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Deutschland der Zeitenwende

Wir spiegeln hier die Kurzbeiträge der Teilnehmer des Podiums III des Kommunismus-Kongresses 2023, die in der Zeitung zum Kongress veröffentlicht wurden.


Podium III: Sonntag 08.10.23, 13:00 Uhr

Harri Grünberg, Klaus Hartmann, Susann Witt-Stahl, Rainer Perschewski

Wir haben den Teilnehmern des Podiums III folgende Fragen gestellt. Erstens: Was zeichnet das „Deutschland der Zeitenwende“ eigentlich aus? Wo stehen die Friedensbewegung und die (außer-)parlamentarische Linke? Zweitens: Was sind die wichtigsten Ansatzpunkte vor diesem Hintergrund, um in der aktuellen Situation Schritte vorwärts zu machen?


Deutsche Ambitionen

Harri Grünberg war bis 2021 im Parteivorstand der Partei die LINKE, aus der er 2022 austrat. Heute ist er im Bundesvorstand von „Aufstehen“ und wirbt für eine „Wagenknecht-Partei“.

Über ein Jahr tobt bereits der NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine. Wenn wir Friedenskräfte dazu beitragen wollen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, müssen wir auch über die Verantwortung des Westens sprechen, über die Vorgeschichte und die größeren geopolitischen Zusammenhänge. Die Weigerung, die russischen Sicherheitsinteressen anzuerkennen, hat die Lage zugespitzt, die zum Kriegsausbruch führte. Eine Friedensbewegung, die dies nicht mitdenkt, wird niemals ihrer Aufgabe gerecht werden, sondern Sprachrohr der herrschenden Interessen, gefiltert durch die Politik von SPD und Grünen, teils auch der Partei DIE LINKE sein. Die Friedensbewegung wurde von jenen Parteien gespalten, die sich selbstgerecht als Fortschrittsblock verstehen, sich aber im Wesentlichen auf die Seite der NATO gestellt haben.

Die in Russland herrschende Staats-Bürokratie im Bündnis mit dem entstandenen kapitalistischen Sektor vertritt weder die Interessen der russischen Arbeiterklasse noch die des russischen Volkes. Dennoch ist es falsch von einem imperialistischen Russland zu reden und Russland als klassisch kapitalistisch zu bezeichnen ist nur bedingt tauglich. Wir sagen weder Putin noch die NATO. Dennoch müssen wir trotz unserer Kritik an Putin deutlich sagen, dass die NATO diesen Krieg niemals gewinnen darf, denn ein Sieg der NATO heißt finstere Zeiten für den globalen Süden, für Russland und China. Dieser im Wesentlichen antiimperalistische Aspekt ist den meisten sich links nennenden Teilen der Friedensbewegung, vor allem innerhalb der Partei DIE LINKE, verloren gegangen.

Das Deutschland der Zeitenwende und die EU handeln als treue Vasallen der USA. Sie gefährden mit ihrem Kriegskurs die Existenz unserer Länder und Europas insgesamt. Deutschland will an der Seite der USA zur Führungsmacht in Europa aufsteigen und riskiert dabei unter anderem den Konflikt mit Frankreich. Aber vor allem richtet sich Deutschland auf einen langen Konflikt mit Russland ein. Es geht um die geopolitische Herrschaft des deutschen Imperialismus im euroasiatischen Raum als Juniorpartner der USA. Die Ukraine ist der Schlüssel dazu. Folge des Krieges ist auch der wirtschaftliche Abstieg der imperialistischen Mittelmacht Deutschland. Deutschland deindustrialisiert sich zugunsten einer Stärkung des US-Imperialismus. Die sich bereits abzeichnende Krise des Kapitalismus wird durch den Krieg verschärft und damit der Generalangriff auf die über Jahrzehnte erkämpften Errungenschaften der Arbeiterklasse in Europa beschleunigt. Überall in Europa verschlechtert der Krieg die Lebenssituation der Arbeiterklasse und der populären Schichten. Soziales weicht zugunsten der Kriegsausgaben. Das Gesundheitswesen wird demontiert, Rentner werden ärmer, die Bildung für die Volksschichten wird schlechter und die Inflation, auch Folge des entfesselten Krieges, frisst die Löhne auf. Der Reallohn der populären Schichten Europas sinkt. Die Bevölkerung trägt die Kosten für Inflation sowie hohe Lebensmittel- und Energiepreise. Die Gewerkschaften sind kaum in der Lage und willens, den Reallohnverlust zu stoppen. Nicht nur der Krieg, sondern auch der Wirtschaftskrieg müssen beendet werden. Sie schaden der europäischen Industrie und damit auch der Arbeiterklasse in Europa.

