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Zum Zusammenhang von Massen- und Bewegungsorientierung

Beitrag zur Diskussion um den Leitantrag – keine Positionierung der Kommunistischen Organisation (siehe Beschreibung der Diskussionstribüne)

von Thanasis Spanidis

Der Genosse Lenny hat einen ausführlichen Diskussionsbeitrag geschrieben, in dem er begründet, warum die KO und allgemein die KP sich auf den Aufbau von langfristig ausgerichteten Massenorganisationen der Arbeiterklasse fokussieren sollte, die an den unmittelbaren sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedürfnissen der Klasse ansetzen. Die Mitarbeit von Kommunisten in politischen Bewegungen sei demgegenüber eine Ablenkung von den eigentlichen Aufgaben, sie führe uns weg vom notwendigen Fokus auf die Massenarbeit und sei daher nicht sinnvoll. In eine ähnliche Richtung argumentiert der Beitrag von Lip und Fiona Gallagher.

Ich stimme den Genossen zu, dass es richtig ist, den Schwerpunkt unserer politischen Praxis auf den Aufbau von unabhängigen Massenorganisationen, auf eine breit ansetzende, auf langfristige Kontinuität ausgelegte Massenarbeit zu legen. Es ist richtig, dass die meisten Organisationen, die sich der revolutionären Arbeiterbewegung zurechnen, und andere, „postmoderne“, „pluralistisch-linke“ Organisationen wie die Interventionistische Linke sowieso, ihre Praxis darauf beschränken, von einer Bewegung oder Kampagne zur nächsten zu hüpfen. Damit erreicht man nur bereits anpolitisierte Personen mit überwiegend kleinbürgerlichem und oft akademischem Hintergrund. Eine geduldige und systematische Massenarbeit, die die Voraussetzung dafür ist, sich in den breiten Massen des Proletariats zu verankern, ist durch einen solchen Fokus nicht möglich. Hier liegt unser Leitantrag absolut richtig, wenn er den Schwerpunkt weg von einer so verstandenen „Bewegungsorientierung“ und hin auf die Massenarbeit im Wohnviertel, im Betrieb und in anderen Lebensbereichen legt.

Ich denke allerdings, dass Lennys Beitrag deutlich über das Ziel hinausschießt, wenn er die Arbeit in politischen Bewegungen grundsätzlich, auch ergänzend zur Massenarbeit, verwirft und als schädliche Ablenkung einschätzt.

Die Entstehung von Klassenbewusstsein ist ein überaus komplexer Prozess, der sich bei verschiedenen Individuen auf abweichenden Wegen vollziehen kann, jeweils abhängig von den Lebensumständen, die bei einem Menschen zur Politisierung beitragen können. Es gibt nicht den einen linearen Entwicklungsweg zum klassenbewussten Arbeiter oder Kommunisten, der alle anderen Politisierungswege unwichtig machen würde. Natürlich ist es andrerseits auch nicht beliebig, anhand welches Themas jemand sich politisiert; natürlich eignet sich nicht jedes Problem gleichermaßen dazu, Klassenbewusstsein zu entwickeln.

Kommunisten müssen daher an allen Problemstellungen und Themen ansetzen, an denen der Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, also letztlich der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital sich aufzeigen und zuspitzen lässt. Das sind aber eben nicht nur der Arbeitskampf oder der Kampf um bezahlbare Mieten. Es ist auch der Widerstand gegen die Kriegspolitik des deutschen Imperialismus. Es ist der organisierte Selbstschutz und die Solidarität gegen Faschisten und Rassisten, die vom deutschen Staat ausgehalten und hofiert werden. Es kann eine lokale Initiative zur Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf sein, die den antideutschen Reaktionären in der Stadt ihre braune Suppe versalzt und attraktiv für migrantische Jugendliche ist, die im Betrieb gerade schwer organisierbar sind, sich aber über die Ungerechtigkeit von Apartheid, Besatzung und Unterdrückung empören. Und ja, es können auch Bewegungen sein, die zu Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes entstehen und in denen das Bewusstsein dafür geschaffen werden kann, dass auch diese Fragen engstens mit der kapitalistischen Produktionsweise zusammenhängen und nur durch ihren Sturz gelöst werden können.

