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Der Imperialismus von gestern und von heute

Hugo Müller, Mai 2022

Imperialismus, eine Definition

Es ist unter Kommunisten üblich, das Wort Imperialismus überall zu verwenden. Angesichts der gegenwärtigen Schwäche der kommunistischen Bewegung und unserer ideologischen und politischen Unzulänglichkeiten wäre es sinnvoller, einen Schritt zurückzutreten und zu klären, was wir meinen, wenn wir von Imperialismus sprechen, denn offensichtlich verstehen viele Genossen unterschiedliches darunter. Aber wenn wir diskutieren wollen, müssen wir die Begriffe definieren, ohne das auf eine semantische Frage zu reduzieren. Und da wir Marxisten-Leninisten sind, sollten wir mit der allgemeinsten Definition von Lenin anfangen, auch wenn es ein langes Zitat ist:

„Ökonomisch ist der Imperialismus (oder die „Epoche“ des Finanzkapitals – nicht um Worte geht es) die höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus, und zwar eine Stufe, auf der die Produktion so sehr Groß- und Größtproduktion geworden ist, daß die freie Konkurrenz vom Monopol abgelöst wird. Das ist das ökonomische Wesen des Imperialismus. Das Monopol findet seinen Ausdruck sowohl in den Trusts, Syndikaten usw. als auch in der Allmacht der Riesenbanken, sowohl im Aufkauf der Rohstoffquellen usw. als auch in der Konzentration des Bankkapitals usw. Das ökonomische Monopol – das ist der Kern der ganzen Sache.

Der politische Überbau über der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion. „Das Finanzkapital will nicht Freiheit, sondern Herrschaft“, sagt Rudolf Hilferding völlig richtig in seinem „Finanzkapital“.

Die „Außenpolitik“ von der Politik schlechthin zu trennen oder gar die Außenpolitik der Innenpolitik entgegenzustellen ist grundfalsch, unmarxistisch, unwissenschaftlich. Sowohl in der Außenpolitik wie auch gleicherweise in der Innenpolitik strebt der Imperialismus zur Verletzung der Demokratie, zur Reaktion. In diesem Sinne ist unbestreitbar, daß der Imperialismus „Negation“ der Demokratie überhaupt, der ganzen Demokratie ist, keineswegs aber nur einer demokratischen Forderung, nämlich der Selbstbestimmung der Nationen.“1

Noch dazu, haben wir die berühmten 5 Merkmale, die den Imperialismus definieren sollen. Im Übrigen sind Lenins Anmerkungen zu seiner Definition des Imperialismus ganz wichtig. „Deshalb muß man – ohne zu vergessen, daß alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann – eine solche Definition des Imperialismus geben.“2 Die 5-Punkte-Definition ist:

„1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen. 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“. 3. Der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung. 4. Es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen. 5. Die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet“.3

Wie wir sehen, ist der Imperialismus für Lenin nicht einfach eine ökonomische Tatsache oder eine bestimmte Außenpolitik. Der Imperialismus ist also aus der Sicht des Marxismus-Leninismus eine (historische) Epoche, die der höchsten Stufe der kapitalistischen Entwicklung entspricht, in deren ökonomischer „Basis“ die kapitalistischen Verhältnisse aufrechterhalten werden, wenn auch mit einigen charakteristischen Merkmalen: dem Finanzkapital als Ergebnis der Verschmelzung von Bank- und Industriekapital, dem Vorrang des Kapitalexports vor dem Warenexport und der Vorherrschaft der Monopole, die an die Stelle der freien Konkurrenz treten. Dieser ökonomische Inhalt des Imperialismus braucht also eine entsprechende politische Form. Diese Form kann keine andere sein als der imperialistische Staat, dessen Verhalten nach außen und nach innen ebenfalls Besonderheiten aufweist (die je nach den Umständen von einer liberalen Republik bis zu einer faschistischen Diktatur reichen können). Die Kapitalistenverbände, die durch die imperialistischen Staaten gebildet wurden, teilen die Welt unter sich zu Gunsten ihrer Monopole. Und wenn die Aufteilung der Welt beendet worden ist, müssen sie für eine Neuaufteilung kämpfen. In der Innenpolitik sind die imperialistischen Staaten insofern antidemokratisch, als sie den in ihrem Staatsgebiet lebenden Völkern das Selbstbestimmungsrecht verweigern.

Die Beziehung zwischen Ökonomie und Politik ist selbstverständlich nicht unidirektional, sondern beide beeinflussen sich gegenseitig. Die Metapher Basis/Überbau dient der Veranschaulichung, denn eine wirkliche Trennung zwischen Ökonomie und Politik ist im Kapitalismus nicht möglich, und noch weniger in seiner imperialistischen Epoche.

Ich glaube, dass mit dieser gemeinsamen Grundlage über den Imperialismus können wir zum historisch-Konkreten übergehen. Zunächst möchte ich jedoch einige Bemerkungen vornehmen.

Obwohl es offensichtlich ist, dass es Parallelen zwischen der Situation zu Beginn des letzten Jahrhunderts und der heutigen Situation gibt, können wir keineswegs sagen, dass sie identisch sind, und daher ist es nicht möglich, aus dem Zusammenhang gerissene Sätze zu zitieren, um zu erklären, was heute geschieht. Was wir jedoch tun können, ist zu lernen, wie Lenin die historische Situation mittels seines Imperialismus-Verständnises analysierte und welche politischen Schlussfolgerungen er daraus zog.

Wenn wir das geschafft haben, können wir dann in der Lage sein, den heutigen Imperialismus, den heutigen Krieg und die zukünftigen Kriege zu verstehen. Wenn wir verstehen, wie die historische Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus und zum Ersten Weltkrieg geführt hat, werden wir hoffentlich auch verstehen können, wie wir in die heutige Situation gekommen sind. Dies kann nur gemeinsam erreicht werden, und deshalb versuche ich hier, die Debatte in diese Richtung zu eröffnen.

Der Imperialismus von gestern

Ich denke, um Lenins Analyse des Ersten Weltkriegs und die politischen Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, nachvollziehen zu können, ist es notwendig, über die Definition hinaus zu verstehen, wie Lenin den konkreten Imperialismus von damals versteht. In meinem Versuch, Lenins Verständnis des Imperialismus und des Krieges wiederzugeben, werde ich ihn oft zitieren oder verweisen. Dies ist notwendig, um vereinfachende Kürzungen zu vermeiden.

Das konkrete Verständnis Lenins vom Imperialismus

Wann und wo entstand also der Imperialismus? Dabei geht es nicht um ein bestimmtes Datum, sondern um eine Periode. Lenin sagt, dass es in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die höchste, äußerste Entwicklungsstufe der freien Konkurrenz existierte.4 Genau diesen Kapitalismus der freien Konkurrenz konnte Marx in England studieren, als er „das Kapital“ schrieb. Allerdings hatte bereits Marx die Tendenz zum Monopol im freien Wettbewerb beobachtet.5

In seinem bekannten Werk Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus zeigt Lenin auf, wie die Entwicklung des Kapitalismus in Europa und Nordamerika im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der Tat wirtschaftlich von der freien Konkurrenz zur Epoche der Monopole geführt hat. Diese neue Epoche des Kapitalismus fällt mit der Aufteilung von Kolonien, Halbkolonien und Einflusssphären durch die europäischen Mächte am Ende des 19. Jahrhunderts zusammen. Der Kapitalismus ist dann am Anfang des 20. Jahrhunderts „zum Imperialismus geworden“.6

Da Lenin immer von Kolonien, Halbkolonien und Einflusssphären spricht, ist es vielleicht sinvoll, diese Unterscheidung ein wenig zu klären, da sie später wichtig sein wird. Die Kolonien: als Kolonie bezeichnet Lenin ein auswärtiges, politisch abhängiges, national unterdrücktes Gebiet. Beispiele davon waren: Deutsch-Ostafrika, Belgisch-Kongo und Französisch-Westafrika. Die Halbkolonien: der Begriff „halbkolonial“ wurde auf sie angewandt, weil die Länder unter der direkten Einmischung ausländischer Mächte litten, auch wenn sie formal eine eigene Regierung hatten. Lenin spricht in der Regel von 3 halbkolonialen asiatischen Ländern,7 die sozusagen informelle Kolonien waren. Die typischen Beispiele davon waren: Türkei, China und Persien8. Die Einflußsphären: damit meinte Lenin „Sphären für gewinnbringende Geschäfte, Konzessionen, Monopolprofite usw.“9 Beispiele davon waren Dalmatien und Albanien10, sowie Argentinien11.

Um es auf den Punkt zu bringen: die großen asiatischen Reiche blieben formal unabhängig (Halbkolonien). Große Kolonien wie Kanada, Indien und Australien gehörten zu England. Die südamerikanischen Länder gehörten im Allgemeinen zur britischen Einflusssphäre, aber der Kampf um sie gegen die USA gewann an Schärfe (Stichwort: Monroe-Doktrin). Daher mussten die Imperialisten um Einflusssphären auf dem Balkan und um Kolonien in Afrika kämpfen.

Doch zuvor versuchten die Imperialisten, die Probleme auf diplomatischem Wege zu lösen. Bei dem Berliner Kongress von 1878 wurde die Balkankrise beendet und eine Aufteilung von Einflusssphären in Südosteuropa vereinbart. Die Berliner Konferenz von 1878 bildet die Grundlage für die Aufteilung der Kolonien in Afrika. Mit dem Londoner Vertrag von 1913 wurde eine Neuaufteilung der Einflusssphären in Südosteuropa vorgenommen.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass Lenin zwischen den imperialistischen Ländern die Unterschiede bennent. Er bezeichnet sie zwar alle als imperialistisch, ist aber in der Lage, die Form, in der sie ihren Imperialismus ausüben, je nach ihrer eigenen Entwicklung und ihren Beziehungen zu anderen Ländern zu unterscheiden. Der deutsche Imperialismus, zum Beispiel, verfügte nicht über einen großen Kolonialbesitz und sein im Ausland investiertes Kapital verteilte sich am gleichmäßigsten auf Europa und Amerika.12 Der Kapitalexport des französichen „Wucherimperialismus“ war hauptsächlich nach Europa und vor allem nach Rußland.13 Interessanterweise unterscheidet Lenin zwischen zwei Arten von Imperialismus, die von Russland ausgeübt wurden. „Auf der einen Seite haben wir den modernen, kapitalistischen Imperialismus, dessen Ausdruck in der Politik des Zarismus gegenüber Persien, der Mandschurei und der Mongolei angezeigt wird. Auf der anderen Seite war der russische Imperialismus feudal und militärisch.“14

Ein weiteres Beispiel für Lenins Scharfsinn ist der Imperialismus Englands, den er als Kolonialimperialismus bezeichnet. In „England steht an erster Stelle sein Kolonialbesitz, der auch in Amerika sehr groß ist (z. B. Kanada), von Asien usw. gar nicht zu reden. Die riesige Ausfuhr von Kapital ist hier aufs engste mit den riesigen Kolonien verknüpft, von deren Bedeutung für den Imperialismus weiter unten noch die Rede sein wird.“15

Er geht weiter und beschreibt die Beziehung Englands mit einem anderen Imperialisten, Portugal. „Portugal ist ein selbständiger, souveräner Staat, aber faktisch steht es seit mehr als 200 Jahren, seit dem spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714), unter dem Protektorat Englands. England verteidigte Portugal und dessen Kolonialbesitz, um seine eigene Position im Kampfe gegen seine Gegner, Spanien und Frankreich, zu stärken. Dafür erhielt England Handelsprivilegien, bessere Bedingungen beim Warenexport und besonders beim Kapitalexport nach Portugal und seinen Kolonien, die Möglichkeit, die Häfen und Inseln Portugals zu benutzen, seine Kabel usw. usf. Derartige Beziehungen zwischen einzelnen großen und kleinen Staaten hat es immer gegeben, aber in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus werden sie zum allgemeinen System, bilden sie einen Teil der Gesamtheit der Beziehungen bei der „Aufteilung der Welt“ und verwandeln sich in Kettenglieder der Operationen des Weltfinanzkapitals.“16 Portugal sei dann finanziell und diplomatisch abhängig, politisch aber unabhängig.

