Anmerkungen zum Diskussionsbeitrag: „Der Revisionismus in unseren Reihen“
Diskussionsbeitrag von Milo Barus
Die folgende Kritik bezieht sich auf einen Diskussionsbeitrag von Spanidis und Schulze, der am 30.12.2022 unter dem Titel „Der Revisionismus in unseren Reihen“ erschienen ist. Auch wenn sich der Beitrag auf eine Diskussion innerhalb der KO bezieht steht er stellvertretend für eine bestimmte Interpretation Lenins Imperialismustheorie, die auch von namhaften Organisationen wie der KKE, oder der SKP vertreten wird, welche letztlich den Bezugspunkt für Spanidis und Schulze darstellen. Da die mit dieser Interpretation verbundenen Positionen einen großen Einfluss auf die kommunistische Bewegung – insbesondere in Europa – haben ist es notwendig darauf einzugehen und sie kritisch zu durchleuchten. Dabei geht es um die Rolle der Monopole, des Finanzkapitals, des Kapitalexports und die Frage der nationalen Entwicklung in den ehemaligen Kolonien. In weiten Teilen der kommunistischen Bewegung finden sich Versatzstücke einer Theorie, die den Imperialismus als ein globales Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten begreifen in dem sich die meisten Länder annähernd gleichberechtigt gegenüberstehen. Der Kampf gegen den Imperialismus wird damit zum Kampf gegen den „Weltimperialismus“. Die Herrschaft weniger, ökonomisch besonders weit entwickelter Großmächte, die Lenin in seinen Schriften klar herausstellt wird dadurch negiert. Das Besondere an den Vertretern dieser Interpretation ist, dass sie sich als konsequente Verteidiger Lenins darstellen, aber in deutlichem Widerspruch zu seiner Theorie stehen. Dieser Widerspruch soll im Folgenden herausgearbeitet werden.
In Abschnitt 2.1 des Diskussionsbeitrags stellen Spanidis und Schulze ihre Vorstellungen des gegenwärtigen Imperialismus dar und grenzen diese gegen vermeintlich revisionistische Positionen ab. Um das zu beweisen, beziehen sich die Autoren allerdings nur an zwei Stellen auf Lenin selbst und verweisen ansonsten ausschließlich auf ihre eigenen Texte oder belegen ihre Aussagen nicht. Trotz der dürftigen Quellenlage möchte ich beispielhaft an einigen Positionen, die in dem Beitrag vertreten werden, das Verständnis der Autoren von Lenins Imperialismustheorie aufgreifen und kritisieren.
Monopol, Herrschaft und Abhängigkeit
Die Autoren schreiben, dass Lenin keine Trennung „zwischen imperialistischen und nicht-imperialistischen monopolkapitalistischen Länder[n]“[i] vorgenommen hätte. Hier stellt sich die Frage, ob die Autoren tatsächlich diese Tautologie belegen möchten. Schließlich verwendet Lenin die Begriffe Monopolkapitalismus und Imperialismus gleichbedeutend. Dass das imperialistische Entwicklungsstadium des Kapitalismus maßgeblich von Monopolen bestimmt wird und damit auch die wirtschaftliche und politische Entwicklung aller Länder in dieser Epoche, steht für Lenin fest. Doch bedeutet dies nicht, dass sich in allen Ländern Monopole herausgebildet hätten – auch nicht in Ländern, in denen sich der Kapitalismus als vorherrschendes Gesellschaftssystem durchgesetzt hat. Das Monopol, dass nach Lenin wesentlich für den Monopolkapitalismus (Imperialismus) ist, stellt sich nicht einfach als ein beliebiges Unternehmen mit bestimmter Größe dar, sondern kennzeichnet den Imperialismus und die für ihn prägenden Länder durch „die gigantischen Ausmaße des in wenigen Händen konzentrierten Finanzkapitals, das sich ein außergewöhnlich weitverzweigtes und dichtes Netz von Beziehungen und Verbindungen schafft, durch das es sich die Masse nicht nur der mittleren und kleinen, sondern selbst der kleinsten Kapitalisten und Unternehmer unterwirft“ und durch den „verschärfte[n] Kampf mit den anderen nationalstaatlichen Finanzgruppen um die Aufteilung der Welt und um die Herrschaft über andere Länder […]“.[ii]
„Die Herrschaft über andere Länder“ setzt voraus, dass das Monopol über den nationalen Rahmen hinauswächst, erst dadurch entsteht nach Lenin das „volle Monopol“. In seiner Schrift „Über eine Karikatur auf den Marxismus“ beschreibt Lenin, wie sich die internationale Herrschaft der Monopole realisiert:
„Ökonomisch ist Imperialismus monopolistischer Kapitalismus. Damit das Monopol zum vollen Monopol wird, müssen die Konkurrenten nicht nur vom inneren Markt (vom Markt des betreffenden Staates), sondern auch vom äußeren Markt, müssen sie in der ganzen Welt verdrängt werden. Gibt es „in der Ära des Finanzkapitals“ eine ökonomische Möglichkeit, die Konkurrenz auch in einem fremden Staat zu verdrängen? Natürlich: Dieses Mittel ist die finanzielle Abhängigkeit und der Aufkauf der Rohstoffquellen und dann auch aller Unternehmen des Konkurrenten.“ [iii] Inwiefern dieses Mittel – der Schaffung einer „finanziellen Abhängigkeit und der Aufkauf der Rohstoffquellen und dann auch aller Unternehmen des Konkurrenten“ – allen kapitalistischen Ländern in der Epoche des Imperialismus zur Verfügung steht wird durch die Autoren nicht weiter belegt.
