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Die beiden Teile der KO und ihr Verhältnis zur kommunistischen Bewegung

von Julius Frater

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Dem Text liegt eine Analyse von Texten verschiedener Parteien zugrunde. Sie sind in diesem Reader zusammengestellt.

Die bisherige internationale Verortung der KO

Exemplarische Untersuchung der INITIATIVE

Worum geht es also wirklich?

Klärungsprozess oder Erklärungsprozess?

Quo Vadis?

In diesem Text soll es darum gehen, wie sich die beiden Teile der KO mit der internationalen wie deutschen kommunistischen Bewegung ins Verhältnis setzen und setzen wollen – dies notwendigerweise limitiert, da ich hier nur auf öffentlich zugängliche Dokumente zurückgreifen kann. Die Fraktionierer, die unsere Organisationsprinzipien fundamental unterlaufen haben, keine gewählte Legitimation besitzen und unsere ursprünglichen Kommunikationskanäle usurpiert haben, besitzen die Dreistigkeit, ihre Zersetzung der KO als einen heroischen Kampf des Marxismus-Leninismus gegen den Revisionismus zu präsentieren. Sie haben in ihrer „Richtigstellung“1 skandalisiert, dass unsere Seite sich nicht mehr unkritisch einem vermeintlich „revolutionären Pol“ der internationalen kommunistischen Bewegung (folgend IKB genannt) zuordnet. Dies will ich mit der auf der 2. Vollversammlung 2019 verabschiedeten Resolution zum proletarischen Internationalismus2 (folgend RI genannt) vergleichen, die Aufschluss darüber gibt, wie sich die KO laut diesem Grundsatzdokument international verortet und verortet hat. Schauen wir uns also an, was die Fraktionierer in ihrer „Richtigstellung“ – die eigentlich keine ist, aber das muss an anderer Stelle ausgeführt werden – schreiben:

Das Wesen der Auseinandersetzung in der KO, welche sich jetzt zum offenen Fraktionskampf entwickelt hat, ist eine Auseinandersetzung zwischen Marxismus-Leninismus und Revisionismus, also dem Eindringen bürgerlicher Ideologie in die Weltanschauung des Proletariats mit der Wirkung, das Proletariat vom Kampf für die Revolution abzubringen. Die ideologische Auseinandersetzung innerhalb der KO wird auch in der internationalen kommunistischen Bewegung geführt. Die KO hatte sich innerhalb dieser Auseinandersetzung immer in dem Teil verortet, der die Bildung eines revolutionären Pols anstrebt und in dem Parteien wie die KKE, die TKP und die KP Mexikos (PCM) eine führende Rolle einnehmen. Das wird von einem Teil der Organisation nun offen angegriffen, der behauptet, es gäbe keinen revolutionären Pol und damit anstrebt, marxistisch-leninistische neben opportunistischen, sogar offen chauvinistischen Parteien gleichberechtigt nebeneinander zu stellen.“

Die bisherige internationale Verortung der KO

Kontrastieren wir das nun mit relevanten Textstellen der auf der 2. Vollversammlung verabschiedeten RI:

Zu einer […] Einheit [vergleichbar mit der Komintern] kann die kommunistische Weltbewegung aber nur durch den ständigen Dialog, den Austausch von Erfahrungen, die gegenseitige Kritik und Selbstkritik der nationalen Parteien gelangen. Der Austausch öffentlicher Kritik unter den kommunistischen Parteien darf nicht als Schwäche vor dem Gegner gesehen werden, sondern ist im Gegenteil ein Mittel, um ein höheres Maß an politisch-ideologischer Einheit zu erreichen. […] [W]eil die Kommunisten letztlich vor der Arbeiterklasse Rechenschaft über ihr Handeln ablegen müssen, dürfen sie sich nicht davor fürchten, ihre Positionen und Analysen offen zur Diskussion zu stellen und die Fehler anderer kommunistischer Parteien im Geiste der revolutionären internationalen Solidarität zu kritisieren.“ (S. 3, Hervorhebungen von mir)

Wir schätzen darum ein, dass all diese Formen des Austausches zwischen kommunistischen Parteien einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Ursachen der Krise der kommunistischen Weltbewegung aufzuarbeiten und zu bekämpfen. Die Diskussionen auf diesen Treffen leisten einen Beitrag dazu, dass Widersprüche offen benannt werden, sodass sie diskutiert und geklärt werden können. Weil Klarheit die Voraussetzung für wirkliche Einheit ist, tragen sie dazu bei, die kommunistische Weltbewegung auf revolutionärer Grundlage zu vereinen und wieder aufzubauen. Auch wir wollen uns systematisch mit den Analysen und Positionen der anderen kommunistischen Parteien beschäftigen und unsere eigenen Standpunkte und Erfahrungen im Dialog mit den Analysen der internationalen kommunistischen Bewegung weiterentwickeln. Daher haben die Treffen der kommunistischen und Arbeiterparteien, das MECYO, die Initiative der Kommunistischen und Arbeiterparteien und die Internationale Kommunistische Rundschau unsere volle Unterstützung.“ (S. 4f, Hervorhebungen von mir)

Wie man sieht, wird sich in der RI vor allem auf Austausch und Debatte unter kommunistischen Parteien positiv bezogen. Aber nicht nur das: Es werden auch explizit vier internationale Zusammenschlüsse benannt: Das Internationale Treffen Kommunistischer und Arbeiterparteien bzw. die SolidNet-Vereinigung (IMCWP), das Treffen Europäischer Kommunistischer Jugendorganisationen (MECYO), die Initiative der Kommunistischen und Arbeiterparteien Europas (INITIATIVE) und die Internationale Kommunistische Rundschau (ICR).

Es dreht sich in der RI jedoch nicht darum, die gleichen Haltungen einzunehmen wie die Parteien dieser Formationen, sondern es geht im internationalen Rahmen darum „unsere eigenen Standpunkte und Erfahrungen im Dialog mit den Analysen der internationalen kommunistischen Bewegung weiter[zu]entwickeln“; um öffentliche Kritik und Selbstkritik, Diskussionen und den offenen Austausch von Positionen und Analysen, aus denen wir hoffen Klarheit zu erlangen. Aus diesen Gründen hat die KO den vier genannten Zusammenschlüssen in der RI ihre volle Unterstützung ausgesprochen, wie aus dem Text eindeutig hervorgeht. Das heißt, dass der affirmative Bezug vor allem aus den Rahmenbedingungen begründet wird, die diese Treffen schaffen – wenngleich eine inhaltliche Komponente dabei sicher auch eine Rolle gespielt hat.

Festzuhalten bleibt auch, dass in der RI von keinen konkreten Parteien die Rede ist. Wenn sich also Genossen darauf beziehen, dass in der KO früher z.B. die KKE als Bezugspunkt eine größere Rolle gespielt hat als jetzt und wieder einen stärkeren positiven Bezug auf „die KKE, die TKP und die KP Mexikos (PCM)“ („Richtigstellung“ der Fraktionierer) wünschen, so mag das ihr Wunsch sein, ergibt sich aber keineswegs aus der RI, dem Grundsatzdokument, auf das sich diesbezüglich geeinigt wurde. Dies jedenfalls nur insofern, als dass die KKE und auch andere Parteien des angeblich „revolutionären Pols“ (ebd.) der IKB in den oben genannten Foren vertreten sind. Dort sind sie allerdings bei Weitem nicht alleine.

Exemplarische Untersuchung der INITIATIVE


Um einen besseren Überblick über die Haltungen der Parteien in diesen Zusammenschlüssen zu bekommen und so zu überprüfen, ob wir uns als KO inhaltlich durch die bisher ausgebliebene Verurteilung der Militäroperation (die in dem Antrag „Nicht unser Krieg!“3 der Fraktionierer gefordert wird) von den in der RI festgehaltenen Foren entfernen, habe ich beschlossen, exemplarisch zu untersuchen, wie sich die Parteien und Organisationen der INITIATIVE zur Militäroperation der Russischen Föderation positionieren4. Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass die verschiedenen Ansichten und Überlegungen der Parteien zu den vielen damit zusammenhängenden Themen komplex sind und sich in unseren Reihen sehr ähnlich abbilden. Von inhaltlicher Isolation kann keine Rede sein, zumal unter den Mitgliedern des Zusammenschlusses sogar insgesamt leicht die Tendenz zur Unterstützung der Militäroperation überwiegt. Wir liegen also mit der von uns angestrebten Klärung der Imperialismus- und Kriegsfrage5 goldrichtig und entfernen uns keineswegs von der INITIATIVE. Indem wir öffentlich und ehrlich die dafür relevanten Fragen diskutieren und anpacken, die derzeit wie ein Riss durch dieses europäische Forum gehen, liegen wir zudem genau auf Kurs der RI.

