von Milo Barus
Die Diskussion um den Konflikt der aktuell in der Ukraine ausgetragen wird fordert nicht nur die Internationale Kommunistische Bewegung (IKB), sondern auch unsere Organisation in besonderer Weise heraus. In der Diskussion um den Charakter des Konfliktes werden innerhalb unserer Organisation Positionen vertreten, die mit unserem bisherigen Imperialismusverständnis brechen, dass stark an die Vorstellungen der KKE angelehnt war. Diese Feststellung soll die entsprechenden Positionen nicht diskreditieren, im Gegenteil leisten sie meiner Meinung nach einen wichtigen Beitrag zur Durchdringung und Klärung der Imperialismusfrage. Wir sollten aufgrund der besonders herausfordernden Situation transparent, geduldig und diszipliniert diskutieren und uns die entsprechende Zeit dafür einräumen. Transparenz heißt, dass wir unsere Gedanken zur aktuellen Debatte miteinander teilen und mögliche Dissense klar benennen. Mit geduldig meine ich, dass wir anerkennen müssen, dass die Auseinandersetzung um die aktuellen Ereignisse eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen wird und eine „wissenschaftliche“ Klärung nicht in wenigen Monaten zu leisten sein wird. Mit Disziplin meine ich, dass wir uns rücksichtsvoll und sachlich austauschen, weder in Zynismus, Arroganz oder Zentrismus verfallen, aber auch unsere Grundlagendokumente nicht außer Acht lassen.
Wie man an den bisher erschienenen Diskussionsbeiträgen erkennen kann, gibt es verschiedene Positionen zum Konflikt, die sich tendenziell in folgende Lager einordnen lassen: Auf der einen Seite stehen Positionen, die die aktuelle Intervention begrüßen, da sie eine reale Verbesserung der Lebensbedingungen für große Teile der ukrainischen und russischen Arbeiterklasse aber auch größere Spielräume für die IKB im Kampf gegen den westlichen Imperialismus eröffnen könnte. Darüber hinaus wird die Selbstverteidigung Russlands und die Wahrung der russischen Sicherheitsinteressen in den Vordergrund gestellt und infrage gestellt, ob Russland imperialistisch ist. Auf der anderen Seite stehen Positionen, die die Parteinahme für einen der beiden „imperialistischen Pole“, trotz des ungleichen Kräfteverhältnis klar ablehnen und für eine Ablehnung der Intervention eintreten und eine unabhängige Organisierung der Arbeiterklasse im Gegensatz zu einem Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie in den Vordergrund stellen. Es gibt in diesem Lager aber auch Positionen, die den defensiven Charakter Russlands anerkennen, die Hauptverantwortung bei der NATO sehen, aber die Unterstützung der Militäroperation trotzdem für falsch halten. Die Positionen des zweiten Lagers vertrat auch die KO in verschiedenen Stellungnahmen, diese wurden durch die Ereignisse in Afghanistan und Kasachstan zuletzt aber infrage gestellt.
Die Frage des Imperialismusbegriffs spielt bei der aktuellen Auseinandersetzung eine zentrale Rolle. Was bedeutet die Vorstellung, dass wir in einem imperialistischen Weltsystem leben, konkret? Bedeutet es das alle Staaten imperialistisch sind? Was absurd zu sein scheint, wenn man sich Länder wie Burundi anschaut. Oder ist das imperialistische Weltsystem so zu verstehen, dass es nur eine Handvoll imperialistischer Länder, namentlich die USA, Westeuropa, Japan, Kanada und Australien sind, welche alle anderen Länder unterdrücken? Aber was wäre dann mit China, Indien oder auch Russland? Die gegenwärtige Entwicklung lässt sich nur schwer durch ein reines Unterdrückungsverhältnis charakterisieren. Sind nicht die Aktivitäten Chinas im Zusammenhang mit der neuen Seidenstraße oder die militärische Rolle Russlands zum Beispiel im Syrienkrieg ein Hinweis darauf, dass sich das Weltsystems nicht ausschließlich als ein System aus Herrschern und Unterdrückten darstellen lässt? Und wie steht es um die Beziehungen der imperialistischen Kernländer zueinander? Sind sie eigenständig, haben aber dieselben Interessen, oder werden sie vom führenden Kernland zur Kooperation gezwungen, oder passiert beides? Und was bedeutet die Unterteilung in Peripherie und Kernland bzw. Zentrum für den Imperialismusbegriff? Ist eine scharfe Abgrenzung des Begriffes überhaupt möglich und wenn ja, wo findet der Sprung vom Kapitalismus der freien Konkurrenz hin zum Imperialismus konkret statt? Reicht es aus hier einfach eine dritte Kategorie, die