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Wunderwaffe oder Teufelszeug – Wie stehen wir zur Corona-Warn-App?

Seit dem 16. Juni ist die offiziell vom Robert-Koch-Institut und der Bundesregierung empfohlene Corona-Warn-App in Deutschland verfügbar. Entwickelt zur Rückverfolgung von Infektionsketten, soll die Applikation dabei helfen, die Ausbreitung von Covid-19 einzudämmen. Das vom Software-Konzern SAP und der Telekom entwickelte Modell misst dabei über Bluetooth die Abstände zwischen den Nutzern und speichert die gewonnen Daten auf den jeweiligen Smartphones. Wird ein Nutzer dann positiv auf das Corona-Virus getestet, kann er diese Information mittels eines Verifizierungsverfahrens in der App vermerken. Daraufhin werden alle anderen Nutzer, deren Apps mit der des Betroffenen aufgrund der Unterschreitung eines bestimmten Abstandes über eine gewisse Zeit Daten ausgetauscht haben, darüber informiert, dass sie Kontakt zu einem positiv Getesteten hatten. In der Folge liefert die App dann auch Tipps, welche Schritte die Betroffenen und Kontaktierten einleiten sollen – vorsorglich in Quarantäne gehen, einen Arzt kontaktieren und so weiter. Die auf die Systeme von Google und Apple gestützte App ist zwar kostenlos, aber mit älteren Smartphones und Betriebssystemen nicht kompatibel, was unter anderem mit den hohen technischen Anforderungen an die Bluetooth-Funktion zusammenhängt.

Die BRD ist bei Weitem nicht der erste Staat, der im Zuge der Pandemie eine Warn-App einführt: über 40 Länder weltweit haben bereits ähnliche Anwendungen. In technischen Fragen unterscheiden sie sich. Beispielsweise werden beim französischen Modell die Daten zentral gespeichert und nicht wie etwa bei der deutschen App dezentral auf den Smartphones der Betroffenen. Auch die politische Umsetzung dieser Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie ist verschieden. In einigen Ländern wie Indien oder China ist die jeweilige App vorgeschrieben, während in der BRD gerade dauerhaft die vollumfängliche Freiwilligkeit zum Download seitens der Regierung betont wird. In Ländern wie Australien oder Singapur sieht man die Maßnahme mehr und mehr als gefloppt an: die erwartete Zahl an Installationen sei nicht erreicht worden und die App zeige nicht die erhoffte Wirkung.

In Deutschland gab es bereits nach dem ersten Tag der Veröffentlichung der Warn-App 6,5 Millionen Downloads, inzwischen sind es über 13 Millionen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/WarnApp/Warn_App.html_09). Verschiedene Medien prognostizieren auch für die nächste Zeit eine steigende Tendenz, wir können also davon ausgehen, dass breite Teile der Bevölkerung der Warn-App grundsätzlich positiv gegenüberstehen.

Diskussion

In den letzten Wochen und Monaten wurde die Einführung einer solchen Corona-Warn-App in Deutschland kontrovers diskutiert. Dabei ging es insbesondere um Datenschutz, also eine Garantie, dass die zur Rückverfolgung von Infektionen notwendigen Aufzeichnungen vor Zugriff durch Hacker, Unternehmen oder den Staat geschützt sind und nicht für andere Zwecke (Ortung von Personen, Erstellung von Bewegungsprofilen und so weiter) missbraucht werden. Für das Thema gibt es in der BRD seit einigen Jahren eine zunehmende Sensibilisierung auch in Teilen des bürgerlichen Lagers, wozu vergangene Vorkommnisse wie der NSA-Abhörskandal verstärkt beigetragen haben. Akteure wie der Hacker-Zusammenschluss „Chaos-Computer-Club“ thematisierten diese Frage in Bezug auf die Warn-App, treffen aber aktuell eine überwiegend positive Einschätzung, was mit der dezentralen Datenspeicherung sowie der Anwendung von Bluetooth statt beispielsweise GPS zusammenhängt. (https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/corona-warn-app-was-netz-experten-zur-app-sagen-a-2d93fe4d-ce6f-448a-8988-f77d7ec32c6a). Allerdings gibt es aus diesen Kreisen auch Stimmen, die nach wie vor datenschutzrechtliche Bedenken haben.

