Wir veröffentlichen hier das Skript eines Referats, das auf der XIV. Konferenz „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ vom 18. bis 21. Mai 2023 in Berlin, bei dem Podium „Kontroverse Stellungnahmen zum Russland-Ukraine-Krieg“ gehalten wurde. Der Referent wirbt für das Instrument des dialektischen und historischen Materialismus als theoretisches Mittel zur Untersuchung von Kriegen.
Wir bedanken uns bei den Referenten und Organisatoren für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Auf ihrer Website sind viele weitere Beiträge zur Konferenz in Audio-, Video- und Textform dokumentiert. Der Text liegt hier in der Originalfassung vor, wurde also weder orthographisch noch anderweitig überarbeitet.
Das folgende Referat wurde gehalten von Stiller, Unterstützer unserer Organisation, der KO.
Dem historischen Materialismus ist in den vergangenen zwei Tagen – so auch durch meine Mitreferenten – mehr oder weniger umfangreich – im Zusammenhang mit Russland, dem Ukrainekrieg, der Nato, den USA, Deutschland usw. die notwenige Referenz erwiesen worden. Ich kann also die historischen Komponenten als bekannt voraussetzen und formuliere meinen Beitrag als eine Verallgemeinerung zu den konkreten Inhalten, der anderen Referate.
Mein Beitrag wird sich zwischen den Positionen bewegen – zeitweise auf der einen, dann auf der anderen – will hinter diese Positionen verweisen und versucht über diese hinaus zu blicken. Er bezeichnet das Fixierte und betont das Bewegliche.
Mein Beitrag polemisiert für den Zweifel und sucht die Diskussion zwecks Klärung der Klärung. Er ist am Ende nicht weniger – aber auch nicht mehr – als ein, aus meiner Sicht, notwendiger Verweis auf unsere schärfste theoretische Waffe: den dialektischen und historischen Materialismus und seine Methodik – als in eine in seiner Wechselwirkung notwendige Einheit.
Die von Russland als Spezielle Militärische Operation bezeichnete oder – wie die bürgerliche und teilweise linke Politik und Öffentlichkeit formuliert – der russische Aggressionskrieg in der Ukraine – hat die linke – und in ihr vor allem die kommunistische Bewegung in eine tiefe Krise getrieben.
Kaum ein Ereignis – abgesehen vom Sieg der Konterrevolution 1989/91 – hat die Kommunistische Bewegung in den letzten mehr als dreißig Jahren so kalt erwischt, wie der Einmarsch der russischen Truppen am 22. Februar 2022 in die Ukraine. Nicht, dass nicht lange vor diesem Datum immer wieder die Gefahr einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und dem sogenannten Westen betont und die Eskalationsursachen konkret benannt worden wären. Zahllose Veröffentlichungen benannten klar und deutlich Roß und Reiter auf ihrem erneuten Ritt gen Osten.
Nicht die kriegsfaktischen Realitäten, und auch nicht die eskalierenden Ursachen der militärischen Konfrontation, die – auch hier besteht weitestgehend Übereinstimmung unter Sozialisten und Kommunisten – in ihren Anfängen und Steigerungen – und das meint zeitlich weit vor dem casus belli – bereits erkannt und benannt werden konnten, können erklären, warum die gesamte Bewegung – und zwar in ihrer noch bestehenden internationalen Gemeinsamkeit – von einer weiteren tiefgreifenden Krise erfasst werden konnte.
Alle ernstzunehmenden linke Organisationen, Medien und namhafte Persönlichkeiten haben sich beeilt, ihre Positionen zur Speziellen Militärischen Operation – alternativ – zum russischen Angriffskrieg der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Es ist gut möglich, dass ich Widerspruch provozieren werde mit meiner These: im Wesentlichen ließe sich die aktuelle Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung auf die logischen Gegensatzpaare reduzieren: imperialistischer oder nichtimperialistischer Krieg, Angriff oder Verteidigung, Solidarität und Unterstützung mit oder Kritik und Kampf gegen Russland und Nato gleichermaßen. Und von nicht wenigen wird die Antwort auf die Frage: ist Russland ein imperialistisches Land zum Lackmustest ideologischer Klarheit erhoben. Mir ist sehr wohl bewußt, dass die Knappheit meiner These einige – vielleicht sogar erhebliche – Unterschiede in den jeweiligen Meinungsäußerungen unter den Tisch fallen lässt.