sogenannte „Halbperipherie“ einzuführen? Oder lässt sich die Komplexität des Systems dadurch nicht fassen und wir brauchen deutlich mehr Kategorien? Beschreibt der Imperialismusbegriff eine diffuse Tendenz zur Expansion des konzentrierten Kapitals und die damit verbundene Verschärfung des Hauptwiderspruchs, welche dann ihren Gipfel in einem Imperium findet, dass beinahe die gesamte Welt beherrscht? Oder meint Imperialismus eben nur diese äußerste Form, die Beherrschung der Welt? Ist es möglich, dass es mehrere Entwicklungsstufen des Imperialismus gibt, beispielsweise eine monopolistische und eine staatsmonopolistische Stufe, in der die Macht der Finanzoligarchie erst vollends zur Geltung kommt? Reicht Lenins Theorie aus, um das heutige Weltsystem zu beschreiben? Oder haben wir es mit einer neuen Qualität des Imperialismus zu tun, dessen Analyse eine Weiterentwicklung von Lenins Theorie voraussetzt? Schließlich war zu Lenins Zeiten die koloniale Beherrschung der Welt durch wenige entwickelte Staaten vorherrschend, während die global agierenden Monopolkonzerne heutzutage nicht nur Kapital, sondern ganze Produktionsstandorte in die Peripherie verlagern. Ich habe keine Antwort auf all diese Fragen und ich vermute, dass es den meisten Genossen ähnlich geht. Das wiederum macht deutlich auf welchen wackligen Füßen unser bisher recht schematisches Verständnis vom Imperialismus steht und dass wir dieses dringend schärfen sollten.
In diesem Beitrag werde ich nicht versuchen eine wissenschaftliche Herleitung bestimmter Positionen zur Imperialismusfrage zu leisten, dies muss die Aufgabe der Gesamtorganisation im Rahme des Klärungsprozesses sein. Ich möchte in diesem Beitrag versuchen Fragen aufzuwerfen, die auf wesentliche Dissense in der Imperialismusdebatte hindeuten. Dafür möchte ich Positionen aus der Kommunistischen Partei der Donezker Volksrepublik (KPDVR) nutzen, die aufgrund ihrer Rolle im Konflikt dazu gezwungen ist, sich sehr konkret zu den Fragen zu äußern die wir oft nur abstrakt diskutieren. Ich möchte aber auch einen Blick auf die Positionen der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) und der Griechischen Kommunistischen Partei (KKE) werfen. Stanislaw Retinskij, Sekretär des ZK der KPDVR hat 2018 in einem fünfteiligen Beitrag mit dem Titel: „Die antiimperialistische Front: Donbass, Syrien, Venezuela“ [1]-[4] eine Sichtweise auf den gegenwärtigen Imperialismus geliefert, die stark von derjenigen der KKE und dem Joint Statement abweicht. Alle im Folgenden genannten Positionen stammen aus diesem Beitrag, ich werde nicht jede Aussage referenzieren. Es ist gut möglich, dass ich Retinskijs Aussagen falsch interpretiere und es ist natürlich auch problematisch, dass ich mich nur auf einen einzigen Beitrag stütze. Es soll hier aber auch nicht um eine Kritik an der KPDVR gehen. Es geht mir darum, Fragen an theoretische Ansätze zu formulieren, mit denen wir uns bisher vielleicht zu wenig beschäftigt haben.
Retinskij begründet und vertritt in seinen Ausführungen meiner Meinung nach die These des „objektiven Antiimperialismus“ und beschreibt dafür die Kräfteverhältnisse im gegenwärtigen imperialistischen Weltsystem. Vorab ist es wichtig zu betonen, dass mit dem Begriff des „objektiven Antiimperialismus“ in diesem Fall weder gemeint ist, dass Staaten nicht imperialistisch oder kapitalistisch sind, noch dass imperialistische oder kapitalistische Staaten prinzipiell und bedingungslos durch Kommunisten unterstützt werden sollten. Es geht im Kern darum die zwischenimperialistischen Widersprüche auszunutzen, um die Kampfbedingungen für die Internationale Arbeiterklasse zu verbessern.
Das Wesen der Zwischenimperialistischen Widersprüche
In seinem Beitrag beschreibt Retinskij die USA als das imperialistische Zentrum, während alle anderen Länder der Peripherie zuzuordnen seien. Somit stellen die USA, ihm nach, den Hauptfeind der revolutionären Kräfte weltweit dar. Die USA bestimmen durch ihre Macht den von ihm so bezeichneten „Weltimperialismus“, während es andere imperialistische Staaten wie Russland gebe, deren Interessen gegen den Weltimperialismus gerichtet seien. Laut Retinskij besteht das Wesen der ziwschenimperialistischen Widersprüche gegenwärtig im Interessensgegensatz zwischen dem Weltimperialismus und den übrigen imperialistischen Staaten.
