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Russlands imperialistischer Krieg

von Bob Oskar

Russland hat am 24. Februar eine militärische Offensive auf die Ukraine begonnen, die bis zum heutigen Tag anhält. Sie stellt eine neue Eskalation des seit 2014 in der Ukraine schwelenden und immer wieder auflodernden Krieges dar, auch wenn Russland weiterhin euphemistisch von einer „Sonder-Militäroperation“ spricht. In der Kommunistischen Organisation gibt es sehr unterschiedliche Positionen zu diesem konkreten Konflikt, die zusammenhängen mit allgemeinen Fragen. Ich will in diesem Beitrag erstens für eine materialistische Einordnung von Gewalt und Krieg argumentieren (mit diesem Abschnitt bin ich noch unzufrieden, aber ich will ihn trotzdem schon einmal in die Debatte einbringen). In einem zweiten Abschnitt möchte ich eine grobe Einordnung der ökonomischen Stellung Russlands im imperialistischen Weltsystem geben. Drittens gehe ich auf die Ursachen des Krieges und sein Wesen als imperialistischer Krieg ein und kommentiere kurz den Begriff der Äquidistanz.

Übersicht

  1. Für eine materialistische Einordnung von Gewalt und Krieg
  2. Für eine materialistische Analyse der Russischen Föderation
  3. Für eine materialistische Analyse des Kriegs in der Ukraine
  4. Den Imperialismus als Weltsystem zu verstehen ist keine Äquidistanz
  5. Schlussbemerkung

Für eine materialistische Einordnung von Gewalt und Krieg

Sowohl die bürgerlich-verdrehte Sicht der Dinge, die auf uns alle tagtäglich einprasselt, als auch der simple Fakt, dass wir in einem imperialistischen Zentrum leben und die allermeisten von uns noch nie einen Krieg am eigenen Leib zu spüren bekommen haben, haben Auswirkungen darauf, wie wir uns zu einem solchen Krieg verhalten, wie er gerade in der Ukraine abläuft. Man kann diesen Krieg aus verschiedener Perspektive befürworten, beispielsweise laufen die Einschätzungen einiger Genossen der KO darauf hinaus, und wie in meinem Text deutlich werden dürfte halte ich das für einen großen Fehler. Man kann diesen Krieg aber auch aus sehr unterschiedlicher Perspektive verurteilen, und auch hier kann man verschiedene Fehler machen, die sich in der Art und Weise und der Schlagrichtung der Verurteilung ausdrücken. Ein solcher Fehler ist es, eine pazifistische Position einzunehmen und zu denken, man könne die Kriege aus der Welt schaffen ohne die Klassen aus der Welt zu schaffen. Ein weiterer Fehler besteht darin, Kriege allgemein zu verurteilen, ohne sie konkret zu analysieren und sie auf ihren gesellschaftlichen Gehalt zu prüfen. Nicht ohne Grund schrieb Lenin zum ersten Weltkrieg, dass seine Einschätzung als imperialistischer Krieg „neben ernsten Gegnern auch unernste Freunde [findet], für die das Wort Imperialismus eine „Mode“ geworden ist“i

Kommunisten analysieren politische Entwicklungen nicht mit dem Ziel, sie moralisch einzusortieren, sondern um Erkenntnisse für den bewussten Klassenkampf zu erlangen. Und umgekehrt lassen sie sich in ihrem Urteil nicht vom moralischen Reflex leiten – wäre dem so, dann wäre jede politische Handlung einfach in dem Maße zu verurteilen, wie sie Elend und Tod hervorbringt. Gerade für Kriege wäre die Sache dann denkbar einfach, und auch im Fall des Ukrainekriegs wäre das Urteil schnell gefällt: seit Beginn des russischen Einmarschs (24. Februar 2022) sind dort bis Mitte März mutmaßlich hunderte Zivilisten und tausende Soldaten auf beiden Seiten gestorben (ganz zu schweigen von den ca. 14.000 Toten die seit 2014 vermeldet wurden), Millionen Menschen sind innerhalb der Ukraine und in die Nachbarländer geflohen, bereits jetzt bestehen Versorgungsengpässe an Medikamenten und Nahrung, und es droht innerhalb des nächsten Jahres ein Getreidemangel, der vor allem Länder Nordafrikas und Asiens treffen würde. Damit ist zwar noch nichts über die Ursachen gesagt, aber aus oberflächlich-moralischer Perspektive wäre die Sache recht klar.

Eine materialistische Analyse (aus der dann ein moralischer Standpunkt abgeleitet werden kann) sieht anders aus. „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ schrieb Karl Marx im Kapital im Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulationii. Deren Methoden seien „alles andere, nur nicht idyllisch“, denn „in der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle“iii. Die Trennung von Produzent und Produktionsmitteln, die vom Kapitalverhältnis vorausgesetzt wird, vollzog sich historisch gewaltförmig, wie Marx am Beispiel der Vertreibung der Bauern in England deutlich macht. Das Kapital kommt „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ auf die Weltiv. Zwei Dinge kann man aus den Darstellungen von Marx lernen: zum einen war die Einordnung der Gewalt das Resultat konkreter Untersuchungen. Zum anderen hat Marx dabei herausgearbeitet, dass in der ursprünglichen Akkumulation die Gewalt die Form war, in der sich der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bewegte. Sie existiert nicht „einfach so“, sondern ist bedingt durch die gesellschaftlichen Umstände und ihre Veränderung. Einzelne Gewaltakte in der ursprünglichen Akkumulation sind dabei weder unvermeidlich, noch sind sie im absoluten Sinn zufällig.

Was Marx hier zur Rolle der Gewalt beim Übergang von einer Gesellschaftsformation in eine andere schreibt lässt sich erweitern auf die Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaftsformation. Im Imperialismusv haben sich die Akkumulations- und Expansionstendenzen des Kapitals in einem solchen Ausmaß verwirklicht, dass erstens Monopole geschaffen werden, die entscheidenden politischen Einfluss haben, und zweitens „die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder“ beendet istvi. Die Form und Konfiguration dieser Aufteilung ist offensichtlich heute eine andere als bei Lenin. Geblieben ist jedoch, dass Nationalstaaten als ideelle Gesamtkapitalisten darum konkurrieren, die Verwertungsmöglichkeiten ihres national verankerten Kapitals zu optimieren. Dies beinhaltet zum Beispiel den Zugriff auf Ressourcen, die Sicherung von Transportwegen, den Kapitalexport und die Realisierung von Mehrwert im Ausland.