Es kommt mir mit meiner Wortmeldung weniger darauf an, die jeweiligen Positionen in ihren offensichtlichen Gegensätzen, den allzu oft auffällig willkürlichen Faktensammlungen und den mitunter kreativ-kausalen Fixierungen vergleichend gegenüber zu stellen oder im Detail einer Kritik zu unterziehen. Dazu wurden – und werden zukünftig sicherlich weitere – wichtige Arbeiten veröffentlicht. Und dennoch, so will mir scheinen, formulieren nur sehr wenige Kritiken ein grundsätzliches Problem, ein Problem, welches die Kommunistische Bewegung seit ihren Anfängen – und so auch heute, so auch im Zusammenhang mit dem Ukrainekonflikt – begleitet.
In diesem Zusammenhang sei mir gestattet, einen Hinweis von Lenin zu zitieren, mit dem ich auf dieses – meiner Überzeugung nach – auch aktuell virulente Problem hinweisen will:
Das Zitat findet sich in dem Werk „Krieg und Revolution“
„Aber die Sache ist die, daß wir, um den gegenwärtigen Krieg zu verstehen, in erster Linie die Politik der europäischen Mächte als Ganzes betrachten müssen. Man darf keine Einzelbeispiele, keine Einzelfälle wählen, die stets leicht aus dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Erscheinungen zu reißen sind und keinerlei Wert haben, weil man ebensoleicht ein entgegengesetztes Beispiel anführen kann. Nein, man muß die gesamte Politik des ganzen Systems der europäischen Staaten in ihren ökonomischen und politischen Wechselbeziehungen betrachten, um zu verstehen, auf welche Weise aus diesem System folgerichtig und unvermeidbar der gegenwärtige Krieg entstanden ist.“ (W.I. Lenin „Krieg und Revolution“ S. 23, Militärverlag DDR, 1970)
Um also den Krieg – alternativ die Spezielle Militärische Operation – verstehen zu können, müssen wir – nach Lenin – die Politik aller beteiligten Mächte als Ganzes betrachten: die Politik der USA, der Ukraine, jene von Russland, von England, die Politik Deutschlands, Frankreichs, Polens usw.usf. – eine sehr umfangreiche Arbeit, die da von Lenin gefordert wird.
Aber es wird noch komplizierter: So schreibt Clausewitz
„Um also das Maß der Mittel kennenzulernen, welches wir für den Krieg aufzubieten haben, müssen wir den politischen Zweck desselben unsererseits und von seiten des Feindes bedenken; wir müssen die Kräfte und Verhältnisse des feindlichen Staates und des unserigen, wir müssen den Charakter seiner Regierung, seines Volkes, die Fähigkeiten beider, und alles das wieder von unserer Seite, wir müssen die politischen Verbindungen anderer Staaten und die Wirkungen, welche der Krieg darin hervorbringen kann, in Betrachtung ziehen.“ (Clausewitz „Vom Kriege“)
Aber die Untersuchung ist nicht nur umfangreich. Es drängen sich – vielleicht aber auch nur mir – die Fragen auf: auf welche Weise untersuchen wir im Zusammenhang mit dem militärischen Konflikt in der Ukraine „die gesamte Politik des ganzen Systems“, die „ökonomischen und politischen Wechselbeziehungen“,
Wie verhindern wir ein Aus-Dem-Zusammenhang-Reißen – und – sind wir dazu derzeit überhaupt in der Lage, angesichts der Zersplitterung, der Desorientierung der Bewegung, der ideologischen Verhärtung aufgrund der eskalierenden Grabenkämpfe von sich feindlich gegenüberstehenden linken und kommunistischen Polen?
Zudem: wer liest den Krieg und seine gesellschaftliche Wirklichkeit richtig? Und wie, auf welche Weise unterscheiden wir die richtige Widerspiegelung von einer falschen?
Um nicht gleich am Anfang Mißverstehen hervorzurufen, möchte ich betonen, dass ich weder vorhabe, noch im zeitlichen Rahmen dieses Referates leisten könnte, eine vollständige wissenschaftlich-methodisch einwandfreie Argumentation herzuleiten. Die von mir benannten oder herausgehobenen Aspekte beanspruchen keine Vollständigkeit, keine methodische Stringenz. All das ist meines Erachtens im Zusammenhang mit dem Imperialismus im Allgemeinen und mit dem Ukrainekrieg im Besonderen von uns, von den marxistisch-leninistischen gesinnten – und geschulten – Genossen und Genossinnen alsbald noch zu leisten.