Dass sich aus dem positiven Bezug auf die in der RI genannten Zusammenschlüsse keineswegs eine inhaltliche Position dergestalt ableiten lässt, wie sie von den Fraktionierern gefordert wird, zeigt sich auch dadurch, dass (selbst wenn es darum ginge) die Mehrheitsverhältnisse in vielen Fragen äußert unklar sind. Um das auch öffentlich unterfüttern zu können, habe ich aus meiner Untersuchung zu verschiedenen Themengebieten Zitate von INITIATIVE-Parteien herausgesucht. Ich bitte zu beachten, dass die im Folgenden angeführten Zitate durch DeepL und Google übersetzte Textstellen sind – es handelt sich nicht um offizielle Übersetzungen der Texte der Parteien, insofern kann es Ungenauigkeiten bei der Übersetzung geben.

Eine in unseren Reihen kontrovers diskutierte Frage ist, ob „Multipolarität“ vorteilhaft im Kampf um den Sozialismus ist und die internationale Arbeiterklasse diese Tendenz unterstützen sollte. Die Fraktionierer verneinen dies mindestens mehrheitlich. Es gibt jedoch in der INITIATIVE nicht wenige Parteien, die das erklärtermaßen anders sehen. Die Sozialistische Arbeiterpartei Kroatiens dazu: „Hat die Arbeiterklasse ein Interesse an diesem Kampf [der Länder, die sich der US-Herrschaft widersetzen]? Ist eine multipolare Welt einer unipolaren Welt vorzuziehen? Wir, die Sozialistische Arbeiterpartei Kroatiens, beantworten diese beiden Fragen mit Ja.“6 Hören wir auch die Kommunistische Partei Polens: „Es ist wahrscheinlich, dass das Entstehen der so genannten „multipolaren Welt“ der Arbeiterbewegung neue Möglichkeiten eröffnen wird. Gesellschaften, die den Weg zum Aufbau sozialistischer Produktionsverhältnisse einschlagen, werden mehr Möglichkeiten haben, Wirtschaftssanktionen zu bekämpfen, indem sie die Blöcke, mit denen sie Handel treiben, diversifizieren und neue Allianzen bilden.“7 Auch der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Slowakei begrüßte am 25. Februar 2022 die Verschiebung der internationalen Kräfteverhältnisse unter dem Titel „Eine multipolare Welt entsteht“8.

Ebenfalls steht natürlich die Frage im Raum, ob Russland imperialistisch ist. Dass dies bei Weitem nicht überall in der INITIATIVE bejaht wird, zeigt ein beispielhafter Blick auf die „Pariser Erklärung“9, in der es heißt, es gebe „keine wirtschaftlichen Daten, die es rechtfertigen, China oder Russland als imperialistisch zu bezeichnen“. Diese Erklärung wurde im Rahmen der „World Anti-imperialist Platform“ verabschiedet und von fünf Parteien der INITIATIVE unterzeichnet. Neben diesen fünf gibt es weitere: Die Neue Kommunistische Partei Britanniens schreibt zum Thema „Das moderne kapitalistische Russland ist kein imperialistisches Land.“10 Und auch die Kommunistische Partei Polens weist ein sehr anderes Imperialismus-Verständnis auf als etwa die KKE: „Heute haben wir es mit einem einzigen, vereinten imperialistischen Zentrum zu tun, das im Westen angesiedelt ist und nach der vollständigen Beherrschung der Welt strebt.“ 11

Von Anfang an wird die (u.a. von mir vertretene) These heiß diskutiert, ob die Militäroperation im Interesse der Arbeiterklasse vor Ort ist. Die Fraktionierer beziehen dazu klar negativ Stellung in ihrem Antrag „Nicht unser Krieg!“. Die Argumentation vieler Parteien dieses Forums, gerade aus der Region, in der der Krieg aktuell tobt, geht hingegen genau in diese Richtung.

Eine besonders bekannte Vertreterin dieser Haltung im Rahmen unserer Debatte ist die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (RKAP). Sehr lesenswert ist zu diesem Thema die Wiedergabe einiger Veröffentlichungen der RKAP, die in Vorbereitungen auf den im September 2022 von der KO organisierten Kommunismus Kongress erschienen ist.12 In einem der zahlreichen Statements der Partei zu dieser Frage heißt es: „Ja, die russischen Behörden sind eindeutig imperialistisch. Ja, sie sind erfüllt von militantem Antikommunismus. Ja, die Entscheidung der Behörden der Russischen Föderation wird natürlich von dem Wunsch bestimmt, die Interessen der russischen Monopole auf dem Territorium der Ukraine und in der Welt in ihrem harten Wettbewerb mit den westlichen Monopolen zu fördern. Um jedoch ihre Ziele zu erreichen, sind die russischen Behörden heute gezwungen, den Faschismus zu unterdrücken, der vom Weltimperialismus voll unterstützt wird und auf den sich das Kapital des Westens stützt. Daher ist es unmöglich, diesen Moment beiläufig zu leugnen und zu behaupten, dass es keine Elemente zum Schutz der Völker in der Donbass-Region gibt.“13

So führt auch Leonid Shkolnikov, Sekretär des Zentralkomitees der Belarussischen Kommunistischen Partei der Arbeiter – Sektion der KpdSU aus: „Wir unterstützen nicht die oligarchische russische Regierung, sondern ihre Aktionen, die mit den Interessen der nationalen Befreiungsbewegung im Donbass übereinstimmen, mit den Interessen der Arbeiter und ihrer Verbündeten in der Ukraine, die nicht unter der faschistischen kollaborierenden Regierung in Kiew leben wollen, mit den Interessen der Arbeiter der Welt, die den militärischen Abszess in der Ukraine aufbrechen wollen, der den gesamten menschlichen Organismus mit dem Neofaschismus zu infizieren droht, bis er tödlich ist.“14

Die Mitglieder der Union der Kommunisten der Ukraine sind sich diesbezüglich nicht einig. Während die international kommunizierte Haltung der Organisation eine klare Ablehnung der Militäroperation ist15, sehen das die Genossen, die angeben in der Ukraine verblieben zu sein, anders und behaupten, man würde international zu Unrecht im Namen der Organisation sprechen: „In diesem Stadium können die Aktionen Russlands als Kampf um seine Unabhängigkeit bezeichnet werden. Auf dem Weg dorthin hat die ukrainische Bevölkerung auch die Chance erhalten, sich von der nationalsozialistischen Unterdrückung zu befreien, und der Donbass hat die Chance erhalten, den ständigen nationalistischen Terror zu beenden, der seit fast 9 Jahren anhält.“16

Laut dem Volkswiderstand Moldawiens wäre 2014 ein „Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine trotz des imperialistischen Charakters dieser Aktionen objektiv ein geringeres Übel für die ukrainischen Arbeiter“17 gewesen und neben negativen Aspekten der gegenwärtigen Militäroperation wird auch angeführt, die „Zerstörung des gegenwärtigen faschistischen Regimes in der Ukraine durch die Truppen der Russischen Föderation wird objektiv Gelegenheiten für die Wiederherstellung der legalen Aktivitäten kommunistischer und Arbeiterorganisationen schaffen.“

Die Vereinigte Kommunistische Partei Georgiens ruft sehr eindeutig zur Unterstützung der Militäroperation auf und erklärt: „Die Behauptung, die Ziele der gegenwärtigen Militäroperation stünden im Widerspruch zu den Interessen der arbeitenden Bevölkerung der Ukraine oder Russlands, die sich auf den imperialistischen Charakter der russischen Außenpolitik stützt, entbehrt jeder Grundlage. Russland handelt im Interesse der ukrainischen und der russischen arbeitenden Bevölkerung unter diesen besonderen historischen Bedingungen und im Rahmen einer besonderen militärischen Operation.“18

Im Hinblick auf den sich zuspitzenden Machtkampf gegen China ist selbstverständlich auch relevant, welche Resultate die Militäroperation auf diesem Gebiet mit sich bringen wird. Dafür ist zu klären, wie China – und damit in gewisser Weise auch Russland als Partner Chinas auf geopolitischer Ebene – einzuschätzen ist. Bereits diese Frage zu stellen wird von den Fraktionierern in ihrer „Richtigstellung“ jedoch skandalisiert! Bevor man eine ausreichende Untersuchung vorliegen hat, meint man das Ergebnis dieser vorwegnehmen zu können – ein Muster, das bei diesen sich als Gralshüter des Marxismus-Leninismus inszenierenden Genossen regelmäßig zu beobachten ist. Aber dazu später mehr. Dass China in der deutschen sowie internationalen kommunistischen Bewegung kontrovers diskutiert wird und dieses Thema auch eine herausragende Wichtigkeit besitzt, ist klar. Die Ungarische Arbeiterpartei bezieht eindeutig Stellung: „China ist ein sozialistisches Land. […] Wir begrüßen es, dass der 20. Nationalkongress der KPCh den Wunsch des chinesischen Volkes bestätigt hat, den Weg des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen zu gehen. Die Ungarische Arbeiterpartei unterstützt die politische Linie der Kommunistischen Partei Chinas.“19 Die Neue Kommunistische Partei Jugoslawiens spricht ebenfalls vom „sozialistischen China“20. Und auch die Kommunistische Partei Polens erwähnt in einer Rede die „sozialistischen Staaten Kuba, China und DVRK“21 und proklamiert in einer anderen: „Sozialistische Produktionsverhältnisse herrschen noch immer in vielen Ländern der Welt vor – z.B. in Kuba, der DVRK und zu einem großen Teil in China.“22