Wie hat sich diese Konkurrenzsituation in den letzten Jahrzehnten entwickelt? Mit der vorläufigen Niederlage des Sozialismus hatte die Kapitalakkumulation schlagartig einen größeren Radius. Die aktive Zerschlagung der möglichen neuen Konkurrenz in den ehemals sozialistischen Staaten ging einher mit der Vereinnahmung der neuen Arbeits- und Absatzmärkte. Natürlich kam dadurch mitnichten die Geschichte an ihr von bürgerlichen Ideologen beschworenes Ende. Nach drei Jahrzehnten zeigt sich vielmehr, dass die unipolare Weltordnung an ihr Ende gekommen ist. Diese Weltordnung war – in aller Kürze – dadurch gekennzeichnet, dass die USA als Garant westlicher Weltvorherrschaft (der USA, EU, Japan usw.) jede nichtgefügige Konkurrenz und jedes aufsässige Land im Zweifel wegbomben kann und dies gelegentlich auch tut, sich das von anderen Staaten durch die Dominanz des Dollars bezahlen läßt, und mit riesigen Handelsbilanzdefiziten die Warenüberschüsse von exportorientierten Staaten wie Deutschland aufsaugt. Ohne dies jetzt im Detail nachzuweisen denke ich, dass die USA zum jetzigen Zeitpunkt weiterhin der größte der imperialistischen Räuber sind, man kann dafür die Eckdaten der größten Volkswirtschaften, den Stand der Produktivkräfte, ihre militärischen Kapazitäten und vieles mehr vergleichen. Außerdem deutet vieles darauf hin, dass China die Hauptkraft eines Pols darstellt, der die Hegemonie der USA offen herausfordert: China ist bereits jetzt das Land mit dem höchsten kaufkraftbereinigten BIP, investiert strategisch und staatlich orchestriert in die Entwicklung von Hochtechnologie, rüstet stark auf und ist immer noch – mit knappem Vorsprung vor Indien – das bevölkerungsreichste Land der Welt, mit entsprechend wachsender Binnenmarktnachfrage usw. Es gibt natürlich keinen Automatismus, dass China nicht in der mittleren Einkommensfalle (middle income trap) hängenbleibt, und vor allem ist es alles andere als ausgeschlossen, dass die USA versucht den aufstrebenden Konkurrenten militärisch niederzuhalten (ob sie dazu noch in der Lage wären ohne auf ihr Nukleararsenal zurückzugreifen ist eine andere Frage).

Entscheidend ist jedenfalls nicht, wie genau eine nicht-unipolare Weltordnung aussehen wird sondern die generelle Entwicklungsdynamik: „Die Ungleichmäßigkeit und Sprunghaftigkeit in der Entwicklung einzelner Unternehmungen, einzelner Industriezweige und einzelner Länder ist im Kapitalismus unvermeidlich“ stellte Lenin festvii, und präzisiert an anderer Stelle: „Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus.“viii. Dieses Gesetz wird von der Wirklichkeit eindrücklich bestätigt. Es steht also die Frage im Raum, wie die Verschiebungen im globalen ökonomischen Gefüge sich übersetzen in veränderte Einflusssphären. Und auch hier gibt es meines Erachtens nach keinen Anlass, von Lenins sehr grundsätzlicher Position abzurücken: „Unter kapitalistischen Verhältnissen ist jedoch jede andere Basis, jedes andere Prinzip der Teilung als das der Macht unmöglich […] Um die tatsächliche Macht eines kapitalistischen Staates zu prüfen, gibt es kein anderes Mittel und kann es kein anderes Mittel geben als den Krieg. Der Krieg steht in keinem Widerspruch zu den Grundlagen des Privateigentums, er stellt vielmehr eine direkte und unvermeidliche Entwicklung dieser Grundlagen dar. Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine anderen Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wiederherzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik.“ix. Auch Multipolarität kann in einer imperialistischen Weltordnung immer nur vorübergehenden, imperialistischen Frieden bedeuten, einen Frieden, der in dem Maße infrage gestellt ist, in dem die globale ökonomische und politische Machtverteilung nicht mehr die Kräfteverhältnisse der kapitalistischen Länder wiederspiegelt.

Das ist in groben Zügen der welthistorische Hintergrund des Ukrainekriegs. Sowohl bei Marx und Engels, als auch bei Lenin findet sich der zustimmende Hinweis auf Clausewitz Feststellung, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Jeder Krieg ist genau daraufhin zu befragen: welche Politik wird denn hier fortgesetzt? Der zweite Weltkrieg setzte die Politik der deutschen Faschisten fort, die revolutionäre Bewegung zu zerschlagen, die Verwertungsbedingungen ihres Industriekapitals zu verbessern und die Kosten dafür auf andere Völker, primär die Völker der Sowjetrepubliken abzuwälzen, er setzte auch die Politik der „friedlichen“ territorialen Expansion fort (z.B. Anschluss Österreichs). Die Verwandlung der zaristischen Beteiligung am ersten Weltkrieg in einen russischen Bürgerkrieg 1917 setzte die Politik der Bolschewiki fort, die bürgerlich-revolutionären Entwicklungen von 1905 und 1917 weiterzutreiben zur proletarischen Revolution. Es gibt also unterschiedliche Arten von Kriegen, weshalb Lenin sich auch ausführlich damit beschäftigt hat, was nationale Kriege von imperialistischen Kriegen unterscheidet. Einer Einschätzung des jetzigen russischen Kriegseinsatzes muss zweierlei zugrunde liegen: erstens eine Einschätzung der Stellung Russlands im imperialistischen Weltsystem, und zweitens eine Analyse der politischen Entwicklungen, wobei sich letztere natürlich nicht auf die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine begrenzen lassen.

Für eine materialistische Analyse der Russischen Föderation

Es gibt in unserer Organisation Genossen, die infragestellen, ob Russland imperialistisch sei. Ja? Nein? Eine solche Diskussion kann in eine falsche Richtung abdriften. Ich denke, dass im Vergleich zum Beginn des 20. Jahrhunderts heute eine einfache Zweiteilung in unterdrückende, Kolonien besitzende, imperialistische Räuber auf der einen und unterdrückte Kolonien auf der anderen Seite weniger weit hilftx. Das bedeutet nicht, dass es nicht wichtige qualitative Unterschiede zwischen den Ländern gibt, oder dass man nicht bestimmte Länder ohne jeglichen Zweifel hier einordnen könnte, z.B. die USA. Aber ich denke, dass verschiedene Faktoren (z.B. die weitere Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise und die Ausdifferenzierung der globalen Wertschöpfungsketten) dazu geführt haben, dass es eine große Gruppe an Ländern gibt, die sich dieser Zweiteilung entziehen. Man kommt nicht umhin, sich einen Begriff vom Imperialismus als Weltsystem zu machen.