In derselben Schrift benennt Lenin Merkmale von „imperialistischen (d. h. eine ganze Reihe fremder Völker unterdrückenden und sie in das Netz der Abhängigkeit vom Finanzkapital verstrickenden usw.) Großmächten“.[iv] Das imperialistische an einer „Großmacht“ ist demnach – unter Anderem – die Möglichkeit fremde Völker in ein Netz von Abhängigkeiten vom eigenen Finanzkapital zu verstricken und diese zu unterdrücken. In der Schrift: „Vorschläge des Zentralkomitees der SDAPR“ beschreibt Lenin darüber hinaus den Charakter der „imperialistischen Politik, d. h. der Politik des finanzkapitalistischen Raubes, der Ausplünderung der Kolonien, der nationalen Unterdrückung, der politischen Reaktion, der Verschärfung der kapitalistischen Ausbeutung.“ [v] Auch hier bleiben die Autoren die Erklärung schuldig, inwiefern diese Merkmale heute auf fast alle Länder zutreffen.
Die Autoren behaupten außerdem, dass eine Unterteilung in herrschende und beherrschte Länder, nicht der Realität entspreche.[vi] Begründet wird dies damit, dass die Bourgeoisien die in „Abhängigkeit von den global dominierenden Kapitalgruppen“ stünden nach einer „eigenständigen Rolle“ strebten und versuchten das „schwächere Kapital von sich abhängig zu machen“. Inwiefern dieser „Versuch“ die Herrschaft weniger Staaten über eine Vielzahl abhängiger Staaten infrage stellt, bleibt unklar. Lenin hingegen beschreibt die Spaltung der Welt „in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten“ [vii] deutlich und liefert mit seiner Untersuchung der finanziellen Abhängigkeit ein wichtiges Kriterium, um diese Einteilung vorzunehmen.
In ihrem Diskussionsbeitrag grenzen sich die Autoren deutlich von der aus ihrer Sicht „revisionistischen“ Position zum Imperialismus ab:
„Nach der revisionistischen Position lässt sich die Welt jedoch klar unterteilen in eine kleine Gruppe „unterdrückender“ und eine sehr große Gruppe abhängiger und „unterdrückter“ Staaten. […] Die revisionistische Vorstellung geht demnach davon aus, dass eine Zweiteilung der Welt in diese Gruppen zu den Wesensmerkmalen des Imperialismus nach Lenin zählt.“ [viii]
Den Autoren nach widerspreche die Einteilung der Welt in unterdrückende und unterdrückte Länder der Realität und stelle nach Lenin kein Wesensmerkmal des Imperialismus dar. Sie gehen sogar so weit, Vorstellungen dieser Art pauschal als revisionistisch zu bezeichnen. Allerdings scheint Lenin dies anders zu sehen. In seiner Schrift „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, in der er seinerseits falsche Vorstellungen vom Imperialismus – insbesondere diejenige von Kautsky – kritisiert, schreibt er dazu folgendes:
„Ein Häuflein reicher Länder – es gibt ihrer im ganzen vier, wenn man selbständigen und wirklich riesengroßen „modernen“ Reichtum im Auge hat: England, Frankreich, die Vereinigten Staaten und Deutschland – , dieses Häuflein Länder hat Monopole in unermeßlichen Ausmaßen entwickelt, bezieht einen Extraprofit in Höhe von Hunderten Millionen, wenn nicht von Milliarden, saugt die anderen Länder, deren Bevölkerung nach Hunderten und aber Hunderten Millionen zählt, erbarmungslos aus und kämpft untereinander um die Teilung der besonders üppigen, besonders fetten, besonders bequemen Beute. Eben darin besteht das ökonomische und politische Wesen des Imperialismus, dessen überaus tiefe Widersprüche Kautsky nicht aufdeckt, sondern vertuscht.[ix]
Es stellt sich also die Frage, ob die Autoren nicht selbst genau jenen Fehler begehen, den Lenin hier Kautsky zum Vorwurf macht, nämlich die wesentlichen Widersprüche des Imperialismus zu verschleiern, anstatt sie aufzudecken.
