Es ging längst nicht „nur“ um ein paar Lohnprozente, sondern um mehr!
Themen: Deutscher Imperialismus

Interview zur Tarifrunde im öffentlichen Dienst
Die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst ist am Montag mit der Annahme des Ergebnisses durch die Tarifkommission offiziell zu Ende gegangen. Zunehmende Arbeitsbelastung und unterfinanzierte Arbeitsbedingungen prägen den Alltag der 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Die Kommunen stehen vor der Herausforderung, den sozialen Abbau zu bewältigen, während die Forderungen nach mehr Personal und besseren Arbeitsbedingungen immer lauter werden. All dies prägte die zurückliegende Tarifrunde. Bis zum 9. Mai ließ ver.di in einer Mitgliederbefragung über das neue Ergebnis abstimmen. Nur eine knappe Mehrheit von 52,2 % stimmte für die Annahme.
Dem Tarifabschluss gingen Aktionen, Veranstaltungen und Streiks voraus. Zwei Genossen, Johannes und Michael, waren aktiv dabei. Wir haben mit ihnen über ihre Einschätzungen, die Situation im öffentlichen Dienst, dessen Funktion für die Kriegsvorbereitung und die Rolle der Gewerkschaftsführung gesprochen.
Wie sind die Bedingungen im öffentlichen Dienst und was waren die zentralen Themen und Forderungen in der Tarifrunde?
Michael: Grundsätzlich ist die Arbeitssituation im öffentlichen Dienst von struktureller Unterfinanzierung, Personalabbau und Arbeitsverdichtung geprägt. Seit Jahren sind steigende Belastung, unzureichende Entlohnung und mangelhafte Arbeitsbedingungen Alltag – von der Kinderbetreuung über die Pflege bis zur Verwaltung. Im Kern stehen wir vor einem gezielten Kaputtsparen öffentlicher Infrastruktur zugunsten kapitalistischer Profitinteressen, Privatisierungen und einer Umverteilung von unten nach oben. Nehmen wir als Beispiel Leipzig, eine stark wachsende Stadt mit verschiedenen sozialen Herausforderungen. Gerade eine solche Stadt ist auf einen gut funktionierenden öffentlichen Dienst angewiesen. Doch hier treten die Probleme besonders deutlich zutage: Im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamts waren im Frühjahr 2024 rund zehn Prozent der Stellen unbesetzt – mit gravierenden Folgen für Kinder und Familien, die auf Unterstützung angewiesen sind. Auch in den städtischen KiTas spitzt sich die Lage weiter zu. Die GEW wies im März 2024 darauf hin, dass die Krankheitsquote unter Erziehern in Sachsen deutlich gestiegen ist. In Leipzig ist die Personaldecke in vielen Einrichtungen so dünn, dass ein geregelter Betrieb kaum noch aufrechterhalten werden kann. Es ließen sich viele weitere Beispiele aus der Pflege oder dem öffentlichen Nahverkehr anführen.
Johannes: Die Forderungen für die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes wurden bereits seit Mitte letzten Jahres formuliert und unter den Aktiven diskutiert. Die Ergebnisse dieser Diskussion wurden an die Bundestarifkommission (BTK) übermittelt, die die finalen Forderungen beschloss. Zentrale Punkte waren: 8 % mehr Lohn (mindestens 350 Euro monatlich), drei zusätzliche freie Tage im Jahr und das sogenannte Meine-Zeit-Konto, ein Lebensarbeitszeitkonto. Die Laufzeit sollte 12 Monate betragen. Darüber hinaus ging es um die wöchentlichen Höchstarbeitszeiten im Rettungsdienst, Schichtzulagen bei Überstunden sowie Nacht- und Wechselschichten. Außerdem sollten die Bedingungen in Ost- und Westdeutschland weiter angeglichen werden, konkret in Bezug auf die Angleichung von Löhnen und Regelungen zur Kündigungsfrist.
Wie verliefen die Verhandlungs- und Streikrunden, und welches Ergebnis liegt letztlich auf dem Tisch?