Ich kann hier nur einige Auffälligkeiten zu markieren, in den Diskussionen um die richtige Interpretation der Erscheinungsformen des heutigen Russlands im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg, und die meines Erachtens viel zu selten erkannt und somit eben keiner Kritik unterzogen werden.
Lenin charakterisierte das am 1. Weltkrieg beteiligte zaristische Russland als von England – und vor allem von Frankreich – wirtschaftlich, finanziell und damit politisch abhängiges Land.
Und dennoch bezeichnete Lenin Russland – trotz dessen kapitalistisch-feudaler Verhältnisse – als imperialistisch, als imperialistischen Räuber, der sich am Kampf um Kolonien und Einflusssphären direkt an diesem Raubkrieg beteiligt hatte.
Legen wir unseren aktuellen Untersuchungen diese leninschen Erkenntnisse zugrunde, dürfte es heute – im bis zum äußersten entwickelten Stadium des Imperialismus – nicht mehr um die Frage gehen, ob Russland das imperialistische Stadium erreicht hat oder nicht.
Anhand der vor über einhundert Jahren ausgearbeiteten Untersuchung sollte diese Fragestellung entweder als geklärt oder aber als für die Klärung der konkreten Kriegsfrage als nicht relevant bezeichnet werden können. Denn – die Ungeklärtheit dieser Frage einmal angenommen – welche Erkenntnisrelevanz würde z.Bsp. der Schluss oder das Urteil, „Russland ist nichtimperialistisch“ entwickeln können? Russland wäre dann immer noch kapitalistisch – und verfügte – heute weit mehr als vor einhundert Jahren – über militärische, ökonomische, politische und diplomatische Mittel, die schon damals von Lenin als imperialistische Potentiale charakterisiert worden waren. Die Einschätzung, wonach ausschließlich der monopol- und finanzkapitalistische Entwicklungsgrad als Grundlage für die Bestimmung des imperialistischen oder nichtimperialistischen Charakters eines Landes zulässig sei, halte ich – mit Lenin im Rücken – für falsch. Womit ich nicht die These aufstelle, Imperialismus ist auch ohne ökonomische Monopole und entwickeltes, d.h. zentralisiertes Finanzkapital möglich.
Sicher – der von mir als mit Wahrscheinlichkeit behauptete russische Imperialismus sollte auch – wissenschaftlich korrekt – bewiesen werden. Aber wie bereits gesagt, diese Frage hat für mich bisher nicht die Relevanz entfalten können, mit der sie in der Bewegung kursiert – und bedauerlicher Weise – erhebliches Spaltungspotential entfalten konnte.
Ich werde mit der Aussage: Russland ist ein kapitalistischer Staat – vermutlich keinen Widerspruch hervorrufen; ggf. aber mit dem Bestreiten, der mit der Konterrevolution sich durchgesetzt habende russische Kapitalismus sei ein Kapitalismus anderer oder neuer Qualität.
Der russische Kapitalismus ist ein allen anderen kapitalistischen Ländern im Wesen gleicher Kapitalismus, d.h. alle wesentlichen Elemente des Kapitalismus finden sich ebenso in Russland wieder und mit ihnen sämtliche wesentlichen Widersprüche, Tendenzen, Gesetzmäßigkeiten usw..
Wenn wir hierin übereinstimmen können, sollte es auch möglich sein, Einheitlichkeit darüber zu erlangen, dass Russland allgemein gesetzmäßig und konkret geopolitisch eine Entwicklung vollziehen muss – sofern es die im Wesentlichen nicht bereits schon vollzogen hat -, die zwangsläufig imperialistischen Charakter annehmen wird. Getreu der Gesetzmäßigkeit, dass bei Strafe seines eigenen Untergangs ein Kapitalist einen anderen totschlagen muss, nicht nur, um bestehen, sondern, um wachsen zu können. Um in diesem Sinne nicht selbst totgeschlagen zu werden, ist ein kapitalistisches Land zur forcierten Entwicklung, zu wachsender Stärke oder zu Gründung und/oder Teilnahme an und in Bündnissen gezwungen. Für Russland bedeutet das konkret und seit mehr als 20 Jahren: auf jede nur mögliche Weise seine monopolkapitalistische Entwicklung voranzutreiben. Im Stadium des Imperialismus gehört man entweder zu der Handvoll Räuber oder zu den in Abhängigkeitsverhältnisse gezwungenen oder zu den hauptsächlich zur Ausplünderung bestimmten Ländern.
