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Zum 9. November: Wie sich der deutsche Imperialismus von seiner faschistischen Vergangenheit befreit

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Um die historische Schuld, die den deutschen Imperialismus bis heute politisch behindert, auszuhebeln, dienen ihm aktuell vor allem zwei ideologische Stemmeisen: Israel und die Ukraine.

Der 9. November ist ein historisch symbolträchtiger Tag, denn er ist mit den größten Klassenschlachten der deutschen Arbeiterbewegung verbunden – und steht zugleich für ihre größten Niederlagen: Die offizielle Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik der BRD bringt den 9.11. mit folgenden Ereignissen in Verbindung: Niederschlagung der bürgerlichen Revolution in Deutschland und Österreich (1848), Beginn der Novemberrevolution (1918), Hitler-Putsch (1923), Reichspogromnacht (1938) und „Fall der Berliner Mauer“ (1989). Dabei schweigen die Ideologen der Herrschenden bewusst darüber, dass es 1848/49 die Bürgerlichen waren, die die Revolution aus Angst vor der Arbeiterklasse an die monarchistische Konterrevolution verrieten, und dass 1918/19 die SPD den revolutionären Massen in den Rücken fiel, indem sie im Bündnis mit Monarchisten und Proto-Faschisten die Rätebewegung zerschlug. Die Konterrevolution, die in der DDR 1989 siegte, wird von den Herrschenden quasi als „Ehrenrettung“ dieses Datums und des deutschen Volkes dargestellt, die die „Schande“ von 1923 und 1938 ausgleiche. Wir aber wissen, dass auch die Konterrevolution 1989/90 nur durch Verrat siegen konnte. Und wir wissen, dass die BRD seit der Annexion der DDR alles tut, um wieder in die Fußstapfen jenes deutschen Imperialismus zu treten, der in der Lage war, Weltkriege zu entfesseln, der die Novemberrevolution zerschlug und den Faschismus 1933 an die Macht brachte.

Dabei muss dieser „neue“ deutsche Imperialismus allerdings mit jenem historischen Ballast umgehen, den zwei Weltkriege und der Nazi-Faschismus ihm aufgehalst haben – gegenüber den Völkern der Welt, gegenüber den heutigen westlichen Verbündeten und gegenüber der eigenen Bevölkerung. Um diese historische Schuld, die den deutschen Imperialismus bis heute politisch behindert, auszuhebeln, dienen ihm aktuell vor allem zwei ideologische Stemmeisen: Israel und die Ukraine.

Zweierlei Maß

Der Faschismus hatte in den 1930er und 40er Jahren primär die Zerschlagung der Arbeiterbewegung im eigenen Land sowie des realexistierenden Sozialismus in Form der Sowjetunion und den Aufstieg des eigenen Monopolkapitalismus in der imperialistischen Hierarchie zum Ziel. Im Zuges dieses Feldzuges wurden aber nicht nur Kommunisten und Arbeiter zu hunderttausenden verfolgt, ermordet, gefoltert, versklavt und verheizt, sondern auch ganze Volksgruppen und Nationen. Aufgrund der rassistischen Ideologie der Nazis und ihres Vernichtungskrieges im Osten waren von diesen Genoziden vor allem die europäischen Juden und Roma sowie die Völker der Sowjetunion betroffen.

Während der Antifaschismus in der DDR Staatsräson und der Faschismus von Tag eins an aufgearbeitet wurde, wurde er in der von alten Nazis aufgebauten Bundesrepublik solange verschwiegen, bis linke Studenten, Überlebende des Faschismus und andere Antifaschisten eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ab den 1960ern erzwangen. Heute rühmt sich die BRD ihrer angeblich vorbildlichen Aufarbeitung und ihrer Gedenkpolitik. Doch in Wahrheit gehören Rassismus und Faschismus nach wie vor zur DNA dieses Staates und der Umgang mit den Opfern könnte unterschiedlicher und heuchlerischer kaum sein: Anders als die DDR hat die BRD bis heute so gut wie keine Entschädigung an irgend ein Land gezahlt, das von Nazi-Deutschland überfallen wurde. Roma sind bis heute als Opfer faktisch nicht anerkannt und werden rassistisch diskriminiert. Aufgrund des anhaltenden Antikommunismus und der Russlandfeindlichkeit werden auch die bis zu 37 Millionen getöteten Sowjetbürger weitgehend verschwiegen. Allein Israel erhielt über Jahrzehnte „Wiedergutmachungszahlungen“ und weitere „Entschädigungen“ von der BRD und Juden werden als die zentralste und „wichtigste“ Opfergruppe der Nazis dargestellt.

