English
русский
عربي

Pazifismus führt nicht zum Frieden

Keiner ist gegen Frieden

Artikel von Alexander Kiknadze

Zitat: “Wir müssen Russlands Krieg und die Gewalt des palästinensischen Widerstands verurteilen. Sonst sind wir kein Friedensbündnis. Wir lehnen Gewalt ab.“

Diese Auseinandersetzung kennt vermutlich jeder, der in der Friedensbewegung aktiv ist. Um die Bundesregierung für ihre Unterstützung der Ukraine und des israelischen Genozids in Gaza kritisieren zu dürfen, wird verlangt, sich „aber auch genauso von der Gewalt der anderen Seite” zu distanzieren. Aus dem einfachen Grund, dass man ganz prinzipiell gegen Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. Dieser Streit wiederholt sich ständig – je nachdem, über welchen Krieg gerade geredet wird und führte schon zu einigen Brüchen in der Friedensbewegung.

Bei dem oben genannten Zitat handelt es sich um Pazifismus.

Dieser Begriff wird von denen, die ihn ablehnen, häufig als Kampfbegriff benutzt, um den Mitstreiter zu diskreditieren. Das führt häufig zu Spaltungen der Bündnisse, ohne dass man in der Sache mit dieser Haltung wirklich auseinandergesetzt hat. Dieser Text setzt sich deshalb zum Ziel, im Gegensatz zu einer diffamierenden und ausgrenzenden Kritik, den Pazifismus in der Sache als moralische Grundhaltung zu kritisieren. Denn: Er redet denen, die den Krieg machen, das Wort und erweist damit dem Kampf gegen den Krieg, also seinem eigenen Ziel, einen Bärendienst.

Was ist also Pazifismus? Die Begriffsdefinition im Duden deckt sich inhaltlich gut mit dem Zitat oben: „P. ist eine weltanschauliche Strömung, die jeden Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ablehnt und den Verzicht auf Rüstung und militärische Ausbildung fordert“.

Was ist Frieden? F. ist der [vertraglich gesicherte] Zustand des inner- und zwischenstaatlichen Zusammenlebens in Ruhe und Sicherheit.

Auf den letzten Teil der Begriffsdefinition weisen Friedensaktivisten die herrschende Politik immer wieder hin: Mit Waffenlieferungen, Raketenstationierungen und Durchqueren von Gewässern, die andere Staaten als ihr Hoheitsgebiet verstehen, gefährdet man doch das zwischenstaatliche Zusammenleben in Ruhe und Sicherheit. Friedenslösungen muss es doch mit Diplomatie geben.

Politiker reagieren auf diese Einwände in der Regel mit einem Staunen: Solche Forderungen seien angesichts der Aggressivität und Gewaltbereitschaft der Diktatoren und Terroristen der Welt doch naiv. Sie seien es, die die internationale Friedensordnung gefährden. Putin und die Hamas hätten gezeigt, dass Gewalt für sie ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. Wer jetzt fordere, mit ihnen zu verhandeln, der ist weltfremd und habe sich von seinen eigenen (!) Idealen verabschiedet.

In diesen Antworten der Herrschenden steckt sehr viel Wahrheit über die prekäre Lage ihrer Friedensordnung: Nämlich, dass sie aus ihrer Sicht ständig in Gefahr ist und entsprechend ohne Gewalt nicht auskommt.

Die Friedensordnung und ihre Moral

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs gibt es keine Kriegsministerien mehr, sondern nur noch Verteidigungsministerien. Das hat einen Grund: Nach zwei Weltkriegen haben sich die kapitalistischen Großmächte auf eine internationale Ordnung geeinigt, in der Krieg offiziell als Mittel der zwischenstaatlichen Interessensauseinandersetzung abgelehnt wird. Das US-Kapital als ungeschädigter und damit unangefochtener Kriegsgewinner sah seine Expansionsbestrebungen am besten dadurch realisiert, dass die ganze Welt als Ort des freien Waren- und Kapitalverkehres gesichert wird- im Gegensatz zur alten kolonialen Ordnung der exklusiven Zugriffsrechte für einzelne Staaten. Für diese Ordnung wurden internationale Handels-, Wirtschafts- und Finanzinstitutionen gegründet sowie mit UN und ihrem Völkerrecht eine weltweit anerkannte Rechtsordnung der zwischenstaatlichen diplomatischen Konfliktregelung in die Welt gesetzt. In dieser deshalb so benannten „regelbasierten Ordnung“ ordnen sich die anderen ehemaligen kapitalistischen Großmächte der Vormachtstellung der USA unter, um unter diesen Bedingungen ihre eigenen Interessen zu verfolgen- häufig auch im Gegensatz zu den USA. 