Es gab aber auch Gebiete, die sich nicht ohne weiteres einer der europäischen Mächte zuordnen ließen, die aber eine besondere Rolle spielten. Zum Beispiel Afghanistan am Ende des 19. Jahrhunderts, das als Puffer zwischen den Gebieten Russlands und Englands diente, wo sich die Imperialisten nicht auf die Form der Teilung einigen konnten oder, in Lenins Worten, „wegen der Teilung der Beute in Mittelasien um ein Haar zu einem Krieg zwischen Rußland und England gekommen wäre (Afghanistan; der Vormarsch der russischen Truppen in Mittelasien bedrohte die englische Herrschaft in Indien).“17

Wie man sieht, das leninsche Verständniss vom Imperialismus ist sehr tief und konkret. Das ist nur möglich, weil Lenin den Marxismus beherrscht und die historische Entwicklung des Kapitalismus kennt. Lenin kennt auch die politischen und ökonomischen Verhältnisse zwischen und innerhalb von den Ländern. Er unterscheidet zwischen den „herrschenden“ Ländern (den verschiedenen Arten von Imperialisten), und auch zwischen den „beherrschten“ Ländern (Kolonien, Halbkolonien, Einflusssphären), wo die Grenzen nicht statisch sind, wobei es gibt Länder, die sozusagen eine Doppelrolle spielen können, wie z.B. Portugal.

Der Krieg und die damalige kommunistische Bewegung

Erst wenn die ganze Welt unter den kapitalistischen Staaten aufgeteilt geworden war, ist ein Kipppunkt erreicht, und damit der imperialistischer Weltkrieg. Die Kapitalisten brauchen neue Gebiete, neue Märkte, mehr Ressourcen und Arbeitskräfte. Von da an müssen die Imperialisten für eine neue Aufteilung der Welt kämpfen, d.h. für eine neue Aufteilung der Kolonien, Halbkolonien und Einflusssphären. Lenin erklärt dies wie folgt: „Es fragt sich, welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben außer dem Krieg, um das Mißverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits und der Verteilung der Kolonien und der „Einflußsphären“ des Finanzkapitals anderseits zu beseitigen?“18

Das war den europäischen Staaten schon lange vor dem Krieg bewusst, für den sie sich in zwei Lagern organisierten. Obwohl der Krieg erst 1914 ausbrechen sollte, gingen ihm die beiden Seiten voraus. Der Dreibund wurde 1882 und die Triple-Entente 1907 gegründet. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass im Laufe des Krieges neue Mitglieder zu beiden Seiten stießen, wobei Italien der auffälligste Fall ist, da es zunächst dem Dreibund angehörte und später auf die Seite der Entente wechselte.

Was den Chauvinismus und die als Bündnisse getarnte Kriegspropaganda betrifft, deckte Lenin auf, dass die russischen Liberalen ebenfalls Chauvinisten waren, auch wenn sie nicht wie die Konservativen offen pro-russische Kriegspropaganda betrieben, sondern für die Entente waren. Lenin zeigt dies anhand einer tierischen Metapher: „Die Politik der Kadetten läuft auf den gleichen Chauvinismus und Imperialismus hinaus wie die des „Nowoje Wremja“, nur ist sie schlauer und gerissener. Das „Nowoje Wremja“ droht plump und grob mit Krieg im Namen Rußlands allein. Die „Retsch“ droht „geschickt und diplomatisch“ ebenfalls mit Krieg – doch im Namen der Triple-Entente; denn wenn man sagt: „Man soll nicht bescheidener sein als not tut“, so ist das eben eine Kriegsdrohung. Das „Nowoje Wremja“ ist für die Protegierung der Slawen durch Rußland, die „Retsch“ für die Protegierung der Slawen durch die Triple-Entente, d. h., das „Nowoje Wremja“ ist für den einen, für unseren Fuchs im Hühnerstall, die „Retsch“ aber für eine Entente von drei Füchsen.“19

Die damalige proletarische Weltorganisation, die Zweite Internationale, sah, bevor sie in Opportunismus und Zusammenbruch verfiel, ebenfalls die Möglichkeit eines Krieges voraus und warnte die Arbeiter vor ihm. „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“20

Es ist wichtig festzustellen, dass die Zweite Internationale zwar 1912 das Basler Manifest verfasste, in dem sie sich gegen den bevorstehenden Krieg aussprach, aber als der tatsächliche Krieg nur zwei Jahre später ausbrach, brach die Mehrheit der internationalen Sozialdemokratie mit dem Marxismus, wurde opportunistisch und unterstützte den Krieg. Die Massenbewegung der Arbeiter jener Jahre ist ohne ihre revolutionäre Theorie inmitten des imperialistischen Gemetzels verloren. Obwohl es sicherlich Ausnahmen gab, wie zum Beispiel die Bolschewiki in Russland oder der Spartakusbund in Deutschland.

Doch was meint Lenin, als er von Opportunismus spricht? Lass ihn mal sich selbst erklären: „Ganz zu Unrecht hält man bei uns nicht selten dies Wort für ein „bloßes Schimpfwort“, ohne sich zu überlegen, was es bedeutet. Der Opportunist verrät seine Partei nicht, wird ihr nicht abtrünnig, verläßt sie nicht. Aufrichtig und eifrig fährt er fort, ihr zu dienen. Aber typisch und charakteristisch für ihn ist, daß er jeder Augenblicksstimmung erliegt, daß er unfähig ist, der Mode zu widerstehen, daß er politisch kurzsichtig und charakterlos ist. Opportunismus heißt die dauernden und lebenswichtigen Interessen der Partei ihren Augenblicksinteressen, vorübergehenden, zweitrangigen Interessen zum Opfer bringen.“21

In diesem Sinne könnte man sagen, dass Lenin von Opportunismus spricht, wenn die strategischen Interessen der Revolution für den Augenblick geopfert werden. Der Text von 1906 bezieht sich offensichtlich auf die Nachwirkungen der Revolution von 1905. Seine goldenen Jahre erlebte der Opportunismus jedoch 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach und die Opportunisten die Interessen der Revolution zurückstellten, um „ihre“ Bourgeoisie im Krieg zu unterstützen.

Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges schrieb Lenin 1914 Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, in dem er seine Enttäuschung über den Opportunismus der europäischen sozialdemokratischen Parteien zum Ausdruck brachte:

„Mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit muß man feststellen, daß die sozialistischen Parteien der wichtigsten europäischen Länder diese ihre Aufgabe nicht erfüllt haben und daß die Haltung der Führer dieser Parteien, insbesondere der deutschen Partei, an direkten Verrat an der Sache des Sozialismus grenzt. In einer Zeit von höchster weltgeschichtlicher Bedeutung versuchen die meisten Führer der jetzigen, der Zweiten (1889 bis 1914) Sozialistischen Internationale den Sozialismus durch den Nationalismus zu ersetzen. Ihrem Verhalten ist es zuzuschreiben, daß die Arbeiterparteien dieser Länder sich dem verbrecherischen Vorgehen der Regierungen nicht widersetzten, sondern die Arbeiterklasse aufforderten, mit den imperialistischen Regierungen gemeinsame Sache zu machen. Indem die Führer der Internationale für die Kriegskredite stimmten, die chauvinistischen („patriotischen“) Losungen der Bourgeoisie „ihrer“ Länder aufgriffen, den Krieg rechtfertigten und verteidigten, in die bürgerlichen Kabinette der kriegführenden Länder eintraten usw. usf., haben sie Verrat am Sozialismus geübt.“22

Wenn man argumentieren möchte, dass einige Parteien nicht in der Lage waren, revolutionäre Aktionen gegen ihre Regierungen zu starten, um den Krieg zu beenden, antwortet Lenin selbst: „Selbst angenommen, es habe der deutschen Sozialdemokratie so sehr an Kraft ermangelt, daß sie genötigt war, auf jederlei revolutionäre Aktion zu verzichten, so durfte sie sich auch in diesem Fall nicht dem chauvinistischen Lager anschließen, durfte sie nicht Schritte tun, auf Grund deren die italienischen Sozialisten mit Recht erklärten, daß die Führer der deutschen Sozialdemokraten das Banner der proletarischen Internationale entehren.“23

Auch wenn „die Organisation der Arbeiterklasse gegenwärtig weitgehend zerschlagen ist“, sagt Lenin, es wird die Aufgabe der revolutionären Sozialdemokratie sein, „weder auf die ständige, tägliche Kleinarbeit zu verzichten noch irgendeine der früheren Methoden des Klassenkampfes zu vernachlässigen“.24

Für Lenin ist klar, dass die Kommunisten auf die Revolution und den Sozialismus nicht verzichten können, um das Vaterland zu verteidigen, wie „ihre“ Bourgeoisie es von ihnen verlangt, auch wenn sie nicht in der Lage sind, die Revolution durchzuführen. Im Gegenteil, die Kommunisten müssen die Krisensituation ihrer eigenen imperialistischen Regierung nutzen, um die revolutionären Ziele voranzutreiben: „Der ideologisch-politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist ein und derselbe: Zusammenarbeit der Klassen statt Klassenkampf, Verzicht auf revolutionäre Kampfmittel, Unterstützung der „eigenen“ Regierung in einer für sie schwierigen Lage statt Ausnutzung dieser Schwierigkeiten für die Revolution.“25

Der Internationalismus des Proletariats ist nach Lenin mit der Verteidigung des Vaterlandes nicht vereinbar, auch wenn Trotzki und Potressow dies seinerzeit behaupteten. Potressow sprach sogar von der besonderen Lage des Staates, „der von Zerstörung bedroht ist“.26 Und damit rechtfertigte er die Vaterlandsverteidigung.