Für Russland geht es – nicht erst mit dem Ukrainekonflikt – sozusagen um Alles oder Nichts – um seine weitere Existenz als – gegenwärtiger oder zukünftiger – imperialistischer Konkurrent oder seine weitere zunehmend direktere Bekämpfung durch die geballte Nato-Armada.
Ich muss keine Untersuchung anstellen, um als gesicherte Erkenntnis vertreten zu können, dass Russlands monopolkapitalistischer Entwicklungsstand relativ weit hinter dem US-amerikanischen aber auch dem japanischen, deutschen, französischen und englischen zurücksteht. Auch wäre es wohl indiskutabel die Aussage zu verlautbaren, Russland verfüge gegenwärtig über wesentliche imperialistische Machtmittel wie die Mitgliedschaft oder gar Führerschaft in einem aktiven Militärbündnis, eine Landeswährung in Form eines Weltgeldes, Handels- und Finanzorganisationen vergleichbar WTO und Weltbank, ein weltweit verbreitetes Zahlungssystem a la Swift oder gar die Machtmittel um eine supranationale Rechtsprechung behaupten, geschweige denn durchsetzen zu können. Aber fallen wir nicht weit hinter Lenins Untersuchungsmethoden zurück, wenn wir das Sein oder Nichtsein des russischen Imperialismus als in einem Vergleichen des amerikanisch, deutschen, japanische usw. Imperialismus zu verwerfen oder zu bestätigen suchen?
Bei der Untersuchung des Ganzen haben – für mein Verständnis – die meisten Verlautbarungen derer, die sich an und in der Diskussion positionierend beteiligen den Mangel, die in den jeweiligen Erscheinungen deutlich werdenden Widersprüche nicht als sich ergänzende, vorantreibende, mit der Tendenz des Umschlagens Ineinander wirkende gesetzmäßige Bewegung zu erkennen. Es werden zwar – und hier wiederum allzu oft in willkürlicher Weise – Ursachen benannt, die zu diesen oder jenen Wirkungen geführt haben.
In der Regel aber, um einen Zustand zu fixieren: der Krieg ist ein Verteidigungskrieg – der Krieg ist ein Angriffskrieg / Russland ist imperialistisch – Russland ist nichtimperialistisch. Wer so schlussfolgert muss sich den Vorwurf gefallen lassen, mit materialistischer Dialektik nicht viel am Hut zu haben. Nichts offenbart das Idealistische eines Standpunktes deutlicher als Starrheit, Fixiertheit und Stillstand in den Widerspiegelungen der Wirklichkeit.
Ein Krieg ist niemals entweder Angriff oder Verteidigung, der Krieg ist Angriff und Verteidigung in Einem. So ist ein sogenannter Offensiver-Verteidigungskrieg ein Krieg in der der Angriff vorherrscht, also das Mittel – und die Verteidigung den Zweck darstellt. Während des Krieges – bedingt durch die Handlungen des Gegners – aber auch, um die Handlungen des Gegners zu beeinflussen – wird die Taktik beweglich die Formen wechseln müssen Angriff-Verteidigung-Angriff usw. Und auch hier wieder ganz dialektisch: die Verteidigung muss und wird – bei Zielsetzung des Siegens – in den Angriff umschlagen und wiederum in die Verteidigung zurückfallen, wenn die Kräfte des Gegners zu stark sind oder die eigene Position es erzwingt.
Wer hier tiefer einsteigen möchte, den verweise ich auf die hervorragende Ausarbeitung „Zur Dialektik von Krieg und Revolution“ von Pit Simons.
Wir machen es uns zu einfach mit der Untersuchung und unseren davon abgeleiteten Positionierungen. Davon haben mich viele Diskussionsbeiträge zu Russland und den Ukrainekrieg überzeugt.
Oft stehen Schlussziehung und Urteil bereits am Beginn der Ausarbeitung, alles Weitere dient in der Regel dann nur noch der Bestätigung des bereits in der Eingangsthese fixierten Urteils.
Russland und der Krieg sind imperialistisch: Fakten, Daten, Beispiele.
Russland und der Krieg sind nichtimperialistisch: Fakten, Daten, Beispiele
Der Westen, die Nato-Staaten und ihnen voran – die USA – werden zu absteigenden Mächten erklärt. Der Dollar verliert seine weltmarktbeherrschende Rolle, die Multipolarität löst die Unipolarität ab – und wiederum Fakten, Daten, Beispiele.
