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Interview: „In einem Konflikt zwischen zwei Räubern werden Kommunisten nicht eine Seite wählen“

Tibor Zenker zum Imperialismus als Weltsystem, zur Rolle Chinas und Russlands und zum Krieg in der Ukraine.

Wir haben mit Tibor Zenker, dem Vorsitzenden der Partei der Arbeit (PdA) aus Österreich, einen Podcast gemacht, der auf unserer Website in Gänze zu finden ist. Ausschnitte daraus geben wir hier in Schriftform wieder. Der Fokus dieses Auszugs liegt auf dem Imperialismusverständnis, der Stellung von Russland und China in der Welt, der Einschätzung des Krieges in der Ukraine und den Differenzen innerhalb des kommunistischen Lagers.

Sind die Aggression der USA und ihrer Verbündeten das bestimmende Moment in der aktuellen Situation oder geht es nicht auch um eine Rivalität zwischen aufsteigenden und etablierten imperialistischen Mächten? Häufig wird die momentane Situation auch mit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs verglichen. Würdest du sagen man kann diesen Vergleich so ziehen?

Generell sind solche Vergleiche bis zu einem gewissen Grad bequem und ich würde davon grundsätzlich eher Abstand nehmen. Wichtiger ist genau zu analysieren, wie das Hier und Jetzt ausschaut und nicht in historischen Analogien zu denken. Es mag nachvollziehbare Parallelen geben, aber eben auch markante Unterschiede. Wenn man an 1914 denkt, dann haben wir es heute z.B. definitiv mit mehr Akteuren zu tun und außerdem auch mit globalen Verhältnissen. Man darf nicht vergessen, dass der Erste Weltkrieg schlussendlich vornehmlich ein europäischer Krieg war. Meines Erachtens ist der Schlüssel zum Verständnis das Gesetz über die ungleichmäßigen Entwicklungen im Kapitalismus. Wir haben es mit aufsteigenden und regionalen Mächten zu tun, die ihren Platz an der Sonne einfordern – ökonomisch, politisch und in letzter Instanz militärisch.
Wir befinden uns im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, das muss aber nicht immer nach demselben Schema ablaufen. Die besondere Aggressivität der USA und von Teilen der NATO ist zweifellos die Hauptgefahr für den Frieden. Sie sind die Hauptkriegsverbrecher – nicht Russland. Diese Aggressivität hat meines Erachtens ihre Ursache im ökonomischen Abstieg der USA. Die Imperialmacht verteidigt ihre Stellung vermehrt militärisch, weil ihr immer weniger andere Möglichkeiten bleiben. Zugespitzt könnte man formulieren: Der verbliebene Rüstungsvorsprung, die Waffenarsenale und ihre weltweite Einsatzfähigkeit bieten genau jenes Argument, warum man den US-Dollar überhaupt noch als seriöses Zahlungsmittel akzeptiert. Kurz gesagt, die militärische Karte – oder weiter gedacht der direkte Großmachtkonflikt und der drohende Weltkrieg – muss keineswegs zuerst von der aufstrebenden Macht ausgespielt werden. Das hat auch damit zu tun, dass wir kein klassisches Kolonialsystem mehr haben wie zu Lenins Zeiten und auch noch in den Jahrzehnten danach. Die Stellungen, die hier verteidigt oder angegriffen werden, sind ein bisschen subtiler.
Aufstrebende Mächte haben andere Möglichkeiten. Trotzdem, wenn er nicht verhindert wird, dann kommt es am Ende zum großen imperialistischen Krieg. Aber ich würde mein Geld eigentlich nicht darauf verwetten, dass der Krieg von China oder Russland begonnen wird oder bereits begonnen wurde. Ich denke, dieser Krieg wird von der Pole-Position aus geführt und das natürlich mit Provokationen, um gegebenenfalls öffentlich etwas Anderes behaupten zu können. Das heißt für mich unterm Strich, dass die globale US-Aggressivität bestimmend ist. Und ich weiß schon, dass ich da ein Problem minimiere, das anderswo ein größeres ist. Aber sie ist eben auch das Ergebnis der ungleichmäßigen Entwicklung und der von anderer Seite angestrebten Neuaufteilung der Welt.

Und wie würdet ihr die Rolle Russlands und Chinas einschätzen? Ist da ein imperialistischer Pol im Entstehen, der sich als ebenbürtiger Rivale neben den USA etablieren will?