Retinskij zufolge müsse der Kampf eines Landes, dass sich gegen die Interessen des imperialistischen Zentrums stellt als antiimperialistisch charakterisiert werden, auch wenn es sich dabei nicht um ein sozialistisches Land handelt. Innerhalb der Peripherie heben sich einzelne antiimperialistische Kräfte ab. Zu diesen gehören, ihm nach, Venezuela, Syrien und der Donbass. Russland sei zwar ein imperialistischer Staat, aber durch die Unterstützung antiimperialistischer Kräfte schwäche es das Zentrum und wirke so antiimperialistisch, also gegen den Weltimperialismus. Retinskij nach, müssen alle Formen des antiimperialistischen Kampfes gegen das Zentrum von Kommunisten unterstützt werden, auch wenn es sich dabei nicht um Länder handele, in denen die Situation für eine Revolution günstig sei. Je schwächer die USA als Zentrum des Imperialismus, je schwächer also der Weltimperialismus, desto größer die Chance auf eine siegreiche Revolution, so Retinskijs Argumentation. Die oben genannten antiimperialistischen Kräfte müssen Bündnisse mit anderen kapitalistischen oder imperialistischen Staaten eingehen, um einen erfolgreichen Kampf gegen das Zentrum führen zu können. Retinskij betont, dass solche Bündnisse auch dann im Sinne der Kommunisten seien, wenn sie keinen direkten Nutzen für die Arbeiterklasse haben, da es um die langfristigen Entwicklungen der Kräfteverhältnisse im Weltmaßstab gehe.
Es ist schnell ersichtlich, dass Retinskijs Argumentation einige logische Zusammenhänge in der Imperialismustheorie- und Analyse voraussetzt. Auf diese möchte ich im Folgenden kurz eingehen, sie kommentieren und offene Fragen formulieren, die sich daraus für mich ergeben.
Die imperialistische Weltordnung
Die von Retinskij beschriebene imperialistische Weltordnung teilt sich grundsätzliche in zwei Kategorien: Das Zentrum, namentlich die USA, und die Peripherie, der alle anderen Staaten zuzuordnen sind. Die Charakterisierung der USA als Zentrum des Imperialismus trifft in Anbetracht, der ökonomischen und militärischen Überlegenheit sicherlich zu. Und auch die Tatsache, dass die USA den Imperialismus stärker prägen als irgendein anderes Land ist richtig, was die Vorstellung des „Weltimperialismus“ plausibel erscheinen lässt. Aber die schematische Trennung in Zentrum und Peripherie wirft die Frage auf, ob die Abstufungen in der Hierarchie und wechselseitige Abhängigkeiten der imperialistischen Staaten ausreichend berücksichtigt werden – sofern es sie denn gibt. Lenin stellte fest, dass „eine Handvoll fortgeschrittener Länder“ die Mehrheit der Weltbevölkerung unterdrückt, und betonte, dass es diese „weltbeherrschenden“ Länder sind, „die die ganze Welt in ihren Krieg um die Teilung ihrer Beute mit hineinreißen“ [LW 22, S. 195].
Es ist zwar richtig, dass die USA das imperialistischen Weltsystem klar dominieren, gleichzeitig scheinen doch andere Länder zu existieren, die einer eigenen imperialistischen Logik folgen, die sich nicht mehr durch ein reines Unterdrückungsverhältnis erklären lässt. Die Betrachtung der westlichen imperialistischen Staaten als ein homogener Block wirft außerdem die Frage auf zwischen welchen Ländern denn der Kampf um die Aufteilung der Welt ausgetragen werden sollte, in den die ganze Welt hineingezogen wird. Ist nicht der Ukraine-Krieg auch ein Ausdruck der Konkurrenz zwischen den USA und Europa, bzw. Deutschland? Handelt es sich also eher um einen Kampf zwischen führenden imperialistischen Ländern, wenn ja zwischen welchen? Oder ist es der Kampf eines geschlossenen imperialistischen Blocks unter Führung der USA gegen den Rest der Welt? Oder müssen wir das gesamte Weltsystem viel mehr als ein Geflecht von zwischenimperialistischen Widersprüchen und wechselseitigen Abhängigkeiten begreifen, indem alle kapitalistischen Länder eine aktive Rolle einnehmen?