Doch mit der Februarrevolution 1917 ändert sich die spezifische Situation in Russland. Betrachten wir diese Situation jedoch genauer, da sie den Auftakt zur Oktoberrevolution bildet und noch in den Rahmen des Ersten Weltkriegs eingebettet ist.

Mit der bürgerlichen Revolution vom Februar 1917 in Russland wurde der Zarismus gestürzt und eine liberale provisorische Regierung27 in Russland eingesetzt. Das Proletariat nahm zwar an der Revolution teil, kam aber nicht an die Macht, obwohl die Sowjets als Parallelstaat wieder in Erscheinung traten. Die provisorische Regierung beschloss, den imperialistischen Krieg weiterzuführen28.

Als Schlussfolgerung der Analyse des Imperialismus seiner Zeit vertritt Lenin die Auffassung, dass der Krieg ein imperialistischer, reaktionärer Krieg, der von den herrschenden Klassen geführt wurde. Und er lehrt uns, wie wir den Massen (und uns selbst) den Krieg als Klassenkrieg erklären müssen. „Wir müssen es verstehen, die Massen darüber aufzuklären, daß der sozial-politische Charakter des Krieges nicht durch den „guten Willen“ von Personen und Gruppen oder selbst Völkern bestimmt wird, sondern durch die Stellung der Klasse, die den Krieg führt, durch ihre Politik, deren Fortsetzung der Krieg ist, durch die Verbindungen des Kapitals als der herrschenden ökonomischen Macht in der modernen Gesellschaft, durch den imperialistischen Charakter des internationalen Kapitals, durch die – finanzielle, bankmäßige und diplomatische — Abhängigkeit Rußlands von England und Frankreich usw.“29 Es scheint mir, dass diese Art der Erklärung des Charakters eines Krieges auch heute gültig ist, worauf ich später zurückkommen werde.

An dieser Stelle halte ich es für wichtig, einen Moment innezuhalten und den Wandel zu analysieren, den die Februarrevolution in der russischen Arbeiterbewegung darstellt.

Vor der Februarrevolution vertreten die Bolschewiki den revolutionären Defätismus, d. h. den Wunsch und die Unterstützung für die Niederlage der eigenen reaktionären Regierung im imperialistischen Krieg zum politischen Nutzen des Proletariats: Es liegt also in seinem Klasseninteresse. Lenin beschuldigt diejenigen, die sich dem widersetzen, als Sozialchauvinisten: „Die Verfechter des Sieges der eigenen Regierung im gegenwärtigen Krieg und die Anhänger der Losung „weder Sieg noch Niederlage“ stehen gleicherweise auf dem Standpunkt des Sozialchauvinismus. Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nicht anders als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen, sie kann den Zusammenhang zwischen militärischen Mißerfolgen der Regierung und der Erleichterung ihrer Niederringung nicht übersehen.“30 Es ist wichtig, diesen letzten Punkt zu betonen: Die Niederlage der zaristischen Regierung liegt im Klasseninteresse des Proletariats, da sie bessere Bedingungen für ihren Sturz und den Sozialismus schafft. Daraus lassen sich zwei konkrete Schlussfolgerungen ziehen: Mit dem Sturz des Zarismus könnten die demokratischen Rechte errungen werden und die beiden Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft nun in einem offenen Kampf um die Macht stehen.

Dagegen haben Trozki und andere argumentiert. Trotzki glaubte, „die Niederlage Rußlands wünschen heiße den Sieg Deutschlands wünschen“. Semkowski meinte, „das sei Unsinn, denn siegen könne nur entweder Deutschland oder Rußland“. Der Wunsch nach der Niederlage der eigenen imperialistischen Bourgeoisie bedeutet keineswegs, den Sieg der anderen Bourgeoisie zu unterstützen. Das würde den Verzicht auf die ideologische und politische Unabhängigkeit des Proletariats bedeuten. „In allen imperialistischen Ländern muß das Proletariat jetzt die Niederlage seiner eigenen Regierung wünschen.“31 Die Aufgabe des russischen Proletariats war es, gegen die russische Regierung zu sein, sowie die Aufgabe des deutschen Proletariats es war, gegen die deutsche Regierung zu sein.

Was passierte nun nach der Februarrevolution? Es stimmt zwar, dass die Bolschewiki zunächst die Provisorische Regierung gegen den Zarismus unterstützten, nur um später die Frage der Macht und des Sozialismus gegen die Provisorische Regierung zu stellen.

Nach der Februarrevolution waren die Opportunisten die ganze Zeit für die Verteidigung der provisorischen Regierung. Lenin wirft ihnen vor, das Kapital zu unterstützen: „Der Vaterlandsverteidiger aus der Masse sieht die Dinge einfach, auf Spießbürgerart: „Ich will keine Annexionen, der Deutsche will mir ,an den Kragen‘, folglich verteidige ich eine gerechte Sache und durchaus nicht irgendwelche imperialistischen Interessen.“ Einem solchen Menschen muß immer wieder klargemacht werden, daß es nicht auf seine persönlichen Wünsche ankommt, daß es sich vielmehr um politische Verhältnisse und Beziehungen der Massen, der Klassen, um den Zusammenhang des Krieges mit den Interessen des Kapitals und dem internationalen Bankennetz usw. handelt.“32 Auch hier sehen wir den Klassenstandpunkt. Lenin zeigt uns, dass der imperialistische Krieg und die Vaterlandsverteidigung im Klasseninteresse des Kapitals und nicht des Proletariats liegt. Nach der Niederlage des Zarismus wurde der offene Kampf zwischen den beiden Hauptklassen der russischen kapitalistischen Gesellschaft immer deutlicher. Das Klasseninteresse des Proletariats war auch hier nicht die Verteidigung des Vaterlandes, sondern die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie für den Sozialismus.

Wie schon gesagt, vor der Februarrevolution propagierte Lenin den revolutionären Defätismus, um bessere Bedingungen für den proletarischen Kampf zu schaffen. Nach dem Sturz des Zarismus, wobei der Sturz Klassenkampf war und auch durch den zwischenimperialistischen Krieg ermöglicht worden ist, gewann der Klassenkampf um die Macht zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat immer mehr an Bedeutung. Sobald die Lage für den offenen Kampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat bereitet war, führten die Bolschewiki das Proletariat zur Machtergreifung.

Die spätere Praxis als Wahrheitkriterium hilft uns festzustellen, dass die Charakterisierung des Krieges und das entsprechende Vorgehen der Bolschewiki richtig war. Was im Oktober und nach dem Ende des Krieges passiert, ist hinlänglich bekannt.

Der Imperialismus von gestern ist das Produkt der „natürlichen“ Entwicklung des Kapitalismus, des historischen Übergangs von der freien Konkurrenz zum Monopol, der Aufteilung und des Kampfes um eine neue Aufteilung der Kolonien, Halbkolonien und Einflusssphären sowie der politischen Reaktion der einst revolutionären Bourgeoisien.

Zwischen dem Imperialismus von gestern und dem von heute besteht ein grundlegender Unterschied: der Zeitraum 1917-1991, da der heutige Imperialismus nicht aus der „natürlichen“ Entwicklung des Kapitalismus hervorgegangen ist, sondern aus der Konterrevolution, wie wir weiter unten sehen werden.

Die Oktoberrevolution in Russland markierte einen Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, indem sie die Überwindung des Kapitalismus und damit des Imperialismus und seiner Kriege als reale Alternative darstellt. Die Bedeutung der Oktoberrevolution wurde von Stalin 1918 wie folgt beschrieben:

„Die gewaltige Weltbedeutung des Oktoberumsturzes besteht ja hauptsächlich gerade darin, dass er

1. den Rahmen der nationalen Frage erweitert und sie aus einer Teilfrage, der Frage des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung in Europa, in die allgemeine Frage der Befreiung der unterjochten Völker, Kolonien und Halbkolonien vom Imperialismus verwandelt hat;2. weitgehende Möglichkeiten und wirkliche Wege für diese Befreiung eröffnet hat, so dass er den unterdrückten Völkern des Westens und Ostens ihre Befreiung bedeutend erleichtert hat, indem er sie in den allgemeinen Strom des siegreichen Kampfes gegen den Imperialismus einbezog;3. hierdurch eine Brücke zwischen dem sozialistischen Westen und dem versklavten Osten geschlagen und eine neue Front der Revolutionen aufgebaut hat, eine Front von den Proletariern des Westens über die Revolution in Russland bis zu den unterjochten Völkern des Ostens, eine Front gegen den Weltimperialismus.“33


Wie die Geschichte später zeigen sollte, markierte die Oktoberrevolution den Beginn eines Zyklus von Revolutionen (einige erfolgreich, andere nicht) zwischen 1917 und 1991, beendete den 1914 begonnenen imperialistischen Krieg, inspirierte und stimulierte nationale Befreiungskämpfe gegen den Imperialismus; kurzum, sie hielt den dekadenten Kapitalismus in Schach und schwächte vorübergehend den zwischenimperialistischen Kampf ab, um den Kampf gegen den gemeinsamen Feind aller Imperialisten, den Kommunismus, zu führen.

Die Oktoberrevolution und das Ende des Krieges waren trotz des Opportunismus der Zweiten Internationale nur durch die Gründung einer kommunistischen Partei neuen Typs möglich, die mit einer revolutionären Theorie ausgestattet und mit den arbeitenden Massen verbunden war, d.h. einer kommunistischen Partei, die zwischen dem revolutionären Proletariat und seiner Avantgarde-Theorie vermittelt.

Der historische Zeitraum von 1917 bis 1991 des internationalen Klassenkampfes unter der Führung des revolutionären Proletariats ist das, was den Imperialismus von gestern und von heute trennt.

Der revolutionäre Zyklus (1917-1991)

Bisher sind wir nur kurz auf die Geschehnisse vor und während des Ersten Weltkriegs eingegangen, um einfache Parallelen zur aktuellen Situation zu vermeiden. Nun ist es an der Zeit, den Zeitraum 1917-1991 zu betrachten. Es handelt sich um einen Zyklus, denn wenn er zu Ende geht, befinden wir uns wieder am gleichen Ausgangspunkt, wenn auch auf einer anderen Ebene. Dies ist jedoch nicht der richtige Ort für eine ausführliche Analyse der Ereignisse in diesem Zyklus.

Was wir tun können, ist ein kurzer Rückblick auf einige weltgeschichtliche Ereignisse zwischen 1917 und 1991, die ich für eine korrekte Einschätzung der aktuellen Situation für relevant halte. Die Notwendigkeit eines solchen Exkurses soll spätestens am Ende verstanden werden.

