken des deutschen Imperialismus bestimmt. In diesem Papier wird aus amerikanischer Sicht stärker auf Einbindung bei gleichzeitiger Eigenständigkeit der Partner gesetzt. Deutschland muss daher seine Aktivitäten stärker in der EU und NATO entfalten. Die zentralen Ziele Deutschlands lassen sich folgend zusammenfassen: der Anspruch auf eine Weltmachtposition soll erhalten werden, die EU ist hierfür unverzichtbar. Zudem ist das transatlantische Bündnis allen anderen Konstellationen – China und Russland – gegenüber zu priorisieren. Diese Vorhaben sind nur durch eine stärkere Armee und Rüstungsindustrie zu erreichen.

Die Debatte um eine strategische Autonomie der EU ergibt sich aus der Orientierung, dass die EU die USA mittels eigenständigem Handeln unterstützen soll. Diese umfasst drei Ebenen: die politische, operative und industrielle Autonomie. Je nachdem wie intensiv diese Bereiche entwickelt sind, ergeben sich drei Formen der Autonomie: Anbiederung, Rückversicherung und Gegenmachtbildung. Der Ukraine Krieg hat bezogen auf die angestrebte Form der Autonomie eine Veränderung bewirkt. Die EU setzt seitdem verstärkt auf die Rückversicherung der USA, d.h., es sollen die Voraussetzungen aufgebaut werden, sich potenziell von den USA lösen zu können und die Fähigkeiten zur Gegenmachtbildung zu erlangen. Davon sind die EU-Mitgliedsstaaten allerdings noch weit entfernt.

Die NATO ist für Deutschland die Voraussetzung, um an militärischen und politischen Planungen teilzuhaben und weltweit agieren zu können. Ein Bruch mit der NATO und den USA kommt aus deutscher Perspektive aktuell und auch in absehbarer Zeit nicht in Frage. Vielmehr orientiert Deutschland darauf – und dies deckt sich mit quasi allen bedeutenden Strategiepapieren – eine ausbalancierende Rolle zwischen der EU und der NATO einzunehmen. Es wird darauf gezielt, zu der zentralen europäischen NATO-Säule zu werden und dadurch innerhalb des Bündnisses auf Augenhöhe mit den USA zu stehen. Diese Position kann gegen die Partner in der EU ausgenutzt werden, um Druck aufzubauen. Andersherum kann die EU und die EU-Militarisierung gegen die NATO verwendet werden. Durch diese Position ist Deutschland in geopolitischer Hinsicht ein gefährlicher Bündnispartner für die anderen Imperialisten, weil er unkontrollierbar wird.

Im Folgenden sollen die Konflikte mit den USA, aber auch das balancierende Auftreten Deutschlands in der Russlandpolitik etwas genauer anhand des Ukraine-Konfliktes beleuchtet werden.

Die deutsch-amerikanischen Auseinandersetzungen in der Ukraine-Politik

Es wurde bereits angedeutet, dass es sich bei der NATO keineswegs um ein widerspruchsfreies Bündnis handelt. Der Ausspruch der US-amerikanischen Diplomatin Victoria Nuland „Fuck the EU“ bringt die Widersprüche innerhalb des Bündnisses auf den Punkt. Zu den Auseinandersetzungen zwischen den USA und Deutschland rund um die Entwicklungen in der Ukraine wurden bereits viele gute Ausarbeitungen publiziert. Daher sollen hier nur ein paar wichtige Ereignisse skizziert werden. Dabei wird vorrangig auf die Entwicklungen ab 2020 eingegangen. Zu Beginn werden die deutsch-amerikanischen Auseinandersetzungen rund um den NATO-Beitritt der Ukraine dargestellt.

NATO-Beitritt der Ukraine

Im Zuge der NATO-Osterweiterung drängten die USA beim NATO-Gipfel im April 2008 in Bukarest darauf, die Ukraine und Georgien in den Membership Action Plan (MAP) aufzunehmen. Der MAP wäre für beide Länder der erste Schritt im komplexen NATO-Beitrittsverfahren gewesen. Das Vorhaben der USA scheiterte jedoch am Widerstand Deutschlands. Jörg Kronauer führt für diesen Widerstand mehrere Begründungen an: In halböffentlichen Erklärungen seitens Deutschland hieß es vermehrt, dass man einen eskalierenden Konflikt mit Russland nach Möglichkeit vermeiden wollte. Angeführt wurden die deutsche Abhängigkeit von russischen Energieträgern sowie die auch sonst vielversprechenden deutschen Russland-Geschäfte und nicht zuletzt auch die Chance auf eine gelegentliche machtpolitische Kooperation mit Russland. Die Aufnahme der Ukraine in die NATO hätte diese Beziehungen zu Russland aus deutscher Perspektive verkompliziert.