J.: Die Berichte der BTK zeigen: Die Verhandlungen mit dem Bund und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) verliefen äußerst zäh. Schon in der ersten Runde erklärte die VKA die Forderungen der Beschäftigten für überzogen – ein Gegenangebot blieb aus. Auch in der zweiten Runde ignorierte sie sämtliche Forderungen. In Interviews deuteten VKA-Vertreter eine 36-monatige Laufzeit bei 0 % Lohnerhöhung an, teils mit „bis zu“ 2 % – schriftlich legten sie jedoch nichts vor. Statt freier Tage sollte die Arbeitszeit steigen. Auch in der dritten Runde blieb die VKA unbeweglich und rief zur sogenannten Schlichtung auf. Am Ende lagen 5,8 % Lohnerhöhung in zwei Schritten, 27 Monate Laufzeit, eine „freiwillige“ Erhöhung auf 42 Wochenstunden und ab 2027 ein zusätzlicher Urlaubstag auf dem Tisch. Zentrale Forderungen wie die Ost-West-Angleichung wurden abgelehnt. Das vollständige Ergebnis ist hier einsehbar.
M.: Das Ergebnis stellt eigentlich eine Kapitulation der Gewerkschaftsführung vor dem Druck von Regierung und kommunalen Arbeitgebern dar. Die Inflationsverluste der letzten Jahre werden nicht ausgeglichen, die lange Laufzeit blockiert künftige Kämpfe, und die faktische Arbeitszeitverlängerung ist ein enormer Rückschritt. Dabei war die Streikbereitschaft groß: In Leipzig legten Hunderte aus Kitas, der Straßenreinigung und der Stadtverwaltung die Arbeit nieder. Das Ergebnis ist ein Schlag ins Gesicht.
Wie schätzt ihr das Ergebnis – auch im Hinblick auf kommende Verhandlungen – ein?
J.: Eigentlich ist das Ergebnis eine absolute Katastrophe. Trotz Streikbereitschaft und Unzufriedenheit konnte kein Reallohnausgleich geschweige denn eine Reallohnerhöhung durchgesetzt werden. Die „freiwillige“ Arbeitszeiterhöhung auf 42 Stunden pro Woche ist ein Dammbruch. Hier wurde eine zentrale Errungenschaft der Arbeiterbewegung, der Acht-Stunden-Tag, zurückgedreht, was große Wirkung auf weitere Verhandlungen haben wird. Auch die Forderung nach einer Angleichung des Kündigungsschutzes in Ost- und Westdeutschland wurde abgelehnt. Das bedeutet, dass Beschäftigte, 35 Jahre nach der Annektion der DDR in die BRD, im Tarifgebiet Ost immer noch nicht denselben Kündigungsschutz haben wie ihre Kollegen im Westen.
Ein besonders katastrophaler Punkt ist auch die Regelung zur Übernahme von Azubis: Zukünftig soll die Übernahme mit einer Gesinnungsprüfung verbunden sein. Wenn ich mich kritisch gegenüber dem Staat und seiner Kriegspolitik äußere oder möglicherweise Verfahren deswegen habe, riskiere ich meine Anstellung. Betroffen sind insbesondere all jene, die sich gegen die Unterstützung von Völkermord durch die BRD und den NATO-Kriegskurs gegen Russland aussprechen. Hier wurden also Berufsverbote in großem Stil besiegelt.
M.: Die Verhandlungen zeigen aber noch eine weitere Niederlage: De facto wurde überhaupt nicht auf die Forderungen der Tarifkommission eingegangen. Im Prinzip hat der Staat alles bekommen, was er wollte: Reallohnverlust, repressive Maßnahmen und Arbeitszeitverlängerung. Damit wurden die Weichen für die nächsten Jahre gestellt – alles für die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Die lange Laufzeit verschafft dem Staat zunächst Ruhe in einem Bereich, der für die Kriegsvorbereitung relevant ist. Mit der kleinen Lohnerhöhung will man die Stimmung nicht kippen und den Kaufkraftverlust nicht zu groß werden lassen. Die Gewerkschaftsführung hat dieses Spiel mitgespielt. Die Bundestagswahlen, die parallel zu den Verhandlungen stattfanden, wurden nicht genutzt, um politischen Druck aufzubauen und ein halbwegs annehmbares Ergebnis zu erzielen.
Wie hat sich die Stimmung im Laufe der Verhandlungen verändert und wie wurde das Ergebnis aufgenommen?