Natürlich gibt es in einem globalen System – und das ist der Imperialismus – eine entsprechende Konkurrenz zwischen den USA und ihren Verbündeten. Deren Interessen fallen nicht immer zusammen. Ebenso ist es mit Russland und China. Jedes imperialistische Bündnis ist ein Zweckbündnis. Es gibt ein russisches Monopolkapital sowie eine russische Finanzoligarchie mit allen zwingenden Konsequenzen: internationaler Kampf um Einflusssphären, Ressourcen, Transportwege, Investitionsmöglichkeiten, geopolitische Positionen. Das ist bekannt.

Bislang ist der russische Imperialismus im Gegensatz zum US-Imperialismus vornehmlich an seinen eigenen Grenzen besonders ambitioniert. Doch grundsätzlich besteht der expansive Drang. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass Russland ihn ohne chinesische Hilfe umfassender realisieren kann.

Ich will aber noch etwas zu bedenken geben: Gegenwärtige Bündnisse müssen nicht Bestand haben. Selbstverständlich gibt es auch Bruchlinien, sogar regelrechte Sollbruchstellen in der NATO und in der EU. Und auch die sogenannte transatlantische Partnerschaft ist nicht für die Ewigkeit bestimmt. Aber der Ukrainekrieg und die allgemeine Frontstellung gegen Russland verdecken das gegenwärtig. Das ist ein wichtiger Bonus für die USA.

Trotzdem denke ich, dass zwischenimperialistische Verhältnisse rascher an Dynamik gewinnen können, als es statisch betrachtet wirken mag. Um noch einmal präziser zu antworten: Nimmt man China und Russland zusammen, dann haben die USA bereits einen weitgehend ebenbürtigen Rivalen und ich denke, das weiß man in Washington am besten.

Woran machst du den expansiven Charakter Russlands denn fest?

Ich denke, dass dieser expansive Charakter als Tendenz den imperialistischen Staaten gegeben ist, aber immer nach Maßgabe der realen Möglichkeiten. Das österreichische Bundesheer kommt mit EU- und NATO-Unterstützung bis auf den Balkan. Bei Russland geht es um ein bisschen mehr und es geht nicht nur darum, etwas zu verteidigen, sondern etwas zurückzugewinnen. Denn die Ukraine oder zumindest der größte Teil der Ukraine ist 2014 verloren gegangen, nachdem es bereits in den Jahren davor ein bisschen unentschieden war.

Im Prinzip ist es auch, was Kasachstan betrifft, nicht ganz so einfach. Da haben auch verschiedene Akteure ihre Hände im Spiel. Darüber hinaus gibt es auch das Eingreifen in Syrien, das eindeutig außerhalb der ehemaligen Sowjetunion liegt. Syrien ist von besonderer Bedeutung, denn dort hat die russische Flotte im Zweifelsfall einen Mittelmeerhafen.

Ich habe jetzt nur die militärische Seite betrachtet, da geht es sehr wohl langsam, aber sicher auch über die Nachbarschaft hinaus. Ich glaube, ökonomisch sind wir da schon längst. Das wird gerne klein geredet, um zu beweisen, dass Russland gar kein imperialistischer Staat ist. Aber natürlich gibt es eine nennenswerte russische Finanzoligarchie mit allen möglichen Verstrickungen, Investitionen und einem entsprechenden Kapitalexport. Auch in Europa und in Österreich wissen wir das sehr genau. Sehr große Konzerne sind mit der Russischen Föderation verbunden.

In Russland und China sind die ökonomischen Verhältnisse und auch die Rolle des Staates in gewisser Weise anders gelagert als in den westlichen Ländern. Kann man bei Russland und China trotzdem von Imperialismus sprechen?

Unterm Strich wüsste ich nicht, wie es anders einzuschätzen wäre. Es gibt da unterschiedliche Varianten und unterschiedliche Formen, wie man das umsetzt. Aber im russischen Fall habe ich eigentlich keine Zweifel, dass man von einem imperialistischen Staat sprechen kann. Es ist im Prinzip alles vorhanden, wenn man die Merkmale Lenins auf einzelne Staaten anwenden will. Ich weiß, dass das nicht unbedingt common sense ist. Aber es besteht überhaupt kein Zweifel, dass sie alle gegeben sind. Insofern halte ich es für relativ müßig, Russland den imperialistischen Charakter absprechen zu wollen. Die Tatsachen sprechen meines Erachtens für sich.