Sicher, die kommunistische Partei muss ihr Verhältnis zu solchen Bewegungen genau überprüfen und abwägen. Oft sind diese Bewegungen nicht so „spontan“ wie sie behaupten; oft sind kleinbürgerliche und sogar reaktionäre Vorstellungen zu tief in ihnen verwurzelt, als dass es sich lohnen würde, dass wir unsere Kräfte hier investieren. Möglicherweise war „Fridays for Future“ von vornherein eine kleinbürgerliche, elitäre Bewegung unter dem ideologischen Einfluss der Grünen, bei der es unmöglich ist, dass die Arbeiterbewegung hier die ideologische Führung übernimmt. Möglicherweise ist es aber trotzdem möglich, auch im Verhältnis zu solchen Bewegungen Einfluss zu nehmen, um Zehntausende beteiligte Schüler nicht einfach der Manipulation durch eine liberale Kriegsverbrecherpartei zu überlassen. Wir wollen uns ja nun als Organisation mit dem Thema „Klimawandel“ eingehender beschäftigen; in diesem Rahmen können wir uns auch die Frage stellen, wie man auf gesellschaftliche Bewegungen reagiert, die sich zu dieser und ähnlichen Fragen positionieren. Grundsätzlich gilt eben: Die Einschätzung von Bewegungen und die Entscheidung, wie wir uns dazu verhalten, müssen konkret getroffen werden, anstatt es allgemein und grundsätzlich zu beantworten, wie Lennys Beitrag es tut.

Ich will auf einige Punkte eingehen, die der Beitrag von Lip und Fiona aufwirft. Die Genossen argumentieren grundsätzlich, dass der Aufbau von Massenorganisationen entlang von „politischen Bedürfnissen“ nicht sinnvoll sei. Man kann sicher darüber streiten, inwiefern eine Initiative zur Palästina-Arbeit oder ein Antikriegsbündnis „Massenarbeit“ oder Beispiele für „Massenorganisationen“ im klassischen Sinne darstellen. Wichtiger ist jedoch die Frage, ob es grundsätzlich zielführend ist, dass Kommunisten auf dieser Grundlage breitere Bündnisse mit anderen Personen eingehen, gemeinsame Aktivitäten entwickeln und damit zur Politisierung dieser Leute beitragen. Für die Arbeit in solchen Feldern gelten grundsätzlich dieselben Prinzipien wie in der Massenarbeit in Betrieb, Gewerkschaft, Wohnviertel oder Schule: nämlich Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, Aktivität und Solidarität.

Die Argumente der beiden Genossen zu dieser Frage halte ich für wenig überzeugend. Dass so etwas wie „politische Bedürfnisse“ existieren, steht außer Zweifel. Es gibt eben nicht nur ökonomische Interessen und kulturelle/soziale Bedürfnisse, die als Ansatzpunkt für die Organisierung dienen können. Es gibt auch immer ein bestimmtes Personenpotenzial, das zu konkreten politischen Fragen aktiv wird und sich anhand dieser Fragen politisiert. Zu denken, dass man alle diese Menschen durch klassische Massenarbeit (Gewerkschaft, gegenseitige Hilfe, Sozialberatung, Arbeitersport usw.) organisieren kann, ist ein Irrtum. Ihr Interesse, also das, was sie in einen gewissen Widerspruch zur Strategie der Herrschenden bringt, ist eben spezifisch politisch. Soll ihre politische Entwicklung nicht bei einem diffusen reformistischen Bewusstsein stehen bleiben, müssen wir auch für diese Leute Angebote schaffen.

Die Genossen werfen das Thema „Palästina“ als Feld kommunistischer Praxis als Beispiel auf und wollen an diesem Beispiel zeigen, dass auf den Aufbau eigener politischer Bündnisse (hier immer gemeint als Bündnisse von Personen, nicht von Organisationen) zu diesem Thema verzichtet werden kann, da das Thema in der Massenarbeit vollkommen aufgehe. Das überzeugend zu begründen, gelingt ihnen meines Erachtens ebenfalls nicht.