Auch bei Fragen von Strategie und Taktik gehen die Positionen relativ klar auseinander. So ordnet z.B. die Russische Kommunistische Arbeiterpartei23 historisch den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, die von Dimitroff dort vorgetragene Faschismus-Definition des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) und die Volksfront-Konzeption positiv ein und bezieht diese Dinge in Teilen auch auf heute. Der Pol der Kommunistischen Wiederbelebung in Frankreich24 hat einen explizit affirmativen Blick auf den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und die dort unterbreiteten Konzepte zur Faschismus-Bekämpfung. Während andererseits, wie bekannt ist, KKE und weitere Parteien all diese Dinge kritisch bewerten.25

Wie diese Beispiele beweisen, bestehen die verschiedenen Fragen, die für uns im Zusammenhang mit der Militäroperation relevant sind, auch in der INITIATIVE als weitreichende Dissense mit unbekannten Mehrheitsverhältnissen. Und auch im Rahmen der IMCWP ist man sehr gespalten, was die Thematik der Militäroperation betrifft, wie die beiden sich gegenüberstehenden, gemeinsamen SolidNet-Statements auf dem 22. IMCWP zum Krieg in der Ukraine verdeutlichen. Eine Verurteilung der Militäroperation26 erreichte 24 Signaturen im Rahmen von SolidNet und 10 im Rahmen der INITIATIVE, während mit 23 respektive 11 Unterschriften (jeweils Stand: 24.12.) das andere Statement mit klarem Fokus auf die NATO als Feind erklärte, die signierenden Parteien „unterstützen den gerechten antifaschistischen Kampf der arbeitenden Bevölkerung des Donbass, der von den russischen Streitkräften unterstützt wird.“27

Es zeigt sich also, dass der Teil der KO, der sich diesen Fragen auch öffentlich stellen will und sie ergebnisoffen im Dialog mit anderen Parteien zu analysieren versucht, der die Linie der KO fortsetzen will, sich keineswegs von den in der RI genannten Zusammenschlüssen isoliert oder entfernt. Bemerkenswerterweise stimmt genau das Gegenteil.

Worum geht es also wirklich?

Wie wir gesehen haben, ist die intern bereits seit Monaten kursierende Anschuldigung, die KO entferne sich von ihrer bisher festgelegten internationalen Verortung unhaltbar. Die KO hält im Gegenteil mit der aktuellen, gewählten Leitung genau den Kurs, den die RI einfordert. So wurde neben RKAP und DKP, die die Militäroperation zumindest bisher nicht verurteilen, auch der Austausch mit den Parteien gesucht, die die Militäroperation klar ablehnen – mit den Vorsitzenden von PdA und SKP gab es jeweils einen Podcast, die auch für die Kommunismus Kongress-Zeitungen transkribiert wurden, außerdem war die SKP sowohl mit eigenem Referent als auch auf einem Podium auf dem Kongress vertreten. Dass dies nur von diesen zwei Parteien angenommen wurde, kann man der Leitung nicht anlasten.

Worum geht es dann also wirklich? Es geht darum, dass die Wortführer der Fraktionierer die RI am liebsten entsorgen (bzw. in ihrem Sinne umschreiben) würden. Ihnen passt die RI nämlich eigentlich gar nicht – und doch besitzen sie die Chuzpe, die angebliche Missachtung der bisherigen, demokratisch legitimierten internationalen Verortung der KO für die Beseitigung derselben ins Feld zu führen! Dies zeigt ihre „Richtigstellung“ zweifelsfrei, in der von der Zuordnung zu einem vermeintlich „revolutionären Pol“ die Rede ist, der in der RI nicht einmal angedeutet wird.

Aber auch interne Papiere belegen, dass „Austausch öffentlicher Kritik“, „Positionen und Analysen offen zur Diskussion zu stellen und die Fehler anderer kommunistischer Parteien im Geiste der revolutionären internationalen Solidarität zu kritisieren“ und „unsere eigenen Standpunkte und Erfahrungen im Dialog mit den Analysen der internationalen kommunistischen Bewegung weiter[zu]entwickeln“ – also eigentlich alle zentralen Merkmale der RI, die seit der letzten Vollversammlung fast mustergültig umgesetzt wurden – von ihnen als negatives Moment verstanden wird, das es zu beseitigen gilt, um endlich wieder im Club des vermeintlich „revolutionären Pols“ der IKB mitspielen zu dürfen.

Zugespitzt gesagt: Damit also nicht noch einmal jemand auf die Idee kommt, klären zu wollen, hat man nun genug internationale Vorbilder28, die X sagen, um bei Bedarf ein Y unterdrücken zu können. Darum geht es! Denn diese Kontakte und eine inhaltliche Verortung dorthin sollen, wenn es nach den Fraktionierern geht, auf der nächsten Vollversammlung verankert werden. Obwohl man das Ergebnis der Untersuchungen zu den oben angerissenen Fragen noch nicht wissen, weil nicht beweisen, kann, will man sich auf wissenschaftlich unzureichenden Meinungen basierend bereits zur Militäroperation positionieren und zu all den Parteien verorten, die die Militäroperation auch ablehnen. Das kann man in der Konsequenz wirklich nur als die Suche einer Glaubensgemeinschaft nach internationaler Bestätigung bezeichnen – oder eben mit dem Gedankengang erklären, dass KKE & Co. es schon wissen werden. Dass dieses Vorhaben himmelweit mit den in der RI (immerhin ein Grundsatzdokument der KO, das vom höchsten Gremium der Organisation, der Vollversammlung, beschlossen wurde) formulierten Zielen auseinanderfällt, sollte klargeworden sein.

Klärungsprozess oder Erklärungsprozess?

Wirklich interessant ist aber, und ich glaube das sollte die kommunistische Bewegung hierzulande zur Kenntnis nehmen, dass obwohl führende Genossen der Fraktionierer mehrfach zugegeben haben, sich die dialektische Methodik, die marxistisch-leninistische Wissenschaft auch noch nicht erarbeitet zu haben und ihre Ausführungen und Herleitungen deshalb – wie die unserer Seite auch – notwendigerweise ziemlich mangelhaft sind, man damit nicht offen umgehen will. Stattdessen soll der Schein von Überlegenheit nach außen gewahrt werden. Man will sich als die wissenschaftliche Instanz inszenieren, als in theoretischen Fragen über die gesamte deutsche kommunistische Bewegung erhaben. So ist ihr Duktus („Marxismus-Leninismus gegen Revisionismus“) zu verstehen: Es ist der klägliche Versuch, die eigene theoretische und analytische Schwäche mit möglichst groß klingenden Wörtern zu kaschieren. Man will, kurz gesagt, nicht nur die kommunistische Bewegung, sondern auch die Arbeiterklasse über die eigenen Fähigkeiten (und die daraus resultierende unzureichende Wissenschaftlichkeit) anlügen.

Die Fraktionierer sollten ihr Vorhaben also ehrlicherweise in Erklärungsprozess umbenennen, um so nicht dem Anliegen eines tatsächlich ernstgemeinten Klärungsprozesses von unserer Seite zu schaden. Da es ihnen letztlich darum geht, sich genau wie jede andere deutsche kommunistische Kleingruppe als die Revolutionärsten darzustellen, als die, die das alles schon begriffen haben – im Gegensatz zu allen anderen! – und das nur noch allen anderen Kommunisten vermitteln wollen, kann man ihre Behauptung, ja auch einen Klärungsprozess zu wollen, getrost als Feigenblatt einordnen, das dazu dient, der Öffentlichkeit etwas vorzugaukeln.

Quo Vadis?

Auch ich weise natürlich in vielen Fragen inhaltliche Tendenzen auf, das zu leugnen wäre unehrlich. Es würde mich beispielsweise überraschen, wenn am Ende einer tiefgehenden Untersuchung Chinas herauskommen sollte, dass es sich heute um ein sozialistisches Land handelt. Das, was ich dazu gelesen habe (z.B. „Der Sozialismus – Der Untote des 21. Jahrhunderts“29 vom Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD und „Ökonomische Analyse Chinas“30 von Flegel/Geppert) sind gute Aufschläge, ich halte sie aber nicht für ausreichend, um daraus weitreichende Schlüsse zu ziehen. Dinge erst tiefgehend zu untersuchen, bevor wir unsere Haltung dazu öffentlich als unumstößlich präsentieren, bleibt unsere Aufgabe, weshalb wir natürlich auch hier ergebnisoffen in die Analyse gehen müssen. Es muss darum gehen, Sachen nicht nur zu glauben, sondern zu wissen.