Eine grundlegend stringente marxistisch-leninistische Untersuchung zu und um die Erscheinungen des Krieges in der Ukraine findet sich nur ausnahmsweise in den zahlreichen jeweils Deutungshoheit und Wirklichkeitsrelevanz beanspruchenden Veröffentlichungen. Dialektische Analyse, in der Form, des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten? Und die sich notwendig anschließenden Synthese, des Absteigens vom Konkreten zum Allgemeinen? Weitestgehende Fehlanzeige! Dementgegen steht: keine ernstzunehmende linke Organisation, die nicht die Wissenschaftlichkeit betont. Nur – dass damit ganz offensichtlich die mehr oder weniger plausible Aneinanderreihung von willkürlich ausgewählten Beispielen gemeint ist – und weggelassen wird, was mit der eigenen These nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
Die Zeit drängt – die Ereignisse überschlagen sich – die Bewegung braucht Antworten – und wir müssen oder wollen sie liefern – am besten gestern, allerspätestens aber gleich morgen!
Dazu noch einmal Lenin:
„Auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen gibt es kein Verfahren, das so verbreitet und so falsch ist wie das Herausgreifen einzelner unbedeutender Fakten, das Spiel mit den Beispielen.
Einfach Beispiele sammeln – das kostet keinerlei Mühe, aber es hat auch gar keinen oder nur rein negativen Wert, denn worauf es allein ankommt, das sind die historischen konkreten Umstände der einzelnen Fälle. Die Tatsachen, in ihrer Gesamtheit, in ihrem Zusammenhang genommen, sind nicht nur von einer ‚festen‘, sondern auch unbedingten Beweiskraft. Die kleinen Fakten sind, wenn sie außerhalb des Ganzen, außerhalb des Zusammenhangs genommen werden, wenn sie nur Bruchstücke und willkürlich gewählt sind, eben nur so eine Spielerei oder noch etwas Schlimmeres.“ (W.I.Lenin, Bd 23, S. 266)
Weder Lenin noch mein Referat behaupten, bei der Untersuchung keine empirischen oder erfahrungsgemäßen Daten, Erkenntnisse, Fakten anwenden zu müssen. Es sollte klar sein, dass es überhaupt ausgeschlossen wäre, irgendeine Verallgemeinerung formulieren zu wollen, ohne das Vorliegen einer bestimmten Menge herausgesonderter, aber eben noch begrenzter und VOR ALLEM noch unzureichend verstandener Fakten.
Aber als Widerspiegelung der Prozesse der objektiven Realität verlangt die materialistische Dialektik, dass – wie Marx formuliert – die „Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich im Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehen und Vergehn“ (MEW, Bd. 20, S. 22, 1962), aufgefasst und betrachtet werden müssen.
Löst man sich im Prozess der Untersuchung von der Einheit von Theorie und Methodologie kann man zwar zu einzelnen – auch richtigen – Ergebnissen kommen, eine richtige Erkenntnis des Zusammenhangs und des historischen Prozesses aber ist auf diese Weise ausgeschlossen.
Es ist schwer, ja unmöglich zu verstehen, weshalb sich diese oder jene Seite der Gesellschaft ändert, wenn man diese Seite außerhalb des Zusammenhangs mit dem Ganzen, nicht als Teil des Ganzen betrachtet. Hat man sie aber in ihren natürlichen (oder gesellschaftlichen) gesetzmäßigen Zusammenhang mit dem Allgemeinen gebracht, kann das Einzelne seine rationelle Erklärung finden.
Aktuell bestimmt die Uni- bzw. Multipolarität bereits den Diskurs – ebenso die These vom endgültigen Abstieg des sogenannten Westens und allem voran seiner Führungsmacht – der USA. Wir sind eingetreten – so die hoffnungsvollsten Stimmen – in den Imperialismus einer neuen Qualität.
Ein an Beliebtheit an erster Stelle stehendes Beispiel ist das BIP. Mit ihm, so nicht wenige Autoren, lasse sich beweisen, dass der globale Süden – und hier vor allem die BRICS-Staaten – dem Westen dicht auf den – scheinbar fliehenden Fersen – ist. Im Ländervergleich hat dann das chinesische BIP das der USA entweder bereits überholt – mindestens aber gleichgezogen. Es werden geographische und demographische Daten neben Zahlen über Außen- und Binnenhandel gestellt, die Produktivkraftentwicklung, der Kapitalim- und –export verglichen, die technische Entwicklung und die militärische Stärke untersucht.
