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Die NATO als Schutz vor dem deutschen Imperialismus?

von Andreas Wehr (Marx-Engels-Zentrum)

Anmerkung der Redaktion
Im Dezember schickten die Autoren des Textes Deutschlands Griff nach Osten, diesen an Andreas Wehr vom Marx-Engels-Zentrum, mit der Bitte um eine kritische Kommentierung. Andreas Wehr schrieb einen kurzen Artikel, den er Mitte Januar auf seinem Blog veröffentlichte. Der Artikel bezieht sich auf das Kapitel Thesen und offene Fragen zur Strategie und Entwicklung des deutschen Imperialismus und die dort beschriebene Position der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ) bezieht. Wir freuen uns sehr, den Artikel von Andreas Wehr nun spiegeln zu können.

Die Kommunistische Arbeiterzeitung will die NATO zur „Kontrolle des deutschen Machtpotentials“ einsetzen und schwächt damit die Friedensbewegung

Seit Jahren führt die Kommunistische Arbeiterzeitung (KAZ) – und hier deren Fraktion Für Dialektik in Organisationsfragen – jährliche Konferenzen unter dem Titel „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ durch. Im Jahr 2023 stand die Frage „Deutschland raus der NATO?“ zur Debatte. Die Referate von Gretl Aden für die KAZ und von Max Rodermund von der Kommunistischen Organisation (KO) wurden in Nr. 385 der KAZ von November 2023 dokumentiert.

Plädierte Rodermund darin für einen Austritt Deutschlands aus der NATO, so lehnte Gretl Aden diese Forderung ab: „Unabhängig von der subjektiven Absicht derjenigen Freunde und Genossen die sie aufstellen, greift sie nicht unmittelbar den deutschen Imperialismus an, sondern die NATO, und damit den US-Imperialismus. Sie schürt die Illusion, der deutsche Imperialismus wäre friedlicher, weniger gefährlich ohne die NATO und verharmlost damit den deutschen Imperialismus. Sie beinhaltet eine Option der deutschen Monopolbourgeoisie und ihres Staates in ihrem Kampf um die Beherrschung möglichst großer Teile der Welt: das Streben, ohne und gegen die USA antreten zu können. Sie lenkt also vom deutschen Imperialismus ab, statt auf den Kampf gegen ihn zu orientieren – und das ist doch unsere Aufgabe in diesem Land als Teil des internationalen Kampfes der Arbeiterklasse und unterdrückten Völker gegen den Imperialismus.“

Das zentrale Argument für eine weitere Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO besteht für Aden demnach in der damit gegebenen Kontrolle des deutschen imperialistischen Militärapparats. Sie zitiert die Aussage des ersten NATO-Generalsekretärs Lord Ismay, der als Ziel des Bündnisses nannte: „To keep the Russions out, the Americans in and the Germans down“, also die Sowjets aus Europa draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten. Die Haltung des britischen Lords war nach zwei Kriegen, die auch westliche Länder gegen Deutschland geführt hatten, verständlich. Doch Lord Ismay war von 1952 bis 1957 Generalsekretär, also vor gut 70 Jahren. Zu fragen ist daher, ob sich die Lage seitdem nicht grundlegend verändert hat. Ein damals denkbarer Revanchekrieg der Bundesrepublik Deutschland gegen die Sowjetunion mit dem Ziel der Rückgewinnung der DDR sowie der an Polen und die UdSSR verlorenen Ostgebiete hat sich mit der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik im Oktober 1990 erledigt. Weshalb also heute „the Germans“ weiterhin „down“ halten?