Ich glaube, dass man Illusionen anhängt, wenn man Russland den Imperialismus abspricht oder falschen Hoffnungen oder auch Symptomschmerzen hat, die seit 1991 unangebracht sind. Diese Rolle spielt Russland sicher nicht und man sollte auch nicht glauben – das ist ja das Naivste überhaupt –, dass wenn Russland irgendwo auf der Welt einen Gegenpart zu den USA darstellt, dass das aus antiimperialistischen Gründen passiert. Natürlich passiert das aus zutiefst imperialistischen Gründen. Wenn das dann doch eine Auswirkung hat, mit der man mitgehen kann, wie etwa in Syrien, dann ist das eine Scheinkorrelation. Aber das ist weder die Ursache noch der Grund, aus dem Russland agiert. Russland agiert nicht antiimperialistisch, sondern im Interesse des russischen Monopol- und Finanzkapitals. Das ist für mich ganz klar.

Anders als die USA und ihre Verbündeten überziehen China und Russland die Welt nicht mit Krieg, ihre Außenpolitik zielt häufig auf eine softere Einflussnahme. Was bedeutet das?

Ich denke, dass die USA im Wesentlichen ihren Pool an Verbündeten haben und dabei sind, ihre Position im System zu verteidigen. Wie ich schon sagte, mit einer entsprechenden militärischen Aggressivität. Russland und China hingegen verfügen natürlich auch über eine Handvoll traditioneller Verbündeter, aber über wesentlich weniger. Und neue Verbündete bauen sie sich im Wesentlichen gerade erst auf, v.a. in den Staaten der sogenannten ‚Dritten Welt‘ und nur vereinzelt in Europa. Das macht man auf eine andere Weise als mit mit Bombardements.

China – und auch Russland bis zu einem gewissen Grad – suchen sich ihre Verbündeten mit den soften Methoden, mit Kooperation vordergründig. Hintergründig werden auch ökonomische Abhängigkeiten geschaffen, das ist eine Tatsache. Aber am Ende geht es darum, diesen Pool auch um entsprechende Verbündete zu erweitern. Ich denke, dass in vielen Fragen, bei vielen Ländern, die durchaus eine größere Relevanz haben, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Ist es deiner Ansicht nach plausibel, dass man von einem imperialistischen System mit einer von oben nach unten abgestuften Rangordnung gegenseitiger Abhängigkeiten spricht? Oder ist die Situation im Wesentlichen doch eine ähnliche, wie zu Zeiten Lenins, auch wenn es keine formellen Kolonien mehr gibt? Gibt es eine Handvoll faktischer Kolonialmächte, also die Triade Japan – EU – USA und der Rest sind eigentlich abhängige und unterdrückte Länder?

Es ist klar, dass der Imperialismus ein Weltsystem ist, das die ganze Erde erfasst. Das gilt heute sogar noch mehr als 1916 und 1917. Das heißt, jedes Land unseres Planeten befindet sich in diesem System. Und jedes Land hat in diesem System auch eine Position abhängig von seinen politischen, ökonomischen und militärischen Potenzen.

Es gibt trotzdem imperialistische Hauptmächte, die auch die Haupträuber sind, die sich einen Großteil der Monopol- bzw. Extraprofite aneignen. Sie sind es, die ihre Macht mehr oder minder global zur Geltung bringen können, auch wenn sie über keine oder fast keine direkten Kolonien mehr verfügen. Möchte man diese Gruppe benennen, könnte man die G7 in Betracht ziehen, wobei das, wenn man sich den Haupträuber anguckt, fast schon wieder zu groß ist.

Am anderen Ende des Systems gibt es durchaus eine Vielzahl von Ländern, die in der Entwicklung sehr weit zurückstehen und daher vornehmlich zu Opfern der imperialistischen Mächte werden. Und dazwischen gibt es eine ganze Reihe kleinerer imperialistischer Staaten, zu denen ich z.B. auch Österreich zählen würde. Diese haben nur limitierte oder regionale Bedeutung und sind auf größere Verbündete und Bündnisse wie EU und NATO angewiesen. Was zweifellos eine gewisse Abhängigkeit impliziert. In dem Bereich gibt es auf jeden Fall eine Art Doppelcharakter, den wir, die Österreicher, hervorheben.