Das Pyramidenmodel der KKE
Die KKE prägt in ihrer Imperialismusvorstellung das Bild einer Pyramide, in welcher diese wechselseitigen Abhängigkeiten abgebildet werden. An der Spitze der Pyramide stehen die imperialistischen Mächte, die die geringste Abhängigkeit von anderen Staaten aufweisen und ihre Interessen am stärksten durchsetzen können. Für die Einteilung dieser Länder untersucht die KKE insbesondere den Kapitalexport, aber auch das weltweite Bruttosozialprodukt [5], [6]. Die in diesem Model enthaltene Vorstellung ist, dass „[d]ie heutige Komplexität der Bewegung der globalen kapitalistischen Wirtschaft […] nicht richtig und vollständig erklärt werden [kann], wenn wir uns auf die Aktivitäten derjenigen Staaten beschränken, die sich an der Spitze der imperialistischen Pyramide befinden.“ [5] Die Entwicklung vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus wird als eine Gesetzmäßigkeit verstanden, die in allen kapitalistischen Ländern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit stattfindet und nicht nur die mächtigsten kapitalistischen Staaten betrifft. Bei der Entwicklung des Imperialismus in den „schwächeren“ kapitalistischen Ländern spiele der Kapitalimport aus den mächtigen imperialistischen Ländern eine wichtige Rolle [5]. Schon Lenin stellte fest: „Der Kapitalexport beeinflußt in den Ländern, in die er sich ergießt, die kapitalistische Entwicklung, die er außerordentlich beschleunigt. Wenn daher dieser Export bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden Ländern zu hemmen geeignet ist, so kann dies nur um den Preis einer Ausdehnung und Vertiefung der weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt geschehen.“ [LW 22, S. 247] Entscheidend für das Model der KKE ist also, dass den schwächeren kapitalistischen Staaten eine aktive imperialistische Rolle zugesprochen wird und es sich nicht mehr um ein koloniales Unterdrückungsverhältnis handelt. Dieses Bild wurde bisher auch von vielen unserer Genossen bemüht um das imperialistische Weltsystem zu beschreiben.
Die richtigen Analysekriterien
Doch es schließt sich die Frage an was hier eigentlich unter Abhängigkeiten zu verstehen ist und welche Kriterien wir heranziehen sollten, um diese zu messen. Einen Beitrag zu dieser Frage liefert die TKP in ihren Imperialismusthesen, worin die Relevanz militärischer und politischer Faktoren zusätzlich zu den ökonomischen Kennzahlen hervorgehoben wird. Es wird aber schnell deutlich, dass die wechselseitigen Abhängigkeiten, selbst zwischen den ökonomisch „starken“ Staaten, sehr unterschiedlich sind. Wie sieht es also mit Ländern aus, die wesentlich schwächer aufgestellt sind? Mir scheint, als hätten wir im bisherigen Gebrauch des Pyramiden-Models nur die Spitze der Pyramide betrachtet, die das Verhältnis der mächtigsten Staaten untereinander beschreibt. Im Beitrag von Makis Papadopoulos [5] werden in Bezug auf die wechselseitigen Abhängigkeiten der imperialistischen Staaten meist nur die USA, Deutschland, Australien, Japan, Kanada und einzelne Länder aus Europa und den BRICS-Staaten genannt. Wie verhält es sich aber mit der Rolle von noch schwächeren kapitalistischen Ländern in der imperialistischen Pyramide? Müsste es im Pyramidenmodell von oben nach unten herabsteigend nicht eine Stufe geben, ab der das Abhängigkeitsverhältnis ausschließlich einseitige Gestalt annimmt und als tatsächliche Beherrschung betrachtet werden muss? Was würde dies für den Kampf der Arbeiterklasse in diesen Ländern bedeuten? Und wo wären dann Staaten wie Russland oder Indien einzuordnen?