Die Bestandsaufnahme dieser Zeit könnte natürlich ganze Bücher füllen und kann nur im Rahmen des Klärungsprozesses kollektiv durchgeführt werden. Ich beschränke mich hier auf die Nennung allgemein bekannter Fakten, um zur Analyse des heutigen Imperialismus übergehen zu können.

Auf die Oktoberrevolution folgt die Novemberrevolution, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zusammenfällt, auch wenn diese schließlich besiegt wird. Das imperialistische Deutschland wird im Ersten Weltkrieg besiegt und die Weimarer Republik wird gegründet.

Eines der Ergebnisse des imperialistischen Krieges war die Gründung des Völkerbundes durch die Sieger, einer internationalen Organisation der Bourgeoisien, die versuchen sollte, ihre Differenzen auf diplomatischem Wege beizulegen. Die deutsche Bourgeoisie wurde wegen dem Ersten Weltkrieg bestraft und wurde nicht in den Völkerbund aufgenommen, d.h. sie hatte kein Recht auf die Vereinbarungen zur Neuaufteilung der Welt. Die USA beschlossen aufgrund von Differenzen zwischen den nationalen bürgerlichen Fraktionen dem Völkerbund nicht beizutreten.

1931 marschierte Japan, der letzte Akteur in der imperialistischen Arena, der nach der Aufteilung der Welt dazu gekommen war, in die Mandschurei ein. 1937 marschierte es in das übrige China ein und löste damit den Zweiten Sino-Japanischen Krieg aus. Auf chinesischer Seite war dieser Krieg ein Krieg der nationalen Befreiung, in dem die KP im Bündnis mit der Kuomintang eine wichtige Rolle spielte.

Dem Völkerbund als Vermittler zwischen den Imperialisten gelang es nur in einigen wenigen Fällen, eine Lösung zu finden. Italien und Japan, deren imperialistische Ambitionen in Äthiopien bzw. China durch den Völkerbund behindert wurden, gaben ihn schließlich auf.

Wie wir wissen, begann der Zweite Weltkrieg offiziell 1939, dessen wichtigstes Merkmal darin besteht, den Klassenkampf im Weltmaßstab darzustellen. Natürlich gibt es genügend Literatur über diesen Krieg. Was ich hier betonen will ist, dass es zwar zwischenimperialistische Konflikte gab, der Hauptkonflikt des Krieges aber die Ostfront war, wo der Kampf zwischen dem deutschen Imperialismus und dem sowjetischen Proletariat ausgetragen wurde. Als die UdSSR 1944-1945 in der Gegenoffensive gegen Deutschland nach Westen marschierte, gewann sie die Sympathie der befreiten Völker und einiger anderer, da sie Osteuropa vom Faschismus befreite.

1946 angesichts des offensichtlichen Versagens des Völkerbundes, einen weiteren Krieg zu verhindern, wurde er aufgelöst. Die Sieger des neuen Weltkriegs brauchten eine Institution für die friedliche Organisation der Welt. So wurde 1945 die UNO mit Sitz in New York gegründet, deren Sicherheitsrat aus den USA, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, der UdSSR und China bestand. Die Vereinigten Staaten sind aus dem Zweiten Weltkrieg als dominierendes imperialistisches Land hervorgegangen.

Im Jahr 1949 war die chinesische Revolution erfolgreich.

Im Jahr 1955 wurde der Warschauer Vertrag unterzeichnet; das Militärbündnis der UdSSR mit den osteuropäischen Volksdemokratien als Gegenmaßnahme zur Bedrohung durch die NATO.

Im Jahr 1966 begann in China die Kulturrevolution. Nach Maos Tod und der Verhaftung der Viererbande im Jahr 1976 wurde die Kulturrevolution niedergeschlagen und der rechte Flügel der KP Chinas kam an die Macht. Im Jahr 1978 begann die kapitalistische Restauration in China.

Der Einfluss, den die Oktoberrevolution auf die ganze Welt hatte, war noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemerkenswert. Es ist unmöglich, hier alle kommunistischen Aufstände oder antiimperialistischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nennen, daher beschränke ich mich auf einige der bekanntesten. Zu den Revolutionen, die sich auf die marxistische Tradition berufen, unabhängig davon, was wir von ihnen halten, gehören zum Beispiel: die kubanische Revolution (1959), die Naxaliten-Revolution (1967), die Revolution auf den Philippinen (1969), die Revolution in Grenada (1979), die Revolution in Peru (1980). Auch unter dem Einfluss der Oktoberrevolution gab es überall auf der Welt nationale Befreiungsbewegungen und bürgerlich-demokratische Revolutionen, z. B. in Angola, Burkina Faso, Nicaragua, Vietnam, um nur einige zu nennen.

Wie wir sehen können, war Stalins Vorhersage von 1918 über die Auswirkungen der Oktoberrevolution auf die Welt richtig.

Der Imperialismus nahm seinen Lauf, mal freier, mal gezügelter. Am Ende des Zyklus, wenn der revolutionäre Schwung überall schwächer wurde, der Klassenkampf in den sozialistischen Ländern in Vergessenheit geriet und die Zeichen der kommenden kapitalistischen Restauration sichtbar wurden, gewann der Imperialismus wieder Selbstvertrauen und wurde politisch und wirtschaftlich aggressiver. Einige Ereignisse am Ende des Zyklus können als Beispiel dienen: die Invasion in Grenada 1983 sowie die Invasion in Panama 1989. Am Ende des Zyklus begannen die westlichen Bourgeoisien, die keine Angst mehr vor dem Kommunismus hatten, das Klassenbündnis mit ihren Arbeiteraristokratien zu brechen und die Wohlfahrtsstaaten zu liquidieren, was die heutige Sozialdemokratie als „Neoliberalismus“ bezeichnet.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion markierte das Ende des revolutionären Zyklus unter dem Paradigma der Oktoberrevolution. In dieser Hinsicht ist es dringend notwendig, eine Bestandsaufnahme der revolutionären Praxis zur Weiterentwicklung der revolutionären Theorie im Hinblick auf den Parteiaufbau vorzunehmen.

Der Imperialismus von heute

Schließlich ist es an der Zeit, den heutigen Imperialismus zu analysieren. Ich werde hier versuchen, die historische Situation, in der wir uns befinden, in groben Zügen zu umreißen. Je besser und tiefer wir den revolutionären Zyklus analysiert haben, desto besser können wir unsere gegenwärtige Situation verstehen und verändern.

Aber zuerst kehren wir zu dem obengenannten Lenins Zitat zurück: „ohne zu vergessen, daß alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann“. Lenin spricht hier von einer Erscheinung des Imperialismus. Daraus lässt sich ableiten, dass Lenin im Imperialismus von damals eine Erscheinung sah, wobei seine Definition dieser Erscheinung ziemlich vollständig ist und das Gesetz des Imperialismus enthält.

Doch was genau meint Lenin mit Erscheinung? Es ist bekannt, dass Lenin 1914 die Hegelsche Wissenschaft der Logik (wieder)gelesen hat. In seinen Randbemerkungen zur Logik schrieb er zu den Erscheinungen, dass „das Gesetz das identische in den Erscheinungen ist“, dass „eine Erscheinung die Ganzheit, die Totalität ist“ während „das Gesetz nur ein Teil ist“ oder dass „die Erscheinung reicher als das Gesetz ist“.34

Worauf ich hinaus will, ist, dass der Imperialismus von heute eine neue Erscheinung des Imperialismus ist. Da das Gesetz das identische in den Erscheinungen ist, muss der Imperialismus von gestern und von heute ein identisches Gesetz haben, auch wenn die Totalität von beiden anders ist, da die Erscheinungen reicher als das Gesetz sind. Das Gesetz ist meiner Ansicht nach, ökonomisch, die Herrschaft der Monopole, und politisch, die Reaktion nach innen und nach außen. Die Erscheinungsformen können unterschiedlich sein, haben aber diese gemeinsame Merkmale.

Aus meiner Sicht ist die Untersuchung dieser neuen Erscheinung des Imperialismus im Rahmen der ideologischen Aufgaben des Parteiaufbaus notwendig, denn „die Dialektik verlangt die allseitige Erforschung einer gegebenen gesellschaftlichen Erscheinung in ihrer Entwicklung sowie die Zurückführung des Äußerlichen und Scheinbaren auf die grundlegenden Triebkräfte, auf die Entwicklung der Produktivkräfte und den Klassenkampf“.35

Was sind also die Unterschiede zwischen dem Imperialismus von gestern und dem Imperialismus von heute? Meiner Ansicht nach gibt es 3 grundlegende Faktoren, die den heutigen Imperialismus bestimmen:

1. Wenn der revolutionäre Zyklus vorbei ist, sind die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bereits überall auf der Welt vorherrschend. Monopole sind in vielen Ländern außerhalb Europas und Nordamerikas auch Teil der kapitalistischen Normalität. Lenin hatte schon vorausgesagt, dass der Kapitalexport zur weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt führen würde: „der Kapitalexport beeinflußt in den Ländern, in die er sich ergießt, die kapitalistische Entwicklung, die er außerordentlich beschleunigt. Wenn daher dieser Export bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden Ländern zu hemmen geeignet ist, so kann dies nur um den Preis einer Ausdehnung und Vertiefung der weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt geschehen“.36

2. Die politische Form der Kolonien gehört, von Ausnahmen abgesehen, der Vergangenheit an. Während des revolutionären Zyklus gelang es den ehemaligen Kolonien, ihre eigenen Nationalstaaten zu gründen. Dies erklärt sich aus der Reifung der kapitalistischen Entwicklung im Allgemeinen, wo die lokalen Bourgeoisien auf die Schaffung solcher Nationalstaaten gedrängt haben, und auch aus dem Einfluss der Oktoberrevolution, sowohl ideologisch als auch politisch, da die Kommunisten oft auch an der Schaffung solcher (bürgerlicher) Nationalstaaten beteiligt waren.

3. Sobald das Proletariat im Weltmaßstab besiegt ist (1991), kann der Kampf um eine neue Aufteilung der (Kolonien, Halbkolonien und) Einflusssphären mit voller Intensität aufgenommen werden, ohne eine kommunistische Revolution mehr zu fürchten.

Der Imperialismus von heute hat zwar den gleichen ökonomischen Inhalt, wie der Imperialismus von gestern, aber die (politische) Form weist einige Unterschiede auf, die sich aus den unterschiedlichen historischen Bedingungen ergeben, in denen wir uns befinden.

Damals (1916) war nur „der fortgeschrittene europäische (und amerikanische) Kapitalismus in die neue Epoche des Imperialismus getreten“.37 Heute, mit der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in der ganzen Welt und der politischen Befreiung der ehemaligen Kolonien und der Konterrevolution, gibt es viel mehr kapitalistische Staaten, von denen nicht wenige auch schon in die Epoche des Imperialismus getreten sind.