Das imperialistische Weltsystem hat also logischerweise eine Hierarchie, eine Rangordnung und tatsächlich ergeben sich dabei auch wechselseitige Abhängigkeiten. Insbesondere bei der Verfügung von wichtigen Rohstoffen. Japan, durchaus eine Großmacht, ist z.B. das Paradebeispiel einer rohstoffarmen imperialistischen Hauptmacht. Insbesondere am Beispiel von Erdöl zeigt sich, wie rückständige Länder, die darüber verfügen, ihre Position verbessern können. Und natürlich am besten noch, wenn man sich organisiert wie in der OPEC. Auf dieser Basis kann man zu einem relevanten Kapitalexporteur und Investor aufsteigen, wie es z.B. die Vereinigten Arabischen Emirate oder Saudi-Arabien zeigen. Insofern könnte man sagen, es besteht auch für die USA als Hegemonialmacht eine gewisse Abhängigkeit von diesem Öl und gewissermaßen auch von deren Dollarreserven. Aber als imperialistische Hegemonialmacht holt man sich im Zweifelsfall bis heute das, was man braucht, mit Gewalt – siehe Irak oder Libyen. Insofern würde ich die gegenseitige Abhängigkeit als limitiert begreifen, nämlich nach Maßgabe der restinstanzlichen allgemeinen Entwicklungen.

Wenn die ganze Welt imperialistisch ist, sind dann alle Staaten imperialistische Staaten, nur in unterschiedlicher Ausprägung? Wenn man das bejaht, dann entledigt man sich so nebenbei natürlich brennender Fragen, die sich Lenin gestellt hat. Zum Beispiel: Ist Russland überhaupt ein imperialistischer Staat? Ich bin mir nicht sicher, wie viel damit gewonnen ist. Zugespitzt gesagt: Was nützt es Haiti oder die Zentralafrikanische Republik zu imperialistischen Staaten zu erklären? Dass es sich um bürgerlich-kapitalistische Staaten, um Klassengesellschaften handelt, ist klar. Vielleicht gibt es auch größere Kapitalisten und Kapitalexport im geringen Ausmaß. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass beide sehr weit unten in der zentralen Rangordnung stehen und Ziele imperialistischer Interventionen von imperialistischen Großmächten sind.

Für problematisch halte ich es, in diesen Fällen dann die Legitimation nationaler Befreiungskämpfe in Abrede stellen zu müssen. Damit würde ich doch ein gewisses Standbein des Antiimperialismus negieren. Also unterm Strich bin ich sehr wohl dafür, die Haupträuber, also die imperialistischen Großmächte zu benennen und ebenso die regionalen Mächte. Ich kann die imperialistische Ausplünderung der jugoslawischen Länder durch Österreich nicht vom Tisch wischen, weil umgekehrt vielleicht irgendein kroatischer Investor ein Projekt in Wien unterhält oder an einem österreichischen Unternehmen beteiligt ist. Und ich kann es auch deshalb nicht, weil natürlich nicht alle Staaten im gleichen Ausmaß imperialistisch sein können, gerade weil es ein Weltsystem ist. Imperialismus bedeutet Extraprofite, Ressourcen-Aneignung, Investitionssphären und Marktanteile in anderen Ländern. Das kann nicht für alle gleichermaßen funktionieren. Es können schließlich auch nicht alle Menschen der bürgerlichen Gesellschaft Kapitalisten sein. Ein solches Imperialismusverständnis käme – natürlich nicht intentional – wieder ins Fahrwasser des Ultraimperialismus.

