Wir spiegeln hier die Kurzbeiträge der Teilnehmer des Podiums I des Kommunismus-Kongresses 2023, die in der Zeitung zum Kongress veröffentlicht wurden.
Podium I: Samstag 07.10.23, 13:00 Uhr
Arnold Schölzel, Jörg Kronauer, Dimitrios Patelis
Der Abstieg des US-Imperialismus sowie eine sich verändernde Weltordnung ist in der Debatte der Kommunistischen Bewegung ein konstantes Thema. In diesen Diskussionen geht es häufig um den Charakter der VR China und einer sich entwickelnden sogenannten „multipolaren Weltordnung“. Häufig scheint es dabei gesetzt zu sein, dass die USA absteigen, sich die Weltordnung bereits verändert oder dies in absehbarer Zeit tun wird. Mit Blick auf die Geschichte der USA und der amerikanischen Weltordnung fällt jedoch auf, dass es mindestens seit den 1970ern wiederkehrend eine Diskussion über einen Abstieg der US-Herrschaft gibt. Stichwörter sind der Vietnamkrieg, die Öl-Krise, die Asienkrise, die Weltfinanzkrise 2008/2009, die verlorenen Kriege in Irak und Afghanistan usw. In Reaktion darauf gab es Veränderungen im Herrschaftssystem der USA, wie die Ablösung des Bretton-Woods Abkommens, Verlagerungen von US-Truppen, Veränderungen beim IWF und anderen Finanzinstitutionen – die Vormachtstellung der USA an sich blieb jedoch unangetastet.
Es stellt sich also die Frage, ob heute etwas anders geworden ist. Können BRICS und andere internationale Bündnisse Gegenspieler sein, die die US-Herrschaft soweit herausfordern, dass die USA diese Herrschaft nicht mehr retten kann? Was würde dies für den Imperialismus insgesamt bedeuten und was lässt sich konkret über einen „Multipolarismus“ mitteilen? Was haben wir bezüglich kriegerischer Auseinandersetzungen zu erwarten? Auf dem ersten Podium unseres Kongresses wollen wir uns diesen Fragen widmen und konnten dafür drei spannende Referenten gewinnen. Durch kurze Einblicke in ihre Standpunkte zu den Themen des Podium möchten wir einen Vorausblick auf die Diskussion bieten.
Neue Sophismen
Arnold Schölzel war bis 2016 Chefredakteur der jungen Welt und ist Chefredakteur des RotFuchs. Der promovierte Philosoph ist langjähriges Mitglied der DKP und schreibt regelmäßig zur politischen Einschätzung des Ukrainekriegs.
Krieg ist nach Clausewitz und Lenin die Fortsetzung einer bestimmten Politik mit anderen Mitteln, nämlich denen des Zwangs und der Gewalt. Lenin sah darin eine richtige, wissenschaftliche These, weil es in ihr um die Klassenkräfte geht, die eine jeweilige Politik bestimmen. Er wandte sich daher 1915 gegen die Auffassungen Plechanows und Kautskys, der Weltkrieg habe nichts mit der Politik der Vorkriegszeit zu tun, er sei gewissermaßen ein bedauerlicher Unfall der Geschichte, und warf ihnen vor, die materialistische Dialektik durch Sophistik zu ersetzen: „Die Dialektik verlangt die allseitige Erforschung einer gegebenen gesellschaftlichen Erscheinung in ihrer Entwicklung sowie die Zurückführung des Äußerlichen und Scheinbaren auf die grundlegenden Triebkräfte, auf die Entwicklung der Produktivkräfte und den Klassenkampf.“ (LW, Seite 211)
Lenin kritisierte aber 1916 auch den Mangel an Dialektik in Rosa Luxemburgs „Junius“-Broschüre. Er unterstützte sie bei der Zurückweisung der These von der „Vaterlandsverteidigung“, der fast alle Parteien der II. Internationale gefolgt waren. Er lehnte aber ihre Auffassung ab, deswegen nationale Befreiungskriege im Imperialismus für ein „Phantom“ und letztlich für unmöglich zu erklären. (LW 22, Seiten 314/315). Seine Gegenthese: Jeder imperialistische Krieg kann in einen nationalen, jeder nationale Krieg in einen imperialistischen umschlagen.
Seit dem Eingreifen Russlands in den Krieg der Nationalisten und Faschisten, die 2014 vom Imperialismus in Kiew an die Macht gebracht wurden, tauchen Sophismen der von Lenin genannten Art in der kommunistischen Bewegung erneut auf. Die von einigen Parteien vertretene Behauptung, es handele sich auf beiden Seiten um einen imperialistischen Krieg, ist ein solcher Sophismus. Die Analyse der KPRF oder der RKAP oder anderer Parteien stört dabei offenbar nicht. Mit Internationalismus hat das nichts zu tun, aber sehr viel mit Spaltung.