Um ihre These dennoch zu stützen argumentieren die Autoren, dass auch Lenin von „Zwischenformen“ spricht und führen als Beleg für Ihre Aussage, Seite 267ff der Imperialismusschrift[x], mit dem Verweis auf die Rolle Argentiniens und Portugals an. Diese Länder sollen den Autoren nach also Beispiele dafür sein, dass Lenin eine entsprechende Unterteilung in herrschende und beherrschte Länder nicht vorgenommen hätte. Dass sie das Zitat nicht selbst anführen, könnte daran liegen, dass Lenin auf besagten Seiten scheinbar nicht zu denselben Schlüssen kommt wie die Autoren. Dort heißt es (Hervorhebungen durch den Autor):
„Spricht man von der Kolonialpolitik in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus, dann muß bemerkt werden, daß das Finanzkapital und die ihm entsprechende internationale Politik, die auf einen Kampf der Großmächte um die ökonomische und politische Aufteilung der Welt hinausläuft, eine ganze Reihe von Übergangsformen der staatlichen Abhängigkeit schaffen. Typisch für diese Epoche sind nicht nur die beiden Hauptgruppen von Ländern – die Kolonien besitzenden und die Kolonien selber -, sondern auch die verschiedenartigen Formen der abhängigen Länder, die politisch, formal selbständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind. Auf eine dieser Formen, die Halbkolonien, haben wir bereits hingewiesen. Ein Musterbeispiel für eine andere Form ist z. B. Argentinien.“
Lenin bestätigt hier keinesfalls die These der Autoren, dass die Herausbildung von „Zwischenformen“ das Ende der Beherrschung oder Abhängigkeit bedeuten würde. Im Gegenteil stellt Lenin klar, dass sogar „politisch, formal selbständig [Länder] in Wirklichkeit […] in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind.“ Diesen Zusammenhang und auch die Rolle Argentiniens und Portugals beschreibt Lenin an anderer Stelle wie folgt:
„Das große Finanzkapital eines Landes ist stets in der Lage, seine Konkurrenten auch in einem fremden, politisch unabhängigen Land aufzukaufen, und tut dies auch ständig, ökonomisch ist das durchaus zu realisieren. [Das ist es was Lenin im weiter oben angeführten Zitat als imperialistisch beschreibt (Anm. des Autors)] Die ökonomische „Annexion“ ist durchaus „realisierbar“ ohne die politische und begegnet uns ständig. In der Literatur über den Imperialismus finden wir auf Schritt und Tritt Hinweise, daß z. B. Argentinien in Wirklichkeit eine „Handelskolonie“ Englands, Portugal faktisch ein „Vasall“ Englands ist u. dgl. Das ist richtig. Die ökonomische Abhängigkeit von den englischen Banken, die Verschuldung an England, der Aufkauf von Eisenbahnen, Gruben, Boden usw. durch England – all das macht die genannten Länder zu einer „Annexion“ Englands im ökonomischen Sinne, ohne Zerstörung der politischen Unabhängigkeit dieser Länder.“ [xi]
Dass Argentinien, „eine Handelskolonie Englands“ und Portugal, „ein Vasall Englands“ von den Autoren als Beispiele dafür herangezogen werden, dass Lenin keine Einteilung in herrschende und beherrschte Länder vornimmt, ist also fragwürdig und bedarf weiterer Erklärungen, die nicht geliefert werden.