Zionismus statt Antifaschismus

Die Bevorzugung Israels ist zum einen aus der Geschichte der Westintegration der BRD zu erklären: Der Ablasshandel diente der Legitimierung gegenüber den Westmächten und dem Aufbau Israels als wichtigsten Vorposten des Imperialismus im Nahen Osten gegen den Sozialismus und die arabische Unabhängigkeitsbewegung. Über diese materielle Basis erhob sich in der Folge zunehmend ein ideologischer Überbau, der den Schutz Israels zur „Staatsräson“ erhob und sich sowohl nach innen als auch nach außen richtete: Während in der DDR die Zerschlagung der materiellen Basis des Faschismus real angegangen wurde, versuchte die herrschende Klasse in der BRD ihre systemische und personelle Kontinuität zum Faschismus zu verschleiern, indem sie sich nun „demokratisch“ und „pro-jüdisch“ gab. Sprich: Parlamentarismus und Zionismus waren und sind bis heute der ideologische Konterpart der BRD zum Antifaschismus der DDR. Umso mehr als die DDR Israel – zurecht – nie anerkannt hat.

Darüber hinaus hat diese „Staatsräson“-Ideologie zunehmend weitere Funktionen hinzugewonnen, vor allem seit der Konterrevolution 1989/90 und der Rückkehr des deutschen Imperialismus auf die Weltbühne: Die Tabuisierung der Kritik an Israel ist eine nützliche Waffe gegen jegliche Kritik am westlichen und damit auch am deutschen Imperialismus. Mit ihr lassen sich fast alle linken Grundpositionen – Antimilitarismus, Antikolonialismus, Antiimperialismus, Antifaschismus und Antirassismus – moralisch untergraben: Waffenlieferungen an Tel Aviv gelten genau wie sämtliche westliche Kriege in der Region als legitim, weil sie angeblich Israels Existenz schützen. Kritik an Apartheid, Landraub, Massakern und ethnischer Säuberung wird als „antisemitisch“ delegitimiert.

Nazifizierung der Palästinenser

Selbst Rassismus kann mit Verweis auf Israel gerechtfertigt werden: Das gilt nicht nur für den Rassismus, der jede Faser des Kolonialprojekts Israel durchzieht. Auch Deutsche können mittlerweile „politisch korrekt“ rassistisch sein, und zwar gegen Muslime bzw. Araber und Türken, die – ebenfalls völlig zurecht – in ihrer absoluten Mehrheit antizionistisch eingestellt sind. Es ist kein Zufall, sondern völlig notwendig, dass die größten Israel-Apologeten überzeugte Islam-, Araber- und Türkenhasser sind: Sowohl die „Antideutschen“ als auch die AfD liegen vollkommen richtig, wenn sie sich als die konsequentesten Freunde Israels darstellen. Vor dem Hintergrund, dass der antimuslimische Rassismus die besondere Eigenschaft hat, einerseits nach innen sowohl die Spaltung der Gesellschaft entlang rassistischer Linien zu forcieren, als auch den Abbau von Grundrechten zu legitimieren, und andererseits nach außen hin Kriege zu rechtfertigen, wird ersichtlich, wie nützlich es ist, diesem Rassismus den Anschein von Berechtigung zu verleihen. Daher sind der Kampf gegen antimuslimischen Rassismus in Deutschland und gegen die zionistische Staatsräson engstens miteinander verbunden. 