In gegensätzliche Richtung läuft der von den Fraktionierern an den Tag gelegte Diskussionsstil, der Thesen von vornherein sprachlich abzuqualifizieren sucht, da man sich wohl erhofft, über diesen Weg keine inhaltliche Argumentation leisten zu müssen. Dies behindert aktiv eine Klärung der wichtigen Fragen. In den letzten Monaten wurden immer wieder Genossen mit den Worten angepöbelt, sie sollten, wenn sie vorläufig diese oder jene Haltung verträten doch als „Revisionisten“ direkt zur DKP gehen. Während wir gerade im letzten Jahr ein produktives, kritisch-solidarisches Verhältnis zur DKP suchten, war mit der DKP in Verbindung gebracht zu werden für die Fraktionierer eine Beleidigung – insgesamt diente ihnen die DKP als omnipräsentes Negativbeispiel, öffentlich gehen sie damit jedoch nicht ehrlich um. Dieses Verhalten ist gleich auf mehreren Ebenen eine Bankrotterklärung: Erstens ist Etikettieren natürlich kein inhaltliches Argument, zweitens vergiftet diese Art der Beschimpfung (die kommunistische Bewegung darf sich schon einmal darauf einstellen, von den Fraktionierern bei jeder zweiten Meinungsverschiedenheit wahlweise als Revisionisten, Opportunisten, Chauvinisten o.Ä. bezeichnet zu werden) den Diskurs, drittens offenbart es die Hochnäsigkeit und Selbstüberschätzung, mit der auf andere Teile der Bewegung geschaut wird – was sich ja auch international in der Respektlosigkeit niederschlägt, der absoluten Mehrheit der IKB zu unterstellen, nicht revolutionär orientiert zu sein – und viertens zeigt es, dass der Liberalismus doch tiefer sitzt, als man sich eingestehen will, wenn man sich wie in der deutschen kommunistischen Bewegung leider üblich privat vollkommen unsolidarisch (und meist um seine eigenen Schwächen zu kompensieren) über andere Organisationen lustig macht oder sie verächtlich abkanzelt.

Im Gegensatz zu den Fraktionierern will unsere Seite keine vorschnelle, einseitige Parteinahme in der IKB. Mir ist niemand in der Organisation bekannt, der nicht auch gute Beziehungen zu KKE, TKP und PCM will. Aber ich hätte gerne genauso gute Kontakte zur RKAP, der Ungarischen Arbeiterpartei, dem PRCF, der CPGB-ML und vielen weiteren Parteien und Organisationen. Als KO, die die wichtigen Fragen und Dissense der kommunistischen Bewegung aufarbeiten und einen Beitrag zu ihrer Klärung leisten will, hielte ich es für richtig, mit möglichst vielen kommunistischen und Arbeiterparteien in gutem Austausch zu sein. Gerade die Reibung unterschiedlicher Haltungen, der Abgleich und die Debatte von Positionierungen und Analysen macht den Umgang produktiv und gibt uns neue Ansätze, die dann wissenschaftlich aufgearbeitet werden können. Mit dem vorgeschlagenen Weg der Fraktionierer wird dies meines Erachtens jedoch nicht möglich sein – die Haltung soll durch Kampfabstimmung bestimmt und international verankert werden.

Die Vorstellung, man könnte die Krise der kommunistischen Bewegung national wie international dadurch beseitigen, sich einfach einem vermeintlich „revolutionären Pol“ zuzuordnen, halte ich für vollkommen fehlgeleitet. Andere kommunistische Kräfte werden nicht dadurch überzeugt werden, ihnen einfach oft genug vorzuwerfen, Revisionisten zu sein oder oberflächliche Begründungen dafür anzuführen, warum sie angeblich falsch liegen, sondern nur dadurch, ihnen eine stichhaltige Untersuchung vorzulegen, die den Sachverhalt klärt, welcher es auch immer sein mag. Die Welt ist erkennbar und Thesen beweis- oder widerlegbar. Wenn wir das ernst nehmen, bedarf es keiner fruchtlosen Meinungsschlacht, die die Klärung auf den Sankt Nimmerleinstag verschiebt. Im Gegenteil ist gerade diese Klärung der Schlüssel zur Überwindung der Krise, denn in ihr steckt die alles überragende Kraft der Wissenschaftlichkeit.

In diesem Sinn kann ich mich dem Leitantrag nur anschließen: „Die Vorstellung eines grundsätzlich revolutionären Pols geht von der Annahme aus, dass dieser bereits die Klarheit erreicht hätte, der es bedarf, um Antworten zu geben. Es ergab sich ein naives Vertrauen in die Äußerungen der KKE. Das, wofür die KO angetreten ist, dass Klärung erst erarbeitet und erreicht werden muss, wird damit auf den Kopf gestellt. Der „Klärungsprozess“ wird sinnentleert, indem er zum „Durchsetzungsprozess“ eines vermeintlich revolutionären Pols gemacht wird. Der darin liegende Irrweg ist sicher auch deshalb so verführerisch, weil er offensichtlich der einfachere Weg ist. In ihm steckt sowohl die Hoffnung auf eine höhere Instanz, die es schon durchdrungen haben wird, als auch das Abgeben der Verantwortung, selbst eine Beurteilung vornehmen zu können.“31

Die Geduld aufzubringen, den beschwerlichen, intensiven und langwierigen Prozess der wissenschaftlichen Klärung mit der kommunistischen Bewegung national wie international die nächsten Jahre zu organisieren, um dadurch endlich Schritte zur Überwindung der Krise der kommunistischen Bewegung gehen zu können und zur Schaffung einer Kommunistischen Partei in Deutschland zu kommen ist unsere revolutionäre Pflicht.

Wir werden auf diesem Weg nicht wanken!

1https://kommunistische-organisation.de/diskussion-ausserordentlicher-kongress/stellungnahme-der-ehemaligen-zl-minderheit/

2https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2019/08/KO-2VV-Inter_Resolution_public_fin.pdf

3https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2022/12/Antrag_Minderheit_Resolution-nicht-unser-Krieg.pdf

4Das Dokument, das ich dazu ausgearbeitet habe, muss leider intern bleiben, da hier Einschätzungen über Haltungen kommunistischer Parteien getroffen werden, die uns nur als Arbeitsgrundlage dienen können. Weil einige Parteien sich nicht klar dazu äußern (vielleicht auch, um Repression zu vermeiden), ich ihnen keine Haltung unterstellen will und die Parteien generell nur für sich selber sprechen können, veröffentliche ich an dieser Stelle den zugehörigen über 170 Seiten starken Reader, in dem sich alle Texte, die ich als Quellen im Dokument benutzt habe, als DeepL- und Google-Übersetzung finden (sofern sie nicht schon auf Deutsch verfügbar waren). Die Parteien der INITIATIVE, bei denen die Haltung weitläufig bekannt ist (KKE, PdA) oder bei denen keine Haltung auffindbar war, sind im Reader nicht enthalten. Hier ist der Reader.

5Beschluss der 4. Vollversammlung, der den Fraktionierern von Anfang an ein Dorn im Auge war. Siehe: https://kommunistische-organisation.de/allgemein/beschluss-zur-klaerung-der-imperialismus-und-kriegsfrage/

6https://wap21.org/?p=184

7https://wap21.org/?p=182

8http://kss.sk/rodi-sa-multipolarny-svet

9https://wap21.org/?p=566

10http://www.newworker.org/statements/statements2022/js202203/victory_to_the_anti_fascist_forces_of_donbass_and_their_allies.html

11https://wap21.org/?p=182

12https://kommunistische-organisation.de/allgemein/es-kann-keinen-frieden-mit-faschisten-geben/

13http://www.solidnet.org/article/Russian-CWP–00006/

14http://s-kps.by/gazeta-vernost-2-152-2022.html/

15z.B. http://solidnet.org/article/Union-of-Communists-of-Ukraine-/

16https://un-comm-ukr.ucoz.ru/publ/9-1-0-1688

17http://rezistenta.info/programa/1372-zayavlenie-marksistskogo-dvizheniya-narodnoe-soprotivlenie-v-svyazi-s-nachalom-voyny-na-ukraine.html

18http://skpkpss.ru/novosti-ekpg-zayavlenie-ekp-gruzii-2/

19http://www.solidnet.org/article/22nd-IMCWP-Contribution-by-the-Hungarian-WP/

20https://nkpj.org.rs/2021/04/23/nkpj-predala-zahtev-vucicu-za-podizanje-biste-si-dinpingu/

21https://wap21.org/?p=2036

22https://wap21.org/?p=182

23http://www.solidnet.org/article/Russian-CWP–00013/

24https://wap21.org/?p=176

25z.B. http://solidnet.org/article/CP-of-Greece-Written-Contribution-of-the-CP-of-Greece-at-the-3rd-International-Ideological-Seminar-of-the-CP-of-Venezuela/ und zur Faschismus-Definition schreibt die RKAP an die KKE: „Es ist seltsam, überraschend und sogar schmerzhaft, Ihre Aussage zu hören, dass sich Dimitroffs Definition als angeblich unhaltbar erwiesen hat. Das ist aus unserer Sicht nicht nur Ihr großer Fehler, sondern Ihr Ärger! Schließlich leugnen Sie nicht nur die bestehende wissenschaftliche Definition, Sie bleiben überhaupt ohne Definition. Sie geben trotz unserer bereits langjährigen Diskussion keine Definition von Faschismus.“ (https://kommunistische-organisation.de/dossier/rkap-iii-zur-prinzipiellen-position-der-rkap-in-fragen-der-beziehungen-zur-kke-und-bewertung-der-lage-und-militaeroperationen-in-der-ukraine-und-im-donbass/)

26http://www.solidnet.org/article/22nd-IMCWP-RESOLUTION-on-the-imperialist-war-on-the-territory-of-Ukraine/

27http://www.solidnet.org/article/22nd-IMCWP-The-Struggle-Against-USA-and-NATO-Imperialism-which-Seek-World-Hegemony-is-the-Key-Task-of-the-Progressive-Forces/

28Ich schreibe hier „genug“, weil die drei genannten intern gerne noch um einige Parteien mehr ergänzt werden, die in wesentlichen Fragen denselben oder einen sehr ähnlichen Standpunkt einnehmen.