Auf der anderen Seite wird nun eine Forderung laut, die auf der parlamentarischen Ebene von den Grünen und der Linkspartei getragen wird: sie wollen ein Gesetz begleitend zur Warn-App auf den Weg bringen, das davor schützen soll, deren freiwillige Installation zu untergraben. Das wäre etwa der Fall, wenn Restaurants oder Kinos den Besitz der App als bindend erklären, um Einlass zu bekommen oder aber, wenn Unternehmer ihren Beschäftigten die App als Voraussetzung vorschreiben, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Die Grünen werden dazu einen Gesetzesvorschlag in den Bundestag einbringen. (https://netzpolitik.org/2020/gruene-legen-gesetzentwurf-fuer-corona-warn-app-vor/) Wenngleich die Einführung einer solchen gesetzlichen Grundlage nicht verkehrt sein muss, zeigt die Diskussion sehr deutlich den bürgerlichen Klassencharakter der beiden Parteien: sie fordern lediglich die Wahrung der individuellen Entscheidung, die Wahrung der individuellen Möglichkeit, die Warn-App nicht zu installieren. Aber sie sprechen nicht davon, dass es vor allem eine Frage des Geldes und damit auch der Klassenzugehörigkeit ist, wer überhaupt die technische Voraussetzung eines neuen Smartphones hat, um sich die App zu installieren und so an ihrer Möglichkeit der Rückverfolgung von Infektionen teilzuhaben. Es gibt für die ärmeren Teile der Bevölkerung kein Recht auf die Warn-App – und weder Grüne noch Linkspartei haben damit ein Problem.

Noch klarer äußerte sich da die CSU-Staatsministerin Dorothee Bär: „Manchmal ist es auch nicht nur ein soziales Problem. Manchmal ist es auch ein Problem der Bequemlichkeit. […] Die sagen dann, sie seien zu bequem, sich ein neues Handy zu kaufen.“ (https://www.google.de/amp/s/amp.welt.de/politik/deutschland/article209971939/Dorothee-Baer-zu-Kritik-an-Corona-App-Zu-bequem-sich-ein-neues-Handy-zu-kaufen.html). Derlei Kommentare verdeutlichen noch einmal sehr gut den Klassencharakter der herrschenden Politik, die Ignoranz und Feindseligkeit ihrer Vertreter gegenüber der Arbeiterklasse.

In der aktuellen Berichterstattung kommt außerdem häufig die Frage auf, warum es mit der Entwicklung der Warn-App in der BRD so vergleichsweise lang gedauert hat (ursprünglich sollte die Anwendung zu Ostern verfügbar sein). In der Antwort wird dann meist auf eben diese Diskussionen hingewiesen, was uns aber nicht davon ablenken sollte, dass es natürlich in erster Linie der über Jahrzehnte von den Bundesregierungen geführte Sparkurs im Gesundheitswesen war, der auch eine Entwicklung im digitalen Bereich erschwerte.

Bedeutung der App

Wie schätzen wir nun die Corona-Warn-App ein? Fakt ist, dass sie erst einmal die technische Möglichkeit einer Rückverfolgung von Infektionsketten bietet und damit prinzipiell zur Eindämmung von Infektionen mit Covid19 beitragen, also Menschen vor einer Erkrankung schützen kann.

Insbesondere die Arbeiterklasse ist täglich einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt: am Arbeitsplatz, der eben häufig nicht ins Home-Office verlegt werden kann und wo sich die Unternehmer auch nicht um ausreichende Schutzmaßnahmen wie Abstandsregeln scheren; auf dem Weg zur Arbeit in überfüllten Öffentlichen Verkehrsmitteln oder Fahrgemeinschaften; beim Einkaufen oder in den wenigen Stunden Freizeit. Wenn in diesen Situationen eine Warn-App auch nur zum geringen Schutz vor einer Infektion beiträgt, dann halten wir ihre Nutzung für durchaus angebracht.

Stimmen, die in dem Projekt lediglich ein getarntes Werkzeug zur Überwachung der Massen sehen, vergessen, dass unsere mobilen Endgeräte ganz ohne diese spezielle App die ständige Möglichkeit zur Abhörung und Ortung bieten.

Doch es ist auch ein verzerrtes Bild, wenn Teile der Herrschenden die Applikation zum Allheilmittel und zur Wunderwaffe im Kampf gegen die Epidemie erklären. Neben möglichen technischen Mängeln (Stichwort Fehlalarm) und der Sprachbarriere für alle, die nicht der deutschen oder englischen Sprache mächtig sind, muss uns natürlich auch klar sein, dass die Funktionen der Warn-App eben auf Rückverfolgung und Warnungen beschränkt sind. Fehlendes medizinisches Personal, mangelnde Schutzausrüstung, kurzum: ein kaputtgespartes Gesundheitswesen kann auch sie nicht kompensieren.