Die Tatsachen besagen Mitte 2023: Zahlreiche Länder des globalen Südens folgen mehr der konkreten Analyse. Sie treten für eine Verhandlungslösung ein, die der Imperialismus im Frühjahr 2022 vom Tisch gefegt hat. Es deutet sich die Bildung mindestens zweier politischer Lager an. Dazu gehören: Die Mehrheit der UN-Vollversammlung, die BRICS-Staaten, etwa 35 Länder der 55 Staaten umfassenden Afrikanischen Union, der Vatikan und große Teile der Bevölkerung in den imperialistischen Staaten. Deren Meinung kommt nur in Umfragen zum Ausdruck oder manifestiert sich auf Kundgebungen: 50 000 in Berlin am 25. Februar, Zehntausende bei den Ostermärschen.
Das andere Lager bilden rund 30 Mitgliedstaaten von EU und NATO plus etwa weitere 15 Länder. Sie verfolgen das Ziel, Russland dauerhaft zu schwächen und zu kolonisieren. Die Herausbildung des Friedenslagers wird zu Recht als Niederlage des Westens betrachtet. Russland hat sich mit seiner Aktion vom 24. Februar 2022 militärisch verkalkuliert, der Westen hat offenbar einen strategischen Fehler begangen – beginnend mit der NATO-Osterweiterung Mitte der 90er Jahre und der Aufrüstung der Ukraine zu einem antirussischen Vorposten. Die Fehlkalkulation ist mit der des deutschen Imperialismus in beiden Weltkriegen vergleichbar.
Der neue Schematismus ist ein Ausdruck des von Domenico Losurdo so bezeichneten „Westlichen Marxismus“. Unkenntnis und Missachtung der kolonialisierten Völker und ihrer Kämpfe ließen diesen um 1900 entstehen – mit der Ausnahme des „östlichen Marxismus“ Lenins. Aber mit der außerordentlichen, bis heute stattfindenden Entwicklung Chinas, so Losurdo zu recht, geht das „kolumbianische Zeitalter“ zu Ende, werden erstmals rechtlich gleiche Beziehungen für die Mehrheit der Staaten möglich. Und sie nutzen diese neuen Spielräume. Die Kommunisten sollten dieses Ende einer 500jährigen Geschichte nicht verpassen.
Der Krieg gegen die Hegemonie des euroatlantischen Machtblocks hat begonnen
Dimitrios Patelis ist Professor für Philosophie an der Technischen Universität Kreta, Mitglied der World Antiimperialist Platform und des griechischen „Kollektiv des Kampfes für die revolutionäre Vereinigung der Menschheit“.
Die traditionellen Hegemonialmächte – also Nordamerika unter Führung der USA, die Europäische Union unter Führung Deutschlands und das japanisch geführte fernöstliche Machtzentrum – greifen inzwischen zu immer gewaltförmigeren Mitteln der Umverteilung ihrer Einflusssphären, aber auch der Umverteilung ihrer Kontrollmöglichkeiten über unbotmäßige Staaten oder andere politische Akteure und Bündnisse. Durch hybride Beeinflussung oder direkte militärische Einmischung streben sie danach, die Entfaltung eines alternativen Entwicklungspols auf der Erde zu vereiteln, ja überhaupt beliebige Möglichkeiten alternativer Entwicklung zu verhindern. Sie sind bestrebt, mit aller Macht die Herausbildung von Subjekten jeglicher alternativer Varianten der wirtschaftlichen, politischen, militärischen, selbst kulturellen Tätigkeiten verschiedener Länder und Völker zu blockieren.
In meinen Augen handelt es sich also bei diesem Krieg nicht um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, nicht einmal zwischen Russland und der NATO, sondern um einen beginnenden Krieg gegen den Hegemonialanspruch des alten – noch starken, aber im Abstieg befindlichen – euroatlantischen imperialistischen Machtblocks, der insbesondere in den letzten 30 Jahren der Welt seine neoliberale Ordnung aufzuzwingen vermochte.
„Im Abstieg befindlich“ ist nicht im militärischen Sinne gemeint, denn da steht bekanntlich ein gigantisches Potenzial bereit, das bis zuletzt ausgereizt werden wird, worin die große Gefahr der aktuellen Konfrontation liegt. Es ist vielmehr gemeint im Sinne des Verlustes seiner wirtschaftlichen Position im globalen Kräfteverhältnis – gegenüber dem anderen, aufsteigenden Pol.