Multipolarität ist der neue, zukunftsweisende Begriff. Und Russland wird zum wichtigsten – militärischen – Vorkämpfer der neuen Weltordnung erhoben. Russland selbst beschreibt seine konkreten Kriegsziele – Verzeihung: die Ziele seiner Speziellen Militärischen Sonderoperation – als Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine. Die Ziele seiner Außenpolitik bezeichnet Russland als Kampf gegen Unipolarität und westliche Vorherrschaft. Damit scheint Russland den Nerv der Zeit getroffen zu haben: ein antifaschistischer Befreiungskampf für eine gerechtere, multipolare Weltordnung.
Wer hier noch zögert, diesem Kampf im Allgemeinen und Russland im Besonderen seine Solidarität zu offerieren, der hat im besten Fall keine Ahnung vom Klassenkampf, im schlechtesten ist er ein Apologet der westlichen und Nato-politik.
Auf der anderen linken Seite – dem selbsternannten revolutionären Pol mit der KKE an der Spitze – werden alle Länder, ob Burkina Faso, Mali, El Salvador, oder die USA, Serbien, Deutschland und selbstverständlich auch Russland als imperialistische Akteure im Kampf um die Beute dargestellt. Dabei ist eben nicht nur El Salvador von den USA abhängig, sondern auch wechselseitig die USA von selbst noch dem kleinsten Staatengebilde. Mit dieser Interdependenztheorie erklärt die KKE die heutige Welt in Form einer imperialistischen Pyramide und das Ganze dann als wissenschaftliche Fortführung der leninschen Imperialismustheorie.
Wir untersuchen Quantitatives und formulieren Qualitatives – je mehr Zahlen, Daten und Beispiele, desto plausibler und überzeugender. Die Länder des globalen Südens werden in Zahlen aufgeschlüsselt und denen des Westens gegenübergestellt – das Ergebnis ist nicht zu bestreiten: der Süden wächst, der Westen schwindet. Multipolarität versus Unipolarität. Die Aggressivität des Westens beweist die Richtigkeit der Analyse.
Theorie und Praxis haben sich – innerhalb der kommunistischen Bewegung – weit auseinander bewegt. Theorie ist Gleichsetzung mit den Klassiker-Werken – die wissenschaftliche Untersuchung der Wirklichkeit fast ausschließliche Aufgabe der Empirie und ein Irgendwie des Zusammenstellens dieser Beispiele.
Wer erinnert sich heute noch an die Erkenntnis von Marx: „Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt.“ Wer sich dessen besinnt, der kann auch wissen, dass es zwar zu jeder Erscheinung eine unendliche Menge von falschen und halbwahren Meinungen und Standpunkte geben kann, aber immer nur eine richtige Lösung.
Aber ohne die Gegenüberstellung des Wesentlichen und des Unwesentlichen, des Notwendigen und des Zufälligen kann man keine Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung finden, eine Wissenschaftlichkeit wird auf diesem Wege unmöglich.
Jede wissenschaftliche Erkenntnis wird gerade dadurch charakterisiert, dass sie die Gesetze der Erscheinungen erklärt und es so ermöglicht, den Ablauf dieses oder jenes Prozesses vorherzusehen und auf ihn einzuwirken.
Als Referent bin ich angekündigt als ein Unterstützer der Kommunistischen Organisation, einer programmatischen Klärungsorganisation. Die KO hatte und hat die Klärung der Kriegs- und Imperialismusfrage auf ihre Organisationsfahne geschrieben – und – ist daran sprichwörtlich in zwei Teile zerbrochen. Aber – und das herauszuheben ist mir vor allem äußerst wichtig – die KO ist nicht zerbrochen, hat sich nicht zerlegt in zwei Organisationen, aufgrund unüberbrückbarer politischer Gegensätze. Die KO ist auch nicht an der dringend notwendigen Klärungsaufgabe zur Imperialismus- und Kriegsfrage gescheitert. Die Spaltung der KO ist – meinem Verstehen nach – Widerspiegelung der Krise der Bewegung als Ausdruck mangelhafter Durchdringung und damit fehlender Einheit von Materialismus, Dialektik und Methode. Diese Erkenntnis vorausgesetzt kann sich die KO – und somit auch die Hauptfeindkonferenz – zu wichtigen Impulsgebern in der Bewegung entwickeln. Dass das möglich ist, davon bin ich überzeugt.
Zum Abschluss ein Vorschlag: denken wir zukünftig zwei Erkenntnisse von Karl Marx als notwendig zusammengehörend:
1. „Zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muß selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreuten Glieder sich im Resultat zusammenfassen.“ (Marx, Engels: Werke Bd. 1, S.7, „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion“)
2. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!