Nach Aden ist aber die Frage der Einbindung Deutschlands in die NATO und damit in das westliche Bündnis mit der deutschen Einigung 1990 erneut auf die Tagesordnung gekommen: „Ein ‚wiedervereinigtes‘ Deutschland rief bei den imperialistischen Konkurrenten des deutschen Imperialismus und einstigen Siegermächten die größten Befürchtungen hervor. Vor allem die britische Regierung, aber auch die französische hatten heftige Widerstände, wie der damalige Bundeskanzler Kohl in seinen Memoiren beschreibt.“ Doch diese Bedenken, übrigens auch von Italien, bezogen sich auf das mit der Vereinigung gewachsene ökonomische Gewicht Deutschlands. Deshalb wollte der französische Präsident Mitterand mit dem Vertrag von Maastricht und dem darin enthaltenen Fahrplan zur Einführung des Euros die gestärkte deutsche Ökonomie stärker einbinden. Geglückt ist das bekanntlich nicht. Deutschland zog in der EU an Frankreich vorbei, war der große Profiteur der Osterweiterung der Union, und es gelang ihm mit dem Lissabon-Vertrag auch die Regeln der europäischen Entscheidungsfindung zu seinen Gunsten zu verändern.1Vgl. dazu Andreas Wehr, Die EU – Instrument und Springbrett für den deutschen Imperialismus? Vortrag auf dem Kommunismus-Kongress 2023 der Kommunistischen Organisation. Eine gekürzte Fassung des Referats erschien am 27.10.2018 in der Wochenzeitung Unsere Zeit (UZ). Von einem Wiederaufstieg Deutschlands zu einer bedrohlichen Militärmacht war aber in Paris, London oder Rom nie die Rede.

Uneingeschränkt unterstützten hingegen die USA die deutsche Einheit, waren sie es doch, die mit ihrer Hochrüstung die Sowjetunion in die Knie gezwungen hatten, so dass sie das realsozialistische Lager nicht mehr zusammenzuhalten konnte. Es war Präsident Ronald Reagan, der im Juni 1987 – und damit gut zwei Jahre vor dem Mauerfall –vor dem Brandenburger Tor gefordert hatte: „Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder! Der Zusammenbruch der DDR, die deutsche Vereinigung wie auch das Ende der Sowjetunion mit der Abdankung des europäischen Realsozialismus war das erklärte Ziel der USA. Und sie haben dieses Ziel erreicht!

Dennoch behauptet Aden, dass auch in den USA ein „wiedervereinigtes Deutschland“ die „größten Bedenken“ hervorrief. Sie zitiert zum Beleg Henry Kissinger aus einem Artikel der Welt am Sonntag vom 23. April 1989: „Soll der innere Zusammenhang des Westens gesichert werden, muss er eine eigene Vision für ein vereinigtes Europa entwickeln. Geschieht dies nicht, wird die wirtschaftlich und militärisch stärkste Nation Europas – die Bundesrepublik Deutschland – mit Sicherheit ihren eigenen Weg gehen.“ Doch diese Besorgnis bezog sich nicht auf die Möglichkeit des Aufstieg einer konkurrierenden deutschen Militärmacht, sondern auf die Angst davor, es könnten in Berlin jene an Gewicht gewinnen, die die Westbindung – und damit die NATO-Mitgliedschaft – zugunsten eines neutralen Status verbunden mit der Perspektive einer engeren Zusammenarbeit mit Russland aufgeben wollen. Die Stichworte dafür lauten stets: Vertrag von Rapallo von 1922, finnische Blockungebundenheit während des kalten Krieges, Neutralitätsvertrag von 1955 für Österreich.

Seinerzeit gab es tatsächlich Stimmen aus der Friedensbewegung, aber auch von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die die Chance der deutschen Vereinigung nutzen wollten, um die Mitgliedschaft des vergrößerten Deutschlands in der NATO infrage zu stellen. Da sich aber die Sowjetunion unter Gorbatschow mit der fortbestehenden NATO-Mitgliedschaft Deutschlands abgefunden hatte, waren sie chancenlos. Heute sind sie nahezu verstummt. Allein der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi wagte noch zu formulieren, dass „das Ziel Europas am Ende eine allianzneutrale Position sein“ sollte.2Klaus von Klaus von Dohnanyi, Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, München, 2022, S. 119 Doch das schrieb er noch vor der Eskalation des Ukrainekriegs im Februar 2022.