Sie argumentieren erstens, dass das Thema zu wichtig sei, um es einer unabhängigen Form der Organisierung zu überlassen. Bedeutet das denn, dass Themen wie die Lohnhöhe der Arbeiterklasse, die Überwindung der Spaltung der Klasse, Fragen der antifaschistischen Arbeit und all die anderen Punkte, die wir im Rahmen unserer Massenarbeit bearbeiten, weniger wichtig sind? Sind diese Themen weniger politisch? Könnte man dann nicht genauso argumentieren, dass Fragen der Lohnfindung, von Arbeitszeiten und -normen, Entlassungen und Betriebsverlagerungen viel zu wichtig sind, um sie reformistisch bis reaktionär geführten Gewerkschaften zu überlassen? Könnte man dementsprechend nicht den Aufbau kommunistischer Richtungsgewerkschaften damit begründen, obwohl die Praxis immer wieder gezeigt hat, dass diese zur Selbstisolierung der Kommunisten von den Massen führen? Ich denke deshalb, dass dieses Argument letztlich falsch ist. Wir müssen als Kommunisten in der Lage sein, zu verschiedensten Themen unsere Standpunkte offen zur Diskussion zu stellen, sie in den Massenorganisationen auch zu verteidigen und – natürlich – auch das Risiko einzugehen, dass man einen Kampf verliert. Ein Palästina-Bündnis, in dem sich eine äquidistante Position zur Frage des arabisch-israelischen Konfliktes durchsetzt, ist ein Bündnis, in dem die notwendigen Diskussionen nicht oder falsch geführt wurden, ein Bündnis das mit den falschen Personen geschlossen wurde usw. So etwas kann immer wieder passieren. Wenn es nicht möglich ist, für ein anderes Kräfteverhältnis in diesem Bündnis zu kämpfen, sollte man es verlassen und den Kampf in anderer Form fortsetzen. Es aber gar nicht erst zu versuchen, ist kein guter Ansatz.

Zweitens argumentieren die Genossen, dass man diejenigen Personen, die über die Palästina-Arbeit angebunden und organisiert werden können, auch und besser in der „normalen“ Massenarbeit im Wohnviertel organisierbar sind. Auch das halte ich für falsch. Zum einen geht es davon aus, dass die Massenarbeit im Wohnviertel sich immer und unter allen Bedingungen leicht entwickeln lässt, sodass die Voraussetzungen immer gegeben sind, Leute über den Stadtteilverein oder ähnliche Formen zu organisieren. Das muss aber nicht der Fall sein. Für eine kleine Basisgruppe der KO kann es unter Umständen eine mehrere Jahre in Anspruch nehmende Mammutaufgabe sein, eine solche Organisierung im Stadtviertel aufzubauen. Auf dem Weg dahin kann es möglicherweise eine wertvolle Ergänzung sein, neue Sympathisanten und Genossen über ein politisches Bündnis (zu Palästina oder einem anderen Thema) zu gewinnen. Zum anderen ist es aber auch bei diesem Beispiel nicht richtig, davon auszugehen, dass all jene, die bereit und motiviert sind, zum Thema Palästina aktiv zu werden, über die Organisierungsansätze der Massenarbeit zu gewinnen. Es kann viele verschiedene Gründe geben, warum jemand in Deutschland Solidarität mit Palästina organisieren will: Ein eigener arabischer oder gar palästinensischer Hintergrund, moralische Empörung über Unterdrückung und Krieg, persönliche Erfahrungen mit Antideutschen usw. usf. Wenn das der Zugang einer Person zur Politik ist und dazu führt, dass sie sich für ein richtiges und wichtiges Ziel einsetzt, ergibt es überhaupt keinen Sinn, diese Person dann auf die Hartz-IV-Beratung im Stadtteil zu verweisen – um es mal überspitzt zu formulieren.