29https://verlagdasfreiebuch.kommega.de/der-sozialismus-der-untote-des-21-jahrhunderts/

30http://www.k-p-d-online.de/images/daten/dokumente/oekonomische-analyse-chinas_zk-der-kpd.pdf

31https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2022/12/ZL_LeitantragaKO.pdf

Die beiden Teile der KO und ihr Verhältnis zur kommunistischen Bewegung

von Julius Frater

Hier als PDF

Dem Text liegt eine Analyse von Texten verschiedener Parteien zugrunde. Sie sind in diesem Reader zusammengestellt.

Die bisherige internationale Verortung der KO

Exemplarische Untersuchung der INITIATIVE

Worum geht es also wirklich?

Klärungsprozess oder Erklärungsprozess?

Quo Vadis?

In diesem Text soll es darum gehen, wie sich die beiden Teile der KO mit der internationalen wie deutschen kommunistischen Bewegung ins Verhältnis setzen und setzen wollen – dies notwendigerweise limitiert, da ich hier nur auf öffentlich zugängliche Dokumente zurückgreifen kann. Die Fraktionierer, die unsere Organisationsprinzipien fundamental unterlaufen haben, keine gewählte Legitimation besitzen und unsere ursprünglichen Kommunikationskanäle usurpiert haben, besitzen die Dreistigkeit, ihre Zersetzung der KO als einen heroischen Kampf des Marxismus-Leninismus gegen den Revisionismus zu präsentieren. Sie haben in ihrer „Richtigstellung“1 skandalisiert, dass unsere Seite sich nicht mehr unkritisch einem vermeintlich „revolutionären Pol“ der internationalen kommunistischen Bewegung (folgend IKB genannt) zuordnet. Dies will ich mit der auf der 2. Vollversammlung 2019 verabschiedeten Resolution zum proletarischen Internationalismus2 (folgend RI genannt) vergleichen, die Aufschluss darüber gibt, wie sich die KO laut diesem Grundsatzdokument international verortet und verortet hat. Schauen wir uns also an, was die Fraktionierer in ihrer „Richtigstellung“ – die eigentlich keine ist, aber das muss an anderer Stelle ausgeführt werden – schreiben:

Das Wesen der Auseinandersetzung in der KO, welche sich jetzt zum offenen Fraktionskampf entwickelt hat, ist eine Auseinandersetzung zwischen Marxismus-Leninismus und Revisionismus, also dem Eindringen bürgerlicher Ideologie in die Weltanschauung des Proletariats mit der Wirkung, das Proletariat vom Kampf für die Revolution abzubringen. Die ideologische Auseinandersetzung innerhalb der KO wird auch in der internationalen kommunistischen Bewegung geführt. Die KO hatte sich innerhalb dieser Auseinandersetzung immer in dem Teil verortet, der die Bildung eines revolutionären Pols anstrebt und in dem Parteien wie die KKE, die TKP und die KP Mexikos (PCM) eine führende Rolle einnehmen. Das wird von einem Teil der Organisation nun offen angegriffen, der behauptet, es gäbe keinen revolutionären Pol und damit anstrebt, marxistisch-leninistische neben opportunistischen, sogar offen chauvinistischen Parteien gleichberechtigt nebeneinander zu stellen.“

Die bisherige internationale Verortung der KO

Kontrastieren wir das nun mit relevanten Textstellen der auf der 2. Vollversammlung verabschiedeten RI:

Zu einer […] Einheit [vergleichbar mit der Komintern] kann die kommunistische Weltbewegung aber nur durch den ständigen Dialog, den Austausch von Erfahrungen, die gegenseitige Kritik und Selbstkritik der nationalen Parteien gelangen. Der Austausch öffentlicher Kritik unter den kommunistischen Parteien darf nicht als Schwäche vor dem Gegner gesehen werden, sondern ist im Gegenteil ein Mittel, um ein höheres Maß an politisch-ideologischer Einheit zu erreichen. […] [W]eil die Kommunisten letztlich vor der Arbeiterklasse Rechenschaft über ihr Handeln ablegen müssen, dürfen sie sich nicht davor fürchten, ihre Positionen und Analysen offen zur Diskussion zu stellen und die Fehler anderer kommunistischer Parteien im Geiste der revolutionären internationalen Solidarität zu kritisieren.“ (S. 3, Hervorhebungen von mir)

Wir schätzen darum ein, dass all diese Formen des Austausches zwischen kommunistischen Parteien einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Ursachen der Krise der kommunistischen Weltbewegung aufzuarbeiten und zu bekämpfen. Die Diskussionen auf diesen Treffen leisten einen Beitrag dazu, dass Widersprüche offen benannt werden, sodass sie diskutiert und geklärt werden können. Weil Klarheit die Voraussetzung für wirkliche Einheit ist, tragen sie dazu bei, die kommunistische Weltbewegung auf revolutionärer Grundlage zu vereinen und wieder aufzubauen. Auch wir wollen uns systematisch mit den Analysen und Positionen der anderen kommunistischen Parteien beschäftigen und unsere eigenen Standpunkte und Erfahrungen im Dialog mit den Analysen der internationalen kommunistischen Bewegung weiterentwickeln. Daher haben die Treffen der kommunistischen und Arbeiterparteien, das MECYO, die Initiative der Kommunistischen und Arbeiterparteien und die Internationale Kommunistische Rundschau unsere volle Unterstützung.“ (S. 4f, Hervorhebungen von mir)

Wie man sieht, wird sich in der RI vor allem auf Austausch und Debatte unter kommunistischen Parteien positiv bezogen. Aber nicht nur das: Es werden auch explizit vier internationale Zusammenschlüsse benannt: Das Internationale Treffen Kommunistischer und Arbeiterparteien bzw. die SolidNet-Vereinigung (IMCWP), das Treffen Europäischer Kommunistischer Jugendorganisationen (MECYO), die Initiative der Kommunistischen und Arbeiterparteien Europas (INITIATIVE) und die Internationale Kommunistische Rundschau (ICR).

Es dreht sich in der RI jedoch nicht darum, die gleichen Haltungen einzunehmen wie die Parteien dieser Formationen, sondern es geht im internationalen Rahmen darum „unsere eigenen Standpunkte und Erfahrungen im Dialog mit den Analysen der internationalen kommunistischen Bewegung weiter[zu]entwickeln“; um öffentliche Kritik und Selbstkritik, Diskussionen und den offenen Austausch von Positionen und Analysen, aus denen wir hoffen Klarheit zu erlangen. Aus diesen Gründen hat die KO den vier genannten Zusammenschlüssen in der RI ihre volle Unterstützung ausgesprochen, wie aus dem Text eindeutig hervorgeht. Das heißt, dass der affirmative Bezug vor allem aus den Rahmenbedingungen begründet wird, die diese Treffen schaffen – wenngleich eine inhaltliche Komponente dabei sicher auch eine Rolle gespielt hat.

Festzuhalten bleibt auch, dass in der RI von keinen konkreten Parteien die Rede ist. Wenn sich also Genossen darauf beziehen, dass in der KO früher z.B. die KKE als Bezugspunkt eine größere Rolle gespielt hat als jetzt und wieder einen stärkeren positiven Bezug auf „die KKE, die TKP und die KP Mexikos (PCM)“ („Richtigstellung“ der Fraktionierer) wünschen, so mag das ihr Wunsch sein, ergibt sich aber keineswegs aus der RI, dem Grundsatzdokument, auf das sich diesbezüglich geeinigt wurde. Dies jedenfalls nur insofern, als dass die KKE und auch andere Parteien des angeblich „revolutionären Pols“ (ebd.) der IKB in den oben genannten Foren vertreten sind. Dort sind sie allerdings bei Weitem nicht alleine.

Exemplarische Untersuchung der INITIATIVE


Um einen besseren Überblick über die Haltungen der Parteien in diesen Zusammenschlüssen zu bekommen und so zu überprüfen, ob wir uns als KO inhaltlich durch die bisher ausgebliebene Verurteilung der Militäroperation (die in dem Antrag „Nicht unser Krieg!“3 der Fraktionierer gefordert wird) von den in der RI festgehaltenen Foren entfernen, habe ich beschlossen, exemplarisch zu untersuchen, wie sich die Parteien und Organisationen der INITIATIVE zur Militäroperation der Russischen Föderation positionieren4. Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass die verschiedenen Ansichten und Überlegungen der Parteien zu den vielen damit zusammenhängenden Themen komplex sind und sich in unseren Reihen sehr ähnlich abbilden. Von inhaltlicher Isolation kann keine Rede sein, zumal unter den Mitgliedern des Zusammenschlusses sogar insgesamt leicht die Tendenz zur Unterstützung der Militäroperation überwiegt. Wir liegen also mit der von uns angestrebten Klärung der Imperialismus- und Kriegsfrage5 goldrichtig und entfernen uns keineswegs von der INITIATIVE. Indem wir öffentlich und ehrlich die dafür relevanten Fragen diskutieren und anpacken, die derzeit wie ein Riss durch dieses europäische Forum gehen, liegen wir zudem genau auf Kurs der RI.