Dass zeitgleich direkt nach dem zweiten Weltkrieg begonnen wurde, stehende Heere, Militärbasen und „Verteidigungsministerien“ in jedem dieser Länder hochzuziehen bzw. fortzusetzen, zeigt allerdings eine wichtige Wahrheit: Den Konstrukteuren dieser Friedensordnung war und ist ihre Prekarität durchaus bewusst.

Ideologisch werden alle Kriege, die diese Staaten führen, nicht als Kriege für die eigenen ökonomischen Interessen begründet – Freud‘sche Versprecher werden mit Sofortentlassungen aus politischen Ämtern bestraft (siehe die Entlassung von Horst Köhler 2010). Ganz im Gegenteil: Diese „Auslandseinsätze“ sind in ihrer Propaganda eine bittere, aber leider notwendige Abweichung von dieser Friedensordnung. Dem Frieden dienen diese nämlich ausschließlich der Verteidigung gegen die, die ihn bedrohen. Milosevic, die Taliban, Saddam Hussein, Gaddafi, Putin, die Hamas und China gefährden die „freie Weltordnung“ und damit „den Frieden“, weil sie – ob militärisch, durch eine Ausweitung ihrer militärischen und ökonomischen Souveränität, mit „unfairen Handelspraktiken“ oder mit bewaffneten Angriffen auf die Bündnispartner – Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung sehen. Sie verstoßen damit, so die Ideologie, gegen diese Friedensordnung.

Die Friedensordnung und ihre Wahrheit

Die Prekarität der Friedensordnung hat einen Grund: Sie produziert, anders als ihre Ideologen behaupten, keinen weltweiten Wohlstand für alle, sondern notwendig und ständig Verlierer.

Die USA sind aufgrund ihrer oben angedeuteten ökonomischen Vorherrschaft in der Lage- und bestehen mit der Räson der „regelbasierten Weltordnung“ auch darauf- die ökonomischen Beziehungen den Interessen ihres Kapitals zuzuschneiden, ergo andere Länder diesen Interessen entsprechend zu auszubeuten. Ihre Verbündeten sind Teil dieser Ordnung und sind in ihr bemüht, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Sie sind entsprechend als „kollektiver Westen“ bei allen Divergenzen in diesem Interesse gemeinsam organisiert.

Dieses bewusst manifestierte Ausbeutungsverhältnis hat für den Großteil der Welt schwerwiegende Folgen. Aufgrund der ökonomischen Unterlegenheit bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in den Verhandlungen mit ihren formal „gleichberechtigten Partnern“ Übereinkünften zuzustimmen, von denen ein Großteil ihrer Bevölkerungen wenig hat. Die Gleichberechtigung unter ungleichen Partnern reproduziert also die ständige Ungleichheit zwischen ihnen, das Verhältnis von Unterdrückern und Unterdrückten bleibt. Dafür ist diese Ordnung so konstruiert wie sie ist. Armut und Hunger sind keine bedauernswerten Fehler dieser „eigentlich Wohlstand schaffenden“ Ordnung, sie sind ihre Notwendigkeit.

Mit ihrer unvergleichlichen Militärpräsenz beweisen sie, dass sie mit Widerstand gegen diese ganz prinzipiell unverhandelbare Ordnung der Vorherrschaft fest rechnen. Das zeigt sich in den Kriegen, die der Westen seitdem führt: Souveräne Entscheidungen kleinerer Länder, die gegen das Interesse der Staaten dieser Ordnung stehen, werden als fundamentaler Grundverstoß gegen diese Ordnung gesehen. Der Versuch, durch Verstaatlichungen von Teilen der eigenen Volkswirtschaften dem westlichen Finanzkapital zu entziehen, werden schlicht damit beantwortet, dass diese Länder kurzerhand in Schutt und Asche gebombt werden. Neben unzähligen Massenmorden des Westens sind Vietnam, Afghanistan, Irak und Lybien die prominentesten Beispiele für diese Prinzipienfestigkeit. An ihnen soll „ein Exempel statuiert werden“. In einem ganz anderen Format sehen Kriegsvorbereitungen gegen die Länder aus, die im Gegensatz zu kleineren Ländern aufgrund ihrer ökonomischen und/oder militärischen Mittel in der Lage sind, diese regelbasierte Weltordnung als solche und insgesamt praktisch infrage zu stellen: Gegen Russland und China wird ein Weltkrieg vorbereitet.