Konsequenzen aus dem Pyramidenmodel
Es ergibt sich aber auch die Frage welche Konsequenzen aus der Hierarchisierung von Staaten entstehen, wie sie im Pyramidenmodell vorgenommen wird. Sollten wir Partei ergreifen, wenn sich imperialistische Staaten, die in die untersten Ebenen der Pyramidenstruktur eingeordnet werden, gegen die erdrückende Übermacht der imperialistischen „Spitzen-Staaten“ zur Wehr setzen, oder verurteilen wir beide Staaten gleichermaßen, da auch der schwächere imperialistische Staat nicht das Interesse der Arbeiterklasse vertritt? Doch was nützt ein Modell, das die Unterschiede der imperialistischen Länder beschreibt, wenn im Ergebnis eine äquidistante Haltung im Konflikt zwischen äußerst ungleichen imperialistischen Ländern bezogen wird, wie sie teilweise im Joint Statement anklingt? Was sagt das Pyramidenmodell beispielweise zum Konflikt zwischen Venezuela und den USA? Stellen wir uns vor im Grenzgebiet zu Kolumbien würde der Konflikt weiter eskalieren. Venezuela müsste, um sich zu verteidigen, Stellungen auf kolumbianischem Staatsgebiet angreifen. Würden wir diese Militärhandlungen dann als zwischenimperialistischen Konflikt abtun und Venezuela dafür kritisieren, dass sie Kolumbien angreifen? Schließlich ist auch Venezuela ein kapitalistisches Land. Eine solche Position scheint in Anbetracht der Lage Venezuelas absurd. Wie bewerten wir aber Venezuelas Rolle? Kann es im gegenwärtigen Weltsystem noch etwas anderes als Sozialismus, Kapitalismus oder Imperialismus geben? Oder müssen wir uns eingestehen, dass es in bestimmten Situationen notwendig ist, die Interessen eines kapitalistischen oder sogar imperialistischen Landes zu unterstützen, dass im Konflikt mit den mächtigsten imperialistischen Ländern steht? Oder handelt es sich in Venezuela um einen nationalen Befreiungskampf? Letzteres scheint bei oberflächlicher Betrachtung Venezuelas aber nicht plausibel zu sein.
Die Frage der Einordnung in das Weltsystem stellt sich in der aktuellen Debatte insbesondere für Russland. Eine Gleichsetzung Russlands mit den USA hält einem Vergleich der ökonomischen und militärischen Fähigkeiten nicht stand. Eine Gleichsetzung mit anderen Staaten der Peripherie greift aber auch zu kurz. Wir scheinen also nicht um eine genauere Analyse der Kräfteverhältnisse herum zu kommen. Wie wichtig diese Analyse für uns ist, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen welche Konsequenzen sich aus den unterschiedlichen Imperialismusvorstellungen für die Strategie und Taktik der Kommunisten ergeben.
Die Frage des Hauptfeindes
Laut Retinskij gilt der Kampf der Kommunisten der Schwächung des imperialistischen Zentrums, also den USA. In den antiimperialistischen Gebieten sei die Aufgabe der Kommunisten den antiimperialistischen Kampf ihrer Regierung zu unterstützen. Dazu gehöre auch, die Unterstützung von Bündnissen mit anderen kapitalistischen oder imperialistischen Staaten. Im Beispiel von Venezuela können diese Bündnispartner Brasilien oder auch Russland sein. Die Rolle der Kommunisten in diesen imperialistischen Bündnisstaaten sei ebenfalls die Unterstützung des eigenen Staates im Kampf gegen den Hauptfeind – den US-Imperialismus. Denn diese imperialistischen Staaten unterstützen antiimperialistische Kräfte und schwächen das imperialistische Zentrum, was ihnen einen objektiv antiimperialistischen Charakter verleihe. Retinskij, betont dass die Aufgabe der russischen Arbeiterklasse gegenwärtig nicht der Aufbau des Sozialismus, sondern die Schwächung des imperialistischen Zentrums sei. Daraus ergibt sich die Rolle der Kommunisten im imperialistischen Zentrum: Die Bekämpfung des Hauptfeindes im eigenen Land. Wie verhält es sich aber mit der Rolle von Kommunisten in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland? Begreifen wir diese Staaten als reine Vasallen der USA, deren Gefolgschaft durch die Übermacht der USA erzwungen ist, so müsste auch in diesen Ländern darüber diskutiert werden, ob der Hauptfeind nicht jenseits des Atlantiks bekämpft werden müsste. Eine Schwächung des Hauptfeinds könnte dann allerdings auch durch die Schwächung seiner Bündnispartner oder durch die Schwächung des Bündnisses selbst erreicht werden. Ersteres, also die Bekämpfung der eigenen Bourgeoisie, wäre die Strategie, die auch wir bisher verfolgt haben und würde im Aufbau des Sozialismus im eigenen Land münden. Letzteres könnte bedeuten, dass auf ein Bündnis der eigenen Bourgeoisie mit der eines der objektiv antiimperialistischen Landes orientiert werden müsste. Konkret könnte dies für die Kommunisten in Deutschland bedeuten auf eine Intensivierung der deutsch-russischen oder möglicherweise auch deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen zu setzen. Dies würde das transatlantische Bündnis schwächen und Russland bzw. China als Bündnisstaat antiimperialistischer Kräfte stärken. Es wäre auch denkbar, dass die Kommunisten in Westeuropa ihrer Verpflichtung zur Schwächung des imperialistischen Zentrums nachkämen, indem sie auf die direkte Unterstützung der antiimperialistischen Kräfte oder deren Bündnispartner orientierten. Aber wäre dies nicht eine Abkehr von der Losung Karl Liebknechts, die wir uns bisher stets zu eigen gemacht haben? Betrachtet man das Bündnis zwischen Westeuropa und den USA hingegen als ein Bündnis rivalisierender imperialistischer Mächte, die eigene Interessen verfolgen und tendenziell dazu in der Lage sind diese auch gewaltsam durchzusetzen, aber in vielen Bereichen dieselben Ziele teilen bleibt die Aufgabe für die Kommunisten in diesen Ländern die Zerschlagung des Imperialismus im eigenen Land. Es wird also deutlich, dass die Charakterisierung der Abhängigkeitsverhältnisse zentrale Folgen für die Strategie der Kommunisten hat.