Heizung Brot und Frieden sind untrennbar miteinander verknüpft. SPD, Grüne, die Gewerkschaften und auch die sich linksliberal entwickelnde Partei DIE LINKE weigern sich, die soziale Frage mit der Kriegsfrage zu verknüpfen. Wir brauchen aber eine breite Friedensbewegung, die beide Fragen miteinander verknüpft. Die Breite dieser Bewegung muss sich über linke, bürgerlich humanistische Kräfte und alle Menschen, die guten Willens sind und die keinen Krieg und sozialen Krieg wollen, erstrecken. Das schließt organisierte rechte Kräfte aus. Wir brauchen, um einen historischen Vergleich heranzuziehen, eine Volksfront mit antikapitalistischer, antimonopolistischer Ausrichtung. Um den Krieg zu beenden und den Sozialstaat zu verteidigen.

Ein Deutschland der Zeitenwende?

Klaus Hartmann ist Bundesvorsitzender des deutschen Freidenker Verbandes und aktiv in der Friedens- und Antikriegsbewegung. Er arbeitet inhaltlich u.A. zur „Zeitenwende“ in der deutschen Außenpolitik.

igentlich kommt die „Wende“ alle paar Jahre wieder. Bundeskanzler Helmut Kohl verhieß in den 1980er Jahren eine „geistig-moralische Wende“, das meinte den Abbau des Sozialen, die Jugend sollte sich nicht mehr „politisieren“, also sich nicht mehr um gesellschaftliche Probleme kümmern, sondern ihr Glück in der Individualisierung finden. Die nächste „Wende“ kam 1989, so wurde die Konterrevolution in der DDR genannt. Mit ihr wurde der erste und einzige deutsche Friedensstaat begraben. Und zuletzt hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 „eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ ausgerufen. Den alten und neuen Kalten Kriegern wurde warm ums Herz, den Anhängern der Entspannungspolitik eines Willy Brandt fuhr der Schreck in die Glieder, und den meisten verschlug es bis heute die Sprache.

Doch wir sollten uns hüten, die Scholz’sche Zeitenwende nur aus der bundesdeutschen Froschperspektive zu betrachten. Der Freidenker-Vorsitzende Sebastian Bahlo sieht das so: „Als Zeitenwende muß man es in der Tat ansehen, daß die Russische Föderation nach dreißigjähriger fortschreitender geographischer Einkreisung, wirtschaftspolitischer Eindämmung, militärischen Provokationen einschließlich des acht Jahre währenden Abschlachtens der russischstämmigen Bevölkerung im Donezbecken die militärische Beantwortung der NATO-Aggression aufgenommen hat. Wir wissen, daß dieser Zeitenwende eine historische Notwendigkeit innewohnt. Die imperialistischen Räuber, deren Weltbeherrschung auf der jahrhundertelangen Ausplünderung der Menschheit beruht, müssen einer neuen Weltordnung weichen, die auf der souveränen Gleichheit aller Völker beruht.“

Wo steht die Friedensbewegung?

Von solcher Einsicht ist die Mehrheit der Friedensbewegung und auch der tatsächlichen oder vermeintlichen „Linken“ leider weit entfernt. In vielen Texten ist weiterhin vom „völkerrechtswidrigen“ oder „verbrecherischen Angriffskrieg Russlands“ und von einem „unprovozierten Überfall“ die Rede. Wer so redet, hat entweder die NATO-Propaganda total verinnerlicht, oder meint aus Opportunismus an die Kriegstreiber in der SPD und der Grünen Partei „anschlussfähig“ bleiben zu müssen. Oder um das viel ge- und missbrauchte Wort noch einmal ins Spiel zu bringen: Die sind tatsächlich „rechtsoffen“. Denn geht es „noch rechter“, als den NATO-Krieg gegen Russland mit immer neuen Waffen zu befeuern? Wir werden weiterhin mit allen zusammenarbeiten und demonstrieren, die den Standpunkt „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ vertreten.

Selbstverständlich halten wir das Vermächtnis „Die Waffen nieder!“ der Freidenkerin und ersten Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner in Ehren. Doch das ist kein abstraktes moralisches Postulat, das über der konkreten geschichtlichen Realität schwebt. Wir wären niemals auf die Idee gekommen, „Die Waffen nieder!“ den Verteidigern von Leningrad oder den Sowjetsoldaten in der Schlacht um Stalingrad zuzurufen, weil dies nichts weniger als eine Sabotage des antifaschistischen Befreiungskampfes bedeutet hätte. Gleichermaßen waren wir solidarisch mit dem Vietcong im Kampf gegen die US-Invasoren, mit den Kämpfern gegen die NATO-Aggression gegen Jugoslawien, dem palästinensischen und dem irakischen Widerstand und mit den Verteidigern des freien Syriens. Deshalb sind wir auch solidarisch mit Russland in seinem Kampf gegen den Faschismus und die NATO, gegen das Bestreben des Imperialismus, die ganze Welt zu dominieren.

Was zeichnet das Deutschland der Zeitenwende eigentlich aus?

Susann Witt-Stahl arbeitet als freie Journalistin (Junge Welt u.A.), ist Buchautorin und Chefredakteurin des Kulturmagazins „Melodie & Rhythmus“.