Lenins Imperialismustheorie hat anderen Theorien viel voraus, dazu gehört auch die Feststellung, dass Imperialismus sich nicht reduzieren lässt auf eine kriegerische Außenpolitik. Umgekehrt ist es aber ein Fehler, Lenins Analyse eins zu eins auf die heutige Situation zu übertragen. Allein die bisherigen Diskussionsbeiträge zeigen, dass wir hier offensichtlich Klärungsbedarf haben. Dazu gehört meines Erachtens die Frage, welchen Wert ein „adjektivischer“ Imperialismusbegriff hat, bei dem sich am Ende alles um die Frage dreht, welche Länder imperialistisch sind und welche nicht. Das Problem dieser Fragestellung besteht darin, dass sie keine vernünftige Charakterisierung liefert gerade für die Länder, die im Zuge der ungleichmäßigen Entwicklung im imperialistischen Weltsystem aufsteigen.

Eine sinnvolle Art, die Frage von vornherein anders zu stellen ist meines Erachtens: Welche Stellung nimmt Russland im imperialistischen Weltsystem ein, welche Rolle spielt es in diesem Weltsystem? In welchem Verhältnis steht es zu anderen Ländern, sowohl stärkeren als auch schwächeren? Aus diesem Blickwinkel haben wir auch in den programmatischen Thesen von 2018 eine grobe Einordnung gegeben, in denen der Imperialismus als „globales System gesellschaftlicher Beziehungen, das alle kapitalistischen Länder umfasst“ verstanden wird. Ich finde in diesem Zusammenhang die Thesen der TKPxi hilfreich, um an diese Frage heranzugehen. Die TKP nennt z.B. in These 8 verschiedene Dimensionen (ökonomisch, politisch, militärisch, ideologisch und kulturell), die bei der Analyse des Weltsystems berücksichtigt werden sollten, wobei direkt anschließend betont wird, dass die ökonomische Ebene ein hohes Gewicht habe und dass es notwendig sei, die Beziehungen zwischen diesen Ebenen zu analysieren.

Wir sollten versuchen, eine solche Analyse in den nächsten Monaten gemeinsam anzugehen, also auszudeklinieren, welche Bestandteile die verschiedenen Dimensionen konkret haben, und uns diese dann zu erarbeiten. Es ist wichtig, über die allgemein richtige Aussage hinauszugehen, dass sich Länder und Monopole ungleichmäßig entwickeln. Mit einer solchen Position kann man doch letztendlich den Fehler machen, die konkreten Kräfteverhältnisse zu übergehen und die konkrete Situation nicht zu verstehen. Wer denkt, der russische Imperialismus bewege sich in allen Belangen (ökonomisch, militärisch, politisch) auf einer Augenhöhe mit dem westlichen Block, der liegt falsch.

Ich denke für die jetzige Diskussion ist es dennoch sinnvoll, eine ungefähre Vorstellung von der relativen Stellung Russlands zu bekommen. Ich will daher einige (zugegebenermaßen grobe) Eckdaten zusammenfassenxii, aus denen m.E. deutlich wird, dass Russland in Bezug auf den westlichen imperialistischen Block aus USA-EU-NATO eine unter dem Strich deutlich unterlegene Position einnimmt, auch wenn es ein eigenständiger imperialistischer Akteur ist. Die unterlegene Position ist direkter Ausdruck der relativ (zum Westen) unterentwickelten ökonomischen Basis. Die imperialistische Eigenständigkeit entstammt dem vergleichsweise schlagkräftigen Militärapparat und der politisch-militärischen Interventionsfähigkeit auch gegen das Einverständnis anderer imperialistischer Staaten, wie in Syrien oder jetzt gerade in der Ukraine. Das Folgende ist natürlich keine konkrete „Imperialismusanalyse“. Für eine solche wären erstens mehr Aspekte zu berücksichtigen, diese müssten zweitens in Relation zu anderen Staaten und drittens in ihrer Entwicklung betrachtet werden, und letztendlich wäre auch der anfängliche Imperialismusbegriff anhand der Ergebnisse zu reflektieren.