J.: Die Stimmung der Streikenden war während der Streiks positiv, aber auch angespannt. Viele waren dann jedoch zunehmend wütend und frustriert über den Verhandlungsunwillen der Arbeitgeber. Es gibt viele Aktive in den Betrieben, zahlreiche Neumitglieder und Interessierte, die zum ersten Mal bei Aktionen oder Streiks dabei waren. haben die Verhandlungen verfolgt und sich solidarisch gezeigt (siehe Stärketest mit fast 250.000 Unterschriften). Es herrschte jedoch auch große Verunsicherung, insbesondere wegen der Bundestagswahlen, die parallel zu den Verhandlungen stattfanden. Wir erlebten, dass die Debatten einerseits härter geführt werden, beispielsweise durch die Forderung nach Einschränkungen des Streikrechts. Andererseits wurden die Themen, die viele Menschen beschäftigen und besorgen, ausgeklammert. Dazu zählen insbesondere die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie die Unterstützung des Völkermordes in Palästina durch die BRD.
M.: Während die Gewerkschaftsführung um einen Kompromiss bemüht war und immer wieder von „schwierigen Zeiten“ sprach, forderte ein erheblicher Teil der Basis mehr Konfrontationsbereitschaft. Insbesondere die Diskrepanz zwischen Kriegsaufrüstung und angeblicher Haushaltsknappheit im öffentlichen Dienst wurde als untragbar empfunden – ein Punkt, den die Gewerkschaftsspitze öffentlich kaum thematisierte. Die Mitgliederbefragung zum Tarifabschluss, an der sich ein Viertel der Mitglieder beteiligte, hat gezeigt, dass viele den Abschluss nicht akzeptieren und weiterkämpfen wollen: Nur 52,2 % hat das Ergebnis angenommen.
Parallel zu den Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst wurde im Eiltempo das größte Militärpaket seit dem deutschen Faschismus verabschiedet. Der öffentliche Dienst spielt eine wichtige Rolle in der Kriegsvorbereitung. War der Zusammenhang von Krieg und Sozialabbau Thema in der Tarifrunde?
M.: Der Staat hat seine Agenda unmissverständlich gezeigt: Nicht Kitas oder Krankenhäuser stehen im Zentrum der Politik, sondern Panzer, Drohnen und Kriegsvorbereitung. Während im öffentlichen Dienst über minimale Lohnerhöhungen gefeilscht wird und viele immer mehr Probleme haben, ihre Miete zu zahlen, werden Konzerne wie Rheinmetall mit Milliarden aus Steuergeldern subventioniert. Wir beobachten eine klare Umverteilung von unten nach oben im Interesse des Monopolkapitals. Diese Entwicklung ist kein Zufall: Der deutsche Imperialismus bereitet sich ökonomisch, politisch und militärisch auf Kriege vor, insbesondere gegen Russland – und benötigt dafür einen entsprechend aufgestellten und zunehmend militarisierten öffentlichen Sektor. Im sogenannten Operationsplan Deutschland werden sämtliche gesellschaftliche Bereiche für den Kriegsfall organisiert.
Der öffentliche Sektor spielt eine wichtige Rolle bei der Kriegsvorbereitung, nicht umsonst wird er als „kritische Infrastruktur“ bezeichnet. Verwaltung und Infrastruktur (z. B. Katastrophenschutz, Energieversorgung, Verkehr, IT-Systeme, Krankenhäuser) werden auf sogenannte „Resilienz“ und „Kriegsfähigkeit“ getrimmt – im Klartext: zivile Strukturen werden dem „Ernstfall“ untergeordnet. Nicht zuletzt war im Gespräch, die Krankenhausversorgung auf den Kriegsfall anzupassen. Schulen stehen zunehmend im Fokus militärischer Einflussnahme: Bundeswehrbesuche zur Rekrutierung sind in den letzten Jahren stark angestiegen. Bestimmte Bereiche des öffentlichen Dienstes sind gesetzlich verpflichtet, ihre Arbeit auch im sogenannten „Verteidigungsfall“ fortzusetzen oder anzupassen. Dies betrifft nicht nur das Militär, sondern auch zivile Sektoren wie Gesundheitsämter, Feuerwehr, Polizei, Verkehrssektor und Teile der Verwaltung, die im Krisenfall als „Staatsdiener“ im Kriegszustand mobilisiert werden können. Dabei geht es nicht nur um die Unterstützung der Bundeswehr, sondern auch um die Aufrechterhaltung der Infrastruktur.