Wir haben zum besseren Verständnis die Rangordnung, wenn man so will das Pyramidenmodell des Imperialismus. Das funktioniert im Wesentlichen auch und muss nicht in irgendeinen Gegensatz zu Lenin gestellt werden. Und trotzdem hat die Pyramide einen Fehler. Die Pyramiden von Gizeh stehen schon seit viereinhalbtausend Jahren in der Wüste und das unveränderlich. Einer der wesentlichsten Punkte des Imperialismus ist doch, dass sich die Steine bewegen, dass sie nach oben oder nach unten wandern können. Mir ist jetzt keine echte Pyramide bekannt, bei der das möglich wäre. Das heißt für den Marxismus-Leninismus ist nicht nur wichtig die Statik, sondern die Dynamik zu erfassen und auch zu beschreiben. Damit sind wir wieder beim Gesetz der ungleichmäßigen politischen und ökonomischen Entwicklung. Vor dem Hintergrund können wir aktuelle Haupträuber benennen, wir können aber auch absteigende und aufstrebende Mächte beobachten, die auf eine Klärung des Ungleichgewichts drängen. Das bedeutet, dass wir nicht fertig mit unserer Imperialismusbetrachtung sind, wenn wir nur die G7 oder die USA im Auge haben. Es bedarf der Betrachtung und Einbeziehung der BRICS-Länder und weiterer Akteure. Warum ist das jetzt gerade wichtig? Hierin liegt wieder das begründet, was uns gegenwärtig antreibt – nämlich die Frage des imperialistischen Kriegs.

Eins sei in diesem Kontext auch noch einmal erwähnt: Wer glaubt, dass eine multipolare Weltordnung der Friedenssicherung dient, hat meiner Meinung nach sehr wenig verstanden. Sie ist in Wirklichkeit das komplette Gegenteil, nämlich der unweigerliche Ausgangspunkt für neue zwischenimperialistische Konflikte und Kriege, die dadurch angekündigt werden.

Seht ihr gerade noch nationale Befreiungskämpfe in der Welt und welche Rolle spielen sie für das imperialistische Weltsystem? Und ergeben sich durch die multipolare Weltordnung nicht doch Spielräume und kann dadurch nicht eine Situation entstehen, die für den Kampf der Arbeiterklasse eine bessere Situation schafft?

Nationale Befreiungskämpfe haben ihren Zenit gewissermaßen überschritten, denn ihre klassische Form war der Antikolonialismus. Aber die Ablösung des klassischen Kolonialsystems bedeutet nicht, dass Abhängigkeiten und Einflusssphären nicht mehr gegeben gewesen wären. Vor allem, was Afrika betrifft, aber auch große Teile Asiens. Ich glaube nicht, dass das das große Thema ist, das kann es aber durchaus wieder werden. Ich weiß, dass man da verschiedene Schichten unterschiedlich einordnen kann und dass man nicht überall Konsens herstellen können wird.

Es ist auch so, dass der zukünftige Charakter der verschiedenen Bewegungen nicht so eindeutig einzuordnen ist. Vor dem Hintergrund kann man so etwas auch anerkennen und wenn es eine militärische Form annimmt zum Beispiel auch als einen gerechten Krieg bezeichnen, ohne dass man es methodisch für richtig halten muss. Letzteres würde sich zum Beispiel rund um das Thema Kurdistan anbieten.
Was aber auf jeden Fall relevant ist, ist Palästina. Und in einer ganzen Reihe von afrikanischen Staaten haben wir Regime an der Macht, die sich im Wesentlichen nur durch die Unterstützung der imperialistischen Staaten des Nordens halten, die dann Grenzfälle sind. In all diesen Staaten müssen die Kommunisten eine entsprechende Rolle spielen. Ein Beispiel ist Swasiland, wo das ganz besonders zugespitzt ist. Das ist aber auch nicht die klassische Variante.

Zur multipolaren Weltordnung: Es gibt kommunistische Parteien, die sagen, das ist das, was wir verteidigen, dass das ist das, was den Frieden sichert, weil es ein Gleichgewicht schafft. Der Punkt ist, es gibt kein Gleichgewicht im Imperialismus und Kapitalismus, sondern nur die ungleichmäßige Entwicklung. Und wenn sich da neue Mächte einbringen in der sogenannten multipolaren Weltordnung, dann ist das eine entsprechende Gefahr und entsprechende Botschaft an die anderen – nämlich, dass man was zu unternehmen hat. Dementsprechend ist die multipolare Weltordnung gesetzmäßig eher der Anlass für Konflikte. Was aber stimmt, ist, dass zwischenimperialistische Konflikte, aber auch Kriege durch fortschrittliche Bewegungen, revolutionäre Bewegungen, sozialistische Bewegungen, kommunistische Bewegungen auch ausgenutzt werden können. Man muss dabei auch nicht übermäßig moralisch agieren, denn es wäre naiv, solche Widersprüche nicht zum eigenen Vorteil zu nutzen. Man kann es aber auch übertreiben. Ich bin kein Freund der Rojava-Kollaboration mit dem US-Imperialismus, um ein Beispiel zu nennen.