Kronauer führt jedoch noch einen zweiten, seinen Ausführungen zufolge noch wichtigeren Punkt an. Anfang 2007 hatte Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne und hat ein ambitioniertes Kooperationsabkommen mit der Ukraine auf den Weg gebracht – das spätere EU-Assoziierungsabkommen. Mit diesem Abkommen sollte die Ukraine in die europäische Einflusssphäre gezogen werden. Eine Aufnahme in die NATO hätte nicht nur die Beziehung zu Russland geschädigt, sondern auch die EU-Assoziierung gefährdet und den amerikanischen Einfluss im Land vergrößert. Dies sei nach Kronauer der entscheidende Grund gewesen, weshalb Deutschland den MAP blockierte, mit dem vorgeschobenen Verweis, dass es in der ukrainischen Bevölkerung an Zustimmung für einen NATO-Beitritt mangele.130Kronauer, Jörg (2014): »Ukraine über alles!«. Ein Expansionsprojekt des Westens, S. 73

Unterstützung der prowestlichen Opposition

Die Auseinandersetzungen zwischen den USA und Deutschland zeigten sich auch während der Maidan-Proteste. Der westliche Konsens bestand darin, dass Victor Janukowitsch als Präsident abgesetzt werden müsste und deshalb die Unterstützung eines breiten ukrainischen Oppositionsbündnis notwendig sei. Zwischen den USA und Deutschland gab es allerdings Streitigkeiten, welche oppositionelle Kraft an der Spitze stehen sollte. Deutschland setzte auf Vitali Klitschko und gemeinsam mit ihm auf Petro Poroschenko. Die USA unterstützen den späteren Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk. Während sich Nuland mit ihrem Ausspruch „Fuck the EU“ bei dem US-Botschafter ausließ, war parallel von Helga Schmid, der damaligen stellvertretenden Generalsekretärin des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu vernehmen, dass: „die Amerikaner herumgehen und die EU an den Pranger stellen, wir seien da zu soft“ und dass man „jetzt hier nicht in ein Wettrennen gehen“, „aber das ist wirklich sehr unfair, wenn sie das verbreiten“.131Kronauer, Jörg (2018) Meinst du, die Russen wollen Krieg? Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg, S. 159 f. Nuland sprach weiter davon: „Ich denke, Jaz ist der Typ mit der ökonomischen Erfahrung, mit der Regierungserfahrung. […] Was er braucht, ist: Klisch und Tjahnibok außen vor“.132Kronauer (2014), S. 193 f.

Das Normandie-Format

Eine weitere Auseinandersetzung zeigte sich in dem sogenannten Normandie-Format, das im Juni 2014 auf Regierungs- und Außenministerebene zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine eingerichtet worden war. Aus deutscher Perspektive ging es nach offiziellen Angaben darum, den Konflikt in der Ostukraine beizulegen und dabei als Führungsmacht aufzutreten. In einem Spiegel-Interview sprach Merkel Ende 2022 davon, dass es bei den Minsker Verhandlung lediglich darum gegangen wäre, Zeit für die Ukraine zu gewinnen, damit diese sich aufrüsten kann.133https://www.spiegel.de/panorama/ein-jahr-mit-ex-kanzlerin-angela-merkel-das-gefuehl-war-ganz-klar-machtpolitisch-bist-du-durch-a-d9799382-909e-49c7-9255-a8aec106ce9c Dies lässt stark bezweifeln, dass Deutschland mit dem Normandie-Format den Konflikt wirklich beenden wollte.

Diese Bestrebung zeigte sich auch in den Verhandlungen über das Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015. Diese Verhandlungen sowie die Treffen im Normandie-Format fanden ohne Repräsentanten der USA statt. Diese sicherten sich, so Kronauer, ihren Einfluss allerdings indirekt ab. Durch die amerikanische Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte sowie den aggressivsten Kräften im Land torpedierten sie etwaige Kompromisse zugunsten Russlands. Dadurch hielten die USA im Ukraine-Konflikt weiterhin einen wichtigen Machthebel in der Hand.134Kronauer (2018), S. 160 Diese Situation spitzt Kronauer auf die Einschätzung hin zu, dass Deutschland zwar formal für sich beanspruchen konnte, den Ton in der Ukraine anzugeben, jedoch der enorme Einfluss der USA in der Ukraine der entscheidende Machtfaktor blieb. Die Hintergründe der deutsch-französischen Verhandlungsführungen im Normandie-Format waren geopolitische Debatten, nach denen Deutschland und die EU in den Konflikten um Europa die Führung einnehmen sollten, damit die USA im Kampf gegen China entlastet werden. Nennenswerte Fortschritte im Normandie-Format blieben allerdings aus und Deutschland gelang es nicht, ausreichend Druck auf die Ukraine auszuüben.135Kronauer, Jörg (2022): Der Aufmarsch. Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen, S. 22 f. Im Gegenteil scheiterte der deutsche Versuch 2021 und die USA setzten sich als Führungsmacht durch, übergingen das Normandie-Format und führten eigenständig Verhandlungsgespräche mit Russland. Diese Phase gilt es noch genauer zu untersuchen, hier können nur ein paar chronologisch aufgeführte Eckdaten genannt werden.