Die Autoren versuchen weiter, die von Lenin klar formulierten Aussagen zum Imperialismus in Zweifel zu ziehen. Sie schreiben in ihrem Diskussionsbeitrag:
„Die Genossin Saidi hat in ihrem Beitrag nachvollziehbar dargelegt, dass auch Lenin die Begriffe „Großmächte“ und „Räuber“ nicht einwandfrei auf dieselben Staaten angewandt hat. Er hat eine solche Trennlinie zwischen imperialistischen und nicht-imperialistischen monopolkapitalistischen Ländern nicht gezogen, sondern vielmehr die Unterscheidung zwischen Ländern mit entwickeltem Monopolkapital einerseits und Kolonien, Halbkolonien sowie Ländern mit einem kaum entwickelten Kapitalismus andererseits gemacht, wobei er auch unterschiedliche Zwischenformen analysiert hat.“[xii]
Warum die angeblich „nicht einwandfreie“ Verwendung der Begriffe „Großmächte und Räuber“ ein Belegt für die Behauptung sein soll, dass Lenin eine Unterteilung in herrschende und beherrschte Staaten nicht vornimmt, bleibt unklar. Der Diskussionsbeitrag von Fatima Saidi, der als Beleg für die Behauptung angeführt wird, stellt lediglich fest, dass Lenin unterschiedliche Gruppen von Ländern in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich begrifflich fasst und merkt an, dass eine Auseinandersetzung hiermit in Zukunft wichtig sei. Ein Beleg für die Behauptung der Autoren findet sich darin nicht. Im Gegenteil benennt Saidi Zitate aus Lenins Schriften, die deutlich machen, dass er eine bestimmte Gruppe von Ländern, als diejenigen Akteure ansieht, die durch ihre fortgeschrittene Entwicklung, den Charakter der imperialistischen Epoche bestimmen. Dass Lenin auch unter diesen Ländern Unterschiede in der Entwicklung feststellt, widerlegt seine Ausführungen nicht.
Kapitalexport und nationale Entwicklung
Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus in den abhängigen Ländern führen die Autoren die Rolle des Kapitalexportes an. Dazu schreiben Sie (Hervorhebungen durch den Autor):
„Bereits Lenin beschrieb unzweideutig, wie der Kapitalexport der imperialistischen Länder die Produktivkraftentwicklung und Entwicklung des Kapitalismus in den abhängigen Ländern, sogar in den Kolonien und Halbkolonien außerordentlich beschleunigt.“ [xiii]
Es ist natürlich richtig, dass sich der Kapitalismus durch die Einführung der Warenproduktion zugunsten der beherrschenden Kolonialmächte in neuen Teilen der Welt ausbreitet und weiterentwickelt. Inwiefern diese Entwicklung aber die für das entsprechende Land nutzbaren Produktivkräfte entwickelt oder gar die Abhängigkeit oder Beherrschung der entsprechenden Länder auflöst bleibt unklar. Die Autoren belegen ihre Aussage mit Seite 247 von Lenins Imperialismusschrift. Dort heißt es:
„Der Kapitalexport beeinflußt in den Ländern, in die er sich ergießt, die kapitalistische Entwicklung, die er außerordentlich beschleunigt. Wenn daher dieser Export bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden Ländern zu hemmen geeignet ist, so kann dies nur um den Preis einer Ausdehnung und Vertiefung der weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der ganzen Welt geschehen. Die kapitalexportierenden Länder haben fast immer die Möglichkeit, gewisse „Vorteile“ zu erlangen, deren Charakter die Eigenart der Epoche des Finanzkapitals und der Monopole ins rechte Licht setzt.“ [xiv]
Lenin beschreibt hier, dass sich der Kapitalismus durch den Kapitalexport in den noch sehr wenig entwickelten Ländern weiterentwickelt. Er beschreibt aber nicht, dass sich dadurch die Abhängigkeiten oder die Herrschaft abschwächen würden. Im Gegenteil hebt Lenin hervor, dass die kapitalexportierenden Länder – und nicht die Länder in die sich der Kapitalexport „ergießt“ – vom Kapitalexport profitieren und betont, dass der Charakter der Vorteile, die sich die kapitalexportierenden Länder durch den Kapitalexport verschaffen „die Eigenart der Epoche des Finanzkapitals und der Monopole ins rechte Licht setzt.“ Das Wesentliche ist hier also die Vorteilnahme der kapitalexportierenden und nicht die vermeintliche Entwicklung der Produktivkräfte in den abhängigen Ländern.