Die anti-palästinensische und die antimuslimische Hetze zuspitzend, erleben wir in den letzten Jahren zudem zunehmende Versuche, Araber und vor allem die Palästinenser quasi zu „nazifizieren“: Durch die starke Fokussierung auf arabische politische Kräfte, die vermeintlich oder tatsächlich mit Deutschland in den 1930ern und 40ern sympathisiert oder kooperiert haben, durch die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus und indem man Palästinensern oder auch palästina-solidarischen Muslimen in Deutschland völlig ahistorisch und ignorant europäische antisemitische Motive unterschiebt, [1] sollen Muslime/Araber bzw. die Palästinenser quasi als die ideologischen Erben der Nazis dargestellt werden. Damit werden nicht nur der antimuslimische und anti-arabische Rassismus ein weiteres Mal legitimiert, von den Verbrechen Israels gegen die arabischen Völker ganz abgesehen. Diese Projektion dient dem deutschen Imperialismus darüber hinaus einmal mehr zur Entledigung von der eigenen Vergangenheit, während der reale historische wie zeitgenössische Faschismus zugleich extrem relativiert wird.

Rehabilitierung des Faschismus in der Ukraine

Während also die Palästinenser – auch von selbsternannten „Linken“ – als antisemitisch und als Wiedergänger der Nazis gebrandmarkt werden, sehen wir, wie waschechte Faschisten, mit Hakenkreuzen und SS-Symbolen auf Helm und Brust spätestens seit Anfang diesen Jahres salonfähig gemacht werden: Die Kämpfer des faschistischen Asow-Bataillons werden als Helden gefeiert und von der NATO mit Waffen beliefert; die antisemitischen Massenmörder und Nazi-Kollaborateure Bandera und Melnyk werden zu ukrainischen Nationalhelden verklärt und Bundestagsvize Göring-Eckardt (Grüne) ruft durch den Bundestag unter Applaus „Slawa Ukrajini“, das ukrainische „Sieg Heil“.[2] Parallel dazu strömen seit 2014 aus ganz Europa (auch aus Deutschland) Neonazis in die Ukraine, um sich zu vernetzen, von ihren „Kameraden“ zu lernen – und um sich militärisch ausbilden zu lassen.[3] Und auch hier fallen wieder viele Linke auf die westliche Propaganda herein: Einige glauben die Märchen, wonach etwa das faschistische Asow-Bataillon längst nicht mehr faschistisch sei. Andere stimmen sogar lauthals in den Chor der dreistesten Faschismus-Rehabilitierer ein, indem sie offen von „nützlichen Nazis“ sprechen.[4]

Diese Relativierung des ukrainischen Faschismus in der deutschen Politik und Öffentlichkeit dient natürlich zunächst als unmittelbare Kriegspropaganda gegen Russland. Doch sie erfüllt für den deutschen Imperialismus noch eine weitere Funktion, nämlich die totale Relativierung und auch Rehabilitierung des Faschismus: Wenn ukrainische Nazi-Kollaborateure und ihre politischen Nachfolger letztlich „Helden“ im Krieg gegen Russland waren und sind, dann waren auch weder der deutsche Faschismus noch der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion so eindeutig falsch und schlimm. Wenn die Faschisten in der Ukraine damals wie heute als „nützlich“ gelten können, dann können sie das perspektivisch auch in Deutschland sein – sowohl rückblickend, etwa im Kampf gegen die damalige „bolschewistisch Gefahr“, und auch künftig, gegen Kommunisten, Friedenskräfte usw. Selbst wenn das Ergebnis wohl kaum sein dürfte, dass in absehbarer Zeit Hitler als Person und die NSDAP als Partei in Deutschland wieder rehabilitiert werden, so handelt es sich doch um einen krassen Sprung von der seit 1945 eher peinlichst verschwiegenen Kontinuität zwischen „Drittem Reich“ und BRD hin zu einer offenen Bezugnahme auf eindeutig in Tradition des Nazi-Faschismus stehende Kräfte, der nicht ohne ideologische und sozialpsychologische Folgen bei der deutschen Bevölkerung bleiben wird.