Im Dezember 2019 kam es im Elysée-Palast zum letzten Gipfeltreffen in diesem Format, die dort getroffenen Vereinbarungen wurden weiterhin nicht umgesetzt.136https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8805 Fast genau zwei Jahre später, am 08.12.2021, bestätigte Joe Biden, dass die USA ausführliche Gespräche mit Russland über den Ukraine-Konflikt führen wollten. Dabei sollte es um die NATO gehen und das offiziell verlautbarte Ziel der USA sei es gewesen, durch Übereinkünfte die Spannungen mit Russland abzubauen. Mit diesem Schritt beendeten die USA die deutsche formale Führungsrolle im Normandie-Format offiziell.137https://edition.cnn.com/2021/12/08/politics/biden-putin-us-troops/index.html Drei Tage später sprach sich Annalena Baerbock auf dem G7-Treffen in Liverpool gegen das Vorhaben der USA aus. Bei diesem Treffen seien sich nach offiziellen Angaben die Anwesenden, auch der US-Außenminister Antony Blinken, einig gewesen, dass das wichtigste Gesprächsformat das Normandie-Format, der NATO-Russland-Rat und die OSZE seien. Baerbock wurde mit der Aussage zitiert: „Mit ganzer Kraft versuchen wir, die Verhandlungen mit Russland wieder aufzunehmen“.138https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/baerbock-auf-g7-gipfel-mitten-ins-multilaterale-geschaeft-17680121.html Am 21.12.2021 führte Scholz sein erstes Telefonat mit Putin und setzte sich für die Wiederaufnahme von Verhandlungen ein. Zwei Tage später wurde sich mit dem Ukraine-Unterhändler Russlands auf ein Treffen geeinigt.139https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8805 Anfang Januar 2022 reiste Baerbock für ein Gespräch mit Blinken in die USA, in dem sie forderte, dass es „keine Entscheidung über die Sicherheit in Europa ohne Europa“ geben dürfe.140https://www.tagesspiegel.de/politik/baerbock-und-us-minister-blinken-warnen-russland-vor-konsequenzen-6094765.html Knapp einen Monat später, am 07.02.2022, traf sich Scholz mit Biden und zeitgleich kam es zu einem Treffen zwischen Macron und Putin. Ziel des Gesprächs von Macron war es, die EU in die von Russland und den USA geplanten Rüstungskontrollvorhaben einzubinden. Ursprünglich hatte Macron geplant, mit Scholz gemeinsam nach Moskau zu reisen. Dies habe Scholz allerdings abgelehnt, da Deutschland in den Rüstungskontrollfragen nicht auf Augenhöhe mit der Atommacht Frankreich stehe und demnach nicht die Führung in diesen Verhandlungen übernehmen könnte. Stattdessen reiste Scholz nach Washington und am 12.02.2022 schloss sich Deutschland dem US-Ausruf an, dass die Ukraine so schnell wie möglich verlassen werden sollte.141https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8840

Die Wirtschaftssanktionen

Weitere Konflikte im transatlantischen Block entstanden auch bei der Verhängung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland im Sommer 2014. Diese stießen auf den Widerstand des deutschen Imperialismus, da sie aus deutscher Perspektive die engen Verbindungen zu Russland gefährdeten.142Kronauer, Jörg (2014), S. 159 Die von EU und USA am 17. März 2014 beschlossenen Sanktionen beinhalteten Reisebeschränkungen und das Einfrieren der Vermögenswerte einer Reihe einflussreicher Personen aus dem russischen und ukrainischen Establishment. Während Barack Obama ein schärferes Vorgehen gegen Russland forderte, setzte die Merkel-Regierung eher auf eine politische Lösung des Konflikts, um sich die ggf. künftige politische Zusammenarbeit mit Russland nicht komplett zu verbauen.