Heute ist es nicht mehr notwendig (oder plausibel), Kolonien zu gründen, d. h. eine politische Herrschaft über andere Nationen de jure auszuüben, um de facto ökonomischen, politischen und sogar ideologischen Einfluss zu behalten. Daher ist die Form der Einflusssphären jetzt wichtiger (möglicherweise greifen die Imperialisten im Notfall wieder auf die Form von Halbkolonien zurück, obwohl dies von Fall zu Fall untersucht werden müsste). Mit anderen Worten, die imperialistischen Beziehungen haben sich weiterentwickelt und unter unseren historischen Bedingungen sind die Einflusssphären und nicht mehr die Kolonien ihre Hauptform. Diese neue Hauptform der imperialistischen Beziehungen muss notwendigerweise auch politisch und militärisch sein, nicht nur ökonomisch, sonst wäre sie eine ökonomische Reduktion des Imperialismus.

Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier den imperialistischen Charakter der europäischen und nordamerikanischen Mächte (oder Japans) in Frage stellt, wichtig ist hier die Charakterisierung der neuen Imperialisten. Auf der einen Seite haben wir die kapitalistischen Staaten, die durch ihre eigene Entwicklung die Epoche der Monopole erreicht haben (z.B. Griechenland, Indien, Brasilien) und auf der anderen Seite haben wir die Staaten der kapitalistischen Restauration, hauptsächlich China und Russland. Für mich ist es eindeutig, dass Russland und China imperialistisch sind, doch muss dies erst noch wissenschaftlich bewiesen werden. Eine vollständige Analyse der spezifischen Fälle Russlands und Chinas würde den Rahmen dieses Textes sprengen, aber ich möchte einige Notizen darstellen, die bei der kollektiven Entwicklung einer solchen Analyse helfen könnten.

Notizen für die Kritik des Imperialismus von heute – Russland und China

Wenn auch nicht ausreichend für eine unfassende Analyse, einige Punkte sind unerlässlich. Diese helfen meiner Einschätzung nach bei der Erfüllung der Leninschen Kriterien mit.

Doch zunächst ist es wichtig, die Kernpunkte der Leninschen Definition in Kurzform aufzugreifen: Ökonomisch geht es um die Herrschaft der Monopole. Politisch geht es um die Reaktion nach innen und nach außen. Hinzu kommt, dass die vorherrschende Form des Imperialismus von heute die Einflusssphären sind. All dies kann nicht von der konterrevolutionären historischen Entwicklung in beiden Staaten getrennt werden.

-Reaktionäre Politik: beide Staaten sind in ihrer Innenpolitik reaktionär, da sie nicht den Feudalismus, sondern den Sozialismus besiegt haben. Sie sind eher reaktionär, weil sie den Lauf der Geschichte nicht nur verlangsamt, sondern rückwärts gerichtet haben. Und sie agieren auch reaktionär. Das Buch von Anton Stengl38 zeigt die reaktionäre und arbeiterfeindliche Politik der KPCh sehr gut auf. Die Verfassungskrise in Russland im Jahr 1993 ist ein auch Beispiel dafür. Was die imperialistische Außenpolitik betrifft, so haben beide Staaten bereits ihren Charakter unter Beweis gestellt: China zum Beispiel mit der Intervention in Vietnam 1979 und der Vorbereitung auf die Verteidigung seiner Interessen in Afrika mit der Militärbasis in Dschibuti im Jahr 2017. Was Russland betrifft, so könnte der Krieg in Tschetschenien als Beispiel dienen.

-Ökonomie: Auf der ökonomischen Seite ist zu beachten, dass sowohl Russland als auch China aufgrund der Vergesellschaftung der Produktion im Sozialismus Monopole geerbt haben, von denen einige privatisiert wurden und andere in staatlicher Hand verbleiben sind. Dies bedeutet keineswegs ein sozialistisches Merkmal, da die betreffenden Staaten bürgerlich sind. Wichtig dabei ist aber, dass diese neuen bürgerlichen Staaten bereits über Monopole verfügen, ohne die „natürliche“ kapitalistische Entwicklung (nochmal) durchlaufen zu haben, und obendrein gibt es eine direkte Identifikation zwischen den Interessen des Staates und den Interessen der staatlichen Monopole.

-Einflusssphären: Wie ich bereits dargelegt habe, sind Einflusssphären die wichtigste Form der imperialistischen Beziehungen von heute. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR erbte Russland die Einflusssphären des postsowjetischen Raums und des Warschauer Vertrages wegen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, die bis 1991 aufrechterhalten wurden. Aber Russland war weder wirtschaftlich noch politisch in der Lage, auf der imperialistischen Bühne zu konkurrieren, da es zunächst eine gewisse politische und wirtschaftliche Stabilität im neuen bürgerlichen Staat gewährleisten musste, was der Westen ausnutzte, um Russland „seine“ Einflusssphären im postsowjetischen Raum wegzunehmen. Der Westen integriert die ehemaligen Warschauer-Vertrag- sowie Sowjet-Republiken schrittweise in die EU und die NATO. In dem Maße, in dem der russische Imperialismus an politischer und wirtschaftlicher Stabilität gewinnt, beginnt er, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, um Einflusssphären zu kämpfen. In diesem Zusammenhang hat Russland angesichts des Euromaidan die Krim erobert, obwohl dies ein Sonderfall ist, der speziell analysiert werden muss. Dann kämpft Russland in Syrien gegen den Westen (oder dessen Söldner). Die Imperialisten haben aber aus ihren Erfahrungen gelernt und werden deswegen so weit wie möglich verhindern, dass es in ihren Ländern zu einem Krieg kommt. Deshalb führen sie jetzt so genannte „Stellvertreter-Kriege“ in dem Gebiet, um das sie kämpfen (z.B. Syrien).

-Bündnis: Da der revolutionäre Kommunismus als reale politische Kraft fehlt, neigen die neuen imperialistischen Mächte Russland und China also dazu, sich gegen den gemeinsamen Feind, den Westen, zu verbünden. Russland und China sind heute die größten Konkurrenten des Westens. Und zwar nicht, weil der Westen sie als Erben des Sozialismus oder als autokratische Staaten sieht (womit der Westen kein Problem hat, solange die autokratischen Staaten dem westlichen Kapital freundlich gesinnt sind, wie Saudi-Arabien), sondern weil diese Staaten im Zuge des konterrevolutionären Prozesses auch imperialistisch geworden sind, und sie wurden nicht in den westlichen Block integriert, zumindest nicht vollständig.

Falsches Verständnis vom Imperialismus und seine politische Folgen

Ein falsches Verständnis des Imperialismus von heute kann in die Irre bei der Einschätzung des Krieges führen. Ich werde hier versuchen, einige falsche Argumente bei der Charakterisierung des heutigen Imperialismus und deswegen des heutigen Krieges aufzuzeigen.

Das ist, aus meiner Sicht, was z.B. der Genossin Klara passiert ist, weil der Imperialismus von heute, wie schon gezeigt, eine neue, unterschiedliche Erscheinung ist, mehrere Akteure (auch wenn sie nicht gleich mächtig oder aggresiv wie der Westen sind) als der Imperialismus von gestern hat und nicht als eine „Handvoll Räuber“ und „die Beraubten“39 verstanden werden kann. Von dem falschen Verständniss des Imperialismus leitet sie falsche Schlussfolgerungen ab.

Genossin Klara verliert die Notwendigkeit ideologischer und politischer Unabhängigkeit aus den Augen und verdammt das Proletariat nicht nur Russlands und der Ukraine sondern der ganzen Welt zur Verteidigung der Interessen der russischen Bourgeoisie, selbst wenn sie hier von „Neutralität“ redet: „Die militärische Neutralität der Ukraine ist im Interesse der russischen, der ukrainischen und des internationalen Proletariats“.40 Später schreibt sie, dass „eine einheitliche Politik der internationalen Arbeiterklasse gegenüber Russland, die im Kern eine Unterstützung des Militäreinsatzes gegen die Faschisten in der Ukraine beinhaltete“, auch wenn das Klassenversöhnung sei, wäre „eine im Sinne der revolutionären Strategie, richtige taktische – vielleicht sogar über eine längere Phase anhaltende Orientierung.“41 Aber sie hat es nicht bewiesen. Alles, was sie hier getan hat, ist, uns die Interessen der russischen Bourgeoisie als die Interessen des internationalen Proletariats zu verkaufen.

Hier habe ich keine andere Wahl, als Klara direkt mit Lenin zu konfrontieren, da er bereits mit einem ähnlichen Argument konfrontiert wurde und ich könnte es nicht besser ausdrücken: „So ist auch die Haltung des Herrn A. Potressow, der unter „Internationalität“ versteht, daß man feststellt, wessen Erfolg im Krieg vom Standpunkt der Interessen nicht des nationalen, sondern des gesamten Weltproletariats am ehesten erwünscht oder am wenigsten schädlich wäre. Den Krieg führen die Regierungen und die Bourgeoisie,- das Proletariat habe zu bestimmen, der Sieg welcher Regierung für die Arbeiter der ganzen Welt die geringste Gefahr bedeute“.42 Das Proletariat wäre nicht länger ein unabhängiges politisches Subjekt, das seine eigenen Klasseninteressen verfolgt, sondern würde auf die Unterstützung der einen oder anderen Seite im imperialistischen Krieg reduziert.

Dann haben wir noch zwei andere problematischen Ideen im Abschnitt Lenin und die Frage des Krieges43, die ich so zusammenfasse: der Krieg in der Ukraine wäre für Russland ein nationaler Selbstverteidigungskrieg und daher gerechtfertigt.

Das Problem des nationalen Krieges Russlands wird nicht explizit angesprochen, aber sie zitiert Lenin ausführlich als Einleitung, stellt dann eine Frage und zitiert dann wieder Lenin als implizite Antwort. Sie sagt, dass sie Lenins Zitate benutzt, um zu zeigen, dass ein nationaler Krieg in Europa immer noch möglich wäre, aber in Wirklichkeit versucht sie auf raffinierte Weise zu zeigen, dass ein nationaler Krieg Russlands möglich wäre. Schauen wir uns also die konkreten Beispiele an, die Lenin verwendet.

