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Medien für den Völkermord

Wie die tagesschau über das Massaker vom 29.02. berichtete

Philipp Kissel

Die israelische Besatzungsarmee hat am 29.02. ein Massaker an hungernden Menschen in Palästina verübt. Am Vormittag des 29.02. melden weltweit Medien die grausame Tat und die meisten sind in ihrer Berichterstattung völlig eindeutig, weil die Fakten völlig eindeutig sind: Soldaten haben auf wartende Menschen geschossen und mehr als 100 getötet und mehr als 700 verletzt.

Eine Lücke zwischen der Welt und Deutschland

Das Massaker fand am frühen Morgen statt. Im Laufe des Vormittags berichteten weltweit Medien wie Aljazeera, BBC, France24, CNN und viele weitere. Auf der Seite der tagesschau zu diesem Zeitpunkt: Nichts. Genau, gar nichts. Bei ZDF heute: Nichts.

Vermutlich wurde in den Redaktionsstuben überlegt: Wie können wir das irgendwie berichten, ohne aber Israel dafür zu kritisieren? Denn die lange Spanne zwischen der Berichterstattung in der Welt und der in Deutschland war definitiv kein Zufall. Und sie ist aufgefallen: Der Journalist Tarek Bae hat den Vorgang beobachtet und kritisiert, was die deutschen Medien geboten haben (https://twitter.com/Tarek_Bae). Der Vorgang, dass es eine ohrenbetäubende Lücke zwischen der Welt und Deutschland gibt, ist bemerkenswert. Man müsste überprüfen, ob andere relevante Medien in Deutschland bereits berichtet hatten. Es ist ein erneuter Hinweis auf den Gleichschritt, in dem die Medien hierzulande funktionieren.

Das Bild des Ansturms

Der Artikel auf tagesschau.de kam gegen 15:50 und stellt eine Verdrehung der Tatsachen dar. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/gaza-hilfslieferung-tote-100.html

https://archive.ph/1aGQG

Bereits die Überschrift ist perfide: „Viele Tote bei Verteilung von Hilfsgütern in Gaza“. Damit ist unmittelbar das Bild gezeichnet, das die Verteilung oder die Empfänger irgendwie das Problem seien. Weiter heißt es: „In Gaza-Stadt ist es bei einem Ansturm auf Hilfsgüter zur Eskalation gekommen.“ Das ist eine Formulierung, die eher bei Auseinandersetzungen zwischen Fußball-Fans üblich ist: Bei einer Partie von Schalke und Dortmund ist es zu einer Eskalation gekommen. Aber es ist noch perfider, denn hier wird auch klar vermittelt, wer für diese „Eskalation“ verantwortlich ist: „Bei einem Ansturm auf Hilfsgüter“ – das Bild von den stürmenden, wilden, chaotischen Horden wird verfestigt.

Das Bild des Chaos

Weiter heißt es: „Medien berichten über Schüsse.“ Hier wird angedeutet, dass da etwas passiert sein könnte, da sich aber nur auf „andere Medien“ bezogen wird, rückt es in weite, unklare Ferne. Eine andere Formulierung wäre gewesen: „Hunderte mit Schussverletzungen“.

Weiter heißt es: „Die Gesundheitsbehörde in Gaza meldet mehr als 100 Tote. Noch ist vieles unklar, zum Vorfall gibt es unterschiedliche Angaben.“ Damit ist der Kontext, in dem die Zahl der Toten genannt wird, gerahmt: Völlig unklar.

Diese Vernebelung geht weiter, sie findet also nicht aus Versehen oder zufällig statt. Die Wiederholung der Formulierungen, die das Bild von Diffusität, Unklarheit und Verwischung erzeugen sind gewollt: „Bei Chaos und Schüssen rund um einen Hilfskonvoi im Gazastreifen sind zahlreiche Menschen ums Leben gekommen.“ Chaos als Gesamtbild, irgendwelche Schüsse, die scheinbar gar nicht lokalisiert werden könnten und vielleicht auch von Banden stammen könnten, Menschen sind „ums Leben gekommen“, wie bei einem Autounfall oder Erdbeben – sie wurden nicht getötet.