Dass sich aus dem positiven Bezug auf die in der RI genannten Zusammenschlüsse keineswegs eine inhaltliche Position dergestalt ableiten lässt, wie sie von den Fraktionierern gefordert wird, zeigt sich auch dadurch, dass (selbst wenn es darum ginge) die Mehrheitsverhältnisse in vielen Fragen äußert unklar sind. Um das auch öffentlich unterfüttern zu können, habe ich aus meiner Untersuchung zu verschiedenen Themengebieten Zitate von INITIATIVE-Parteien herausgesucht. Ich bitte zu beachten, dass die im Folgenden angeführten Zitate durch DeepL und Google übersetzte Textstellen sind – es handelt sich nicht um offizielle Übersetzungen der Texte der Parteien, insofern kann es Ungenauigkeiten bei der Übersetzung geben.

Eine in unseren Reihen kontrovers diskutierte Frage ist, ob „Multipolarität“ vorteilhaft im Kampf um den Sozialismus ist und die internationale Arbeiterklasse diese Tendenz unterstützen sollte. Die Fraktionierer verneinen dies mindestens mehrheitlich. Es gibt jedoch in der INITIATIVE nicht wenige Parteien, die das erklärtermaßen anders sehen. Die Sozialistische Arbeiterpartei Kroatiens dazu: „Hat die Arbeiterklasse ein Interesse an diesem Kampf [der Länder, die sich der US-Herrschaft widersetzen]? Ist eine multipolare Welt einer unipolaren Welt vorzuziehen? Wir, die Sozialistische Arbeiterpartei Kroatiens, beantworten diese beiden Fragen mit Ja.“6 Hören wir auch die Kommunistische Partei Polens: „Es ist wahrscheinlich, dass das Entstehen der so genannten „multipolaren Welt“ der Arbeiterbewegung neue Möglichkeiten eröffnen wird. Gesellschaften, die den Weg zum Aufbau sozialistischer Produktionsverhältnisse einschlagen, werden mehr Möglichkeiten haben, Wirtschaftssanktionen zu bekämpfen, indem sie die Blöcke, mit denen sie Handel treiben, diversifizieren und neue Allianzen bilden.“7 Auch der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Slowakei begrüßte am 25. Februar 2022 die Verschiebung der internationalen Kräfteverhältnisse unter dem Titel „Eine multipolare Welt entsteht“8.

Ebenfalls steht natürlich die Frage im Raum, ob Russland imperialistisch ist. Dass dies bei Weitem nicht überall in der INITIATIVE bejaht wird, zeigt ein beispielhafter Blick auf die „Pariser Erklärung“9, in der es heißt, es gebe „keine wirtschaftlichen Daten, die es rechtfertigen, China oder Russland als imperialistisch zu bezeichnen“. Diese Erklärung wurde im Rahmen der „World Anti-imperialist Platform“ verabschiedet und von fünf Parteien der INITIATIVE unterzeichnet. Neben diesen fünf gibt es weitere: Die Neue Kommunistische Partei Britanniens schreibt zum Thema „Das moderne kapitalistische Russland ist kein imperialistisches Land.“10 Und auch die Kommunistische Partei Polens weist ein sehr anderes Imperialismus-Verständnis auf als etwa die KKE: „Heute haben wir es mit einem einzigen, vereinten imperialistischen Zentrum zu tun, das im Westen angesiedelt ist und nach der vollständigen Beherrschung der Welt strebt.“ 11

Von Anfang an wird die (u.a. von mir vertretene) These heiß diskutiert, ob die Militäroperation im Interesse der Arbeiterklasse vor Ort ist. Die Fraktionierer beziehen dazu klar negativ Stellung in ihrem Antrag „Nicht unser Krieg!“. Die Argumentation vieler Parteien dieses Forums, gerade aus der Region, in der der Krieg aktuell tobt, geht hingegen genau in diese Richtung.

Eine besonders bekannte Vertreterin dieser Haltung im Rahmen unserer Debatte ist die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (RKAP). Sehr lesenswert ist zu diesem Thema die Wiedergabe einiger Veröffentlichungen der RKAP, die in Vorbereitungen auf den im September 2022 von der KO organisierten Kommunismus Kongress erschienen ist.12 In einem der zahlreichen Statements der Partei zu dieser Frage heißt es: „Ja, die russischen Behörden sind eindeutig imperialistisch. Ja, sie sind erfüllt von militantem Antikommunismus. Ja, die Entscheidung der Behörden der Russischen Föderation wird natürlich von dem Wunsch bestimmt, die Interessen der russischen Monopole auf dem Territorium der Ukraine und in der Welt in ihrem harten Wettbewerb mit den westlichen Monopolen zu fördern. Um jedoch ihre Ziele zu erreichen, sind die russischen Behörden heute gezwungen, den Faschismus zu unterdrücken, der vom Weltimperialismus voll unterstützt wird und auf den sich das Kapital des Westens stützt. Daher ist es unmöglich, diesen Moment beiläufig zu leugnen und zu behaupten, dass es keine Elemente zum Schutz der Völker in der Donbass-Region gibt.“13

So führt auch Leonid Shkolnikov, Sekretär des Zentralkomitees der Belarussischen Kommunistischen Partei der Arbeiter – Sektion der KpdSU aus: „Wir unterstützen nicht die oligarchische russische Regierung, sondern ihre Aktionen, die mit den Interessen der nationalen Befreiungsbewegung im Donbass übereinstimmen, mit den Interessen der Arbeiter und ihrer Verbündeten in der Ukraine, die nicht unter der faschistischen kollaborierenden Regierung in Kiew leben wollen, mit den Interessen der Arbeiter der Welt, die den militärischen Abszess in der Ukraine aufbrechen wollen, der den gesamten menschlichen Organismus mit dem Neofaschismus zu infizieren droht, bis er tödlich ist.“14

Die Mitglieder der Union der Kommunisten der Ukraine sind sich diesbezüglich nicht einig. Während die international kommunizierte Haltung der Organisation eine klare Ablehnung der Militäroperation ist15, sehen das die Genossen, die angeben in der Ukraine verblieben zu sein, anders und behaupten, man würde international zu Unrecht im Namen der Organisation sprechen: „In diesem Stadium können die Aktionen Russlands als Kampf um seine Unabhängigkeit bezeichnet werden. Auf dem Weg dorthin hat die ukrainische Bevölkerung auch die Chance erhalten, sich von der nationalsozialistischen Unterdrückung zu befreien, und der Donbass hat die Chance erhalten, den ständigen nationalistischen Terror zu beenden, der seit fast 9 Jahren anhält.“16

Laut dem Volkswiderstand Moldawiens wäre 2014 ein „Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine trotz des imperialistischen Charakters dieser Aktionen objektiv ein geringeres Übel für die ukrainischen Arbeiter“17 gewesen und neben negativen Aspekten der gegenwärtigen Militäroperation wird auch angeführt, die „Zerstörung des gegenwärtigen faschistischen Regimes in der Ukraine durch die Truppen der Russischen Föderation wird objektiv Gelegenheiten für die Wiederherstellung der legalen Aktivitäten kommunistischer und Arbeiterorganisationen schaffen.“

Die Vereinigte Kommunistische Partei Georgiens ruft sehr eindeutig zur Unterstützung der Militäroperation auf und erklärt: „Die Behauptung, die Ziele der gegenwärtigen Militäroperation stünden im Widerspruch zu den Interessen der arbeitenden Bevölkerung der Ukraine oder Russlands, die sich auf den imperialistischen Charakter der russischen Außenpolitik stützt, entbehrt jeder Grundlage. Russland handelt im Interesse der ukrainischen und der russischen arbeitenden Bevölkerung unter diesen besonderen historischen Bedingungen und im Rahmen einer besonderen militärischen Operation.“18