Auf den nächsten Seiten beschreibt Lenin, wie die kapitalexportierenden Länder den Kapitalexport zur Aufrechterhaltung und zum Ausbau ihrer Vormachtstellung nutzen. Es wird die Machtstellung weniger Monopole und deren Verflechtung mit den Banken beschrieben: „Auf diese Weise wirft das Finanzkapital im buchstäblichen Sinne des Wortes seine Netze über alle Länder der Welt aus.“ Es lohnt sich an dieser Stelle, die von den Autoren referenzierten Abschnitte der Imperialismusschrift selbst nachzulesen.
Der impliziten Behauptung der Autoren, dass sich durch die Entwicklung des Kapitalismus in den weniger entwickelten Ländern, die Entwicklungsunterschiede abschwächen würden, entgegnet Lenin: „Das Finanzkapital und die Trusts schwächen die Unterschiede im Tempo des Wachstums der verschiedenen Teile der Weltwirtschaft nicht ab, sondern verstärken sie.“ Lenin schließt deshalb jedoch nicht aus, dass sich die Machtverhältnisse zwischen den Großmächten ändern können. [xv]
Lenin äußert sich zu dieser Frage auch an anderer Stelle. Dort bezeichnet er den Kapitalexport als „Parasitismus ins Quadrat erhoben“[xvi]; die Bedeutung des Parasitismus beschreibt Lenin wie folgt: (Hervorhebungen durch den Autor) „Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen.“ [xvii]
Der Kapitalexport und der damit verbundene Parasitismus ist laut Lenin also durch die Ausbeutung einer großen Zahl von schwachen Nationen, durch eine kleine Anzahl von mächtigen Nationen gekennzeichnet. Dass Ausbeutung ein Herrschaftsverhältnis voraussetzt, sollte auch den Autoren klar sein.
An einer anderen Stelle bringt Lenin die Bedeutung des Kapitalexports noch einmal klar zum Ausdruck, indem er verdeutlicht, dass der Kapitalexport nicht als ein Motor nationaler Entwicklung in den weniger entwickelten Ländern zu begreifen ist, sondern als ein „Werkzeug zur Unterdrückung“:
„Der Bau von Eisenbahnen scheint ein einfaches, natürliches, demokratisches, kulturelles, zivilisatorisches Unternehmen zu sein: Ein solches ist er in den Augen der bürgerlichen Professoren, die für die Beschönigung der kapitalistischen Sklaverei bezahlt werden, und in den Augen der kleinbürgerlichen Philister. In Wirklichkeit haben die kapitalistischen Fäden, durch die diese Unternehmungen in tausendfältigen Verschlingungen mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln überhaupt verknüpft sind, diesen Bau in ein Werkzeug zur Unterdrückung von einer Milliarde Menschen (in den Kolonien und Halbkolonien), d. h. von mehr als der Hälfte der Erdbevölkerung in den abhängigen Ländern und der Lohnsklaven des Kapitals in den „zivilisierten“ Ländern verwandelt.“ [xviii]
Monopolprofit und Ausbeutung
Eng mit dem Kapitalexport verknüpft ist der Monopolprofit – eine für das Monopol wesentliche Form des Extraprofites – und die Frage der Ausbeutung der abhängigen Länder durch die Großmächte. Da den Autoren nach die Beherrschung und Ausbeutung abhängiger Länder keine entscheidende Rolle spielt, kann die Ausbeutung anderer Länder auch für den Monopolprofit nicht bestimmend sein. Hierzu schreiben sie:
„Der Monopolprofit wiederum entsteht keineswegs nur oder primär aus der Ausbeutung abhängiger Länder, sondern aus einem Werttransfer zwischen dem nichtmonopolistischen und dem monopolistischen Kapital zugunsten des Letzteren.“ [xix]
Jedoch lässt sich auch hier eine andere Einschätzung Lenins feststellen. Er beschreibt die Rolle und den Ursprung des monopolistischen Extraprofites in seiner bereits oben zitierten Schrift „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“ und verteidigt diese Einschätzung gegen die falschen Positionen Kautskys:
„Warum liefert die Monopolstellung Englands die Erklärung für den (zeitweiligen) Sieg des Opportunismus in England? Weil durch ein Monopol Extraprofit erzielt wird, d. h. ein Profitüberschuß über den in der ganzen Welt üblichen, normalen kapitalistischen Profit. Von diesem Extraprofit können die Kapitalisten einen Teil (und durchaus keinen geringen!) verwenden, um ihre Arbeiter zu bestechen, um eine Art Bündnis (man erinnere sich an die berühmten „Allianzen“ der englischen Trade-Unions mit ihren Unternehmern, die von den Webbs beschrieben wurden) der Arbeiter der betreffenden Nation mit ihren Kapitalisten gegen die übrigen Länder zu schaffen.“ [xx]