Die Zeitenwende markiert einen historischen Zielpunkt der bereits in der Endphase des Zweiten Weltkriegs eingeleiteten deutschen Normalisierung. Seit ihrer Ausrufung am 27. Februar 2022 kann und muss der deutsche Imperialismus, der sich seit der Beteiligung an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 wieder bellizistisch entfaltet, als erfolgreich und vollständig restauriert betrachtet werden. Und so kann auch offen der deutsche Führungsmachtanspruch formuliert werden, was der Kanzlerparteichef auch vor mehr als einem Jahr getan hat. Der Weg ist jetzt frei, imperiale Langzeitprojekte, wie sie Zbigniew Brzeziński in seiner Abhandlung Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft skizziert hat, umzusetzen. Das etwa geschieht derzeit in der Ukraine, die Hauptkampffeld der NATO-Ostexpansion gegen Russland ist. Die Propagierung des „Holodomor“-Narrativs (der Versuch, der von Hitlerdeutschland überfallenen Sowjetunion nachträglich ein Genozid anzulasten), die Enttabuisierung von nationalistischem Heldenkult und Nazi-Symbolik (wie sie zum Beispiel in der euphemistischen Medienberichterstattung über das Asow-Regiment zu beobachten ist) und das aggressive Marketing für Militainment zeigen: Auf der ideologischen Ebene gehört zu dem unter Hochdruck vorangetriebenen Prozess der vollständigen „Erlösung“ des Täterlands von der auferlegten Bürde der „deutschen Zurückhaltung“ die Exkulpierung durch Geschichtsrevisionismus und Projektion deutscher Schuld auf den neuen alten Todfeind Russland, ebenso die Rehabilitierung des Faschismus und die mit kulturindustriellen Mitteln realisierte Ästhetisierung von Militarismus und Krieg.

Wo steht die Friedensbewegung und die (außer-)parlamentarische Linke?

Die hegemoniale deutsche Linke hat kapituliert und ist weitgehend im NATO-Korporatismus aufgegangen. Karriereorientierte Akteure – vor allem in der Partei Die Linke, des auf Ampelregierungskurs gebrachten Antifa- und Gewerkschaftsestablishments –, die an die Erfolgsstrategie der neokonservativen Grünen-Partei anknüpfen wollen, liefern sogar bereitwillig die Legitimationsideologie für Waffenlieferungen und die Eskalation des Ukraine-Kriegs. Immer häufiger sorgen sie auch für die Weißwaschung und Verharmlosung von im Dienst der NATO stehenden Faschisten. Nicht wenige arbeiten daran, dass nach der Aufspaltung des welthistorischen Imperativs „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ und Suspendierung seines ersten Teils, wie in den 1990er-Jahren geschehen, nun auch der zweite Teil entsorgt wird. Zum affirmativen Einschwenken dieser mittlerweile zu Funktionslinken verkommenen Kräfte auf die deutsche Normalisierung gehört die Bekämpfung der ohnehin von Medien und Politik mit Trommelfeuer belegte und stark geschwächte Friedensbewegung und der Antifaschisten, die noch an den – heute wie damals unverzichtbaren – Erkenntnissen der marxistischen Faschismustheorien festhalten.

Aktuelles

Den Kriegskonsens brechen! Gewerkschaft heißt: Nein zu Aufrüstung und Verarmung! Nein zum Krieg gegen Russland! Nein zum Völkermord in Palästina!

Der Protest gegen Krieg, Krise und Sozialkahlschlag ist Aufgabe der Gewerkschaften. So hält auch der DGB in seiner Satzung als Ziel fest „für eine allgemeine und weltweite kontrollierte Abrüstung, für die Verwirklichung und Erhaltung des Friedens und der Freiheit im Geiste der Völkerverständigung“ eintreten zu wollen. Die Position und Politik des DGB spricht jedoch eine andere Sprache: Die Militarisierung wird mitgetragen, der Krieg gegen Russland befürwortet und zum Völkermord in Gaza geschwiegen. Dass längst nicht die gesamte Gewerkschaft hinter diesem Kriegskurs steht, zeigen Aktionen wie die Petition  „Gewerkschaften gegen Aufrüstung“, die von aktiven Gewerkschaftern initiiert wurde und bereits fast 5000 Unterzeichner zählt.

„Der nationale Befreiungskampf ist eine Form des Klassenkampfes“. Interview mit Anwar Khoury – Teil 1 / “The national liberation struggle is a form of...

In Teil 1 des Interviews mit Anwar Khoury, Mitglied des ZK der Palästinensischen Kommunistischen Partei (PalCP), geht um die jüngere Geschichte der kommunistischen Bewegung in Palästina, um die sog. Zweistaatenlösung, um die Strategie der nationalen Befreiung und um die Alliierten im antikolonialen und antiimperialistischen Kampf in der Region. Part 1 of the interview with Anwar Khoury, member of the Central Committee of the Palestinian Communist Party (PalCP), introduces the PalCP, discusses the so-called two-state solution, the strategy of national liberation and the allies in the anti-colonial and anti-imperialist struggle in the region.