Deutschland gelang es bis zum Abschuss der Boeing MH17 über den Volksrepubliken, der ohne jeglichem Beweis Russland zugeschoben wurde, harte Sanktionen zu umgehen. Die EU verkündete am 31. Juli 2014 umfassende Wirtschaftssanktionen, die am 12. September 2014 nochmals verschärft wurden und vor allem in den Reihen der deutschen Wirtschaft Widerstand hervorriefen. 2014 kam es einerseits durch die Russlandsanktionen andererseits durch die sich allgemein verschlechternden Bedingungen der deutschen Russland-Geschäfte zu einem Einbruch des deutschen Handels mit Russland. Im ersten Halbjahr ging der deutsche Handel nach Russland um 15,5 Prozent zurück. Im ersten Halbjahr 2014 brachen die deutschen Exporte von Autos nach Russland um 24,4 Prozent ein. Probleme für die deutsche Industrie gab es vorrangig im Maschinenbau, die durch die wachsenden Ausfuhrkontrollen wegen dem sogenannten dual use, also der Möglichkeit Waren für den Rüstungsbereich umzufunktionieren, entstanden. Ein zweiter Einschnitt für Deutschland war der Zugang der russischen Staatsbank zum EU-Kapitalmarkt, der deutlich erschwert wurde. Während die Ausfuhrverbote von Hochtechnologie-Produkte für die Erdölförderung beispielsweise das britische Unternehmen BP und das US-amerikanische Unternehmen Exxon Mobil, das mit dem russischen Rosneft ein Pionierprojekt zur Erdölförderung in der Arktis gestartet hatte, traf, wurden die deutschen Konzerne im Erdgasbereich von den Sanktionen ausgespart.143Ebd., S. 172 ff.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die USA und Deutschland immer um die Durchsetzung der eigenen Macht im Ukraine-Konflikt gerungen haben. Bei der NATO und auch der EU handelt es sich keineswegs um widerspruchsfreie Bündnisse. Stattdessen werden auch innerhalb dieser Bündnisse machtpolitische Auseinandersetzungen geführt. Die USA und Deutschland eint jedoch das Ziel, Russland als potentiell aufstrebenden Staat in der Region zu schwächen. Die Mittel der Schwächung sind immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen den westlichen Staaten. Diese jedoch als Indikator dafür zu nehmen, Deutschland und die USA stünden auf verschiedenen Seiten im Ukraine-Krieg144Eine These, die so u.a. von Schiefer und Schindelbeck (2022) vertreten wird., lässt die Schwächung Russlands als gemeinsames Interesse außen vor.

Thesen und offene Fragen zur Strategie und Entwicklung des deutschen Imperialismus

Die Arbeit hat versucht, einen Überblick über das deutsch-russische Verhältnis sowie die deutsche Bündnispolitik zu geben. Im Folgenden wollen wir thesenartig unseren bisherigen Diskussionsstand abbilden, um eine Debatte darum zu erzeugen und unsere Thesen kritisch prüfen zu lassen. Sie dienen nicht dazu, Positionen zu disqualifizieren, sondern stellen den Versuch dar, von uns identifizierte Lücken in Ansätzen zu schließen. Folgende Annahmen spiegeln unseren aktuellen Diskussionsstand wider:

  1. Die deutsche Russlandpolitik zeichnete sich immer durch eine konfrontative Seite aus und es wäre verkürzt, lediglich die kooperativen Beziehungen hervorzuheben. Die kooperative Seite besteht und bestand immer dann, wenn der deutsche Imperialismus zu geschwächt für eine militärische Auseinandersetzungen war oder Russland sich an den vorgegebenen Rahmen gehalten hat. Der konfrontative Kurs äußerte sich, sobald Russland nicht mehr dazu bereit war, sich in beispielsweise außen- oder wirtschaftspolitischen Entscheidungen unterzuordnen. Die wirtschaftlichen Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern waren v.a. dadurch gekennzeichnet, dass sie zugunsten Deutschlands ausfielen. Für Russland ergab sich im Geschäft mit Deutschland nicht der erhoffte Effekt einer Intensivierung der russischen Industrialisierung und Technologisierung. Dies führte dazu, dass sich Russland zunehmend Richtung China wandte. Geopolitisch zeigt sich die konfrontative Seite dadurch, dass Russland die Expansionspläne des deutschen Imperialismus behindert. Deutschland ist seit Jahren bemüht mit der EU einen Ring EU-freundlicher Staaten zu etablieren (Libyen, Mali, Libanon, Syrien, Ukraine, Belarus und die Türkei). Dieses Vorhaben wurde nicht zuletzt durch Russlands stabilisierende Wirkung in diesen Regionen stark erschwert.
  2. Der zunehmend konfrontative Kurs zeigt, dass es dem deutschen Imperialismus nicht gelungen ist, Russland in seine Expansionspläne zu integrieren und er dabei auf zu großen Widerstand stieß. Die Integration wäre nur durch eine Unterordnung und ein Einbüßen von Handlungsmöglichkeiten Russlands möglich gewesen. Die ‚störende‘ Rolle Russlands verstärkte das deutsche Interesse an einer politischen, ökonomischen und militärischen Schwächung Russlands. Damit wäre die weitere deutsche Expansion Richtung Osteuropa und Zentralasien gesichert. Daher greift es zu kurz, die aktuelle Politik allein durch die USA zu erklären und Deutschland in diesem Prozess als Mitläufer zu sehen, der zu diesem Kurses gezwungen wird.
  3. Für eine verstärkt konfrontative Politik gegen Russland, beispielsweise mit kriegerischen Mitteln, sind die USA und Deutschland aufeinander angewiesen. Eine Stärkung der Bündnispartner ist in der Pivot to Asia Strategie der USA ein wichtiger Baustein, damit sie ihre Politik gegen China erfolgreich führen können. Dies bedeutet auch eine zunehmend autonome EU, die in der Lage ist, den USA in Europa, aber auch in anderen Weltregionen, den Rücken freizuhalten. Die USA können sich so auf China fokussieren und gleichzeitig ihren Einfluss in anderen Regionen sichern. Deutschland ist seinerseits auf die Kapazitäten der NATO angewiesen, um seinen Einfluss steigern zu können. Durch das politische gewähren lassen der EU, durch die USA, erhält der deutsche Imperialismus einen größeren Handlungsspielraum, seine Interessen durchzusetzen. Dies soll nicht die extremen Spannungen und Konflikte negieren, die zwischen Deutschland und den USA existieren.
  4. Ein Bruch mit der NATO ist für Deutschland auf absehbare Zeit nicht möglich, unabhängig von der politischen Kraft, die an der Macht ist. Dies erklärt sich allein aus den im Vergleich zu geringen militärischen Fähigkeiten, um international wirklich eigenständig auftreten zu können oder auch größere militärische Konfrontationen eigenständig durchzuführen. Deutschland will Führungsmacht werden und verfolgt dieses Ziel mit der NATO. Der deutschen Imperialismus strebt eine Position auf Augenhöhe mit den USA im transatlantischen Bündnis und eine klar (militärisch) dominierende Rolle in Europa an. Um dies zu erreichen, nutzt Deutschland seine Stellung innerhalb der NATO, aber auch innerhalb der EU. Die EU dient ihm, um Druck auf die USA auszuüben, indem Deutschland stärker darauf setzt, die Fähigkeiten in der EU aufzubauen und unabhängiger von den USA agieren zu können. Die NATO dient dem deutschen Imperialismus als Mittel, um innerhalb der EU seine politischen Interessen durchzusetzen und z.B. den Druck auf Frankreich zu erhöhen.
  5. Der deutsche Imperialismus nutzt die sich international verschärfende Stimmung aus, um seine massiven Aufrüstungspläne voranzubringen Dies ermöglicht nicht zuletzt auch die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland, die von der Politik befeuert wird. Eine Aufrüstung, wie wir sie aktuell erleben, wäre in dieser Weise vor dem Krieg nicht möglich gewesen, da die Militarisierung in Deutschland ein heikles politisches Thema ist. Der Krieg ist somit zum Sprungbrett geworden, um militärisch aufzuholen und dadurch näher an die Position einer Führungsmacht zu rücken.
  6. Damit der deutsche Imperialismus seine Politik gegen Russland steigern kann und so eine Führungsposition erhält, müssen die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland reduziert werden. Dies betrifft im Besonderen die Energiebeziehungen. Nord Stream I und II waren seit Beginn der Planung ein umstrittenes Projekt in der deutschen Politik. Das Projekt war in Bezug auf die Gaslieferung von vornherein aufgrund der ausgearbeiteten nationalen Wasserstoffstrategie als ein temporäres angedacht. Zudem wurden parallel die Energiebeziehungen mit den USA ausgebaut, um ein zweites Standbein zu haben.

Wie in der Einleitung beschrieben, können wir mit dem bisher erarbeiteten Wissensstand über die Debatte innerhalb der deutschen Kommunistischen Bewegung zwei sich gegenüberstehende Extreme herausarbeiten, die hier in einer sicherlich verkürzten Weise wiedergegeben werden: Auf der einen Seite werden sehr stark die Abhängigkeiten des deutschen Imperialismus von den USA betont, die dazu führten, dass Deutschland in den Krieg gedrängt wurde. In diesem Extrem wird die Eigenständigkeit des deutschen Imperialismus zunehmend in Frage gestellt. Auf der anderen Seite gibt es die Position, die den zwischenimperialistischen Konflikt zwischen Deutschland und den USA in den Vordergrund stellt und die Eigenständigkeit des deutschen Imperialismus stark betont. Beide Positionen überschneiden sich in der Annahme, dass es im Ukraine-Krieg vor allem darum gehe, die deutsch-russischen Beziehungen zu kappen und den deutschen Imperialismus so zu schwächen.

