Von Fatima Saidi
Die aktuelle Diskussion in der KO zum Konflikt in der Ukraine liegt meiner Meinung nach weniger auf der empirischen Ebene, weniger daran, dass wir ökonomische Kennzahlen wie die Direktinvestitionen Russlands oder die Summe des Militärbudget unterschiedlich benennen oder interpretieren. Stattdessen sind die Differenzen bis auf unsere ML-Grundlagen zurückzuführen.
Zu Beginn möchte ich mich auf die Einschätzung beziehen, dass Russland momentan – gelegentlich wird hier auch eine Allianz mit China genannt – im imperialistischen Weltsystem der aggressiven Vormachtstellung der USA etwas entgegenzusetzen hat, und damit die Lage der Arbeiterklasse verbessert. Russland sei in einer defensiven Rolle und können nicht anders, als der NATO-Aggression mit dem Einmarsch in die Ukraine mit militärischen Mitteln zu begegnen.
Für unsere korrekte Einschätzung der Weltlage und auch die Ableitung unserer Taktik ist es natürlich unerlässlich, sowohl die Schwächen und Stärken des deutschen Imperialismus, als auch der Länder, die auf der Bühne des Weltsystems die größte Rollen spielen, richtig einzuschätzen. Von dieser Analyse aber dazu überzugehen, Partei zu ergreifen für die herrschende Klasse eines Landes, weil es nicht an der Spitze des Weltsystems steht und damit konkurrierende Interessen zur gegenwärtig stärksten Weltmacht hat, ist falsch und widerspricht den Analysen unserer Programmatischen Thesen und den ML-Grundlagen. So schätzen die programmatischen Thesen neben der EU als imperialistischem Bündnis und dem US-Imperialismus als militärisch gefährlichstem imperialistischen Pol auch die BRICS-Gruppe als Teil des imperialistischen Weltsystems ein. Davon abzurücken, heißt zu ignorieren, dass die wesentlichen politischen Konflikte heute in der Welt zwischenimperialistische Konflikte und Ausdruck der im imperialistischen Weltsystem fortlaufenden Neuaufteilung sind. So ist auch der aktuelle Konflikt als Ausdruck der gesetzmäßig ungleichmäßigen Entwicklung der Länder des imperialistischen Systems zu sehen. Aus meiner Sicht ist die zwingende Anwendung dieser Erkenntnisse auf jeden Konflikt des imperialistischen Systems durch Lenin mit folgenden beiden Zitaten ausgedrückt:
„Es fragt sich, welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben außer dem Krieg, um das Mißverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits und der Verteilung der Kolonien und der „Einflußsphären“ des Finanzkapitals anderseits zu beseitigen?“ (Der Imperialismus, LW 22, S. 280)
„Von einer konkret-historischen Einschätzung des gegenwärtigen Krieges kann selbstverständlich keine Rede sein, wenn diese nicht auf einer vollständigen Klarlegung sowohl des ökonomischen als auch des politischen Wesens des Imperialismus beruht. Anders kann man zu keinem Verständnis der ökonomischen und diplomatischen Geschichte der letzten Jahrzehnte gelangen, ohne ein solches Verständnis aber wäre es einfach lächerlich, eine richtige Auffassung vom Krieg erarbeiten zu wollen.“ (Vorwort zu Bucharins Broschüre, LW 22, S.101)
Dabei kann es niemals im Interesse der internationalen Arbeiterklasse sein, sich in diesen Konflikten auf eine Seite der beteiligten imperialistischen Konfliktparteien zu schlagen, weil die Interessen der herrschenden Klassen grundsätzlich antagonistisch zu denen der Arbeiterklasse sind. Mit der Orientierung auf eine herrschende Klasse im Kapitalismus werfen wir den Kampf der internationalen Arbeiterklasse weit zurück. Damit lenken wir von dem einzigen Ziel, dem Sturz der Bourgeoisie und dem darauf folgenden Aufbau des Sozialismus ab. So ist der Aufruf an das deutsche Kapital, weltweiten Frieden herzustellen durch die Kooperation mit Russland, wie es beispielsweise die DKP macht[1], problematisch. Ebenso, die russische Regierung als potentiellen Verbündeten der Arbeiterklasse zu sehen mit dem Argument überschneidender Interessen und Verweis auf die Rolle in Syrien und Zusammenarbeit (Kapital- und Warenexport) mit abhängigen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern. Damit wird der erste Schritt getan, auf die Unterstützung der herrschenden Klasse eines nicht-sozialistischen Staats zu orientieren. Darin verbergen sich deutlich die Gefahren der Illusionen in die Klassenneutralität des bürgerlichen Staats. Damit ist der Schritt zum Fehler der Anti-Monopolistische Strategie der DKP nicht mehr weit.