Das Framing der israelischen Armee

Nun kommt derjenige, der wohl vielleicht etwas Licht in dieses Chaos bringen könnte: „Die israelische Armee teilte mit, viele Anwohner hätten sich um einfahrende Lastwagen mit Hilfsgütern gedrängt, um diese zu plündern.“ Das passt doch sehr gut zu dem oben Angedeuteten „Ansturm“ auf Hilfsgüter und Plünderer. „Laut den israelischen Angaben wurden mindestens 24 Menschen durch Rampeleien und Getrampel getötet. Zudem gebe es zahlreiche Verletzte.“ Das Bild ist fast vollständig – Tote bei Verteilung von Hilfsmitteln, Ansturm auf LKWs, Chaos und Schüsse, Plünderer, Tote durch Rampelei! Dann kommt der Hinweis, dass diese Angaben sich derzeit nicht unabhängig überprüfen ließen. Das ist ein formaler Hinweis, denn das bisher in diesem Text hergestellte Framing[1] entspricht der Darstellung der israelischen Armee.

Es wird erwähnt, dass „weitaus höhere“ Zahlen von der „von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde“ genannt würden, 104 Tote und 760 Verletzte. Die Behörde werfe Israels Armee vor, „die Gruppe“ angegriffen zu haben, als sie auf Hilfsgüter wartete. Eine „Gruppe“? Vielleicht von Plünderern?

Das Bild der verständnisvollen Armee

Die tagesschau schreibt weiter, dass die israelische Regierung von „einer Tragödie“ sprechen würde. „Anzeichen würden darauf hindeuten, dass die Todesfälle durch Lieferfahrer verursacht worden seien, die in eine Menschenmenge rasten. ‚Irgendwann waren die Lastwagen überfordert‘, sagte Avi Hyman gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters“. Was für eine nette, verständnisvolle Armee, die ganz bestimmt nichts mit den Toten zu tun habe. Zu dem Bild der Plünderer kommt nun das der „überforderten“ Fahrer. Diese zu diesem Zeitpunkt (die hier vorliegende aktualisierte Version des Artikels stammt von 17:45) bereits längst als absurd feststellbaren Aussagen der israelischen Armee werden in der tagesschau ausgebreitet und der Sprecher sogar weiter zitiert: „Es ist offensichtlich eine Tragödie, aber wir sind uns der Einzelheiten noch nicht ganz sicher.“ Für so einen verständnisvollen Sprecher muss man wiederum Verständnis haben, es war ja eine Situation des „Chaos“ und des „Ansturms“.

Täter-Opfer-Umkehr

Im Folgenden wird geschrieben, dass mehrere israelische Medien unter Berufung auf Armeekreise berichtet hätten, dass „die Menge sich den Soldaten genähert habe, die die Einfuhr der Lastwagen koordinierte. Dadurch seien die Soldaten gefährdet worden, hieß es in den Artikeln. Das Militär habe deshalb das Feuer auf die Gruppe eröffnet.“ Hier wird also das, was bereits die ganze Welt weiß, dem Publikum in Deutschland ganz vorsichtig nahe gebracht: Die armen Soldaten, sie hätten ja eigentlich gar nicht anders gekonnt, bei so einer Gefährdung. Menschen könnten vielleicht doch nicht nur durch „Rampeleien“ zu Tode gekommen sein. Aber das weiß man bei der tagesschau nur aus israelischen Medien, die dasselbe Framing ausbreiten: Die eigentlich Gefährdeten waren nicht die hungernden Unbewaffneten, auf die man schoss, sondern die Soldaten.

Diese Täter-Opfer-Umkehr durchzieht den weiteren Text. Nun wird auf die Times of Israel Bezug genommen, laut der „tausende Palästinenser“ auf die Lastwagen „zurannten“. Zehn Menschen seien durch von israelischen Soldaten abgegeben Schüssen getötet worden.

Im nächsten Absatz wird sich wieder auf nicht näher genannte israelische Medien bezogen, die sich wiederum „auf die Armee beziehen“, laut denen „bewaffnete Palästinenser auf einige der Lastwagen geschossen hätten. Das Militär habe zunächst Warnschüsse in die Luft abgegeben und auf die Beine derjenigen gefeuert, die sich den Soldaten trotzdem genähert hätten.“ Es könnten also die Palästinenser selbst gewesen sein. Das passt auch gut in das Bild der „Plünderer“, des „Ansturms“, also einer nicht anders als durch Schüsse zu stoppenden Gefahr. Hier wird eine Behauptung einer Armee, der ein Massaker vorgeworfen wird, ohne weiteren Kommentar übernommen, dass die Opfer selbst geschossen hätten.