Beide hier angerissenen Positionen haben ihre Richtigkeit. Auf Grundlage unseres jetzigen Wissensstandes und den eben zusammengefassten Annahmen müssen aus unserer Sicht diese beiden Richtungen stärker zusammengedacht und in ein richtiges Verhältnis gesetzt werden, anstatt sie zu stark gegeneinander zu diskutieren. Wir sehen einerseits eine Schwäche darin, dass in der Debatte teilweise zu stark historisierend argumentiert wird – dies findet sich beispielsweise häufiger bei Autoren der KAZ sowie dem ihnen nahestehendem Akteuren (z.B. Eva Niemeyer, Gretl Aden, Renate Schiefer und Stephan Schindlbeck). Der zu starke historische Blick kann dazu führen, die konkreten Entwicklungen zu übersehen und sich in geschichtlichen Analogieschlüssen zu verlieren. Allerdings wird von diesen Akteuren immer wieder ein sehr wichtiger Faktor hervorgehoben, nämlich die Gefahr, das Potential und die Stärke des deutschen Imperialismus zu vernachlässigen. Erkennbar ist in der Debatte der Kommunistischen Bewegung definitiv eine verhältnismäßig geringe Beschäftigung mit dem deutschen Imperialismus. Vor diesem Hintergrund müssen jedoch die kontinuierlich erfolgenden Arbeiten der KAZ hervorgehoben werden, die diese Lücke schließen wollen. Für uns ist allerdings feststellbar, dass die Rolle und Funktion der NATO sowie die faktischen Bedingungen des deutschen Imperialismus darin teilweise nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Die andere Extremposition, die einen sehr starken Fokus auf die USA legt und die wie Werner Rügemer innerhalb der Kommunistischen Bewegung und Sevim Dagdelen innerhalb der linken Sozialdemokratie dem deutschen Imperialismus eine beinahe vollständige Abhängigkeit von den USA konstatiert, betont richtigerweise die Stärke der USA und deckt einige Schwächen Deutschlands auf. Allerdings werden hier die Abhängigkeiten der USA vom deutschen Imperialismus auf geopolitischer Ebene ignoriert und auch die Spielräume, die Deutschland hat und faktisch ausnutzt kleingeredet.

In unserer bisherigen Arbeit sehen wir noch viele offene Fragen, an die man in Zukunft anknüpfen müsste. Dies betrifft z.B. die geopolitische Konfliktlinie zwischen Deutschland und Russland. Zwar haben wir mehrfach von dem Projekt des Rings EU-freundlicher Staaten gelesen, allerdings können wir noch nicht ausreichend einordnen, welche Konflikte es in den einzelnen Ländern genau gibt und wie Russland in diesen auftritt. Aktuell zeigt sich dies z.B. in dem Vorhaben, die Bundeswehrtruppen aus Mali abzuziehen. Hängen diese Entwicklungen mit dem Krieg in der Ukraine zusammen? Geht es darum sich militärisch klar auf Russland fokussieren zu können? Oder hat der Abzug andere Gründe? Längerfristig braucht es eine intensivere Beschäftigung mit den deutschen Expansionsplänen im Allgemeinen und der Rolle von Bündniskonstellationen wie die NATO und der EU im Speziellen.

Noch nicht ausreichend beleuchtet wurde auch die Entwicklung, dass Deutschland von den USA in den Krieg hineingeschoben wurde. Gründe dafür, dass Deutschland anfangs eher zögerlich auf den Kriegseintritt reagiert hat, sind mit Sicherheit die gesellschaftliche Situation in Deutschland und der zum Teil fehlende gesellschaftliche Rückhalt für eine aggressivere kriegerische Politik. Dieser konnte durch die Eskalation zunehmend geschaffen werden. Ein weiterer Faktor ist, dass es für Deutschland auf militärischer Ebene neben den Atommächten USA, Frankreich und Großbritannien sehr schwierig ist, die Führungsrolle einzunehmen. Dies gilt es jedoch noch besser zu durchdringen, um die These, Deutschland sei in diesen Krieg gezwungen worden, abschließend prüfen zu können.