Sozialismus oder Zwischenetappe?
Eng verknüpft mit der Frage des Hauptfeindes ist die Frage, ob der Kampf für den Sozialismus oder ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie auf der Tagesordnung steht. Für den Fall Russlands beantwortet Retinskij diese Frage klar: Aufgabe der russischen Arbeiterklasse sei es gegenwärtig nicht den Sozialismus aufzubauen, sondern den russischen Imperialismus im Kampf gegen den Hauptfeind, die USA, zu unterstützen. Retinskij geht sogar so weit, dem russischen Volk die Aufgabe des Aufbaus des Sozialismus grundsätzlich abzusprechen.
Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) beschränkt ihre Aktivitäten weitestgehend auf einen Kampf innerhalb der Ordnung der russischen Bourgeoisie. Sie unterstützt die russische Regierung im Kampf gegen den westlichen Imperialismus aber kämpft für die Verbesserung der Lebensbedingungen der russischen Arbeiterklasse. Der Aufbau des Sozialismus sei zwar ein strategisches Ziel, doch dieses Ziel bestehe aus mehreren Etappen. Die ersten beiden Etappen haben zum Ziel die Volksmasse hinter der Partei zu sammeln und politische und wirtschaftliche Stabilität in Russland herzustellen, um im nächsten Schritt eine Mehrheit in der russischen Regierung zu erringen. In der dritten Etappe soll die bereits begonnene Vergesellschaftung und der Aufbau von Rätestrukturen fortgesetzt und zum Sozialismus entwickelt werden. Der Sozialismus soll dabei auf friedlichem Wege erreicht werden. [7]
Aus unserer Perspektive wirkt dieses Vorgehen wie eine reformistische, sozialdemokratische Politik, die mit den Zielen der Kommunisten wenig gemeinsam zu haben scheint. Der Unterschied ist, dass Deutschland selbst Teil der mächtigsten imperialistischen Länder ist und in einem engen Bündnis mit den USA zu den wichtigsten Räubern des Weltsystems gehört, während Russland von den meisten führenden Imperialisten als Feind bekämpft wird. Die Politik der KPRF ist einerseits nachvollziehbar, da unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse auf internationaler Ebene die destabilisierende Wirkung einer sozialistischen Revolution in Russland vom westlichen Imperialismus genutzt werden könnte, um Russland zu zerschlagen und die russische Bevölkerung in Armut und Elend zu stürzen. Die Neuaufteilung Russlands unter den mächtigsten Imperialisten kann nicht im Interesse der russischen Arbeiterklasse sein. Andererseits stellt sich die Frage, ob das Risiko der feindlichen Übernahme einer Revolution nicht ein grundsätzliches Problem darstellt, dass vor allem durch den Aufbau einer besonders starken und inhaltlich klaren kommunistischen Partei gelöst werden müsste. Aber wirkt die Taktik der KPRF nicht negativ auf dieses Ziel zurück? Wäre Russland in Anbetracht seiner militärischen Fähigkeiten, seiner Rohstoffe und seiner Stellung im Weltsystem nicht gerade ein Land, in dem der Kampf um den Sozialismus mit allen Mitteln geführt werden müsste, um nach einer erfolgreichen Revolution mit effizienten planwirtschaftlichen Methoden einen Sozialismus aufzubauen, der tatsächlich in der Lage wäre dem imperialistischen Zentrum etwas entgegenzusetzen? Als Voraussetzungen für eine siegreiche Revolution nennt Retinskij neben einer revolutionären Situation in dem betreffenden Land, einen Konflikt zwischen imperialistischen Staaten und weitere „Widerstandsherde gegen den Weltimperialismus“. Diese Überlegung scheint nicht abwegig zu sein, schaut man sich die historischen Situationen an aus denen bisherige Revolutionen hervorgegangen sind. Es waren Situationen, in denen die imperialistischen Mächte durch zermürbende Kriege empfindlich geschwächt waren. Auch ein Blick in die Gegenwart motiviert diese Vorstellung. Schließlich wäre die Existenz des kubanischen Sozialismus ohne die Unterstützung Russlands, Venezuelas aber auch Chinas nicht denkbar. Aber was für Konsequenzen hat es, die Voraussetzung für den erfolgreichen Kampf um den Sozialismus, von der Entwicklung der starken imperialistischen Mächte abhängig zu machen, bzw. auf die Unterstützung anderer kapitalistischer Akteure zu setzen?