  • Bruttoinlandsprodukt: Russland stellt gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) die elftgrößte Volkswirtschaft darxiii. Berücksichtigt man die Kaufkraftparität (BIP KKP) steht es hier an sechster Stelle hinter China, den USA, Indien, Japan und Deutschlandxiv, wobei China (24 Billionen $) und die USA (21 Billionen $) hier großen Vorsprung vor z.B. Deutschland (4.5 Billionen $) und Russland (4.4 Billionen $) haben. Russland ist mit knapp 146 Millionen Einwohnern weltweit allerdings auch der neuntgrößte Staat, und hinsichtlich des BIP pro Kopf ist er nur auf Platz 84 bzw. Platz 53 (KKP) zu finden, wobei diese Zahlen insofern wenig aussagekräftig sind, als dass sich jede Menge Kleinststaaten auf den vorderen Rängen wiederfinden. Verglichen mit den USA ist die mittlere Wirtschaftsleistung pro Einwohner in Russland jedenfalls um einen Faktor 6 (BIP pro Kopf) bzw. einen Faktor 2 (BIP KKP pro Kopf) niedriger. Entsprechend ist auch die Arbeitsproduktivität in Russland weniger als halb so hoch wie in westlichen Ökonomienxv.
  • Exporte: Die russische Wirtschaft ist stark von Rohstoffexporten geprägt. 2020 waren beispielsweise Erdöl (22,5% des Handelswerts) und raffiniertes Erdöl (14,5%), Erdgas (6,0%) und Kohle (4,0%) ebenso vorne mit dabei wie Gold (5,7%) und Platin (3,2%), hinzu kommen zahlreiche andere Metalle, Holz uswxvi. Das spiegelt sich auch in den Monopolkonzernen des Landes wieder, unter den nach Marktkapitalisierung größten Unternehmen finden sich unter anderem Gazprom (Gas), Novatek (Gas), Surgutneftegas (Gas), Rosneft (Mineralöl), Lukoil (Mineralöl), Nornickel (Bergbau und Metallurgie), Polyus (Goldabbau) und Phosagro (Düngemittel). Als Vergleich: Deutschland exportierte im gleichen Jahr vorrangig Maschinengüter (17,5% des Handelswerts), Kfz und Kfz-Teile (15,9%), Elektronik (10,9%), pharmazeutische Produkte (7,5%), sonstige Instrumente (5,5%) und Plastik sowie Plastikerzeugnisse (4,8%)xvii. Hinsichtlich des Warenexports ähnelt die russische Wirtschaft also tendenziell eher abhängigen Ländern, die über keine ausgeprägte Industrieproduktion verfügen. Dennoch gibt es drei Unterschiede: Erstens befindet sich die exportierende Industrie überwiegend in russischer Hand, beispielsweise hält der russische Staat eine Mehrheit von gut 50% an Gazprom, und zwei russische Milliardäre halten indirekt zusammen die Mehrheit an Novatek. Zweitens bedeutet die schiere Größe der Rohstoffvorkommen und der Exporte eine vergleichsweise starke Position. Drittens handelt es sich bei Öl, Gas und vielen Metallen um strategisch relevante Rohstoffe.
  • Größte Unternehmen: Russlands größte Unternehmen sind im globalen Vergleich klein. Ein Report vom März 2021 weist für 2021 eine Gesamtmarktkapitalisierung der 100 weltweit größten Unternehmen von fast 32 Billionen $ aus, was ein sprunghaftes Wachstum um 48% gegenüber dem Vorjahr bedeutetexviii. Unter anderem war dies auf die Covid19-Pandemiebedingungen zurückzuführen, beispielsweise fiel die Marktkapitalisierung von Amazon um 61% höher aus als ein Jahr zuvor. 59 der größten Unternehmen sind in den USA angesiedelt, 14 in China (inklusive Hong Kong und Taiwan), 18 in Europa und die restlichen 9 entfielen auf andere Länder. Russland war nicht dabei, wohingegen 2009 mit Gazprom und Rosneft sich immerhin noch zwei Unternehmen unter den Top 100 wiedergefunden hattenxix – allerdings fiel Gazprom Stand Oktober 2021 mit 118 Mrd $ nur knapp aus der Liste herausxx. Ein ähnliches Bild ergibt sich im Bankensektor, dort findet sich lediglich die Sberbank auf Platz 60 (gemessen nach der Bilanzsumme), auf Platz 19 (gemessen nach Marktkapitalisierung) und auf Platz 30 (gemessen nach Umsatz)xxi.
  • Relevante Industrieproduktion: Russland besitzt dennoch große Marktanteile in mindestens zwei auch strategisch bedeutsamen Bereichen, in der Waffenentwicklung und -produktion und im Bau von Kernkraftwerken. Russland war zwischen 2017 und 2021 der zweitgrößte Waffenexporteur hinter den USA (19% vs. 34%), wobei es hier deutlich Marktanteile gegenüber dem Zeitraum 2012-2016 verloren hat (24% Russland vs. 32% USA)xxii. Zudem konzentrierten sich die russischen Waffenexporte hauptsächlich auf vier Länder, nämlich Indien, China, Ägypten und Algerien, wobei China und Indien die Länder mit der größten Truppenstärke sindxxiii. Schaut man auf die Waffenproduktion sieht das aber auch schon wieder anders aus: die fünf größten Waffenproduzenten (nach Umsatz) stammen aus den USA (Lockheed Martin, Raytheon, Boeing, Northrop Grumman, General Dynamics), und hinter einigen europäischen und chinesischen Unternehmen finden sich als russische Unternehmen Almaz-Antey erst auf Platz 17 und United Aircraft auf Platz 21xxiv. Insgesamt machte der Umsatz russischer Waffenproduzenten 2020 vom Gesamtumsatz der Top-100 Waffenproduzenten nur noch 5% aus (USA: 54%, China: 13%, UK: 7%). Im Bereich der Kernenergie ist Rosatom, welches 2007 von einer Bundesbehörde in ein Staatsunternehmen umgewandelt wurde, zum weltweit größten Hersteller von Kernreaktoren geworden und scheint sich inbesondere Märkten zuzuwenden, die in die Kernenergie einsteigenxxv. Aufgrund der langen Laufzeiten von Kernkraftwerken sind ihr Export sowie dazugehörige Serviceverträge wichtige Steuereinnahmequellen für den russischen Staat, weshalb dieser die Geschäfte von Rosatom (wie auch in anderen Ländern mit anderen Branchen üblich) diplomatisch unterstütztxxvi.

Interessante und relevante Punkte, die es hier zu ergänzen gäbe wären z.B. die Modernisierungsstrategien des russischen Kapitals und die Lage der russischen Arbeiterklasse, insbesondere auch mit Blick auf eine eine Arbeiteraristokratie, dieser „Oberschicht“ der Arbeiterklasse, deren Existenz eng mit den Extraprofiten verknüpft ist. Außerdem habe ich die Frage des Kapitalexports ausgespart. Der Kapitalexport nimmt zwar zurecht in Lenins Imperialismustheorie einen zentralen Platz ein und wir sollten ihn unbedingt in der zukünftigen Diskussion berücksichtigen. Der Zusammenhang des realen Kapitalexports mit verfügbaren ökonomischen Daten wie eingehenden und ausgehenden ausländischen Direktinvestitionen (ADI, engl. outward/inward foreign direct investions (FDI)) ist allerdings nicht trivial (u.a. wegen sogenanntem „round-tripping“ FDI, das im Ursprungsland reinvestiert wird) und wird für Russland dadurch erschwert, dass ein beträchtlicher Anteil über die „Umschlagplätze“ Zypern, die Niederlande und die British Virgin Islands zu laufen scheintxxvii. Fest steht, dass für einige Länder in Russlands direkter Nachbarschaft (Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan) die russischen Direktinvestitionen einen beträchtlichen Teil der Gesamtinvestitionen ausmachenxxviii.

Für eine materialistische Analyse des Krieges in der Ukraine

Nicht jeder Krieg in der imperialistischen Epoche ist auch ein imperialistischer Krieg. Das ist erstmal eine recht banale, aber deswegen nicht minder wichtige Feststellung, weshalb Lenin sie auch recht vehement vertreten hat, z.B. hier in einem Brief an Sinowjew vom August 1916, also während des ersten Weltkriegs:

„Wir sind ganz und gar nicht gegen die „Vaterlandsverteidigung“ schlechthin, nicht gegen „Verteidigungskriege“ schlechthin. In keiner Resolution (und in keinem meiner Artikel) werden Sie irgendwo einen solchen Unsinn finden. Wir sind gegen Vaterlandsverteidigung und gegen Verteidigung im imperialistischen Krieg von 1914-1916 und in anderen imperialistischen Kriegen, die für die imperialistische Epoche typisch sind. Aber in der imperialistischen Epoche kann es auch „gerechte“ Kriege, „Verteidigungs“kriege, revolutionäre Kriege geben nämlich: 1. nationale Kriege; 2. Bürgerkriege; 3. sozialistische Kriege usw.“xxix.