Ungenügend dargestellt ist auch die deutsche Bündnispolitik. Genauer zu betrachtende Entwicklungen wären die Aufrüstungspläne Polens und das politische Abwenden Deutschlands von Frankreich. Auf den ersten Blick erscheint es so, dass Deutschland sich auf die NATO fokussiert und ihre EU-Pläne depriorisiert. Gleichzeitig wird von Seiten der NATO Polen eine wichtigere Rolle zugesprochen, was als taktischer Schachzug der USA gegen Deutschland verstanden werden kann. Dies wirft die Frage auf, welche Entwicklungen sich innerhalb der NATO abzeichnen: Lässt sich mit der Entwicklung in Polen aktuell eine Kräfteverschiebung innerhalb der NATO beobachten sowie eine von den USA forcierte stärkere Spaltung der EU? Daran schließt sich die Frage an, wie und mit welchen Mitteln Deutschland darauf reagieren wird.

Die Debatte braucht ebenso eine tiefere Beschäftigung mit der Frage nach den wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs. So wird häufig betont, dass die deutsche Industrie extrem vom fehlenden Gas aus Russland betroffen sei und das deutsche Exportmodell nun zusammenbrechen könnte. Ob es auch Ebenen gibt, auf denen Deutschland aktuell von dem Krieg wirtschaftlich profitiert, müsste herausgearbeitet werden. Ebenso müsste der Frage nachgegangen werden, ob es sich nicht vielmehr um eine langfristige geplante Transformation der deutschen Wirtschaft handelt, die sich durch den Krieg einfach beschleunigt hat. In diesem Zusammenhang muss die deutsche Wasserstoffstrategie, in der die Gasimporte eine Brückenlösung für die mittelfristige Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen bilden, genannt werden, die in unserer Arbeit eine Lücke darstellt.

Wir hoffen jedoch mit unserer Ausarbeitung und den hier aufgestellten Thesen einen Diskussionsaufschlag zu geben. Wir freuen uns über kritische Anmerkungen, um Lücken und Fehler in der hier erarbeiteten Argumentation zu schließen. Die Untersuchung zur besseren Einschätzung des deutschen Imperialismus, die für die Erarbeitung von Kampforientierungen in diesem Land unverzichtbar ist, muss kontinuierlich und langfristig im gemeinsamen Austausch erfolgen. Dieser Aufgabe müssen wir uns als Kommunistische Bewegung stellen.

Anhang

Daten zur Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen

Ausfuhr

2014 lag die Gesamtausfuhr deutscher Waren der unten aufgeführten Warensystematiken bei ca. 29 Milliarden Euro. In Folge der Sanktionen brach sie in den beiden Folgejahren auf ca. 21 Milliarden Euro ein, ehe ab 2017 bis zum Beginn des Ukrainekrieges ein stabiles Niveau von ungefähr 25-27 Milliarden Euro Exportwert gehalten wurde, lediglich 2020 im Rahmen der Coronapandemie sank die Ausfuhr um ca. 13%. 2022 mit Beginn der Militäroperation sank der Ausfuhrwert deutlich auf knapp unter 15 Milliarden Euro. Davon betroffen waren unter anderem die Steckenpferde der deutschen Industrie, sprich Maschinenbau, Fahrzeuge/Kraftwägen sowie die chemische Industrie. Einzig der Export pharmazeutischer Erzeugnisse konnte von 1,8 Milliarden auf 3 Milliarden Euro steigen.

Einschränkungen: der Datensatz besteht aus 30 Warensystematiken, zur Energieversorgung gibt es keine Daten. 2023 wird in der Gesamtbetrachtung außen vor gelassen, da es nur Daten bis einschließlich April gibt.

Warensystematiken enthalten: Erzeugnisse der Landwirtschaft und Jagd, Forstwirtschaftliche Erzeugnisse, Fische und Fischereierzeugnisse, Kohle, Erdöl und Erdgas, Erze, Steine und Erden, sonstige Bergbauerzeugnisse, Nahrungsmittel und Futtermittel, Getränke, Tabakerzeugnisse, Textilien, Bekleidung, Leder und Lederwaren, Holz und Holz Kork Korb Flechtwaren ohne Möbel, Papier, Pappe und Waren daraus, Kokereierzeugnisse und Mineralölerzeugnisse, Chemische Erzeugnisse, Pharmazeutische und ähnliche Erzeugnisse, Gummi und Kunststoffwaren, Glas und waren, Keramik, Steine und Erden, Metalle, Metallerzeugnisse, Datenverarbeitungsgeräte, elektr. u. opt. Erzeugen., Elektrische Ausrüstungen, Maschinen, Kraftwagen und Kraftwagenteile, Sonstige Fahrzeuge, Möbel, Sonstige Waren

In folgender Monatsbetrachtung für 2022 zeigt sich noch einmal der drastische Rückgang des Exportvolumens. Mit dem Beginn der Sanktionen Ende Februar/Anfang März 2022 sind die Exporte jeder Industrie zurückgegangen, die einzige Ausnahme bilden hierbei pharmazeutische Produkte, deren Ausfuhrwert im August bei 392 Millionen Euro lag. Im Januar und Februar bei 213 bzw. 242 Millionen.