Zum Krieg in der Ukraine gibt es verschiedene oder sogar sehr gegensätzliche Bewertungen. Einige sagen, dass es ein gerechter Krieg sei, weil es sich um einen Verteidigungskrieg handele. Würdet ihr sagen, dass man von einem Verteidigungskrieg sprechen kann?

Wir können diesen Krieg nicht unterstützen und ihn als Verteidigungskrieg einordnen, das erscheint mir geradezu absurd. Ich habe bereits gesagt, Russland ist ein imperialistischer Staat und natürlich ist es ein imperialistischer Angriffskrieg, der auf die Erweiterung der Einflusssphäre und vermutlich auch auf Annexionen abzielt. Ich glaube, dass man nach 30 Jahren zur Kenntnis nehmen muss, dass in Moskau im Kreml nicht mehr unsere Genossen sitzen. Die Russische Föderation ist nicht die Sowjetunion und sie spielt nicht diese Rolle. Das heißt, dass man sie nicht in diesem Sinne zu verteidigen hat. Und die Annahme, das russische Handeln wirke hier oder dort objektiv antiimperialistisch, ist falsch, das ist eher eine zufällige Scheinkorrelation.

Tatsache ist, dass die russische Politik und der russische Staat die Interessen des russischen Monopolkapitals und der Finanzoligarchie markieren und sonst nichts. Ich glaube, es ist auch keine besonders gute kommunistische Herangehensweise in einem imperialistischen Konflikt – und ich betrachte den Ukrainekrieg auch als Stellvertreterkrieg – einfach für das kleinere Übel Partei zu ergreifen. Nur weil der russische Imperialismus dem US-Imperialismus gegenübersteht, ist er ja noch lange kein guter Imperialismus. Einen solchen Imperialismus gibt es nicht. Ich denke auch, dass sich die Kommunisten in aller Regel davor hüten sollten, unbedingt Geopolitik betreiben zu wollen. Unsere Aufgabe ist der Klassenkampf und unsere Standpunkte müssen von den Interessen der Arbeiterklasse bestimmt werden. Da bleibt es unterm Strich dabei: In einem Konflikt zwischen zwei Räubern werden Kommunisten nicht eine Seite wählen. Es handelt sich auf beiden Seiten um einen ungerechten Krieg, um auch diese Einordnung explizit vorzunehmen.

Wenn Russland seine Einflussgebiete verteidigt, also in diesem Fall die Ukraine, dann stellt sich die Frage, aus welchen es das tut. Naja, aus imperialistischen Gründen! Und dann ist es auch ein imperialistischer Krieg. Das erscheint mir recht einfach. Aber offensichtlich gibt es da einen Dissens.

Was die Volksrepubliken betrifft: Das sollte man nicht überbewerten. Man sollte nicht der Illusion verfallen, dass hier etwas besonders Progressives entstanden wäre. Das hat es vielleicht in manchen Elementen am Anfang gegeben, aber das ist vom Tisch und zwar vollständig. Natürlich geht es noch um Bezugnahmen auf die Sowjetunion und den großen vaterländischen Krieg. Damit schmückt man sich. Das macht auch die russische Regierung, aber die ist nun mal definitiv antikommunistisch und antisowjetisch.

Ich würde die Rolle und den Charakter der Volksrepubliken nicht überbewerten. Ich denke, dass es aus russischer Sicht logisch wäre, diese Gebiete vollständig anzugliedern, wenn das möglich ist. Es hat wenig Sinn, die Gebiete so bestehen zu lassen.

Was die Verbesserung der Interessensüberschneidungen und der Kampfbedingungen betrifft: Dem würde ich auch nicht unbedingt folgen. Ein imperialistischer Krieg ist keine wünschenswerte Situation für die Arbeiter, weil es immer die Arbeiter sind, die ins Feld geschickt werden und aufeinander schießen sollen. Die Frage ist, ob sich dann in weiterer Folge die Kampfbedingungen für die Kommunisten und Kommunistinnen in einem ‚befreiten‘ Donbass oder in der Ostukraine verbessern. Da bin ich ein bisschen skeptisch. Der Gegner wäre dann nicht mehr das Kiewer Regime und der oligarchische Schokoladenkönig der Ukraine. Dann wäre der Gegner ungleich größer, nämlich der russische Staat und die russische Finanzoligarchie und im Zweifelsfall die russische Armee. Eine Optimierung schaut für mich anders aus.