Ich greife Lenins Bedingungen in dem Beispiel auf, das Klara als Einleitung verwendet, um ein paar Sachen von ihrer Argumentation aufzuzeigen: „Daß der gegenwärtige imperialistische Krieg, der Krieg von 1914 bis 1916, in einen nationalen Krieg umschlägt, ist deshalb in hohem Grade unwahrscheinlich […] Aber man kann ein solches Umschlagen nicht für unmöglich erklären: wenn das Proletariat Europas auf 20 Jahre hinaus ohnmächtig bliebe; wenn dieser Krieg mit Siegen in der Art der Siege Napoleons und mit der Versklavung einer Reihe lebensfähiger Nationalstaaten endete; wenn der außereuropäische Imperialismus (der japanische und der amerikanische in erster Linie) sich ebenfalls noch 20 Jahre halten könnte, ohne, z. B. infolge eines japanisch-amerikanischen Krieges, in den Sozialismus überzugehen, dann wäre ein großer nationaler Krieg in Europa möglich.“44

Es gibt einige Sachen, auf die ich hier hinweisen möchte. Erstens, dass in dem hypothetischen Beispiel, das Lenin anführt, mehrere europäische Staaten nach 20 Jahren imperialistischen Krieges, in denen die proletarische Revolution nicht stattgefunden hat, versklavt worden wären, was heute offensichtlich nicht der Fall ist. Zweitens, dass Lenin in dem hypothetischen Beispiel von der Umwandlung eines imperialistischen Krieges in einen nationalen Krieg spricht. In diesem Fall würde Klara zugeben, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen imperialistischen Krieg handelt, der angeblich zu einem nationalen Krieg werden könnte.

Die Frage, die Klara zwischen den Zitaten stellt, lautet: „dann könnte der Krieg in einen nationalen Krieg (in Europa!) umschlagen, wenn die Unterwerfung des entsprechenden Landes drohen würde?“45 Selbst wenn es als Frage formuliert ist, geht es im Abschnitt im Großen und Ganzen darum, Russlands Angriff als einen nationalen und damit gerechten Krieg implizit darzustellen. Aber auch die nächsten Zitate Lenins, die sie verwendet, helfen nicht weiter.

Die weiteren Beispiele Lenins, die Klara anführt, sind folgende: der amerikanische Unabhängigkeitskrieg gegen England, den Frankreich aus eigenem Interesse unterstützte. In diesem Krieg überwogen laut Lenin die nationalen Interessen gegenüber den imperialistischen Interessen (es war ein Krieg der nationalen Befreiung einer Kolonie). Der Erste Weltkrieg wird von Lenin offensichtlich nicht als nationaler Krieg betrachtet. Dann redet Lenin von möglichen Befreiungskriegen von Persien, Indien und China (eine Kolonien und zwei Halbkolonien). Schließlich spricht Lenin über nationale Kriege von „Seiten der kleinen (nehmen wir an, annektierten oder national unterdrückten) Staaten gegen die imperialistischen Mächte wie sie auch im Osten Europas nationale Bewegungen in großem Maßstab nicht ausschließt“46. Hier spricht Lenin von kleinen, annektierten oder national unterdrückten, Staaten und den nationalen Bewegungen im Osten Europas – und was könnten diese nationalen Bewegungen sein, wenn nicht die der Nationen, die unter dem Joch des Zarismus litten?

Letztlich dienen die von Klara angeführten Beispiele Lenins nicht dem, was sie erwartet, sondern dem Gegenteil: sie weisen nach, dass für Lenin ein nationaler Krieg in Europa nur für die unterdrückten Nationen innerhalb eines imperialistischen Staates, und für die Kolonien und Halbkolonien möglich ist und nicht „wenn die Unterwerfung des entsprechenden Landes drohen würde“.

Im völligen Gegensatz zu allem, was Lenin uns lehrt, ersetzt Klara die Dialektik durch Sophistik, „das Studium aller konkreten Umstände des Ereignisses und seiner Entwicklung“ durch „das Herausgreifen der äußeren Ähnlichkeit verschiedener Fälle ohne den inneren Zusammenhang der Ereignisse“.47 Und was noch schlimmer ist, es geht nicht um reale Fälle (außer dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg), sondern um die Rechtfertigung eines imperialistischen Krieges mit hypothetischen Beispielen, die nicht einmal mit dem übereinstimmen, was sie zu argumentieren versucht.

Ich komme nun zur Frage der Selbstverteidigung Russlands. Diese Frage wird auch in dem Abschnitt behandelt, obwohl sie uns vorher gewarnt hatte: „Russland handelt aus Gründen der Selbstverteidigung“.48 Und dann im Abschnitt geht es darum, Zitate von Lenin einzuwerfen, um noch einmal implizit ihre Position sophistisch zu rechtfertigen. Die Beispiele Lenins, die Klara nimmt, sind über gerechte (hypothetische) Verteidigungskriege von Marokko gegen Frankreich, Indien gegen England, Persien oder China gegen Rußland49. Alle diese Länder, in denen nach Lenins Ansicht ein Verteidigungskrieg gerecht gewesen wäre, waren Kolonien oder Halbkolonien. In anderem Text redet Lenin sogar über einen gerechten Krieg von der Ukraine gegen Russland50, aber das kann man heute als Argument für eine Gegenposition nicht verwenden, denn „vom marxistischen Standpunkt aus muß man den politischen Inhalt eines Krieges in jedem einzelnen Fall und für jeden Krieg besonders bestimmen“.51

Man könnte sagen, dass es sich um einen imperialistischen Verteidigungskrieg handelt, aber es ist keineswegs ein gerechter Krieg, mindestens nicht im Sinne von Lenin. Wer das Gegenteil behauptet, muss es beweisen, und das hat Klara nicht geschafft. Nicht umsonst hat Lenin die Präzisierung über gerechte Verteidigungskriege vorgenommen, um die Argumente der Imperialisten zu entkräften, die heute wie gestern versuchen, ihre Kriege als gerechte Verteidigungskriege zu verkaufen. Im heutigen Imperialismus wäre immer noch möglich gerechte nationale Kriege zu führen, da hat Klara Recht. Dies ist jedoch bei Russland nicht der Fall, denn Russland ist kein koloniales oder halbkoloniales Land, sondern im Gegenteil, denn Russland verteidigt sein Recht auf Einflusssphären, auch wenn es eine vorgebliche Neutralität der Ukraine anstrebt.

In Wirklichkeit handelt es sich nicht um einen gerechten, sondern um einen imperialistischen Verteidigungskrieg, der nichts anderes als ein imperialistischer Krieg ist, da es für uns unerheblich ist, wer zuerst schießt, welcher Imperialist angreift oder sich verteidigt.

Die Frage, ob das Land das Recht hat, sich selbst zu verteidigen, ist nach Lenin keine grundlegende Frage: „ „Das angegriffene Land hat das Recht, sich zu verteidigen“. Als ob das Wesen der Sache darin bestünde, wer zuerst angegriffen hat, und nicht darin, welches die Ursachen des Krieges sind, welche Ziele er hat und welche Klassen ihn führen!“52 Meiner Meinung nach müssen wir diese Ursachen und Ziele im aktuellen Krieg eingehend untersuchen und die von den Imperialisten beider Seiten vorgebrachten Vorwände nicht als gültig akzeptieren.

Hier geht es nicht wirklich um die Neutralität oder die Entnazifizierung der Ukraine, sondern darum, dass die russische Bourgeoisie die Ukraine in seinem ererbten Einflussbereich halten will. Aber die Einflusssphären sollten nicht als eine grobe ökonomische Reduktion verstanden werden. Der Fehler, Wirtschaft und Politik im Imperialismus zu trennen, wurde bereits von Lenin kritisiert.53

Wie ich bereits dargelegt habe hat der Imperialismus einen ökonomischen Inhalt und eine politische Form (die auch das ideologische und militärische umfasst). In diesem Sinne könnte man argumentieren, dass Russland die Ukraine in seiner Einflusssphäre nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus politisch-militärischen Gründen braucht. Doch diese politisch-militärischen Gründe sind völlig untrennbar mit den ökonomischen verbunden, da die Erhaltung des russischen bürgerlichen Staates nicht abstrakt notwendig ist, sondern für die kapitalistische Akkumulation im russischen Staat.

Die Folge von Klaras falschem Verständnis des Imperialismus, das mit unserer ideologischen Schwäche zu tun hat, ist der Verzicht auf die politische Unabhängigkeit des Proletariats, das nur zu bestimmen hätte, der Sieg welcher Regierung – in diesem Fall Russlands – für die Arbeiter der ganzen Welt die geringste Gefahr bedeutet.

Ein anderes falsches Verständnis des Imperialismus lässt sich bei dem Genosse Philipp finden. Da sehe ich zwei Hauptprobleme. Das erste teilt er mit Klara und es geht um die Opferung der Klasseninteressen des Proletariats für die der russischen Bourgeoisie: „Es handelt sich um eine konkrete, partielle und zeitweise Interessensüberschneidung zwischen der nationalen Bourgeoisie Russlands und dem Proletariat, nicht um eine Identität dieser Interessen“.54 Glücklicherweise schränkt Philipp die Interessensüberschneidung ein. Wer aber von dieser vermeintlichen Interessensüberschneidung profitiert, ist die russische Bourgeoisie, denn die vermeintlich gemeinsamen Interessen sind ihre, während die des Proletariats der Vaterlandsverteidigung geopfert werden müssen: „zu den Klasseninteressen der russischen Arbeiterklasse gehört aber auch ihr nationales Interesse nach der Sicherheit des Landes.“55 Ihr „nationales Interesse nach der Sicherheit des Landes“ ist nichts anderes als die altbekannte Vaterlandsverteidigung.

In der Auseinandersetzung mit Klara haben wir bereits gesehen, dass es sich zwar um einen Verteidigungskrieg handelt, aber nicht um einen gerechten sondern einen imperialistischen. Schauen wir uns eine andere Formulierung Lenins zu diesem Thema an: „Die Frage, welche Gruppe den ersten militärischen Schlag geführt oder als erste den Krieg erklärt hat, ist bei der Festlegung der Taktik der Sozialisten ohne jede Bedeutung. Die Phrasen von der Verteidigung des Vaterlandes, von der Abwehr eines feindlichen Überfalls, vom Defensivkrieg – usw. sind auf beiden Seiten reiner Volksbetrug“.56 Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die NATO der Hauptaggressor ist und Russland sich verteidigt, rechtfertigt das auch keinen Krieg.

Philipp erkennt zwar, dass Proletariat und Bourgeoisie in Russland entgegenstehende Interessen haben: „Die andere Seite – die Regierung der RF – ist nicht die Vertreterin des Interesses der Arbeiterklasse, der Standpunkt der Regierung der RF und der des Proletariats sind nicht identisch. Aber es gibt Überschneidungen und diese gilt es zu erkennen. Zum einen, um die Regierung gegebenenfalls dazu zu bewegen, diese wirklich durchzuführen, beispielsweise die Abwehr der Gefahr oder die Abhängigkeiten vom Westen und vom Rohstoffexport zu reduzieren. Und auch, um den Unterschied der Klasseninteressen richtig zu benennen und einen Weg für das Proletariat aufzuzeigen, für seine der nationalen Bourgeoisie entgegenstehenden Interessen zu kämpfen“.57 Wieso beschließt Philipp denn, wenn es widersprüchliche Interessen gibt, dass die des Proletariats geopfert werden müssen? Warum nicht andersherum, warum nicht die Interessen der Bourgeoisie der sozialistischen Revolution opfern? Nein, zuerst muss das Vaterland verteidigt werden und dann, in einer ungewissen und abstrakten Zukunft, wird das Proletariat für seine der nationalen Bourgeoisie entgegenstehenden Interessen kämpfen. Und alles nur, wegen der besonderen Lage des Staates, der von Zerstörung bedroht wäre.