Einfuhr

Im Gegensatz zur Ausfuhr ist der Wert der Einfuhr nicht konstant, sondern verläuft eher kurvenförmig zwischen 20 und 37 Milliarden Euro. Dabei steht und fällt die Gesamtsumme mit der Einfuhr von Erdöl und -gas. Mit durchschnittlich 19,3 Milliarden Euro pro Jahr (2014-2022) ist diese Warensystematik die wichtigste und macht ca. 60% der gesamten Einfuhren der BRD von Russland aus. Die beiden anderen wichtigen Systematiken sind Metalle – 2022 mit 4,65 Milliarden Euro dem höchsten Ausfuhrwert seit 2014 – sowie Kokereierzeugnisse und Mineralöle.

Hier zeigt sich, dass der Einfuhrwert russischer Waren immer höher war (außer 2020), als der exportierte Gegenwert. 2022 wurden trotz Sanktionen die dritthöchsten Einfuhren seit 2014 erzielt. Allerdings sind die Grafen nicht inflationsbereinigt und beziehen die Preisentwicklung pro Gewichtseinheit nicht ein.

Der folgende Graph zeigt Einfuhrwert der drei wichtigsten Importgüter im Verhältnis zum importierten Gewicht: Kokereierzeugnisse, Erdöl und Erdgas, Metalle.

Die gepunktete Linie ist der Einfuhrwert, die durchgezogene das Einfuhrgewicht. Während 2015 und 2016 der Preis für eine Tonne Erdgas oder Erdöl bei größerer Einfuhr sank, zeigen sich entgegengesetzte Trends für 2021 zu 2022. Vor allem bei den Metallen, deren Preis pro Tonne schon immer über 1.000€ lag, zeigt sich der erhöhte Preis 2022 deutlich.

Der folgende Graph zeigt den Ausfuhrwert der drei wichtigsten Importgüter im Verhältnis zum importierten Gewicht: Chemische Erzeugnisse, Kraftwagen und -teile sowie Maschinen.

Gepunktet: Einfuhrwert, durchgezogen: Einfuhrgewicht

Sehr proportionales Verhältnis, lediglich sehr starker Werteinsturz bei nicht so stark sinkendem Ausfuhrgewicht

Chronik zu den deutsch-russischen Beziehungen

Die Chronik findet sich in einem gesonderten Beitrag.

Quellen

Kommentare

2 Kommentare

  1. Ein wichtiges Problem der Analysen scheint mir die Identifizierung von nationalstaatlichen mit Kapitalinteressen zu sein.

    In welchen Nationalstaaten sitzen welche Großkapitale und in welchen deren Eignerinnen und welche Beziehungen haben sie zu den jeweiligen Nationalstaatsapparaten? Wie ist ihre Beziehung zu national basierten kleineren und mittleren Kapitalen, die bei der Umsetzung imperialistischer Politiken “mitspielen” müssen?

    Inner-nationale Konstellation zur Zeit des Zweiten Weltkriegs: Als Zuliefer- und Hilfsunternehmen der Großindustrie wie auch als Handels- und Dienstleistungsunternehmen für Lohnabhängige verfügen nicht-monopolisierte Kapitale mit der monopolisierten Großindustrie ihrer jeweiligen Nation und den Löhnen der dort Arbeitenden über sicherere Einnahmequellen als ohne sie. –> Gemeinsames imperialistisches Interesse.

    Heutige Konstellation: Weitergehende transnationale Verflechtung der Großindustrie, Verlagerung industrieller Produktionen ins Ausland (die transnationale Verflechtungen von Finanzkapitalen erfordert und fördert). Dadurch geraten national basierte nicht-monopolisierte Kapitale – Zuliefer- und Hilfsunternehmen der Großindustrie – in zusätzliche Konkurrenz zu nicht-monopolisierten Kapitalen anderer Nationen und in wachsende Gegensätze zum Monopol- und Finanzkapital. Dessen transnationale Erweiterung schadet national basierten nicht-monopolisierten Kapitalen mehr als sie nützt, wenn durch sie die Inlandsnachfrage eingeschränkt wird und/oder allzu viele ausländische nicht-monopolisierte Kapitale Konkurrenzkämpfe in Zulieferer- und Hilfsbranchen gewinnen. –> Bruch zwischen Großkapital/Staatsapparat einerseits national basierten Kapitalen andererseits.

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