Ich halte es also für einen Fehler, zu glauben, dass der Aufbau der kommunistischen Partei auf all jene verzichten kann, die sich über im engsten Sinne politische Fragen wie Rassismus, Faschismus, Krieg, internationaler Politik, Armut, Klimawandel oder Repressionen politisieren. Unsere Massenarbeit befindet sich aktuell noch in den Kinderschuhen. Es wird also ohnehin noch einige Zeit dauern, bis wir in großer Zahl neue Genossen aus der Massenarbeit gewinnen werden. Ein zahlenmäßiges Wachstum der KO ist aber auch schon jetzt dringend notwendig. Sonst werden wir auch unsere Aufgaben in der Massenarbeit nicht erledigen können. Wir brauchen also jeden und jede, der bereit und in der Lage ist, unsere Organisation mit aufzubauen. Wir orientieren dabei natürlich auf die Rekrutierung aus der Arbeiterklasse, aber wir sortieren auch niemanden aus, weil er einen kleinbürgerlichen sozialen Hintergrund hat oder weil er über den vermeintlich falschen Weg zum Kommunismus gefunden hat. Sensibel für kleinbürgerliche ideologische Einflüsse, die sich aus der persönlichen Vergangenheit ergeben können, müssen wir bleiben, aber wir begegnen ihnen nicht durch Abschottung und Selbstisolierung, sondern durch unseren wissenschaftlichen Klärungsprozess und eine angemessene Kader- und Bildungspolitik in der Organisation.

Ich denke deshalb, dass wir nicht umhinkommen, uns als KO zu aufkommenden Bewegungen verschiedener Art zu verhalten. Das bedeutet nicht, dass man überall mitmachen muss. Es bedeutet aber, dass man solche Bewegungen unvoreingenommen und nach wissenschaftlichen Kriterien darauf zu überprüfen hat, welche Potenziale zur Entwicklung von Klassenbewusstsein, zur Herausbildung einer Frontstellung gegen Kapitalismus und Imperialismus, zur Herstellung einer organischen Verbindung mit anderen Bewegungen und Massenorganisationen darin stecken und inwieweit es im Rahmen unserer Möglichkeiten ist, diese Potenziale zu entfalten. Letztlich muss es uns um beides gehen: Um langfristige Massenarbeit, auf der sicherlich der Fokus liegen sollte, aber auch um praktisches Engagement zu Themen, die viele Menschen mobilisieren und politisieren. Lässt man die langfristige Verankerung weg, resultiert das in einem Kampagnen-Hopping und opportunistischer Anpassung an die sozialen Bewegungen. Hält man sich dagegen aus Bewegungen grundsätzlich heraus, werden wir zu einer Organisation, die sich zwar vielleicht im Stadtteil und im Betrieb verankern kann, die aber bei zentralen politischen Auseinandersetzungen nicht auf der Straße in Erscheinung tritt und diese damit den bürgerlichen und opportunistischen Kräften überlässt. Beide Extreme sollten wir vermeiden.

Diese Herangehensweise ist nichts Neues. Es ist immer die Herangehensweise der kommunistischen Bewegung gewesen. Die KPD hat sich in der Weimarer Republik schließlich nicht darauf beschränkt, in Gewerkschaften, Arbeitersport- und Gesangsvereinen zu arbeiten. Sie hat auch die Antifaschistische Aktion geschaffen, in der sich Arbeiter über Parteigrenzen hinweg gegen den Faschismus organisieren konnten. Sie hat den Roten Frontkämpferbund, die Rote Hilfe, aber auch Gruppen zum Kampf gegen den Kolonialismus und imperialistische Kriegspolitik unterstützt. Nach dem Krieg entstanden die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und der Demokratische Frauenbund Deutschlands, bis er in der BRD verboten wurde. Die Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung der BRD, den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze, den Abtreibungsparagraphen, den NATO-Doppelbeschluss, die Solidaritätskampagnen mit revolutionären politischen Gefangenen auf der ganzen Welt, der Kampf gegen die südafrikanische Apartheid, die CIA-gestützten Militärdiktaturen und viele weitere Beispiele – all das waren wichtige Auseinandersetzungen, die selbst im reaktionären politischen Klima der BRD Massen mobilisiert haben und in denen die Kommunisten zurecht gearbeitet haben. Ob mit der richtigen Orientierung, ist eine andere Frage, die wir uns stellen und die wir aufarbeiten müssen. Die richtigen Orientierungen müssen wir finden, indem wir Erfahrungen sammeln und diese ständig auswerten. Aber die Arbeit in diesen Bewegungen einfach aufzugeben, ist sicher keine akzeptable Lösung für Kommunisten.

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