Das objektive Interesse des Proletariats, der Kommunismus, ist in einem bürgerlichen Staat nicht mit dem Interesse der Bourgeoisie vereinbar. Wenn man von Überschneidungen von Interessen zwischen der russischen Bourgeoisie und dem russischen (oder dem internationalen) Proletariat im Krieg redet, wie Philipp und Klara machen, muss man ganz konkret sagen, wie der Krieg die Revolution in Russland vorantreibt, weil nur das das Klasseninteresse des Proletariats ist, ansonsten werden die Interessen der Bourgeoisie als die Interessen des Proletariats verkauft. Die strategischen Interessen des Proletariats dürfen für die gegenwärtige Situation nicht geopfert werden, sondern im Gegenteil, die gegenwärtige Situation muss genutzt werden, um die strategischen Interessen des Proletariats zu erreichen oder voranzubringen.

Das zweite große Problem, das ich in Philipps Argumentation sehe, sind seine nichtssagenden Vergleiche, die sich letztlich auf sein Argument der Äquidistanz zurückführen lassen. Man muss ihm dennoch zugestehen, dass er auch eine berechtigte Frage gestellt hat. Er fragt, was unter einem imperialistischen Krieg zu verstehen sei.58 Diese Frage ist sehr wichtig und ich werde später darauf zurückkommen. Die nichtssagenden Vergleiche, die ich erwähnt habe, sind folgende: die Frage ob die Angriffskriege der USA gegen Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, etc. ebenfalls so bezeichnet werden.59 Später sagt er, dass „die militärische Führung der Operation sich deutlich von den massiven Bombardements der NATO unterscheidet.“60 Dann stellt er die Frage, ob die Shanghai-Cooperation oder das ALBA genauso reaktionär wie die NATO sind.61

Es geht nicht um die Frage, ob andere Länder bzw. Bündnisse genauso reaktionär oder agressiv wie die NATO sind. Natürlich sind sie es nicht, aber das bringt uns bei der wissenschaftlichen Analyse der Situation in der Ukraine nicht weiter. Was die USA gegen Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, usw. gemacht hat, waren imperialistische Angriffe, aber das bringt uns auch nicht weiter.

Schließlich könnte man die gesamte Argumentation Philipps in seinem eigenen Satz zusammenfassen: „Für die Arbeiterklasse ist es wichtig, zu erkennen, dass es nicht zwei gleiche Seiten sind, sondern dass die eine viel gefährlicher, aggressiver und reaktionärer ist und nicht anders sein kann.“62 Es ist richtig, dass die NATO ein viel aggressiveres Bündnis mit einer viel größeren Bilanz an Zerstörungen und Tod ist. Seine Schlussfolgerung ist aber, dass wir deshalb nicht äquidistant sein können, sondern unterstützen müssen, was andere tun, denn, egal was sie tun, die NATO wird immer schlimmer sein. Damit ersetzt Philipp die Klassenanalyse durch eine moralische Position.

Aber wir können uns nicht auf die Seite des weniger aggressiven und gefährlichen Landes, des kleineren Übels, stellen. Das hieße, auf die ideologische und politische Unabhängigkeit des Proletariats zu verzichten.

Wie schon gesagt, die Vaterlandsverteidigung ist in einem Land wie Russland nicht gerecht. Und die Situation des Kampfes gegen den Faschismus durch ein imperialistisches Land ist einfach nicht Vergleichbar mit dem Zweiten Weltkrieg – das wäre Sophistik. Die Analyse, die mit der Frage der russischen Vaterlandsverteidigung oder des Faschismus in der Ukraine beginnt, verwirft die marxistische Grundlage für die Kritik des heutigen Imperialismus.

Ich kehre nun zur Frage nach dem sozial-politischen Charakter des Krieges zurück. Welche Klasse führt Krieg und wozu? Wer profitiert von diesem imperialistischen Stellvertreter-Krieg? Was sind die Interessen des Westens und Russlands in der Ukraine?

Philipp selbst hat in seinem Text indirekt erwähnt, worum es in dem Konflikt wirklich geht, zieht trotzdem eine falsche Schlussfolgerung aus der Situation:“Auch hier besteht eine deutliche Übermacht der USA und EU und sie müssen mit Mitteln der Spaltung, Aggression, faschistischer Kräfte, etc. vorgehen, um Länder wie die Ukraine aus ihren regionalen Zusammenhängen zu reißen und an sich zu binden. Die NATO und die EU wollen die Ukraine außerdem nur als Anhängsel im Sinne einer verlängerten Werkbank, um billige Arbeitskräfte auszubeuten und als Rohstofflieferanten, aber nicht als Konkurrenten mit eigener industrieller Basis.“63 Was könnte Philipps Satz bedeuten, wenn nicht, dass der Westen die Ukraine aus der Einflusssphäre Russlands in seine eigene ziehen will, und dass der Krieg, den Russland und der Westen in der Ukraine führen, daher ein Kampf um Einflusssphären, ein imperialisticher Krieg ist? Die „regionalen Zusammenhänge“ (Einflusssphären) beschränken sich aber natürlich nicht nur auf den wirtschaftlichen, sondern schließen auch den politisch-militärischen Bereich ein.

Der heutige Krieg und unsere Position dazu

Es ist klar, dass nicht Russland, sondern der Westen die Neuaufteilung anstrebt, Russland aber „seine“ Einflusssphären verteidigt. Der Westen macht das durch ihre wirtschaftliche und politische Vorherrschaft. Russland hat versucht, die Neuaufteilung durch die Politik zu stoppen. Als dies gescheitert war, musste Russland die Armee einsetzen. In diesem Fall zeigt sich auf unverfälschte Weise, wie Krieg Politik mit anderen Mitteln ist, denn was Russland mit der Politik nicht erreichen konnte, versucht es nun mit der Armee.

Und nun möchte ich auf die wichtige Frage von Philipp zurückkommen: Was ist unter einem imperialistischen Krieg zu verstehen? Lenin hat dazu etwas zu sagen:

„Wie kann man nun das „wahre Wesen“ eines Krieges erkennen, wie kann man es bestimmen? Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik. Man muß die Politik vor dem Krieg, die Politik, die zum Krieg geführt und ihn herbeigeführt hat, studieren. War die Politik imperialistisch, d. h., verteidigte sie die Interessen des Finanzkapitals, war sie eine Politik der Ausplünderung und Unterdrückung von Kolonien und fremden Ländern, dann ist auch der Krieg, der sich aus dieser Politik ergibt, ein imperialistischer Krieg. War die Politik eine Politik der nationalen Befreiung, d. h., war sie Ausdruck der Massenbewegung gegen die nationale Unterdrückung, dann ist der Krieg, der sich aus dieser Politik ergibt, ein nationaler Befreiungskrieg“.64

Die Vorkriegspolitik, die nicht auf die Diplomatie oder den Konflikt um die Ukraine reduziert werden sollte, war bereits eine Politik der Rivalität um Einflusssphären, die wahrscheinlich auf das Jahr 1991 zurückgeht, als es sicherlich der Westen war, der eine Neuaufteilung der Einflusssphären anstrebte, die Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR geerbt hatte. Russlands Politik der Eindämmung zum Schutz seiner Einflusssphären in Osteuropa war gescheitert, so dass es zu den Waffen greifen musste, sobald es sich dazu in der Lage sah.

Ein guter Beitrag zur Beantwortung der Frage des Krieges im heutigen Imperialismus in unserer Diskussion ist der des Genossen Patrick Honer: „alle Kriege, die aus der Logik des Imperialismus heraus entstehen, aus den Konflikten bei der Neuaufteilung der Welt, aus dem Drang nach Einflussgebieten, respektive dem Schutz der eignen Einflussgebiete und übervorteilten politischen und ökonomischen Beziehungen“.65 Natürlich muss die „Logik des Imperialismus“ als die Logik des heutigen Imperialismus verstanden werden: die Herrschaft der Monopole, die Reaktion nach innen und außen unter den aktuellen Bedingugen, die neuen imperialistischen Mächte, der Kampf um Einflusssphären, usw. Es geht nicht mehr in erster Linie um den Kampf um Kolonien (oder Halbkolonien) und die entsprechende Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts, sondern um die Aneignung neuer und den Schutz bestehender Einflusssphären, d.h. um die Neuaufteilung der Welt unter den Bedingungen nach dem Ende des revolutionären Zyklus. Das ist die Logik des Imperialismus von heute. Und die Kriege, denen diese Logik zugrunde liegt, sind imperialistische Kriege.

In diese Logik lässt sich auch der Krieg in der Ukraine einordnen. Es geht hier um einen imperialistischen Krieg, unabhängig davon, was die NATO und Russland als Grund verkaufen wollen.

Der Westen argumentiert, dass er die Ukraine in ihrem Kampf um Demokratie und Unabhängigkeit unterstützt. Das ist, wie wir alle wissen, eine gigantische Lüge. Der Westen will die Ukraine für seine Einflusssphären gewinnen und investiert dafür sehr viel. Denn wenn er gewinnt, erhält er neben den von Philipp erwähnten wirtschaftlichen Vorteilen für seine Monopole einen weiteren Stützpunkt gegen Russland und es würde sein Streben nach Hegemonie im postsowjetischen Raum vorantreiben. Aus diesem Grund unterstützt der Westen die Ukraine wirtschaftlich und militärisch.

Russland argumentiert, dass seine Sicherheit gefährdet sei, was ich nicht bezweifel, das ändert aber nichts an dem Charakter des Krieges. Wenn Russlands Sicherheit durch NATO-Truppen in der Ukraine bedroht ist, dann deshalb, weil Russland ein imperialistischer Konkurrent des Westens ist, in diesem Fall um die Ukraine. Russland will die Ukraine aus wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gründen nicht aus seiner Einflusssphäre verlieren und führt deshalb die angebliche „Entnazifizierung“ der Ukraine durch, nur, weil ukrainische Faschisten dem Westen im Kampf um die Ukraine helfen. Wären sie pro-russische Faschisten, hätte diese „Entnazifizierung“ der Ukraine nie begonnen. Das zeigt, es geht um den Schutz der Interessen der russischen Bourgeoisie, nicht um die Entnazifizierung. Es ist klar, dass das russische Finanzkapital nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen zur Ukraine nicht verlieren will, sondern auch keinen weiteren westlichen Stützpunkt an der Grenze seines Staates wünscht.