Eine (scheinbare) kurz- oder mittelfristige Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse wird hiermit im Argument soweit überdehnt, dass schlussendlich taktische Überlegungen dominieren und die Gefahr besteht, dass die revolutionäre Strategie aus den Augen verloren wird.
Stattdessen muss der Fokus immer darauf sein, in Unabhängigkeit von jeder herrschenden Klasse der kapitalistischen Länder für den Sturz des Kapitalismus zu kämpfen. Unsere Solidarität muss für die aktuelle Situation den Völkern der Ukraine und Russlands gelten, die unter dem Austragen eines zwischenimperialistischen Konflikts leiden.
Für die weitere Diskussion finde ich es hilfreich, die Debatte im Rahmen des Austrittsprozesses von Teilen der heutigen KO aus DKP und SDAJ anzuschauen, wie den Artikel „Worum geht es bei den Diskussionen in DKP und SDAJ? Thesen zur Strategie-, Organisations- und Imperialismusdebatte“, mit dem einige Genossen das Konzept des objektiven Antiimperialismus kritisierten. Auch nach dem Austrittsprozess übte die KO in ihrem Text „Zu einigen Problemen und Unklarheiten des Leitantrages an den 23. Parteitag der DKP“ Kritik an „eine[r] Darstellung von China und Russland als Friedensmächten, die auf Kooperation setzen und „objektiv antiimperialistisch“ wirken.
Ein Argument für die eingangs genannten Positionen zu Russland scheint die gegenwärtig aufgeheizte Stimmung in der deutschen Bevölkerung zu sein. Große Teile der linken Bewegung und der Gewerkschaften haben ihre bisherige Haltung für Frieden, gegen die NATO und gegen die Aufrüstung des deutschen Staates über Bord geworfen und organisieren Friedensdemos, die Aufrüstung und Kriegseinsätze fordern. Unsere Hauptaufgabe als deutsche Kommunisten muss deswegen in der Praxis sein, die Hetze des Staates und der Medien zu entlarven und als Teil der Strategie des deutschen Imperialismus, unserem Hauptfeind, einzuordnen. Dazu gehört auch, Veranstaltungen und Kundgebungen zu machen und Diskussionen im Rahmen der Massenarbeit im Betrieb und Stadtviertel anzustoßen. Aus dieser richtigen Konsequenz für unsere Praxis und Agitation dürfen wir aber nicht eine Notwendigkeit für die Position unserer Analysen herleiten. Unsere Analyse, wie der militärische Einmarsch eines Landes in ein anderes Land einzuordnen ist, muss unabhängig von der aktuellen Stimmung des Volks und potentiellen Gefahren in der Agitation sein. Erst im nächsten Schritt dürfen wir uns damit beschäftigen, wie unsere richtige Erkenntnis in eine korrekte Agitation zu übersetzen ist und in eine Taktik, die im Rahmen unserer Strategie liegt.
Obwohl der Fokus auf den oberen Betrachtungen liegen sollte, gibt der folgende Abschnitt einige Schlaglichter zur Einordnung Russlands und das Konflikts in der Ukraine.
Zunächst sollten die Beziehungen Russlands zu den arabischen Ländern im Maghreb-Gebiet und dem mittleren Osten, sowie den ehemaligen Staaten der Sowjetrepubliken genauer betrachtet werden.
Die USA und die EU versuchen seit der Konterrevolution, sich Zugang zu den Ressourcen, den Absatzmärkten für Kapital und Waren und dem geopolitischen Einflussgebiet der ehemaligen Länder der Sowjetunion Zugang zu verschaffen. Um dies zu verhindern, ist die herrschende Klasse Russlands seit der Jahrtausendwende bestrebt, Allianzen auf wirtschaftlichem oder sicherheitspolitischem Gebiet zu schmieden, wie die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit und die eurasische Wirtschaftsunion.
