Wenn Völkermord-Unterstützer ihre Westen weiß waschen
Themen: Palästina

Ein Kommentar von Franzi Stein
Während wir eine neue Phase des israelischen Völkermords in Gaza erleben, versuchen diejenigen, die die Völkermord-Unterstützung der BRD mit auf den Weg gebracht haben, ihre vergangenen Taten und Worte zu überschreiben. Es scheint, als wären alle auf einmal in der Welt aufgewacht, die seit Oktober 2023 in Gaza herrscht: Bombardements, Vertreibung, Aushungern – der Versuch, ein ganzes Volk auszulöschen. Wobei diese Realität Palästina genau genommen seit mehr als 77 Jahren stets begleitet hat.
Nicht nur in Deutschland wird aktuell krampfhaft versucht, sich von den Aktionen Israels zu distanzieren, sondern auch zuletzt in Frankreich, Kanada und Großbritannien. Dort wurde Israels Vorgehen als „völlig unverhältnismäßige Eskalation“ bezeichnet.1 In Deutschland erleben wir einen Carlo Masala, Deutschlands Kriegshetzer Nummer eins, der das jüngste israelische Vorgehen in Gaza als „No-Go“ bezeichnet.2 Aber auch das links-liberale Spektrum stimmt mit ein: Im Freitag kann man nach eineinhalb Jahren des laufenden Völkermordes lesen, man müsse doch von Genozid sprechen.3 Die taz kommt zur Erkenntnis, dass kaum etwas in Deutschland so stark missbraucht werde wie der Antisemitismusvorwurf.4 Luisa Neubauer, die kürzlich noch gegen Greta Thunberg aufgrund deren Äußerungen zum Völkermord hetzte, sprach sich jetzt gegen Waffenlieferungen an Israel aus.5 Und auch die sächsische Linkspartei-Abgeordnete Juliane Nagel, die in Leipzig seit Jahren Stimmung gegen Antizionisten macht und vor nicht allzu langer Zeit noch Palästina-Demonstranten Plakate aus der Hand riss6, reiht sich ein: Sie postete kürzlich, dass man über das Töten und die Menschenrechtsverletzungen in Gaza sprechen müsse, und zwar nicht eines Tages, sondern jetzt.7
Sind alle plötzlich zu Völkermord-Gegnern oder gar Antizionisten geworden? Ganz sicher nicht. Es gibt verschiedene Gründe für den Schwenk: Einerseits sind relativierende Aussagen immer wieder Teil der medialen Kriegsführung. Während Feigenblätter ablenken sollen, ändert sich an den wesentlichen Tatsachen nichts. Andererseits kann aber auch die Brutalität, mit der Israel vorgeht, nicht länger geleugnet werden. Man kann sich nicht ein zweites Mal in der Geschichte damit herausreden, dass man von all dem nichts gewusst hätte. Das verhindert die Bildgewalt des vermutlich am besten dokumentierten und direkt im Netz sichtbaren Völkermordes. Zum anderen schwankt das gut errichtete Kartenhaus der Bedrohungslüge oder ist bereits in sich zusammengefallen: Denn mittlerweile hat (fast) jeder verstanden, dass Israel die Waffenstillstandsabkommen gebrochen hat. Dass Israel angreift. Dass Israel Gaza blockiert und ein ganzes Volk aushungern will.
Und natürlich ist da dann auch noch der Opportunismus dieser Kräfte. Nehmen wir die Linkspartei: Sie hat zuletzt zahlreiche junge Neumitglieder gewonnen, die nicht alle hinter Israel stehen. Diese will man nicht gleich wieder vergraulen, indem man in das Völkermord-Legitimationsgeheul eines Johann Wadephuls einsteigt – es reicht, dass man die größten Kriegskredite seit dem deutschen Faschismus sowie die Kanzlerwahl von Merz mit auf den Weg gebracht hat. Dies soll nicht die Arbeit von Palästina-Aktiven in der Linkspartei, das Kräfteverhältnis zu verschieben, in Abrede stellen. Doch dass die Partei jetzt, wo sich die herrschende Stimmung in Politik und Medien verschiebt, mit nur knapper Mehrheit für die Annahme der Jerusalemer Antisemitismus-Erklärung stimmt, ist sicher kein Zufall. Dieselbe Partei, die sich noch im November bei der Abstimmung über die `Antisemitimus-Resolution`, ein Instrument zur Repression und Verfolgung von Völkermord-Gegnern, enthielt – Enthaltung ist de facto Zustimmung.