Im Hinblick auf den sich zuspitzenden Machtkampf gegen China ist selbstverständlich auch relevant, welche Resultate die Militäroperation auf diesem Gebiet mit sich bringen wird. Dafür ist zu klären, wie China – und damit in gewisser Weise auch Russland als Partner Chinas auf geopolitischer Ebene – einzuschätzen ist. Bereits diese Frage zu stellen wird von den Fraktionierern in ihrer „Richtigstellung“ jedoch skandalisiert! Bevor man eine ausreichende Untersuchung vorliegen hat, meint man das Ergebnis dieser vorwegnehmen zu können – ein Muster, das bei diesen sich als Gralshüter des Marxismus-Leninismus inszenierenden Genossen regelmäßig zu beobachten ist. Aber dazu später mehr. Dass China in der deutschen sowie internationalen kommunistischen Bewegung kontrovers diskutiert wird und dieses Thema auch eine herausragende Wichtigkeit besitzt, ist klar. Die Ungarische Arbeiterpartei bezieht eindeutig Stellung: „China ist ein sozialistisches Land. […] Wir begrüßen es, dass der 20. Nationalkongress der KPCh den Wunsch des chinesischen Volkes bestätigt hat, den Weg des Sozialismus mit chinesischen Merkmalen zu gehen. Die Ungarische Arbeiterpartei unterstützt die politische Linie der Kommunistischen Partei Chinas.“19 Die Neue Kommunistische Partei Jugoslawiens spricht ebenfalls vom „sozialistischen China“20. Und auch die Kommunistische Partei Polens erwähnt in einer Rede die „sozialistischen Staaten Kuba, China und DVRK“21 und proklamiert in einer anderen: „Sozialistische Produktionsverhältnisse herrschen noch immer in vielen Ländern der Welt vor – z.B. in Kuba, der DVRK und zu einem großen Teil in China.“22

Auch bei Fragen von Strategie und Taktik gehen die Positionen relativ klar auseinander. So ordnet z.B. die Russische Kommunistische Arbeiterpartei23 historisch den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, die von Dimitroff dort vorgetragene Faschismus-Definition des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) und die Volksfront-Konzeption positiv ein und bezieht diese Dinge in Teilen auch auf heute. Der Pol der Kommunistischen Wiederbelebung in Frankreich24 hat einen explizit affirmativen Blick auf den 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und die dort unterbreiteten Konzepte zur Faschismus-Bekämpfung. Während andererseits, wie bekannt ist, KKE und weitere Parteien all diese Dinge kritisch bewerten.25

Wie diese Beispiele beweisen, bestehen die verschiedenen Fragen, die für uns im Zusammenhang mit der Militäroperation relevant sind, auch in der INITIATIVE als weitreichende Dissense mit unbekannten Mehrheitsverhältnissen. Und auch im Rahmen der IMCWP ist man sehr gespalten, was die Thematik der Militäroperation betrifft, wie die beiden sich gegenüberstehenden, gemeinsamen SolidNet-Statements auf dem 22. IMCWP zum Krieg in der Ukraine verdeutlichen. Eine Verurteilung der Militäroperation26 erreichte 24 Signaturen im Rahmen von SolidNet und 10 im Rahmen der INITIATIVE, während mit 23 respektive 11 Unterschriften (jeweils Stand: 24.12.) das andere Statement mit klarem Fokus auf die NATO als Feind erklärte, die signierenden Parteien „unterstützen den gerechten antifaschistischen Kampf der arbeitenden Bevölkerung des Donbass, der von den russischen Streitkräften unterstützt wird.“27

Es zeigt sich also, dass der Teil der KO, der sich diesen Fragen auch öffentlich stellen will und sie ergebnisoffen im Dialog mit anderen Parteien zu analysieren versucht, der die Linie der KO fortsetzen will, sich keineswegs von den in der RI genannten Zusammenschlüssen isoliert oder entfernt. Bemerkenswerterweise stimmt genau das Gegenteil.

Worum geht es also wirklich?

Wie wir gesehen haben, ist die intern bereits seit Monaten kursierende Anschuldigung, die KO entferne sich von ihrer bisher festgelegten internationalen Verortung unhaltbar. Die KO hält im Gegenteil mit der aktuellen, gewählten Leitung genau den Kurs, den die RI einfordert. So wurde neben RKAP und DKP, die die Militäroperation zumindest bisher nicht verurteilen, auch der Austausch mit den Parteien gesucht, die die Militäroperation klar ablehnen – mit den Vorsitzenden von PdA und SKP gab es jeweils einen Podcast, die auch für die Kommunismus Kongress-Zeitungen transkribiert wurden, außerdem war die SKP sowohl mit eigenem Referent als auch auf einem Podium auf dem Kongress vertreten. Dass dies nur von diesen zwei Parteien angenommen wurde, kann man der Leitung nicht anlasten.

Worum geht es dann also wirklich? Es geht darum, dass die Wortführer der Fraktionierer die RI am liebsten entsorgen (bzw. in ihrem Sinne umschreiben) würden. Ihnen passt die RI nämlich eigentlich gar nicht – und doch besitzen sie die Chuzpe, die angebliche Missachtung der bisherigen, demokratisch legitimierten internationalen Verortung der KO für die Beseitigung derselben ins Feld zu führen! Dies zeigt ihre „Richtigstellung“ zweifelsfrei, in der von der Zuordnung zu einem vermeintlich „revolutionären Pol“ die Rede ist, der in der RI nicht einmal angedeutet wird.

Aber auch interne Papiere belegen, dass „Austausch öffentlicher Kritik“, „Positionen und Analysen offen zur Diskussion zu stellen und die Fehler anderer kommunistischer Parteien im Geiste der revolutionären internationalen Solidarität zu kritisieren“ und „unsere eigenen Standpunkte und Erfahrungen im Dialog mit den Analysen der internationalen kommunistischen Bewegung weiter[zu]entwickeln“ – also eigentlich alle zentralen Merkmale der RI, die seit der letzten Vollversammlung fast mustergültig umgesetzt wurden – von ihnen als negatives Moment verstanden wird, das es zu beseitigen gilt, um endlich wieder im Club des vermeintlich „revolutionären Pols“ der IKB mitspielen zu dürfen.

Zugespitzt gesagt: Damit also nicht noch einmal jemand auf die Idee kommt, klären zu wollen, hat man nun genug internationale Vorbilder28, die X sagen, um bei Bedarf ein Y unterdrücken zu können. Darum geht es! Denn diese Kontakte und eine inhaltliche Verortung dorthin sollen, wenn es nach den Fraktionierern geht, auf der nächsten Vollversammlung verankert werden. Obwohl man das Ergebnis der Untersuchungen zu den oben angerissenen Fragen noch nicht wissen, weil nicht beweisen, kann, will man sich auf wissenschaftlich unzureichenden Meinungen basierend bereits zur Militäroperation positionieren und zu all den Parteien verorten, die die Militäroperation auch ablehnen. Das kann man in der Konsequenz wirklich nur als die Suche einer Glaubensgemeinschaft nach internationaler Bestätigung bezeichnen – oder eben mit dem Gedankengang erklären, dass KKE & Co. es schon wissen werden. Dass dieses Vorhaben himmelweit mit den in der RI (immerhin ein Grundsatzdokument der KO, das vom höchsten Gremium der Organisation, der Vollversammlung, beschlossen wurde) formulierten Zielen auseinanderfällt, sollte klargeworden sein.

Klärungsprozess oder Erklärungsprozess?

Wirklich interessant ist aber, und ich glaube das sollte die kommunistische Bewegung hierzulande zur Kenntnis nehmen, dass obwohl führende Genossen der Fraktionierer mehrfach zugegeben haben, sich die dialektische Methodik, die marxistisch-leninistische Wissenschaft auch noch nicht erarbeitet zu haben und ihre Ausführungen und Herleitungen deshalb – wie die unserer Seite auch – notwendigerweise ziemlich mangelhaft sind, man damit nicht offen umgehen will. Stattdessen soll der Schein von Überlegenheit nach außen gewahrt werden. Man will sich als die wissenschaftliche Instanz inszenieren, als in theoretischen Fragen über die gesamte deutsche kommunistische Bewegung erhaben. So ist ihr Duktus („Marxismus-Leninismus gegen Revisionismus“) zu verstehen: Es ist der klägliche Versuch, die eigene theoretische und analytische Schwäche mit möglichst groß klingenden Wörtern zu kaschieren. Man will, kurz gesagt, nicht nur die kommunistische Bewegung, sondern auch die Arbeiterklasse über die eigenen Fähigkeiten (und die daraus resultierende unzureichende Wissenschaftlichkeit) anlügen.

Die Fraktionierer sollten ihr Vorhaben also ehrlicherweise in Erklärungsprozess umbenennen, um so nicht dem Anliegen eines tatsächlich ernstgemeinten Klärungsprozesses von unserer Seite zu schaden. Da es ihnen letztlich darum geht, sich genau wie jede andere deutsche kommunistische Kleingruppe als die Revolutionärsten darzustellen, als die, die das alles schon begriffen haben – im Gegensatz zu allen anderen! – und das nur noch allen anderen Kommunisten vermitteln wollen, kann man ihre Behauptung, ja auch einen Klärungsprozess zu wollen, getrost als Feigenblatt einordnen, das dazu dient, der Öffentlichkeit etwas vorzugaukeln.

Quo Vadis?

Auch ich weise natürlich in vielen Fragen inhaltliche Tendenzen auf, das zu leugnen wäre unehrlich. Es würde mich beispielsweise überraschen, wenn am Ende einer tiefgehenden Untersuchung Chinas herauskommen sollte, dass es sich heute um ein sozialistisches Land handelt. Das, was ich dazu gelesen habe (z.B. „Der Sozialismus – Der Untote des 21. Jahrhunderts“29 vom Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD und „Ökonomische Analyse Chinas“30 von Flegel/Geppert) sind gute Aufschläge, ich halte sie aber nicht für ausreichend, um daraus weitreichende Schlüsse zu ziehen. Dinge erst tiefgehend zu untersuchen, bevor wir unsere Haltung dazu öffentlich als unumstößlich präsentieren, bleibt unsere Aufgabe, weshalb wir natürlich auch hier ergebnisoffen in die Analyse gehen müssen. Es muss darum gehen, Sachen nicht nur zu glauben, sondern zu wissen.