Die „Vaterlandsverteidigung“ ist dabei für Lenin „einfach der verbreitetste, gebräuchlichste, manchmal einfach spießbürgerliche Ausdruck für die Rechtfertigung eines Krieges. Sonst nichts, sonst absolut nichts!“xxx. Sie sei eine „eine Lüge im imperialistischen Krieg, aber durchaus keine Lüge in einem demokratischen und revolutionären Krieg“, und diese Kriege wiederum unterschieden sich, obgleich sie jeweils die Gewalt an die Stelle des Rechts setzten, nach „ihrem sozialen Gehalt“xxxi.Wenn wir uns also uneinig darüber sind, ob es sich hier um einen imperialistischen Krieg handelt, dann sollten wir uns anschauen, wer mit welchen Interessen und welchen konkreten Zielen diesen Krieg führt. Denn ich denke wir sollten Lenin auch in einer weiteren Feststellung folgen, dass es nämlich „theoretisch weit richtiger und praktisch unermeßlich wichtiger [ist] zu sagen, dass in diesem imperialistischen Krieg (gemeint ist in diesem Zusammenhang der erste Weltkrieg, Anmerkung BO) die Vaterlandsverteidigung ein bürgerlich-reaktionärer Schwindel ist, als die „allgemeine“ These gegen „jede“ Verteidigung des Vaterlands aufzustellen“xxxii.

Auf die Gründe der Russischen Föderation, am 24. Februar militärisch in die Ukraine vorzustoßen wurde bereits in verschiedenen Diskussionsbeiträgen Bezug genommen. Thanasis Spanidis argumentiert, dass militärische und geopolitische Interessen ausschlaggebend gewesen sindxxxiii, in einem ähnlichen Sinn interpretiere ich die These von Joshua Relko, dass es sich um einen „Krieg unter Räubern um die Aufteilung ihrer Reviere“ handlexxxiv. Eine grundsätzlich andere Einschätzung kommt von den Genossen Philipp Kisselxxxv, Klara Binaxxxvi und Alexander Kiknadzexxxvii, die Russlands Agieren als Defensivaktion im Sicherheitsinteresse Russlands einordnen, wobei sie explizit oder implizit als Ziele die Absetzung der ukrainischen Regierung sowie die von Russland deklarierte „Entnazifizierung und Entmilitarisierung“ anerkennen (Klara Bina hebt explizit hervor, dass die russische Bourgeoisie natürlich dennoch keine antifaschistischen Motive hegt, und ich gehe davon aus, dass das alle Genossen teilen). Eine partielle Überschneidung zwischen den Positionen sehe ich bei dem Ziel der „Entmilitarisierung“ – allerdings wird konträr eingeordnet, ob es sich dabei um eine legitime Rechtfertigung des Einsatzes handelt, und damit sind wir bei einem weiteren zentralen Streitpunkt.

Ich denke, dass der Kriegseinsatz von Russland aus geostrategischen Überlegungen heraus begonnen wurde (was „sicherheitspolitische“ Aspekte beinhaltet), letztendlich jedoch dazu dient, einen Hebel für die russischen Kapitalinteressen zu schaffen. Die russische Ökonomie hat nach der russischen Finanzkrise 1998 ein rapides Wachstum im ersten Jahrzehnt 2000-2008 hingelegt, das auch mit stark ansteigenden ausländischen Direktinvestitionen in beide Richtungen einherging und dazu führte, dass der Anteil Russlands am weltweiten BIP in diesem Zeitraum von ca. 0.7% auf 2.5% anstieg. In exakt den gleichen Zeitraum fällt der fast ununterbrochene Anstieg des Ölpreisesxxxviii, was die relative Abhängigkeit Russlands von seinen Exporten verdeutlicht. Im Zuge der Eurokrise brach das russische BIP 2009 ein, erreichte (gerechnet in US$) dann 2013 ein Maximum, sank mit den politischen Turbulenzen im Ukrainekonflikt 2014 erneut und erholt sich seitdem nur langsamxxxix, sodass das durchschnittliche Wachstum zwischen 2008 und 2018 sogar leicht negativ war. Effektiv hat Russland es nicht geschafft, im Zeitraum des wirtschaftlichen Aufschwungs sich auf eine Ebene mit den imperialistischen Staaten zu katapultieren, die eine Palette an hochtechnologischen Produkten herstellen können – und das deutet darauf hin, dass Russland in der „middle income trap“ stecken geblieben ist, über die China gerade versucht seinen kapitalistischen Tiger hinwegspringen zu lassen. Gleichzeitig hat Russland ein demographisches Problem, welches durch den Einbruch der Geburtenrate von 2.2 Geburten (1987) auf 1.2 Geburten (1999) pro Frau im Nachgang der Konterrevolution entstanden istxl. Alles in allem sind das schlechte Aussichten für die Kapitalverwertung (auch wenn die TKP in ihren Thesen zurecht auf die beträchtliche Wirtschaftspotential hinweist).

Die russische Bourgeoisie ist auf der Suche nach Auswegen aus dieser mittelfristig sehr schlechten Situation. Ein wichtiger Faktor ist dabei die engere Anbindung an China, in der Hoffnung, im Windschatten der aufstrebenden Weltmacht die eigene Position zu verbessern. Ein zweiter und damit zusammenhängender Faktor ist die Herstellung eines eigenständigen eurasischen Pols, welcher Russland als Transmissionsriemen dienen kann. Zu diesem Zweck gründete Russland zu Beginn des Jahres 2015 zusammen mit Belarus und Kasachstan die eurasische Wirtschaftsunion (Eurasian Economic Union, EAWU/EAEU), der sich einen Tag später Armenien und noch im selben Jahr Kirgistan anschlossen. Dabei ist es dann allerdings auch geblieben, und das ist das Problem. Die Ukraine hatte zwar 2013 einen Beobachterstatus beantragt, welcher aber nach dem Putsch 2014 natürlich hinfällig geworden war. Ohne die Ukraine wiederum ist die EAWU deutlich weniger schwergewichtig, was man schon daran erkennen kann, dass Russland im Jahr 2020 fast 86% zum gesamten BIP der EAWU von 1732 Mrd US$ beisteuertexli. Zwar ist die Ukraine nicht nur im Vergleich zu europäischen Ländern vergleichsweise unterentwickelt, sondern auch gegenüber Russland, und in diesem beschränkten Sinn stellt sie keine direkte Stärkung der EAWU dar, sondern höchstens einen Arbeitsmarkt mit billigeren Arbeitskräften. Mit einem Beitritt der Ukraine wäre die EAWU aber auf einen Schlag um über 40 Millionen Menschen, 600.000 km² und 155 Mrd US$ BIP (2020) gewachsen, was sie wiederum attraktiver gemacht hätte für andere Länder aus Zentralasien, die sich bisher eher in der Economic Cooperation Organization (ECO) zusammen mit Iran und Türkei befinden.