In seiner Imperialismusschrift ergänzt Lenin dieses Verständnis unter anderem mit der folgenden Ausführung (Hervorhebungen durch den Autor):
„Wie in der vorliegenden Schrift nachgewiesen ist, hat der Kapitalismus jetzt eine Handvoll (weniger als ein Zehntel der Erdbevölkerung, ganz „freigebig“ und übertrieben gerechnet, weniger als ein Fünftel) besonders reicher und mächtiger Staaten hervorgebracht, die – durch einfaches „Kuponschneiden“ – die ganze Welt ausplündern. Der Kapitalexport ergibt Einkünfte von 8-10 Milliarden Francs jährlich, und zwar nach den Vorkriegspreisen und der bürgerlichen Vorkriegsstatistik. Gegenwärtig ist es natürlich viel mehr. Es ist klar, daß man aus solchem gigantischen Extraprofit (denn diesen Profit streichen die Kapitalisten über den Profit hinaus ein, den sie aus den Arbeitern ihres „eigenen“ Landes herauspressen) die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie bestechen kann. Sie wird denn auch von den Kapitalisten der „fortgeschrittenen“ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte.“ [xxi]
Lenin beschreibt also, dass der monopolistische Extraprofit durch das „Ausplündern“ der weniger entwickelten Länder entsteht, wobei der Kapitalexport eine zentrale Funktion einnimmt. Dies widerspricht jedoch nicht der Begründung, die die Autoren für ihre zweifelhafte Behauptung anführen, in welcher sie feststellen, dass der Monopolprofit„aus einem Werttransfer zwischen dem nichtmonopolistischen und dem monopolistischen Kapital zugunsten des Letzteren“ entsteht – schließlich befindet sich das nichtmonopolistische Kapital vor allem in den weniger entwickelten Ländern.
Doch der Zusammenhang zwischen dem monopolistischen Profit weniger weltbeherrschender Monopole und der Ausbeutung und Unterdrückung großer Teile der Weltbevölkerung, den Lenin deutlich benennt, spielt für die Autoren keine bedeutende Rolle mehr. Begriffe wie Ausbeutung, Abhängigkeit oder Beherrschung wollen sie im Kontext internationaler Beziehungen nicht verwenden, sondern sprechen stattdessen vom „asymmetrischen Charakter der imperialistischen Herrschaft“. Herrschaft wird also als etwas Gegenseitiges verstanden:
„Geleugnet wird also keineswegs die Unterdrückung und der asymmetrische Charakter der imperialistischen Herrschaft und auch der Begriff der unterdrückten Völker wird nicht negiert – die Kritik bezieht sich darauf, dass der Begriff nicht einfach auf kapitalistischen Staaten angewandt werden darf. Die politischen Gefahren dieser Auffassungen liegen vor allem darin, dass einerseits die Arbeiterklasse in entwickelteren Ländern zu einem Teil der Unterdrücker erklärt werden und dann nicht mehr mit einer geeigneten Taktik angesprochen und organisiert werden kann, während andererseits die Kapitalisten der schwächeren Länder als Teil eines unterdrückten Volkes betrachtet und der Klassenkampf gegen sie eingestellt oder relativiert werden könnte.“ [xxii]
Zentral ist für die Autoren, dass der Begriff der Unterdrückung nicht auf kapitalistische Staaten angewendet werden dürfe. Hier sehen sie die Gefahr, dass sich der Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie abschwächen könnte. Es wäre durchaus falsch der Arbeiterklasse in allen abhängigen oder unterdrückten Ländern zu empfehlen den Kampf gegen ihre eigene Bourgeoisie aufzugeben. Aus der Bestimmung der wesentlichen Zusammenhänge des Imperialismus folgt kein allgemeingültiges Schema für den Klassenkampf. Doch ohne die wesentlichen Zusammenhänge zu erkennen, werden sich keine revolutionäre Strategie und Taktik entwickeln lassen. In seiner Schrift „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung“ geht Lenin auf die Bedeutung der Ausbeutung der kleinen Nationen für die Strategie und Taktik ein:
„Wichtig ist nicht, ob ein Fünfzigstel oder ein Hundertstel der kleinen Völker sich schon vor der sozialistischen Revolution befreien wird, wichtig ist vielmehr, daß das Proletariat in der imperialistischen Epoche, kraft objektiver Ursachen, sich in zwei internationale Lager geteilt hat, von denen das eine durch die Brocken, die vom Tische der Bourgeoisie der Großmächte abfallen – unteranderem auch infolge der doppelten und dreifachen Ausbeutung der kleinen Nationen korrumpiert worden ist, das andere aber sich nicht selbst befreien kann, ohne die kleinen Nationen zu befreien und ohne die Massen in antichauvinistischem, d. h. antiannexionistischem Geist, d. h. im Geist der „Selbstbestimmung“ zu erziehen.“ [xxiii]
Lenin beschreibt hier also, dass sich das Proletariat in der „Epoche des Imperialismus“ in „zwei internationale Lager geteilt hat“ und eine Befreiung des einen Lagers nicht ohne die des anderen möglich ist, woraus sich Konsequenzen für die „Erziehung der Massen“ ergeben.
Abschließende Bemerkung
Es ist unbestritten, dass sich der Kapitalismus seit Lenin seine Theorie ausformulierte, weiterentwickelt hat. Es wäre absurd und unwissenschaftlich diese Tatsache zu leugnen. Allerdings lässt die bloße Erkenntnis dieser Tatsache noch keine Schlüsse über die Aktualität Lenins, geschweige denn über eine richtige Theorie des gegenwärtigen Imperialismus zu. Die Autoren machen deutlich, dass sie wichtige Zusammenhänge, die Lenin in seinen Schriften aufzeigt, nicht mehr anerkennen. Eine Anwendung von Lenins Imperialismustheorie auf das gegenwärtige Entwicklungsstadium des Kapitalismus ist dringend notwendig. Dabei kann eine wissenschaftliche Untersuchung selbstverständlich auch zu dem Ergebnis führen, dass zentrale Aussagen Lenins nicht mehr aktuell sind. Allerdings setzt eine so weitreichende Infragestellung unserer Klassiker eben diese wissenschaftliche Untersuchung voraus. Ohne eine solche wissenschaftliche Untersuchung, wird der Vorwurf des Revisionismus, also die Abkehr vom Marxismus-Leninismus, zur Farce. Eben diesen Revisionismus wollen die Autoren in ihrem Diskussionsbeitrag aber nachweisen! Besonders problematisch ist dabei, dass die Autoren Lenin bestimmte Positionen unterstellen, um die aus ihrer Sicht richtige Weiterentwicklung seiner Theorie zu rechtfertigen. Die Autoren beginnen ihre Untersuchung des Imperialismus nicht mit Lenin selbst, sondern einer weitreichenden Weiterentwicklung und wohlmöglich sogar Revision seiner Theorie.
[i] Spanidis, Schulze, „Der Revisionismus in unseren eigenen Reihen“, S. 10
[ii] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 290
[iii] Lenin Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1975, S. 35
[iv] Lenin Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1975, S. 24f
[v] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 176
[vi] Spanidis, Schulze, „Der Revisionismus in unseren eigenen Reihen“, S. 8
[vii] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 282
[viii] Spanidis, Schulze, „Der Revisionismus in unseren eigenen Reihen“, S. 9
[ix] Lenin Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1975, S. 112
[x] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 267ff
[xi] Lenin Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1975, S. 36
[xii] Spanidis, Schulze, „Der Revisionismus in unseren eigenen Reihen“, S. 10
[xiii] Ebenda, S. 11
[xiv] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 247
[xv] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 278
[xvi] Lenin Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1975, S. 103
[xvii] Ebenda, S. 305
[xviii] Ebenda, S. 194ff
[xix] Spanidis, Schulze, „Der Revisionismus in unseren eigenen Reihen“, S. 11
[xx] Lenin Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1975, S. 111f
[xxi] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 198
[xxii] Spanidis, Schulze, „Der Revisionismus in unseren eigenen Reihen“, S. 12
[xxiii] Lenin Werke, Band 22, Dietz Verlag Berlin, 1971, S. 350f