J.: Die DGB- und ver.di-Führung spielen in diesem Thema eine sehr schlechte Rolle: Sie betreiben Standortlogik und legitimieren die Kriege der NATO und Deutschlands. Damit unterstützen sie die Kriegsvorbereitung, die eindeutig den Interessen der Arbeiterklasse in Deutschland und international widerspricht. Ihr Motto lautet: Aufrüstung ja, aber bitte sozial verträglich. Dabei ist klar, dass Krieg und Aufrüstung immer zu Armut und Sozialabbau führen. Unabhängig davon ist der Krieg gegen Russland nicht in unserem Interesse, sondern im Interesse des Imperialismus, der seinen Abstieg mit militärischen Mitteln aufzuhalten versucht.
Während der Verhandlungen vermied die ver.di-Führung es jedoch, über diese Themen zu sprechen. Stattdessen wurde immer wieder betont, dass Deutschland ein so reiches Land sei und es an der Wertschätzung für die Arbeit im öffentlichen Dienst fehle. Abstrakt wurde mehr Geld für Bildung, Erziehung, Gesundheit und Forschung gefordert, während die steigenden Rüstungskosten und das nächste Sondervermögen für den Krieg in den offiziellen Statements nicht kritisiert wurden. Im Gegenteil: Im diesjährigen Ostermarsch-Statement bezog sich der DGB sogar positiv auf die Aufrüstung, da Deutschland schließlich „verteidigungsfähig“ sein müsse. In den Reden aktiver Kolleginnen und Kollegen während der Streiks kam jedoch eher etwas zu diesen Themen zur Sprache. Teilweise wurde der Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Sozialabbau hervorgehoben und betont, dass die beiden Kämpfe unmittelbar zusammengehören. Es haben sich auch einige gewerkschaftliche Initiativen gegründet, z. B. Gewerkschaften gegen Aufrüstung oder Sagt Nein!.
Was nehmt ihr für euch aus den zurückliegenden Monaten mit?
J.: Der Umgang für uns Kommunisten ist nicht immer einfach: Unser Ziel ist natürlich die Verbesserung der ökonomischen Lage der Arbeiterklasse, das ist klar. Langfristig muss jedoch auch eine Organisierung – insbesondere gegen die Kriegsvorbereitung – geschaffen werden. Die bestehenden Gewerkschaften bieten sich hierfür als Massenorganisationen an. In der alltäglichen Arbeit im Betrieb gibt es viel Unterstützung, beispielsweise durch finanzielle Hilfen für Aktionen. Gleichzeitig führen die schlechten Tarifabschlüsse zu Frustration und Desorganisierung. In den Gewerkschaften gibt es viele Antikommunisten; insbesondere Antideutsche besetzen oft wichtige Posten. Gegen diese Kräfte muss man sich behaupten, wenn man gegen die Kriegsvorbereitung oder den Völkermord in Gaza protestiert. Es ist wichtig, sich davon nicht entmutigen zu lassen und einen guten Umgang in der täglichen Praxis im Betrieb und in den Gewerkschaften zu entwickeln. Das ist nicht immer leicht, aber notwendig.
M.: Ich konnte viele Erfahrungen im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen sammeln. In Zeiten, in denen sich viele zurückziehen und nicht über Politik sprechen wollen, ist das besonders wichtig. Es ging längst nicht „nur“ um ein paar Lohnprozente, sondern um mehr. Hier in Leipzig hatte ich einige Gespräche mit Bezug zur DDR. Die sozialen Errungenschaften – wie das Recht auf Arbeit, bezahlbaren Wohnraum, kostenlose Gesundheitsversorgung und kostenlose Bildung – wurden anerkannt und oft als Kontrast zur heutigen Realität benannt, in der all das längst nicht mehr selbstverständlich ist. Zugleich war spürbar, dass die Niederlagen und Demütigungen durch die Konterrevolution vielen noch tief in den Knochen sitzen. Besonders deutlich wurde das an der staatlichen Prioritätensetzung: Während der Staat ohne Zögern Milliarden für Kriegskredite bereitstellt, zeigt er bei berechtigten Forderungen der Beschäftigten keinerlei Entgegenkommen.
Die Tarifrunde hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, dass Kommunisten in den Gewerkschaften aktiv sind. Es wurde jedoch auch klar, dass es einer besseren Vernetzung untereinander braucht, um konsequente Positionen durchsetzen zu können. Sicherlich blieb in vielen Momenten Potenzial ungenutzt, um Streitfragen zu thematisieren, Reden zu halten oder sich anderweitig einzubringen. Aber unterm Strich muss man sagen, dass viele Menschen erstmals auf die Straße gegangen sind und für ihre Rechte gekämpft haben. Das war für mich ein ermutigendes Signal – und zeigt, dass sich etwas bewegt.