Hat der endgültige Abstieg der USA begonnen?
Jörg Kronauer ist Journalist, Mitherausgeber der Nachrichtenseite german-foreign-policy und Autor zahlreicher Bücher – u.a. zum Machtkampf zwischen USA, China und Russland.
Dieser Frage stellte sich Samuel Huntington, der Direktor des Center for International Affairs an der renommierten Harvard University, Ende 1988 in einem Beitrag für die US-Fachzeitschrift Foreign Affairs. Die Tatsache, dass die US-Wirtschaft schwächer werde, treibe zur Zeit viele um, stellte Huntington fest. Hieraus zögen nicht wenige den Schluss, dass mit dem ökonomischen auch der politische Einfluss der USA schrumpfen werde. Zudem werde darauf hingewiesen, dass die wirtschaftliche Schwäche aus einem übermäßigen Militärhaushalt resultiere, den die Vereinigten Staaten benötigten, um ihre globale Macht zu sichern – ein klassisches Zeichen „imperialer Überdehnung“. Traf das zu? Unfug, meinte Huntington. Es stimme, dass keine Macht auf Dauer die Weltpolitik dominieren könne. Manche Staaten schafften dies aber außerordentlich lange. Der Harvard-Professor war sich nach reiflicher Überlegung vollkommen sicher: Die USA zählten dazu.
Vorläufig hat Huntington mit seiner Prognose Recht behalten. Der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Ost- und Südosteuropa und vor allem der Zerfall der Sowjetunion haben es den Vereinigten Staaten ermöglicht, sich eine zeitlang zur global dominierenden Supermacht aufzuschwingen. Bis vor kurzem konnte den USA niemand wirklich Paroli bieten – nicht die deutsch dominierte EU, mit der die herrschende Klasse der Bundesrepublik so gern zur Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA aufsteigen würde, und erst recht keine andere Macht. Inzwischen ändert sich das. Der Grund ist der Aufstieg Chinas. Dessen Wirtschaft ist, wenn man sie nach Kaufkraftparität misst, schon heute stärker als diejenige der USA; in absoluten Dollarwerten wird sie es wohl um das Jahr 2030 herum sein. Der Volksrepublik gelingt es zunehmend, auch technologisch mit den Vereinigten Staaten gleichzuziehen; sogar in einem Krieg, warnen US-Militärs, könnte sich Beijing mit einiger Wahrscheinlichkeit gegen Washington behaupten. Und: Auf lange Sicht haben 1,4 Milliarden Chinesen, sofern sie technologisch gleichziehen können, ein in jeder Hinsicht größeres Potenzial als 330 Millionen US-Amerikaner. Ihr Gewicht brachte noch kein Rivale der USA auf.
Hat also jetzt wirklich der endgültige Abstieg der Vereinigten Staaten begonnen, der schon des öfteren vorhergesagt wurde, aber nie eingetreten ist? Klar ist: Washington hat den Kampf dagegen aufgenommen. Es hat einen Wirtschaftskrieg gegen China gestartet; es versucht, die USA zu reindustrialisieren; es bringt sich militärisch offensiv gegen die Volksrepublik in Stellung; es sammelt Verbündete in Asien, und es dringt darauf, dass auch seine Verbündeten in Europa gegen Beijing die Reihen schließen. Die Spannungen eskalieren, und mit ihnen steigt die Kriegsgefahr.
Krieg tobt bereits jetzt in der Ukraine – faktisch zwischen Russland und dem Westen, der Kiew gegen Moskau mit allen Mitteln unterstützt. Nicht ohne Grund; denn gelänge es ihm, Russland zu besiegen, dann wäre ein anderer Rivale ausgeschaltet, und man müsste nicht mehr damit rechnen, dass er im großen Kampf gegen China Beijing unterstützt. Im Ukraine-Krieg ist nun aber das Unerwartete geschehen: Der Globale Süden unterstützt die westlichen Mächte nicht, beteiligt sich nicht an den Russland-Sanktionen, weigert sich, Moskau zu isolieren. Er wagt, wenn man so will, den politischen Aufstand gegen die bisherige westliche Dominanz. Für Washington verkompliziert das zusätzlich den Versuch, seinen Abstieg zu verhindern; er kommt näher.
Die Texte der Referenten wurden für diese Zeitung verfasst, nur der Text von Dimitrios Patelis ist ein Zitat aus: „Die ukrainische Phase eines dritten Weltkriegs? Interview mit Dimitrios Patelis“, in: Marxistische Blätter (4) 2022, S. 1-12.