Gegen den Hauptfeind!

So widersprüchlich die staatsoffizielle Erinnerungskultur und der zelebrierte Philosemitismus auf der einen und die Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren und Neofaschistischen auf der anderen Seite auf den ersten Blick erscheinen, so sehr dienen beide dem Zweck, den deutschen Imperialismus von seinen Altlasten aus der NS-Zeit propagandistisch zu befreien. Beides erfolgt in derzeit völligem Einklang mit den westlichen Verbündeten und wird zugleich der deutschen Bevölkerung auf moralisch völlig verdrehte und emotional extrem aufgeheizte Art medial eingepeitscht. Und so können die deutschen Imperialisten heute im Namen des Kampfs gegen Antisemitismus oppositionelle Stimmen zum Schweigen bringen und die eigene Bevölkerung spalten, unter dem Motto „Nie wieder Auschwitz“ Kriege führen[5] und zugleich wieder faschistische Truppen unter Bannern der SS gegen Russland ins Feld ziehen zu lassen.

Vor dieser Entwicklung dürfen wir als Kommunisten und Linke, als Antifaschisten und Kriegsgegner nicht die Augen verschließen: Wir müssen die Parole, den „Hauptfeind im eigenen Land“ zu bekämpfen, ernst nehmen und seine Strategien auf politischer, militärischer und auch ideologischer Ebene konkret herausarbeiten, offenlegen und bekämpfen!

Gegen Geschichtsrevisionismus, Relativierung und Rehabilitierung: Kampf dem Faschismus – in Deutschland, in der Ukraine und international!

Antifaschismus statt zionistischer „Staatsräson“: Solidarität mit allen Opfern rassistischer Gewalt! Freiheit für Palästina!

Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz: Nieder mit dem deutschen Imperialismus!

[1] Mittlerweile gilt es als Konsens im herrschenden Diskurs, dass die Parole „Kindermörder Israel“, die man von türkei- und arabischstämmigen Demonstranten bei Palästina-Demos hört, angeblich auf die antisemitische Ritualmord-Legende verweist, die allerdings ein christlich-europäisches Produkt aus dem Mittelalter ist und im Nahen Osten und gerade unter Muslimen weitgehend unbekannt ist.

[2] https://youtu.be/7saRclvYCq4?t=1600.

[3] https://www.antifainfoblatt.de/artikel/die-ukraine-sehnsuchtsort-der-extremen-rechten.

[4] So Fabio Di Masi, damals noch Abgeordneter der Linkspartei im EU-Parlament: https://twitter.com/fabiodemasi/status/1508523950992764933?lang=de.

[5] https://youtu.be/7jsKCOTM4Ms?t=541.

Aktuelles

Positionen und Perspektiven zu den Entwicklungen in Syrien

Wir dokumentieren an dieser Stelle Übersetzungen von Erklärungen und Stellungnahmen arabischer, türkischer und iranischer Kommunisten. Diese Zusammenstellung verschiedener Statements soll dazu dienen die verschiedenen Perspektiven und Positionierungen gegenüber der Zerschlagung der Syrischen Arabischen Republik in ihrer jetzigen Form aufzuzeigen. Außerdem sollen die offenen Fragen und Orientierungen der Kommunisten angesichts der imperialistischen Aggression gegen Syrien zusammengetragen werden, um die Standpunkte von Kommunisten aus der Region für hiesige Debatten zugänglich zu machen.

Palästina und die DDR – Befreiungskampf als Staatsräson?

Während in der BRD die bedingungslose Unterstützung Israels als „Ersatz- Antifaschismus" spätestens ab 1952 zunehmend zur „Staatsräson" wurde, erkannten sich die DDR und Israel bis zur Konterrevolution 1989/90 nicht gegenseitig an. Stattdessen wurde die DDR zu einem wichtigen Alliierten der palästinensischen Befreiungsbewegung.