Das gilt ganz besonders auch für die Corona- Tests: Die App bleibt relativ bedeutungslos, solange nicht endlich umfangreiche Testkapazitäten geschaffen werden, die Infektionen in breiten Teilen der Bevölkerung erkennen können.

Die Corona-Warn-App ist nicht ansatzweise ausreichend, sie deckt auch bei bester Funktionalität nicht den notwendigen, nach wie vor ausstehenden Gesundheitsschutz. Eine Applikation, die lediglich Daten zur Rückverfolgung sammelt und im besten Fall Betroffenen den Hinweis gibt, dass sie infiziert sein könnten und doch zu Hause bleiben sollen, ist erst einmal weniger wirklicher Schutz, als vielmehr die erbärmliche Antwort eines Staates, der seine Bevölkerung vor der Pandemie nicht ausreichend schützen kann und will.

Im Gegenteil müssen wir die Einführung der App auch als Teil der gefährlichen, im Sinne des Kapitals vorangetriebenen Lockerungen verstehen. Nicht umsonst reden die Verantwortlichen jetzt viel über die App als einen Schritt „zurück in die Normalität“. Die Produktion soll unter allen Umständen weiterlaufen beziehungsweise wieder hochgefahren werden – das heißt, die Beschäftigten sollen arbeiten gehen. Gerade weil dadurch eine Einschränkung der Kontakte nur bedingt möglich ist, braucht man zur Kontrolle der Pandemie ein geeignetes Werkzeug, mit dessen Hilfe die Infektionen zurückverfolgt werden können. Ebenso wie Abstandsregeln oder Mund-Nasen-Schutz ist die Corona-Warn-App eine Maßnahme, die auf individueller Verantwortung basiert. Die Produktion, die Ausbeutung der Arbeitskraft, die Profite bleiben unangetastet. Die Außerachtlassung des Kapitals bei Maßnahmen zum Gesundheitsschutz verbunden mit der Abwälzung der Verantwortung auf die Arbeiterklasse und die Volksmassen – das ist der Kern des bürgerlichen Krisenmanagements. Damit versetzen sich die Herrschenden natürlich auch in eine komfortable Lage für den Fall, dass es doch zu einer zweiten Infektionswelle kommt, die möglicherweise viele Opfer fordern wird: Schuld ist dann nicht der Staat mit seinen inkonsequenten Maßnahmen, nicht die überstürzten Lockerungen, sondern jeder Einzelne – weil sie nicht auf genügend Abstand geachtet haben, weil sie keine Masken getragen haben oder eben, weil sie nicht die Corona-Warn-App installiert hatten.

Fazit

Wir halten die Nutzung der Corona-Warn-App also für grundsätzlich richtig. Daraus ergibt sich, dass alle Menschen praktisch die Möglichkeit bekommen müssen, den Schutz, den die App liefert, in Anspruch zu nehmen – also, dass finanzielle oder Sprachbarrieren aus dem Weg geräumt werden müssen. Zahlen sollen – ebenso wie für die laufenden Kosten der App – die Unternehmen. Anstatt SAP und Telekom, den Entwicklern der App, nun Millionen aus Steuergeldern in den Rachen zu werfen, sollte dieses Geld dem Gesundheitswesen und allen von der Krise Betroffenen zugutekommen.

Fest steht aber auch, dass die Applikation die Probleme nicht löst, gar nicht lösen kann. Die Bekämpfung der Pandemie muss auf allen Ebenen stattfinden, solche technischen Entwicklungen können hierbei maximal Hilfsmittel darstellen. Wir müssen die Verklärung der Herrschenden, wonach die Corona-Warn-App DIE Wunderwaffe im Kampf gegen die Pandemie sei, entlarven und ihr unsere Forderungen nach wesentlichen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes entgegensetzen:

  • Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe,
  • Ausbau des Gesundheitswesens,
  • umfangreiche Bereitstellung von Tests und Schutzmitteln,
  • finanzielle wie soziale Unterstützung von Familien, Arbeitern und kleinen Selbstständigen.

All dies bietet die Corona-Warn-App nicht, dafür müssen wir weiterhin kämpfen!

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