Ein zentraler Stratege des US-Imperialismus, Zbigniew Brzeziński, schrieb 1994 es könne nicht genug betont werden, „dass Russland ohne die Ukraine aufhört, ein Imperium zu sein, aber mit einer unterworfenen und dann untergeordneten Ukraine [werde] Russland automatisch zu einem Imperium.“xlii. Ob es damals in dieser Schärfe zutraf kann ich nicht beurteilen, und ob es heute so stimmt wage ich auch zu bezweifeln. Es ist aber recht klar, dass die Ukraine für Russland nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus machtstrategischen Gründen sehr wichtig ist: erstens als Puffergebiet gegen einen feindlichen Vorstoß in das russische Kerngebiet, zweitens damit das nukleare Abschreckungspotential Russlands nicht durch weitere unmittelbar benachbarte Raketenabwehrsysteme (die auch als Abschussrampen für offensive Schläge genutzt werden können) beeinträchtigt wird, drittens aufgrund der Krim bzw. der strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung des schwarzen Meeresxliii: Durch das Schwarze Meer laufen zwei Pipelines, die russisches Erdgas über die Türkei in Richtung Europa transportieren, es beherbergt mit Novorossiysk den größten Handelshafen Russlands und mit Sewastopol einen wichtigen eisfreien Militärhafen auf der Krimhalbinsel, welcher als einziger Hafen im Schwarzen Meer die russische Schwarzmeerflotte aufnehmen kann.

Der Westen war im Verlauf des Ukrainekonflikts an vielen Stellen nicht zu Kompromissen bereit, siehe z.B. die Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen, welches die Ukraine in eine exklusive und nachteilhafte ökonomische Integration gen Westen gezwungen hätte. Russland war und ist daher mit der konkreten Möglichkeit konfrontiert, dass die Ukraine auf Dauer aus einer Nähe zur Russland herausgerissen und in die wirtschaftlich-politischen (EU) und militärischen (NATO) Bündnisse des Westens eingegliedert wird. Während für die russische Bourgeoisie gewisse Kompromisse annehmbar wären, würde eine solche Eingliederung aber nachhaltig die Entwicklungsmöglichkeiten Russlands beeinträchtigen. Insofern kann man sagen, dass Russland als aufstrebender imperialistischer Akteur nachvollziehbare Gründe hat, militärisch in der Ukraine zu intervenieren. Die Frage ist nur: ändert das den Charakter des Krieges? Natürlich nicht. Man kann in Anlehnung an Brecht sagen: die russische Bourgeoisie will den Krieg nicht – sie muss ihn wollen. Sowohl die Ziele der „Entnazifizierung“ als auch der Schutz der Bevölkerung in der Ostukraine scheinen mir dabei vorgeschobene Gründe für den Krieg zu sein. Die Auslöschung ukrainischer Faschisten fällt für Russland zusammen mit dem Ziel, keine anti-russisch ausgerichtete Ukraine zuzulassen, und sie dient der ideologischen Unterstützung der „Militäroperation“ in Russland. Letzteres gilt ebenso für den Schutz inbesondere russisch orientierter Menschen in der Ostukraine, in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk, auch wenn es ein Fakt ist, dass diese Menschen in den letzten acht Jahren furchbar unter den Auswirkungen des Krieges gelitten haben. Einen Hinweis, dass ihr Schicksal eher vorgeschoben ist sehe ich z.B. in der Tatsache, dass die über 3400 zivilen Opfer des Konflikts zwischen 2014 und 2021 vor allem in die Anfangsphase gefallen sind (2014 und 2015 gab es 2084 bzw. 955 zivile Opfer)xliv. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der ukrainische Präsident Selenskyj die Drohungen, sowohl die Krim als auch die Gebiete im Donbas zurückholen zu wollenxlv, ernst meint (worauf der steigende Artilleriebeschuss zu Beginn 2022 hindeutet) und nicht aus innenpolitischen Gründen in seiner Neujahrsansprache 2022 wiederholt hat (immerhin war er vor dem Krieg zunehmend unpopulär geworden) handelt es sich m.E. eher um Anlass und Rechtfertigung denn um den wahren Kriegsgrund.

Den Imperialismus als Weltsystem zu verstehen ist keine Äquidistanz

Ich habe weiter oben behauptet, man müsse sich einen Begriff vom Imperialismus als Weltsystem machen. Es ist sehr gut, dass es Parteien wie die KKE und die TKP gibt, die sich mit diesen Fragen befassen und an deren Arbeit wir anknüpfen könnenxlvi. Mehr noch: wir haben zu Beginn der KO daran angeknüpft, und in den programmatischen Thesen festgehalten, dass der Imperialismus „ein globales System gesellschaftlicher Beziehungen [ist], das alle kapitalistischen Länder umfasst, nicht nur die USA, Japan und Westeuropa“xlvii. Aber genau dieses Verständnis wird nun in Zweifel gezogen und ihm scheint die Brandmarkung der „Äquidistanz“ zu drohen. Es ist natürlich legitim, die Programmatischen Thesen in Zweifel zu ziehen, auch wenn sie den Ausgangspunkt unserer Organisation und eine Richtschnur für unsere Praxis darstellen und ihr Stellenwert daher nicht relativiert werden sollte. Die Zweifel und Fragen an den Thesen müssen natürlich explizit auf den Tisch. Ohne Frage gibt es auch viel zu entwickeln, bis wir zu einem revolutionären Programm kommen, das seinen Namen verdient. Sich jedoch davon zu entfernen, den Imperialismus als System analysieren zu wollen, und stattdessen Länder wie Russland rein als Opfer (anderer) imperialistischer Staaten zu verstehen, das geht meiner Meinung nach in eine komplett falsche Richtung. Ich sehe im Punkt der Imperialismusanalyse vielmehr die Notwendigkeit einer Entwicklung nach vorne, aufbauend auf dem, was in den Programmatischen Thesen festgehalten ist, und hin zu einem detaillierteren Verständnis des imperialistischen Weltsystems. Im Übrigen hat der Genosse Milo Barus gute grundlegende Fragen dazu formuliert, was überhaupt unter einem imperialistischen Weltsystem zu verstehen seixlviii.