Retinskij erklärt, dass der Zweck des Bündnisses nicht die Stärkung oder Schwächung des Bündnispartners, sondern die gemeinsame Überwindung des US-Imperialismus sei. Sobald dieser entscheidend geschwächt sei, müsse zum Kampf gegen den „allgemeinen Imperialismus“ übergegangen werden. Doch wann ist dieser Moment erreicht? Es scheint plausibel zu sein die Anstrengungen der internationalen Arbeiterklasse auf den Kampf gegen die mächtigsten Staaten des imperialistischen Weltsystems zu konzentrieren. Schließlich werden Krieg und Elend in einem Großteil der Welt nicht aufhören so lange diese Länder ihre aggressive Praxis der Ausbeutung, Zerstörung und Unterdrückung fortsetzen. Aber wird die Rolle des imperialistischen Zentrums nicht ersetzt werden, sobald dieses endgültig geschwächt ist? Können wir die Kampfbedingungen der internationalen Arbeiterklasse verbessern, indem wir durch die Schwächung der stärksten Imperialisten eine „Balance“ im Weltsystem herstellen? Widerspricht dies nicht Lenins Ausführungen zur ungleichzeitigen Entwicklung? Zielt die Argumentation von Retinskij nicht darauf ab den Aufbau des Sozialismus auf eine Zeit zu verschieben in der eine solche Balance hergestellt ist? Sollte nicht in allen Ländern auf den Aufbau des Sozialismus orientiert werden, da dies der beste Kampf gegen die stärksten Imperialisten ist? Oder muss man den Kampf gegen das Zentrum als einen parallel stattfindenden Beitrag zum Kampf um den Sozialismus auf internationaler Ebene begreifen, der also keine Zwischenetappe, sondern den Kampf für den Sozialismus selbst darstellt? Aber wie verhält es sich dabei mit dem Bündnis zwischen Kommunisten und der nationalen Bourgeoisie?
Bündnisse mit der Bourgeoisie
Eine wichtige Frage, die mit dem aktuellen Konflikt zusammenhängt, berührt das Verhältnis der Kommunisten bzw. der Arbeiterklasse zu ihrer nationalen Bourgeoisie. Ausgehend von der Analyse des Weltsystems stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von internationalen und nationalen Herrschaftsverhältnissen, oder um zum Bild der KKE zurückzukommen, die Frage nach dem Verhältnis von zwischenimperialistischen Widersprüchen auf der einen und Klassenwidersprüchen auf der anderen Seite. Die KKE betont, dass „der Charakter der Revolution in jedem kapitalistischen Land vom Hauptwiderspruch bestimmt [wird]“. Der Hauptwiderspruch, also der Widerspruch zwischen der Vergesellschaftung der Produktion und der privaten Aneignung, müsse „unabhängig von der relativen Änderung der Position des Landes in einer Gruppe von Ländern im kapitalistischen System oder in einem wirtschaftlichen und/oder militärischen Bündnis“ gelöst werden. [5]
Auf der anderen Seite beschreibt Retinskij ein Weltbild in dem der Widerspruch zwischen dem Weltimperialismus und der Peripherie den Klassenwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit auf internationaler Ebene widerspiegelt. Konkret stellt sich die Frage, ob es Situationen geben kann, in denen die Interessen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse zumindest vorübergehend zusammenfallen und die Arbeiterklasse die nationale Bourgeoisie deshalb unterstützen müsste. Retinskij sieht eine solche Situation im Falle der Donbass-Republiken gegeben. Dort gibt es ihm nach zwar keinen Sozialismus, aber die Interessen der Arbeiterklasse fallen mit den Interessen des dort ansässigen Kleinbürgertums zusammen, welches im Kampf gegen den Weltimperialismus versuche, dem Großkapital Märkte abzuringen. Langfristig müsse es der Arbeiterklasse im Donbass darum gehen den Sozialismus aufzubauen, dies sei aber kurzfristig nicht möglich. Retinskijs Position wird in folgendem Zitat deutlich: „[…] die Politik ist die Kunst des Möglichen und die Möglichkeiten werden durch das Verhältnis der Klassenkräfte in der internationalen Arena bestimmt, die sich noch nicht zu Gunsten des Sozialismus gestalten.