Im Folgenden zitierte Augenzeugenberichte liefern keine weiteren Informationen, sondern bestätigen das Bild des „Chaos“. Zitate des ägyptischen Außenministeriums und der Hamas werden mit folgendem Satz beendet, der das Framing herstellt: „Bereits zuvor hat es Berichte über heftige Rangeleien um Hilfsgüter gegeben.“ Allein die Tatsache, dass nicht angegeben wird, von wem diese Berichte stammen und zu welchen Ereignissen sie sein sollen, belegt die manipulative Funktion.

Insgesamt handelt es sich bei diesem Text um kein journalistisches Produkt. Das Framing und die Auswahl der Quellen zeichnet exakt das Bild, das die israelische Armee verbreiten wollte. Ziel des Textes ist, die auf der Hand liegende Tatsache, dass hier ein Massaker verübt wurde, das zu diesem Zeitpunkt bereits 10 Stunden zurück liegt und international Gegenstand ausführlicher Berichte war, zu verschleiern, die Opfer zu potentiellen Tätern zu machen und den Leser mit dem Eindruck zurückzulassen: Ja, das ist aber auch schlimm, dass die Menschen da so gestürmt sind.

Auslassung als Teil der Erzählung

Der Journalist Tarek Bae hat recherchiert und stellt den Artikel der tagesschau in den Kontext der Tatsachen, die zu diesem Zeitpunkt ermittelbar waren:

„So erklärt Jadallah al-Shafei, der Leiter der Krankenpflegeabteilung des al-Shifa-Krankenhauses: ‚Die meisten Opfer erlitten Einschüsse und Schrapnelle im Kopf und im Oberkörper. Sie wurden durch direkten Artilleriebeschuss, Drohnenraketen und Gewehrfeuer getroffen‘. Das ist eine unabhängige Quelle. Es wurde zudem durch Videoaufnahmen dokumentiert, wie es zum Beschuss der Zivilisten kam und es wurde ebenso dokumentiert, dass es zahlreiche Tote und Verletzte durch Beschuss gab. Zu erkennen an Schussverletzungen. Längst haben die israelische Regierung und die Armee erklärt, ihre Soldaten hätten sich ‚bedroht gefühlt‘ und ‚sich verteidigt‘ durch Schüsse (siehe Erklärung des Ministers für Nationale Sicherheit, Ben Gvir, über Twitter). Das widerlegt auch die zunächst verbreitete Propaganda, die Menschen hätten sich selbst totgetrampelt. Zusammengefasst: Die Tagesschau verbreitet hier miserable Verzerrungen. Die Darstellung, alles wäre unklar, ist falsch. Es gibt natürlich Raum für Recherche. Recherchen, die die Tagesschau nicht anstellt. Sie täuscht über längst bekannte Fakten hinweg. Und das ist unwürdig, ja unanständig.“ (https://twitter.com/Tarek_Bae/status/1763336501134246100)

Die manipulative „Erzählung“ über ein Ereignis, die es als etwas anderes darstellen soll, als es in Wirklichkeit war, funktioniert allerdings meistens nur durch Weglassen von Fakten. In diesem Fall ist das ein besonders grober Vorgang, denn die Schusswunden von hunderten von Menschen auszulassen und das Bild der Rempelei zu verbreiten, ist offenkundig eine Lüge.

Tarek Bae zeigt die Schlagzeilen weiterer Medien, die aufzeigen, dass sie dieselbe Erzählung wie die tagesschau darstellen und teilweise überbieten (Die Welt). Eine genauere Recherche zu der Reaktion der deutschen Medien auf das Massaker vom 29.02. würde vermutlich noch weitere Abgründe sichtbar machen.

Politische Unterstützung eines Völkermords

Die politische Bedeutung dieses Beispiels ist: Die Medien in Deutschland unterstützen einen Völkermord. Das Aushungern und Bombardieren und die Tötung von Zivilisten im Gazastreifen ist ein Völkermord. Mit der Vertuschung und Irreführung durch die Berichterstattung beteiligen sich die Medien an diesem Verbrechen. Das weist darauf hin, dass es nicht einfach die Idee einzelner Journalisten ist. Die großen Medien setzen die Regierungspolitik um, sie sind nicht unabhängig. Das ist kein neues Phänomen, aber die Kriegstüchtigkeit der deutschen Medien im Krieg gegen Russland und nun beim Völkermord an den Palästinensern zeigt die Widerwärtigkeit dieses Phänomens recht ungeschminkt.


[1] Framing ist der meist bewusst gesteuerte Prozess einer Einbettung von Ereignissen und Themen in Deutungsraster und Narrative bzw. Erzählmuster.(https://de.wikipedia.org/wiki/Framing_(Sozialwissenschaften)

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