Zu einzelnen Staaten hat Russland dabei besondere Beziehungen, so bestehen mit Israel auf ökonomischer und politischer Ebene enge Kooperationen. Zusätzlich ließ Russland in Syrien gelegentliche Luftangriffe der israelischen Luftwaffe geschehen, die Lieferung von iranischen und syrischen Waffen an die Hisbollah verhinderten.[2]
Gelegentlich wird die Intervention in Syrien gegen die Angriffe der USA als Beispiel für die Überschneidung der russischen Handlungen mit den Interessen der Arbeiterklasse genannt. Wie auch der russische Außenminister 2013 öffentlich klar machte, sollte damit allerdings vor allem den USA eine Lektion erteilt und demonstriert werden, dass der russische Imperialismus nicht mehr ignoriert werden kann. Andererseits ist auch die Überschneidung der angekündigten Absichten mit denen der USA in den letzten 20 Jahren zu sehen, da die herrschenden Klassen beider Länder zum Ziel erklärt haben, sunnitische Dschihadisten in der Region zu bekämpfen. Dafür bot die russische Regierung direkt nach der Ankündigung der USA zum beabsichtigten Krieg gegen den Terror direkt die Unterstützung bei der Besatzung Afghanistans an, wozu es schließlich Westen in den neunziger Jahren als gescheitert herausgestellt hatte, wurden die Beziehungen seitens Russland zu den verschiedenen arabischen Ländern wie Iran oder Syrien wieder bewusst aufgebaut, um sie als Hebel gegen die westlichen Mächte zu verwenden.
Zur Einordnung des russischen Staats gemäß der weiteren Merkmale der Imperialismustheorie nach Lenin bedarf die Interpretation von Kennziffern der heutigen bürgerlichen Statistiken, wie beispielsweise Direktinvestitionen, weiterer Diskussionen. Dafür bietet der aktuell veröffentlichte Artikel in der offen-siv „die Notwendigkeit der Klarheit über die ökonomische Struktur Russlands“ (2022-2) einen guten Ausgangspunkt.
Zuletzt möchte ich mich konkret zu Einschätzungen äußern, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine richtig – im Sinne der Arbeiterklasse – war:
Hier ist für mich nicht nachvollziehbar, wie sich die Lage der Arbeiterklasse in einem Land verbessern kann, indem dort durch Interventionen verursachte Kriegszustände herrschen. Noch im Rahmen der Diskussion um Afghanistan und Kasachstan wurde von einigen Genossen der Schrecken des Kriegs betont, jetzt werden solche Positionen als pazifistisch abgetan. Im Rahmen der Diskussion um das Ende der Besatzung in Afghanistan war für mich das Argument, dass die Kampfbedingungen nach Abzug der USA unter Herrschaft der Taliban verbessert sind, nachvollziehbar: Die Arbeiterklasse eines besetzten Landes muss das Ziel haben, die fremde Macht abzuschütteln. In einem solchen Fall haben natürlich auch nationale Befreiungskriege ihre Berechtigung. Der Konflikt in der Ukraine stellt allerdings sogar ansatzweise die umgekehrte Situation dar, dass die herrschende Klasse eines anderen Landes Soldaten einmarschieren lässt.
Nicht zuletzt ist mit dem Einmarsch der russischen Truppen ein Schritt hin zu deutlich mehr Konfrontation und Aggression getan, dessen Auswirkungen letztendlich potenziell schlimme Konsequenzen für die Arbeiterklasse der gesamten Welt haben können, wenn sich hier die russische Armee einer durch die NATO unterstützten Macht gegenüberstellt.
[1] Z.B. https://www.unsere-zeit.de/frieden-geht-nur-mit-russland-167031/, 18.03.2022
[2] Hamilton, Daniel S.; Meister, Stefan; Relations, Paul H. Nitze School of Advanced International Studies. Center for Transatlantic; Politik, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige: The Russia File: Russia and the West in an Unordered World.: Center for Transatlantic Relations, 2017.