Was fordern all jene, die sich jetzt so eifrig im Distanzieren von Israels Praxis versuchen? Fordern sie ein Ende der israelischen Besatzungs- und Apartheidspolitik? Ein Ende des Siedlerkolonialismus? Einen demokratischen Staat mit gleichen Rechten für alle? Fordern sie die Freisprechung all jener, die seit Oktober massivster Repression ausgesetzt sind? Oder gar, dass die BRD für ihre Beihilfe zum Völkermord tatsächlich verurteilt wird? Die Antwort auf all diese Fragen ist ein klares Nein. Was sie fordern, ist eine Besatzung, Vertreibung und Ermordung mit Augenmaß. Ihr Problem ist nicht der Völkermord, ihr Problem ist, dass dieser zu brutal, zu hässlich und unübersehbar – schlicht zu ehrlich – geführt wird. Sie wollen suggerieren, dass Siedlerkolonialismus und Apartheid ohne Unterdrückung, Besatzung und Völkermord möglich seien. Dass es das eine ohne das andere geben könne. Sie legitimieren das Existenzrecht Israels weiterhin mit ihrer antisemitischen Grundhaltung, nämlich der Gleichsetzung aller Juden mit Israel. Sie personifizieren die Brutalität mit Netanjahu und seiner Regierung und verdecken damit die wahren Gründe für den Völkermord: die Kontinuität des jahrzehntelangen Siedlerkolonialismus Israels.
Wir sollten unter keinen Umständen vergessen, wer der Völkermord-Unterstützung der BRD den Weg geebnet hat. Es waren die Kräfte, die Völkermord-Gegner als Antisemiten diffamierten, die für Waffenlieferungen stimmten oder sich enthielten. Es ist notwendig zu erkennen, wer aus welchem Motiv handelt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Personen ihre Ansichten ändern. Das können wir herausfinden, indem wir fragen: Du bist gegen das Vorgehen Israels in Gaza?! Bist du dann auch gegen die Waffenlieferungen an Israel? Bist du gegen den Siedlerkolonialismus? Bist du für die Rückgabe des gestohlenen Landes an alle Vertriebenen? Bist du für das völkerrechtlich verbriefte Recht der Palästinenser, Widerstand zu leisten?
Doch nicht zuletzt müssen wir den entstandenen Raum nutzen, um unsere Forderungen für ein Ende des Völkermordes stark zu machen. Um die Notwendigkeit eines freien Palästinas und eines demokratischen Staates mit gleichen Rechten für alle aufzuzeigen. Wir dürfen uns nicht vor den Karren derjenigen spannen lassen, die jetzt ihre Taten der letzten Jahre reinwaschen wollen. Im Gegenteil, wir müssen sie vor uns hertreiben und ihre Doppelmoral aufdecken. Juliane Nagel postete: Eines Tages werden schon alle immer dagegen gewesen sein. Das gilt für sie selbst genauso wie für alle anderen, die jetzt ihre Westen weiß waschen möchten.
Wir werden nicht vergessen, dass sie es waren, die den Völkermord mit ermöglicht haben: Mit Waffenlieferungen und politischer Rückendeckung für Israel. Mit Repression, Diffamierung und medialer Hetze. Mit Verdrehung, Instrumentalisierung und Schweigen.
1 https://www.spiegel.de/ausland/gazastreifen-frankreich-grossbritannien-und-kanada-drohen-israel-wegen-neuer-gaza-offensive-a-0d7aefda-cb2e-455f-a937-824be52a89c9
2 https://www.fr.de/politik/israelische-regierung-israels-grossoffensive-gaza-masala-bruch-des-voelkerrechts-zr-93738542.html
3 https://www.freitag.de/autoren/hanno-hauenstein/warum-ich-lange-gezoegert-habe-in-gaza-von-genozid-zu-sprechen
4 https://taz.de/Israelkritik-der-Linkspartei/!6086381/
5 https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/luisa-neubauer-greift-die-bundesregierung-an-herzen-brechen-denn-in-gaza-hoeren-sie-auf-zu-schlagen-li.2324771
6https://www.instagram.com/p/C_JFUeOs2cO/?img_index=2
7 Nagel teilte in ihrer Insta-Story einen Post von medico international: „Eines Tages werden alle schon immer dagegen gewesen sein. Vor aller Augen geht das Töten in Gaza weiter. Wer die Menschenrechte dort nicht verteidigt, wird sie auch hier verlieren. Sprich darüber. Nicht eines Tages. Jetzt.“ https://x.com/tuetenremo/status/192446565505661375 (Screenshot abrufbar)