Aber die alten imperialistischen Argumente sind uns bereits bekannt. Damals schrieb Lenin: „Verlogen, sinnlos und heuchlerisch ist alles Geschwätz vom Verteidigungskrieg oder von der Vaterlandsverteidigung seitens der großen Mächte (lies: der großen Räuber), die um die Weltherrschaft, um die Märkte und „Einflußsphären“, um die Unterjochung der Völker Krieg führen!“66

Die Situation ist offensichtlich widersprüchlich, denn obwohl die Ukraine wirtschaftlich immer noch stark mit Russland verbunden ist, steht sie politisch seit dem Putsch von 2014 auf der Seite des Westens. Und dieser Widerspruch, der sich im Krieg auflösen kann, muss noch eingehend analysiert werden. In diesem Zusammenhang muss übrigens die Bedeutung der Ukraine im Energie- und Nahrungsmittelsektor berücksichtigt werden.

Dem Beispiel Lenins folgend,67 geht es hier nicht darum, die russische Bourgeoisie des Friedensbruchs zu beschuldigen und die lange und beharrliche Vorbereitung des Krieges gegen Russland durch die atlantische Bourgeoisie zu verheimlichen. Natürlich bedroht die Osterweiterung des Westens den russischen bürgerlichen Staat. Dieser Beitrag ist keine Rechtfertigung für die EU-Füchsen. Der Krieg hat den deutschen Chauvinismus in seiner europäischen Form gestärkt. Das deutsche Finanzkapital, das den deutschen Chauvinismus formell ablehnt, macht sich denselben Chauvinismus zu eigen, allerdings abgedeckt in Europäismus. Auf diese Weise strebt die deutsche Bourgeoisie unter dem europäischen Banner nach der Eroberung von Einflusssphären. Wie wir bereits gesehen haben, bedeutet das nicht, dass das Proletariat die andere Bourgeoisie unterstützen muss. Es geht auch nicht darum, den russischen Imperialismus allein zu verurteilen oder eine äquidistante Haltung einzunehmen.

Es geht darum, eine kollektive wissenschaftliche Analyse zu erstellen, zu dem dieser Text beitragen soll. Ziel dieses Textes ist es, einen Beitrag zur Schaffung einer unabhängigen proletarischen Position zu leisten. Agitatorische Parolen können eine wissenschaftliche Analyse nicht ersetzen. Im Gegenteil: Parolen und Losungen können nur aus einer wissenschaftlichen Analyse abgeleitet werden. Wir müssen die Frage des Imperialismus klären. In diesem Prozess kann man keine Argumente abtun oder andere validieren, um eine „Äquidistanz“ zu vermeiden. Die Analyse muss ohne Angst vor den Ergebnissen durchgeführt werden, die sie hervorbringen könnte. Man sollte eine theoretische Diskussion durch Agitationsparolen nicht ersetzen.68 Andererseits können wir, politisch, nicht neutral sein, denn der Hauptfeind steht immer noch im eigenen Land.

Die Methode Lenins

Ein gemeinsamer Fehler der Methoden Klaras und Philipps besteht darin, dass sie versuchen, den Krieg mit der russischen nationalen Selbstverteidigung und dem ukrainischen Faschismus zu erläutern, d.h. mit denselben Gründen, die Putin in seiner Rede vom 9. Mai genannt hat. Wenn man diese Faktoren als die Ursache des Krieges betrachtet, wird die Klassenanalyse bestenfalls zu einem Zusatz, wenn nicht gar völlig überflüssig. Ihre Analyse beginnt mit den Nationen, nicht mit den Klassen, die nur oberflächlich zur Rechtfertigung von Positionen einbezogen werden. Deshalb machen sie am Ende das Proletariat für die Verteidigung des Vaterlandes verantwortlich.69 70

Lenins Methode ist genau umgekehrt. Die materialistische Analyse der Gesellschaft beginnt notwendigerweise mit den Klassen. Wenn die Klassen und ihre widersprüchlichen Interessen zuerst betrachtet werden, kann man verstehen, warum sie so handeln, wie sie handeln, und mit welchen Mitteln sie handeln. In diesem Fall, wie die Bourgeoisie ihren Staat für die Verfolgung ihrer Interessen einsetzt und wie das Proletariat seine kommunistische Partei für die Verfolgung seiner Interessen einsetzen sollte, die denen der Bourgeoisie entgegengesetzt sind. Wenn es keine kommunistische Partei gibt, die das macht, muss das Proletariat eine aufbauen.

Der Anfang für eine Klassenanalyse ist in der ökonomischen Basis zu finden, sonst verliert man sich in der Vielzahl der politischen Fakten, in denen kein Zusammenhang zu finden ist, wenn die Klassen ignoriert werden. Obwohl Philipp einige der jüngsten Ereignisse, die zum Krieg in der Ukraine geführt haben, zusammenfasst, gelingt es ihm nicht, das imperialistische Wesen des Konflikts zu erfassen, weil seine Analyse nicht von der objektiven Lage der Klassen in der historischen Entwicklung der letzten 30 Jahre ausgeht. Er versucht, die Klassen nachträglich und oberflächlich einzuschieben, indem er die angebliche Überschneidung von Interessen erfindet. Wie immer, gibt es ein Zitat von Lenin, welches es am besten erklärt:

„Denn der Beweis für den wahren sozialen oder, richtiger gesagt, den wahren Klassencharakter eines Krieges ist selbstverständlich nicht in der diplomatischen Geschichte des Krieges zu suchen, sondern in der Analyse der objektiven Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten. Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen (bei der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens kann man immer eine beliebige Zahl von Beispielen oder Einzeldaten ausfindig machen, um jede beliebige These zu erhärten),sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen.“71

Und das ist genau die Art von Analyse, die wir in Bezug auf die aktuelle Situation durchführen müssen.

Abschließend möchte ich euch ein letztes Zitat von Lenin mit auf den Weg geben:

„Im gegenwärtigen imperialistischen Krieg, der durch die Gesamtheit der Verhältnisse der imperialistischen Epoche erzeugt wurde, d. h. kein Zufall ist, keine Ausnahme, keine Abweichung vom Allgemeinen und Typischen, sind die Phrasen von der Vaterlandsverteidigung Volksbetrug, denn dieser Krieg ist kein nationaler Krieg“.72

1Lenin. Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ (LW B23, Seite 34).

2Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 270). Hervorhebung ist von mir.

3Ebenda (Seiten 270-271).

4Ebenda (Seite 206).

5Ebenda (Seite 203).

6Ebenda (Seite 206).

7Lenin. Sozialismus und Krieg (LW B21, Seite 303).

8Lenin. Über die Junius-Broschüre (LW B22, Seite 315).

9Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 305).

10Lenin. Bürgerlicher und sozialistischer Pazifismus (LW B23, Seite 188).

11Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 267).

12Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 247).

13Ebenda (Seite 247).

14Lenin. Sozialismus und Krieg (LW B21, Seite 306).

15Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 247).

16Ebenda (Seite 268).

17Lenin. Über den Separatfrieden (LW B23, Seite 125).

18Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 280). Hervorhebung ist von mir.

19Lenin. Der Fuchs und der Hühnerstall (LW B18, Seite 344). Bemerkung: Nowoje Wremja war die Zeitung der erzreaktionären Gutsbesitzer und oktobristischen Kaufleute, und Retsch die Zeitung der liberalen Kadetten-Partei.

20Friedensmanifest des Internationalen Sozialistenkongress, 1912.

21Lenin. Der afterkluge russische Radikale (LW B11, Seite 229).

22Lenin. Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (LW B21, Seite 15). Hervorhebung ist von mir.

23Ebenda (Seite 17).

24Lenin. Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR (LW B21, Seite 150).

25Lenin. Sozialismus und Krieg (LW B21, Seite 301).

26Lenin. Die Sophismen der Sozialchauvinisten (LW B21, Seite 174).

27Lenin. An die Kameraden, die in der Kriegsgefangenschaft schmachten (LW B23, Seite 359).

28Lenin. Einleitung zu den Resolutionen der siebenten gesamtrussischen Konferenz der SDAPR (LW B24, Seite 307).

29Lenin. Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (LW B24, Seite 50).

30Lenin. Sozialismus und Krieg (LW B21, Seite 316).

31Lenin. Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Krieg (LW B21, Seite 274).

32Lenin. Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution (LW B24, Seite 50).

33Stalin. Der Oktoberumsturz und die nationale Frage (SW B4, Seite 145).

34Lenin. Aus dem philosophischen Nachlass (Seiten 69-71)

35Lenin. Der Zusammenbruch der II. Internationale (LW B21, Seite 211).

36Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 247)

37Lenin. Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ (LW B23, Seite 27).

38Stengl, A. Chinas Neuer Imperialismus (2021).

39Bina, K. Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung (Seite 14). https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/

40Ebenda (Seite 7).

41Ebenda (Seiten 18-19).

42Lenin. Die Sophismen der Sozialchauvinisten (LW B21, Seite 175).

43Bina, K. Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung (Seite 35-40).

44Lenin. Über die Junius-Broschüre (LW B22, Seite 315). Hervorhebung ist von Lenin.

45Bina, K. Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung (Seite 39).

46Ebenda.

47Lenin. Die russischen Südekums (LW B21, Seite 107).

48Bina, K. Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung (Seite 9).

49Lenin. Sozialismus und Krieg (LW B21, Seite 301). Hervorhebung ist von mir.

50Lenin. Offener Brief an Boris Souvarine (LW B23, Seite 202).

51Ebenda (Seite 200).

52Ebenda (Seite 203).

53Lenin. Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ (LW B23, Seite 34).

54Kissel, P. Zur Kritik am „Joint Statement“ und zur NATO-Aggression gegen Russland (Seite 1). https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/zur-kritik-am-joint-statement-und-zur-nato-aggression-gegen-russland/

55Ebenda (Seite 8).

56Lenin. Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR (LW B21, Seite 148).

57Kissel, P. Zur Kritik am „Joint Statement“ und zur NATO-Aggression gegen Russland (Seite 9).

58Ebenda (Seite 3).

59Ebenda.

60Ebenda (Seite 33).

61Ebenda (Seite 7).

62Ebenda (Seite 9).

63Ebenda (Seite 4). Hervorhebung ist von mir.

64Lenin. Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ (LW B23, Seite 23).

65Honer, P. Von Bildern, imperialistischen Ländern und Schiedsrichtern (Seite 7). https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/von-bildern-imperialistischen-laendern-und-schiedsrichtern/

66Lenin. Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale (LW B21, Seite 448). Hervorhebung ist von mir.

67Lenin. Die russischen Südekums (LW B21, Seite 106).

68Lenin. Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ (LW B23, Seite 59).

69Kissel, P. Zur Kritik am „Joint Statement“ und zur NATO-Aggression gegen Russland (Seite 8).

70Bina, K. Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung (Seite7).

71Lenin. Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (LW B22, Seite 194). Hervorhebung ist von mir.

72Lenin. Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“ (LW B23, Seite 21).

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