“ Auch wenn die Situation in Russland oder Venezuela nicht direkt vergleichbar ist, stellt sich die Lage für das dortige Proletariat laut Retinskij ähnlich dar. Auch hier solle das Proletariat ihm nach ein Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie eingehen, um den Kampf gegen den Weltimperialismus zu unterstützen. Für die Frage des Bündnisses sei relevant welche Stellung das Land im Weltsystem einnimmt. Gehöre es zur Peripherie und kämpfe es gegen den Weltimperialismus sei ein Bündnis möglich. Handele es sich um ein imperialistisches Land, dass gegen den übermächtigen Hauptimperialismus kämpfe und dabei Länder der Peripherie unterstütze, die ebenfalls gegen das imperialistische Zentrum kämpfen, sei ein solches Bündnis ebenfalls möglich, so Retinskij. Entscheidend in dieser Vorstellung ist also welche Stellung ein Land zum imperialistischen Zentrum einnimmt. Aber müsste man in diese Überlegungen nicht die Fähigkeiten des Landes zur Entwicklung eines eigenständigen Imperialismus und damit die Fähigkeiten zur Unterwerfung der Welt einbeziehen? Aus den Überlegungen von Retinskij ergeben sich auch andere Fragen, zum Beispiel zur Rolle Chinas. Was wäre gegenwärtig die Aufgabe der chinesischen Arbeiterklasse? Müsste sie nicht ebenfalls die nationale Bourgeoisie unterstützen, da China den Weltimperialismus aktiv bekämpft? Oder ist für China das Stadium der Unterdrückung schon überschritten, sodass die nationale Bourgeoisie zum Profiteur des Weltimperialismus geworden ist? Was würde letzteres für die Bewertung Russlands bedeuten, dass auf ein engeres Bündnis mit China hinarbeitet?
Schluss
Aus den Positionen Retinskijs wird deutlich, dass es nicht ausschließlich um die Frage geht, ob ein Land imperialistisch ist oder nicht, sondern auch, welche Stellung dieses Land in der internationalen kapitalistischen Konkurrenz einnimmt. Ein wesentlicher Dissens, der bei der Betrachtung der unterschiedlichen Positionen deutlich wurde, betrifft die Frage in welchem Verhältnis internationale Herrschaft bzw. zwischenstaatliche Konkurrenz zur Klassenfrage stehen. Sowohl die Positionen der KKE als auch die der KPRF und der KPDVR enthalten bei oberflächlicher Betrachtung nachvollziehbare und richtige Argumente. Gleichzeitig enthalten alle Positionen auch Unschärfen und werfen Fragen auf. Wenn wir unser Imperialismusverständnis schärfen wollen müssen wir anfangen diese Fragen zu beantworten, bzw. uns auf Antworten zu einigen. Das wird nicht ohne eine intensive Auseinandersetzung mit der Imperialismusanalyse, der ihr zugrundeliegenden Imperialismustheorie, aber auch nicht ohne die Betrachtung der wissenschaftlich-methodischen Grundlagen der Theorie möglich sein. Es wird deutlich, dass wir es bei der Imperialismusfrage mit einem Komplex zu tun haben, der nur unter Betrachtung vieler Zusammenhänge untersucht werden kann. Als KO sollten wir anfangen diesen Komplex zu entwirren und dabei praktisch zeigen, was wir uns unter Klärung vorstellen. Dabei sollten wir aufpassen, dass die Ungeduld schnell zu Antworten zu kommen nicht dazu führt den Komplex unvollständig zu betrachten oder verkürzt darzustellen. Das soll nicht heißen, dass wir diese Aufgabe nicht bewältigen können, wir sollten nur realistische Vorstellungen davon entwickeln bis zu welchem Grad wir in gegebener Zeit mit der Klärung voranschreiten können. Wir sollten uns also klare und realistische Ziele setzen, die unseren objektiven Voraussetzungen gerecht werden.
[1] http://wpered.su/2018/05/20/die-antiimperialistische-front-donbass-syrien-venezuela-teil-1/ [2] http://wpered.su/2018/05/25/die-antiimperialistische-front-donbass-syrien-venezuela-teil-2/ [3] http://wpered.su/2018/05/31/die-antiimperialistische-front-donbass-syrien-venezuela-teil-3/ [4] http://wpered.su/2018/06/02/die-antiimperialistische-front-donbass-syrien-venezuela-teil-4-schluss/ [5] Papadopoulos, Makis, Die Aktualität der leninistischen Theorie des Imperialismus, KOMEP 2016 Heft 4 [6] Papariga, Aleka: On the imperialist Pyramid, https://inter.kke.gr/de/articles/On-Imperialism-The-Imperialist-Pyramid [7] Aktuelles Programm der KPRF, https://kprf.ru/party/program (zuletzt gesehen: 11.12.2021