Das ist der materielle Inhalt und damit die Wahrheit dieser imperialistischen Friedensordnung. Sie ist eine Gewaltordnung, die das Verhältnis der Unterdrückter zu den Unterdrückten ganz prinzipiell aufrechterhält – ohne Kompromisse und Abweichungen. Ideologisch lebt sie von Moral, die sachlich eine Lüge ist: nämlich dass der freie Handel den Frieden, Wohlstand und die Freiheit bringt. Die Lüge über die Ablehnung von Gewalt als Mittel zur Umsetzung eines politischen Interesses besteht darin, dass dieses Prinzip nur für die anderen, nicht aber für einen selbst gilt.

Die Moral des Pazifismus

Jahrzehntelange Armut, Kriege, ungleiche Verträge, Betrügereien bei diplomatischen Verhandlungen haben großen Teilen der Weltbevölkerung diese Wahrheit über die imperialistische Friedensordnung aufgezeigt: Es ist eine Illusion, mit „gerechten Verträgen“, Diplomatie etc. zu seinen eigenen nationalen Interessen gelangen, insofern sie denen der imperialistischen Staaten widersprechen. Ganz im Gegenteil werden souveräne politische Wege aus der Abhängigkeit heraus mit ökonomischer und militärischer Vernichtung beantwortet. Diese Teile der Weltbevölkerung greifen deshalb ebenfalls zur (Gegen-)Gewalt. Sie haben die sachliche Lüge der imperialistischen Friedensmoral verstanden und überwunden: Gewalt in dieser imperialistischen Weltordnung ist durchaus ein legitimes Mittel, um seine politischen Interessen zu erreichen.

Dieser Gewalt nun als Pazifist ein (sicher gut gemeintes) Ideal der Gewaltlosigkeit entgegenzuhalten bedeutet, dieser imperialistischen Ordnung eigentlich doch ihren „eigentlich“ friedlichen Inhalt, zuzugestehen. Sie wirft denen, die mit Gewalt gegen sie kämpfen, genau den Verstoß vor, den ihnen die Heuchler der imperialistischen Staaten vorwerfen: Gewalt ist ein Verstoß gegen den Frieden.

Das ist nicht einfach nur ein Denkfehler, sondern hat schwerwiegende praktische Folgen: Sich in der sachlichen Realität des Unterdrückens und Unterdrückt-Werdens ideell neutral zu verhalten bedeutet in der Realität, (ohne dass man das vielleicht will!), sich auf die Seite der Unterdrücker zu stellen und diese Ordnung damit letztlich ganz praktisch zu unterstützen. Das ist Apologetik.

Diese Apologetik sollte einem in den Bündnissen sofort auffallen, wenn sich die Mitstreiter die moralische Argumentation derer, gegen die sie eigentlich angetreten sind, zu eigen machen. Seit den letzten zwei Jahren geht es hier konkret vor allem und Russland und die Palästinenser; in den nächsten fünf Jahren wird es um China gehen. Die im Zitat oben geforderte „Verurteilung des russischen Angriffskriegs“ als unbestreitbare Notwendigkeit eines jeden Pazifisten als Ideal fordert den Rückzug der Streitkräfte der RF aus der Ukraine. Dieses Ideal ignoriert sachlich (und häufig leider auch wider besseren Wissens!) den Fakt des Aufbaus der Ukraine als militärisches Aufmarschgebiet gegen Russland als Teil der Einkreisung und Bedrohung Russlands durch die NATO, die erstere als Verstoß gegen ihre Sicherheitsinteressen sieht. Das Ideal ignoriert das russische Argument, dass mit einem Rückzug der Truppen aus der Ukraine diese Aggression fortgesetzt wird. Es fordert damit in letzter Konsequenz die Rückkehr zum Status quo – dem Aufbau der Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland – also eben jener Prozess, der zu diesem Krieg geführt hat.

Auch die von einem pazifistischen Standpunkt ausgehende Verurteilung der Gewalt des bewaffneten palästinensischen Widerstands ignoriert die Tatsache der ongoing Naqba – d.h. einseitig von Israel ausgehenden Vertreibung, Entrechtung und Massentötung der Palästinenser. Es ist Israel, dessen Existenz nur ohne die Existenz der Palästinenser als Volk geht. Auch hier ist die Forderung des „Endes der Gewalt“ gleichbedeutend mit der Forderung zur Rückkehr zum Status quo: Die Vertreibung, Entrechtung und Massenermordung von Palästinensern durch Israel.