In einer Dokumentation über den Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen den vier Siegermächten und den zwei Deutschlands heißt es: „Am 31. Mai 1990 stimmt der sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow einer freien Bündniswahl Deutschlands zu. Die Sowjetunion erhält im Gegenzug wirtschaftliche Hilfen, zudem dürfen in Ostdeutschland keine NATO-Truppen stationiert werden.“3Lebendiges Museum online Die bereits totgeweihte DDR spielte bei den Verhandlungen nur noch eine Statistenrolle. Und für die Sowjetunion bedeutete die Unterzeichnung des Vertrags eine mehr oder weniger offene Kapitulationserklärung. Russland musste in den Jahren erleben, wie die dem Land gegebenen Zusicherungen gebrochen wurden: Die NATO wurde Schritt um Schritt nach Osten erweitert, allein die Mitgliedschaften der Ukraine und Georgiens wurden 2008 noch einmal aufgeschoben. Am Ziel der Aufnahme dieser beiden Staaten und auch Moldawiens hält die NATO aber unverändert fest. Längst ist sie auch mit militärischen Einrichtungen und festen Quartieren in den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern präsent. Mit dem einst zur Sowjetunion gehörenden Litauen hat die Bundesrepublik erst kürzlich die Stationierung einer Bundeswehr-Brigade von 4.800 Mann an der Grenze zu Russland vereinbart.

Für die USA ist die NATO nach 1990 zum wichtigsten Hebel zur Durchsetzung ihrer aggressiven Außenpolitik geworden. Sowohl der Krieg gegen Serbien 1999 als auch der Angriff auf Afghanistan 2001 erfolgte unter der Führung des Militärbündnisses. Und heute ist es die NATO, die Russland mit Hilfe der Ukraine entscheidend schwächen will. Geht es nach den USA, so soll die Allianz sogar zum Nukleus eines weltweiten Kriegsbündnisses werden. Japan, Südkorea und Australien wurden ausdrücklich zur Kooperation eingeladen.

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist längst Geschichte und doch ist es grotesk, wenn Gretl Arden heute in der KAZ fragt: „Ist es denn die Aufgabe von Kommunisten unter imperialistischen Bedingungen diesen Vertrag in Frage zu stellen, also unter Bedingungen, die doch leider dadurch gekennzeichnet sind, dass wir weit davon entfernt sind, die Machtfrage in diesem Land zu Gunsten der Arbeiterklasse lösen zu können?“ In ihrer Fixierung auf die Schimäre des Wiederaufstiegs einer imperialistischen Militärmacht Deutschland, die den zweimal verlorenen Kampf um die Weltherrschaft wiederaufnehmen könnte, rühmt sie damit ausgerechnet jenen Vertrag, der die größte Niederlage der deutschen und zugleich internationalen Arbeiterbewegung besiegelte!

Aden und die KAZ schwächen mit ihrer Haltung zur NATO-Mitgliedschaft Deutschlands den eh schon schwachen Widerstand im Land gegen dieses Kriegsbündnis. In seiner Antwort auf Aden stellte Rodermund die richtigen Fragen: „Sind die jährlich durchgeführten Blockaden der DKP vor der Militärbasis in Büchel, in der US-Nuklearwaffen als NATO-Kapazität liegen, schlecht, weil sie von der eigentlichen Gefahr des deutschen Imperialismus ablenken? Muss denn der Kampf gegen die Aktivitäten der US-geführten NATO einen zugleich zum Parteigänger des deutschen Imperialismus machen? Geht es denn nicht, das eine mit dem anderen zu verbinden?“

Wie sollen NATO-Gegner in den heute noch neutralen Staaten Österreich, Irland, Malta, Schweiz und Zypern eine „kommunistische“ Haltung verstehen, die für Deutschland die Mitgliedschaft in diesem Bündnis für richtig und notwendig hält? Und wie will man einem drohenden Beitritt Georgiens, Moldawiens und der Ukraine entgegentreten, wenn man für das eigene Land an der Mitgliedschaft festhalten will? Der Hauptfeind sind und bleiben aber die USA und die von ihr beherrschte NATO!4Vgl. dazu Andreas Wehr, Der Hauptfeind sind die USA! In: Theorie & Praxis vom 01.10. 2018 Mit ihrer verblendeten Haltung erweist die Kommunistische Arbeiterzeitung, der Friedensbewegung und sich selbst einen Bärendienst!

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