Kann man dem Krieg dennoch etwas abgewinnen, weil er einen antifaschistischen Charakter trägt?

Da tue ich mich ehrlich gesagt schwer. Ich denke, dass hier weder ein antiimperialistischer noch ein antifaschistischer Krieg geführt wird. Das Regime in Kiew ist antidemokratisch und nationalchauvinistisch und es ist auf der Grundlage des Maidan-Putsches von 2014 entstanden. Unter diesen Bedingungen ist es, natürlich mit entsprechenden Parteiverboten usw., kein faschistisches Regime. Daran ändern auch das Asow-Batallion oder die Bandera-Verklärung nichts, denn das ist ja eine Äußerlichkeit.

Dass die Bevölkerung des Donbass seit acht Jahren durch das westukrainische Regime mit Krieg bedacht wird, ist eine Tatsache und dass es da einen entsprechenden Widerstand gibt, ist auch logisch. Ich würde aber nicht meinen, dass es ein antifaschistischer Widerstand ist. Heute sind die militärischen Einheiten der Volksrepubliken nur noch Anhängsel der russischen Armee und somit ist es eine komplett neue Situation. Und an den antifaschistischen Imperialismus würde ich auf gar keinen Fall glauben. Das gibt es nicht.

Was wäre denn die richtige Orientierung in solch einer Situation? Mit welcher Stoßrichtung, mit welchen Parolen müssten sich die Kommunisten dort zum Krieg verhalten?

Allgemein ist es immer schwierig Kommunisten in anderen Ländern Ratschläge aufzuzwingen. Aber trotzdem: Ich denke, das ist recht einfach. Die richtigen Parolen wären jene Lenins und Liebknechts. Kommunisten verweigern dem imperialistischen Krieg die Gefolgschaft. Sie verweigern die Vaterlandsverteidigung und sie verweigern den Burgfrieden mit der Bourgeoisie. Sie verschärfen hingegen vielmehr den Klassenkampf und klären die Arbeiterklasse im Land über die Hintergründe des Krieges auf. Ihr Aufruf ist es, die Waffen gegen die eigenen Herrschenden, deren Niederlage sie wünschen, zu kehren und dadurch den Frieden zu erzwingen.

Und ich füge noch hinzu: Sie streben grundsätzlich nach einer Umwandlung des Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg, auch wenn die Voraussetzungen hierfür gegenwärtig nicht gegeben sind. Und das alles gilt nicht nur für die Ukraine und den Donbass, sondern im Prinzip genauso für Russland. So würde ich das sehen.

Kann man sagen, dass der Krieg die Differenzen in der internationalen kommunistischen Bewegung vertieft hat und es aus eurer Sicht den marxistisch-leninistischen Kräften geholfen hat, sich besser vom opportunistischen Lager abzugrenzen?

Ich denke, der Ukraine-Krieg und die Positionen, die damit zu tun haben, haben durchaus manches vertieft; anderes aber auch nur offengelegt, was ohnehin schon da war, aber aus diesen oder jenen Gründen überdeckt oder bewusst nicht thematisiert wurde. Ich meine, dass man z.B. jetzt auch innerhalb der Initiative (gemeint ist die Initiative kommunistischer und Arbeiterparteien Europas, Anm. KO) Differenzen hat und dabei nicht zuletzt mit dem russischen Mitglied (gemeint ist die RKAP, Anm. KO).

Das ist etwas, was dann doch etwas unangenehm ist und nicht das ist, was man sich erhofft oder sogar erwartet hätte. Ob uns das hilft, ist also fraglich. Es muss am Ende helfen, denn es führt ja sowieso kein Weg daran vorbei, das Richtige zu tun und das Richtige zu sagen. Das ist zumindest die Mindestanforderung an uns Kommunisten. Auch wenn das vorübergehend Rückschläge bedeuten mag, muss es in Kauf genommen werden, denn nur das ist die Grundlage, um auch wieder vorwärtszukommen – auf nationaler wie auf internationaler Ebene.

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