Zurück zur Äquidistanz. Was ist Äquidistanz? Es ist die Gleichgültigkeit gegenüber den realen Kräfteverhältnissen. Äquidistanz ist Einebnung der Widersprüche und Ignoranz gegenüber der Realität. Äquidistanz heißt, dort abstrakt zu bleiben, wo es gilt konkret zu sein. Nichts davon kann ich in den Positionen erkennen, die bisher in unserer Organisation formuliert wurden – was wiederum nicht sagt, dass wir nicht unbedingt konkreter und genauer werden müssen in der Analyse! Zu sagen, dass die Russische Föderation imperialistisch ist heißt nicht, dass sie die gleiche Stellung im Weltsystem einnimmt wie die USA, dass die Bestechung der Arbeiterklasse das gleiche Ausmaß hat wie in Deutschland oder dass die Namen imperialistischer Staaten in Analysen einfach austauschbar wären. Ich denke wir sollten vorsichtig sein, was solche Begriffe wie Äquidistanz angeht. Wir sollten sie genau verwenden und wenn wir sie verwenden dies auch erläutern.

Schlussbemerkung

Es ist nicht unsere Aufgabe, vorübergehend unterlegene imperialistische Akteure zu unterstützen. Die Bourgeoisie ist objektiv rückschrittlich geworden, und das trifft nicht nur auf die Bourgeoisie der allerstärksten imperialistischen Kräfte zu. Aus taktischen Gründen ist natürlich viel denkbar, allerdings müsste man dann diese taktischen Gründe ausführlicher erläutern, mir sind sie aus den bisherigen Diskussionsbeiträgen noch nicht verständlich geworden und ich denke, dass derartige Versuche auch scheitern werden. Während des ersten Weltkriegs polemisierte Lenin gegen die Auffassung, man müsse sich fragen „auf welcher Seite ein Sieg am ehesten erwünscht wäre“xlix. Er argumentiert, dass diese Frage sich für Marx und Engels noch anders gestellt hat, nämlich in einer Zeit „in der zweifellos fortschrittliche bürgerliche Bewegungen existierten“. Ich denke, dass eine Verteidigung des russischen Angriffskriegs erklären müsste, inwiefern es sich um einen fortschrittlichen Krieg handelt.

Der oben angesprochene Text heißt „Unter fremder Flagge“ und wurde schon in diversen Beiträgen (bei uns und bei anderen) zitiert. Die „fremde Flagge“ ist dabei nicht die Flagge eines anderen imperialistischen Landes – gemeint ist, dass der revolutionären Arbeiterbewegung ein falscher Standpunkt untergejubelt wird. Die „fremde Flagge“ zu hissen heißt dabei (bewusst oder unbewusst) den eigenen Opportunismus zu kaschieren. Ich sehe eine große Gefahr darin, den russischen Kriegseinsatz (ich schreibe bewusst immer wieder vom Krieg, denn es ist einer) mit antiimperialistischer Rhetorik zu rechtfertigen. Dies trivialisiert die Kräfteverhältnisse in unzulässiger Weise und schafft Illusionen in „bessere Kampfbedingungen“ für die Arbeiterklasse, die nirgends am Horizont zu sehen sind.

Nichtsdestotrotz: dies ist in erster Linie eine Gefahr für die Kommunisten, denn sie verlieren dadurch die Fähigkeit, die Arbeiterklasse klar zu orientieren. Natürlich besteht die größte Gefahr für die Arbeiterklasse in Deutschland nicht darin, an russischer Seite in den nächsten Krieg zu ziehen, diese Vorstellung wäre absurd. Sie besteht darin, gegen ihre russischen Klassengeschwister als Kanonenfutter zu dienen. Die Arbeiterklassen der Länder werden verhetzt, der Krieg wird Normalität. Es gibt etwas zu gewinnen in imperialistischen Kriegen: die Erkenntnis, dass sie eine immerwiederkehrende Qual der Gesellschaftsformation sind, in der wir leben, und dass sie nicht dadurch verhindert werden, wenn sich die Arbeiterklasse unter dem Banner des einen oder des anderen Imperialismus sammelt.

Während der Lektüre zur Erarbeitung dieses Beitrags bin ich über eine interessante Stelle zu Beginn einer Antwort Lenins an Jury Pjatakow (gerichtet an sein Pseudonym, P. Kijewski) gestolpert. Lenin schreibt:

„Wie jede Krisis im Leben des Menschen oder in der Geschichte der Völker hat der Krieg die Wirkung, dass er die einen niederdrückt und zerbricht, die anderen aber stählt und klarer sehen lässt. Diese Wahrheit gilt auch für das Gebiet des sozialdemokratischen Denkens über den Krieg und im Zusammenhang mit dem Krieg. Es sind zwei verschiedene Dinge, ob man sich möglichst tief hineinzudenken versucht in die Ursachen und die Bedeutung des imperialistischen Krieges auf dem Boden des hochentwickelten Kapitalismus, in die taktischen Aufgaben der Sozialdemokratie und so weiter, oder ob man zulässt, dass der Krieg das eigene Denken unterdrückt, ob man unter dem Druck der entsetzlichen Erlebnisse und der quälenden Folgen oder Erscheinungen des Krieges aufhört zu argumentieren und zu analysieren“l

Lassen wir es nicht zu, dass der Krieg unser Denken unterdrückt, fahren wir fort damit, zu argumentieren und zu analysieren.

i Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus, LW 23, S. 19
ii Karl Marx, Das Kapital Band I, MEW 23, S. 779
iii Karl Marx, Das Kapital Band I, MEW 23, S. 742
iv Karl Marx, Das Kapital Band I, MEW 23, S. 788
v Ich verstehe hier Imperialismus als Weltsystem und Epoche, in dem Sinn wie Thanasis Spanidis es in seinen Thesen
skizziert hat (https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/das-zwischenimperialistische-kraeftemessenund-der-angriff-russlands-auf-die-ukraine/).
vi Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. LW 22, S. 271
vii Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. LW 22, S. 244
viii Lenin, Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa. LW 21, S. 345
ix Lenin, Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, LW 21, S. 345
x Auch damals gab es natürlich Schattierungen, die in der konkreten Analyse berücksichtigt werden mussten. Lenin spricht z.B. in seiner Imperialismusschrift davon, dass typisch für die imperialistische Epoche auch „verschiedenartige Formen der abhängigen Länder, die politisch, formal selbstständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind“ seien (LW 22, S. 267). Als Beispiele nennt er
Argentinien als Halbkolonie, und Portugal, das faktisch unter dem Protektorat Englands stehe. Derartige Beziehungen seien im Imperialismus „Kettenglieder der Operationen des Weltfinanzkapitals“ (LW 22, S. 268). Auf diese Frage geht auch der Diskussionsbeitrag von Paul Oswald ein: https://kommunistische-organisation.de/diskussionimperialismus/die-wissenschaftliche-analyse-nicht-ueber-bord-werfen/
xi https://kommunistische-organisation.de/diskussion/tkp-thesen-zum-imperialismus-entlang-der-achse-von-russland-und-china2017/
xii Etwas ausführlichere Artikel aus der angloamerikanischen Debatte zu dem Thema, die allerdings zu
unterschiedlichen Ergebnissen kommen bezüglich der Frage, welchen Charakter Russland hat, sind z.B.:
http://links.org.au/node/4629, https://critiqueofcrisistheory.wordpress.com/is-russia-imperialist/ ,
https://mronline.org/2019/01/02/is-russia-imperialist/,
http://www.bolshevik.org/1917/no41/ibt_1917_41_01_imperialist_rivalries.html
xiii https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.CD
xiv https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.PP.CD
xv https://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=PDB_LV
xvi https://oec.world/en/profile/country/rus
xvii https://oec.world/en/profile/country/deu
xviii https://www.pwc.com/gx/en/audit-services/publications/assets/pwc-global-top-100-companies-2021.pdf
xix https://www.pwc.com/gx/en/audit-services/capital-market/publications/assets/document/pwc-global-top-100-march-update.pdf
xx https://www.visualcapitalist.com/the-top-10-biggest-companies-in-russia/
xxi https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_gr%C3%B6%C3%9Ften_Banken_der_Welt
xxii https://www.sipri.org/sites/default/files/2022-03/fs_2203_at_2021.pdf
xxiii https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36470/umfrage/die-groessten-armeen-weltweit-nach-aktivertruppenstaerke/
xxiv https://sipri.org/sites/default/files/2021-12/fs_2112_top_100_2020.pdf
xxv https://www.sipri.org/sites/default/files/2019-02/eunpdc_no_61_final.pdf
xxvi https://www.sipri.org/sites/default/files/2019-02/eunpdc_no_61_final.pdf
xxvii Kuznetsov (2021) Direct investment from Russia abroad: changes since 2018.
https://link.springer.com/content/pdf/10.1134/S1019331621060162.pdf
xxviii https://www.investmentmonitor.ai/special-focus/ukraine-crisis/soviet-states-russian-investment-ukraine-fd
xxix Lenin, An G. Sinowjew, LW 35, S. 205
xxx Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus, LW 23, S. 23
xxxi Lenin, Antwort an P. Kijewski (J. Pjatakow), LW 23, S. 11. Zu den verschiedenen Arten der Kriege siehe auch den
Diskussionsbeitrag von Paul Oswald: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/die-wissenschaftlicheanalyse-nicht-ueber-bord-werfen/
xxxii Lenin, Über die Losung der Entwaffnung, LW 23, S. 98
xxxiii https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/das-zwischenimperialistische-kraeftemessen-und-derangriff-russlands-auf-die-ukraine/
xxxiv https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/zum-imperialistischen-krieg-in-der-ukraine-und-zurrevolutionaeren-strategie/
xxxv https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/zur-kritik-am-joint-statement-und-zur-nato-aggressiongegen-russland/
xxxvi https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/
xxxvii https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/zum-defensivschlag-russlands-gegen-die-nato/
xxxviii https://tradingeconomics.com/commodity/crude-oil
xxxix https://www.statista.com/statistics/263772/gross-domestic-product-gdp-in-russia/
xl https://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.TFRT.IN?locations=RU
xli https://www.gtai.de/de/trade/eawu/wirtschaftsumfeld/in-der-eawu-kommt-die-konjunktur-in-fahrt-683992
xlii Zbigniew Brzeziński: The premature partnership. Foreign Affairs, Vol. 73, No. 2, eigene Übersetzung
xliii Siehe hierzu das neue (und lesenswerte) Buch „Der Aufmarsch“ von Jörg Kronauer
xliv https://ukraine.un.org/en/168060-conflict-related-civilian-casualties-ukraine
xlv https://taz.de/Konflikt-um-die-Ukraine/!5825545/
xlvi Es gibt dafür einige uns bekannte Texte, beispielsweise einen Artikel von der Genossin Papariga:
https://inter.kke.gr/de/articles/On-Imperialism-The-Imperialist-Pyramid/ und die bereits hier und in anderen
Diskussionsbeiträgen erwähnten Thesen der TKP. Wünschenswert wäre aus unserer Perspektive sicherlich, hier
mehr Austausch und mehr Material zur Verfügung zu haben
xlvii https://kommunistische-organisation.de/programmatische-thesen/
xlviii https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/das-wesen-der-zwischenimperialistischen-widerspruechefragen-an-die-imperialismusdebatte/
xlix Lenin, Unter fremder Flagge, LW 21, S. 127
l Lenin, Antwort an P. Kijewski, LW 23, S. 11

Aktuelles

Gegen den Frieden der Unterdrücker!

Eine Friedens- bzw. Anti-Kriegs-Bewegung, welche die aggressive Rolle der NATO, oder der Besatzungsmacht Israel nicht erkennt und das Narrativ der Kriegstreiber bedient, wird damit in letzter Konsequenz eine Pro-Kriegs-Bewegung. Sie verurteilt die Gewalt der Unterdrückten so wie es die Unterdrücker tun.

Bericht zum 5. Mitgliederkongress der Kommunistischen Organisation

Der 5. Mitgliederkongress der KO hat stattgefunden. Erfahrungen aus unserer Spaltung und der akti-ven Beteiligung in Kämpfen gegen den Krieg der NATO und den Völkermord in Palästina geben nachdrücklich Aufgaben für uns selbst und die Bewegung auf. Sie erfordern praktische Konsequen-zen. Ein zentraler Beschluss: Die Organisierung eines umfassenden und öffentlichen Studienganges zur Geschichte des Kommunismus.