Und bereits jetzt verurteilen Friedensaktivisten die militärische Vorbereitung Chinas auf den Krieg, den die NATO ganz offenkundig gegen sie vorbereitet. China wird in Zukunft für seine militärischen Reaktionen auf die ständigen Provokationen durch die NATO, zuletzt die Durchfahrt der deutschen Marineschiffe durch die Taiwanstraße, kritisiert werden. Durch die Forderung, „sich auf diese Provokationen nicht einzulassen“, fordert man letzten Endes, sich dem geplanten Großangriff einfach hinzugeben.

Der Kampf gegen den Krieg geht nur ohne Pazifismus

Die Distanzierung von der Gewalt derer, die sich gegen die Gewaltherrschaft der imperialistischen Ordnung wehren, fällt in ihrem moralischen Inhalt nicht ohne Zufall mit der Ideologie der Herrschenden zusammen. Als Pazifist ist man sich nämlich – nochmal, auch wenn man es gut meint – mit den Ideologen der imperialistischen Staaten in einem einig: Frieden ist der, siehe oben, [vertraglich gesicherte] Zustand des inner- und zwischenstaatlichen Zusammenlebens in Ruhe und Sicherheit. Aus diesem Ideal leitet sich die Moral ab, dass „jeder Krieg als Mittel der Auseinandersetzung“ abgelehnt wird. Pazifisten und imperialistische Kriegsideologen unterscheiden sich allerdings durchaus in der Vorstellung, mit welchen Mitteln dieser Zustand erreicht wird und tragen diesen Streit über die Frage aus, wer denn „wirklich“ für den Frieden ist: Mit „noch mehr Krieg erreicht man doch keinen Frieden“ vs. „nur mit Diplomatie besiegt man die Diktatoren und Terroristen nicht“. Die Distanzierung von Gewalt ist also eine moralische Grundhaltung, die von einem verlangt wird, der sich zur Frage von Krieg und Frieden äußern will. Sie ist, wie dieser Text aufzeigen sollte, in der Sache eine Lüge.

Eine solche moralische Grundhaltung wird verstärkt seit zwei Jahren in Deutschland ganz prinzipiell von jedem abgefordert, der sich zur Frage von Krieg und Frieden äußern will. Wer sich nicht von der Gewalt des Feindes, sei es Russland oder die Hamas, distanziert, ist nicht berechtigt, sich überhaupt zu äußern. Wer das tut, darf prinzipiell alles an der Art und Weise, wie der Westen die Kriege führt, im Sinne der Herrschenden konstruktiv kritisieren: Man darf gegenüber Waffenlieferungen an die Ukraine durchaus kritisch sein und auf die Beteiligung von Faschisten in der ukrainischen Regierung hinweisen. Und man darf sogar 42.000 Tote Zivilisten in Gaza als eventuell „überzogen“ beurteilen und infrage stellen, ob damit denn wirklich „die Hamas besiege“. All das darf man, wenn man sich vom Feind distanziert.

Der soziale und psychische Druck, den sicherlich alle Antikriegsaktivisten kennen, verleitet einen dazu, sich auf eine solche Gesinnungsjustiz einzulassen, aber rein sachlich ist es so: Die Verurteilung der Gewalt der Unterdrückten reproduziert die Ideologie und Moral der Herrschenden, gegen die man ursprünglich angetreten war. Sie stellt sich damit letztlich auf die Seite derer, die die Kriege wollen und machen.

Eine Anti-Kriegs-Bewegung kann nicht deshalb nicht pazifistisch sein. Sie muss erkennen, dass es die Herrschenden der imperialistischen Staaten sind, die ihre regelbasierte imperialistische Friedensordnung mit Gewalt aufrechterhalten. Sie lebt von der Lüge und diese Lüge bröckelt- deshalb gibt es ihre Gewalt. Bekämpfen wir sie also von innen. Dafür braucht es keine Ideale und erst recht keine moralische Verurteilung derer, die sich mit Gewalt gegen sie wehren. Es braucht Solidarität mit denen, die gegen diese Ordnung kämpfen, wenn man selbst gegen sie kämpfen will.

Aktuelles

Palestine says: “I was, I am, I shall be!” One year of the Al-Aqsa flood

One year ago, the resistance in the Gaza Strip rose up to break out of the open-air prison, to disprove the myth of Israel's invincibility, to remind the world that the Palestinians still exist, to bring the hundred-year war in Palestine hopefully to its final phase.

Halle mahnt uns! 

Heute vor fünf Jahren griff ein rechtsradikaler Attentäter eine Synagoge und einen türkischen Imbiss in Halle an und ermordete dabei zwei Menschen. Was ein offensichtliches Beispiel für den in Deutschland nach wie vor lebendigen Rassismus und Faschismus ist, wird von Seiten der Herrschenden zunehmend verfremdet, damit es in ihre imperialistische antipalästinensische Propaganda passt.