In gegensätzliche Richtung läuft der von den Fraktionierern an den Tag gelegte Diskussionsstil, der Thesen von vornherein sprachlich abzuqualifizieren sucht, da man sich wohl erhofft, über diesen Weg keine inhaltliche Argumentation leisten zu müssen. Dies behindert aktiv eine Klärung der wichtigen Fragen. In den letzten Monaten wurden immer wieder Genossen mit den Worten angepöbelt, sie sollten, wenn sie vorläufig diese oder jene Haltung verträten doch als „Revisionisten“ direkt zur DKP gehen. Während wir gerade im letzten Jahr ein produktives, kritisch-solidarisches Verhältnis zur DKP suchten, war mit der DKP in Verbindung gebracht zu werden für die Fraktionierer eine Beleidigung – insgesamt diente ihnen die DKP als omnipräsentes Negativbeispiel, öffentlich gehen sie damit jedoch nicht ehrlich um. Dieses Verhalten ist gleich auf mehreren Ebenen eine Bankrotterklärung: Erstens ist Etikettieren natürlich kein inhaltliches Argument, zweitens vergiftet diese Art der Beschimpfung (die kommunistische Bewegung darf sich schon einmal darauf einstellen, von den Fraktionierern bei jeder zweiten Meinungsverschiedenheit wahlweise als Revisionisten, Opportunisten, Chauvinisten o.Ä. bezeichnet zu werden) den Diskurs, drittens offenbart es die Hochnäsigkeit und Selbstüberschätzung, mit der auf andere Teile der Bewegung geschaut wird – was sich ja auch international in der Respektlosigkeit niederschlägt, der absoluten Mehrheit der IKB zu unterstellen, nicht revolutionär orientiert zu sein – und viertens zeigt es, dass der Liberalismus doch tiefer sitzt, als man sich eingestehen will, wenn man sich wie in der deutschen kommunistischen Bewegung leider üblich privat vollkommen unsolidarisch (und meist um seine eigenen Schwächen zu kompensieren) über andere Organisationen lustig macht oder sie verächtlich abkanzelt.

Im Gegensatz zu den Fraktionierern will unsere Seite keine vorschnelle, einseitige Parteinahme in der IKB. Mir ist niemand in der Organisation bekannt, der nicht auch gute Beziehungen zu KKE, TKP und PCM will. Aber ich hätte gerne genauso gute Kontakte zur RKAP, der Ungarischen Arbeiterpartei, dem PRCF, der CPGB-ML und vielen weiteren Parteien und Organisationen. Als KO, die die wichtigen Fragen und Dissense der kommunistischen Bewegung aufarbeiten und einen Beitrag zu ihrer Klärung leisten will, hielte ich es für richtig, mit möglichst vielen kommunistischen und Arbeiterparteien in gutem Austausch zu sein. Gerade die Reibung unterschiedlicher Haltungen, der Abgleich und die Debatte von Positionierungen und Analysen macht den Umgang produktiv und gibt uns neue Ansätze, die dann wissenschaftlich aufgearbeitet werden können. Mit dem vorgeschlagenen Weg der Fraktionierer wird dies meines Erachtens jedoch nicht möglich sein – die Haltung soll durch Kampfabstimmung bestimmt und international verankert werden.

Die Vorstellung, man könnte die Krise der kommunistischen Bewegung national wie international dadurch beseitigen, sich einfach einem vermeintlich „revolutionären Pol“ zuzuordnen, halte ich für vollkommen fehlgeleitet. Andere kommunistische Kräfte werden nicht dadurch überzeugt werden, ihnen einfach oft genug vorzuwerfen, Revisionisten zu sein oder oberflächliche Begründungen dafür anzuführen, warum sie angeblich falsch liegen, sondern nur dadurch, ihnen eine stichhaltige Untersuchung vorzulegen, die den Sachverhalt klärt, welcher es auch immer sein mag. Die Welt ist erkennbar und Thesen beweis- oder widerlegbar. Wenn wir das ernst nehmen, bedarf es keiner fruchtlosen Meinungsschlacht, die die Klärung auf den Sankt Nimmerleinstag verschiebt. Im Gegenteil ist gerade diese Klärung der Schlüssel zur Überwindung der Krise, denn in ihr steckt die alles überragende Kraft der Wissenschaftlichkeit.

In diesem Sinn kann ich mich dem Leitantrag nur anschließen: „Die Vorstellung eines grundsätzlich revolutionären Pols geht von der Annahme aus, dass dieser bereits die Klarheit erreicht hätte, der es bedarf, um Antworten zu geben. Es ergab sich ein naives Vertrauen in die Äußerungen der KKE. Das, wofür die KO angetreten ist, dass Klärung erst erarbeitet und erreicht werden muss, wird damit auf den Kopf gestellt. Der „Klärungsprozess“ wird sinnentleert, indem er zum „Durchsetzungsprozess“ eines vermeintlich revolutionären Pols gemacht wird. Der darin liegende Irrweg ist sicher auch deshalb so verführerisch, weil er offensichtlich der einfachere Weg ist. In ihm steckt sowohl die Hoffnung auf eine höhere Instanz, die es schon durchdrungen haben wird, als auch das Abgeben der Verantwortung, selbst eine Beurteilung vornehmen zu können.“31

Die Geduld aufzubringen, den beschwerlichen, intensiven und langwierigen Prozess der wissenschaftlichen Klärung mit der kommunistischen Bewegung national wie international die nächsten Jahre zu organisieren, um dadurch endlich Schritte zur Überwindung der Krise der kommunistischen Bewegung gehen zu können und zur Schaffung einer Kommunistischen Partei in Deutschland zu kommen ist unsere revolutionäre Pflicht.

Wir werden auf diesem Weg nicht wanken!

1https://kommunistische-organisation.de/diskussion-ausserordentlicher-kongress/stellungnahme-der-ehemaligen-zl-minderheit/

2https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2019/08/KO-2VV-Inter_Resolution_public_fin.pdf

3https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2022/12/Antrag_Minderheit_Resolution-nicht-unser-Krieg.pdf

4Das Dokument, das ich dazu ausgearbeitet habe, muss leider intern bleiben, da hier Einschätzungen über Haltungen kommunistischer Parteien getroffen werden, die uns nur als Arbeitsgrundlage dienen können. Weil einige Parteien sich nicht klar dazu äußern (vielleicht auch, um Repression zu vermeiden), ich ihnen keine Haltung unterstellen will und die Parteien generell nur für sich selber sprechen können, veröffentliche ich an dieser Stelle den zugehörigen über 170 Seiten starken Reader, in dem sich alle Texte, die ich als Quellen im Dokument benutzt habe, als DeepL- und Google-Übersetzung finden (sofern sie nicht schon auf Deutsch verfügbar waren). Die Parteien der INITIATIVE, bei denen die Haltung weitläufig bekannt ist (KKE, PdA) oder bei denen keine Haltung auffindbar war, sind im Reader nicht enthalten. Hier ist der Reader.

5Beschluss der 4. Vollversammlung, der den Fraktionierern von Anfang an ein Dorn im Auge war. Siehe: https://kommunistische-organisation.de/allgemein/beschluss-zur-klaerung-der-imperialismus-und-kriegsfrage/

6https://wap21.org/?p=184

7https://wap21.org/?p=182

8http://kss.sk/rodi-sa-multipolarny-svet

9https://wap21.org/?p=566

10http://www.newworker.org/statements/statements2022/js202203/victory_to_the_anti_fascist_forces_of_donbass_and_their_allies.html

11https://wap21.org/?p=182

12https://kommunistische-organisation.de/allgemein/es-kann-keinen-frieden-mit-faschisten-geben/

13http://www.solidnet.org/article/Russian-CWP–00006/

14http://s-kps.by/gazeta-vernost-2-152-2022.html/

15z.B. http://solidnet.org/article/Union-of-Communists-of-Ukraine-/

16https://un-comm-ukr.ucoz.ru/publ/9-1-0-1688

17http://rezistenta.info/programa/1372-zayavlenie-marksistskogo-dvizheniya-narodnoe-soprotivlenie-v-svyazi-s-nachalom-voyny-na-ukraine.html

18http://skpkpss.ru/novosti-ekpg-zayavlenie-ekp-gruzii-2/

19http://www.solidnet.org/article/22nd-IMCWP-Contribution-by-the-Hungarian-WP/

20https://nkpj.org.rs/2021/04/23/nkpj-predala-zahtev-vucicu-za-podizanje-biste-si-dinpingu/

21https://wap21.org/?p=2036

22https://wap21.org/?p=182

23http://www.solidnet.org/article/Russian-CWP–00013/

24https://wap21.org/?p=176

25z.B. http://solidnet.org/article/CP-of-Greece-Written-Contribution-of-the-CP-of-Greece-at-the-3rd-International-Ideological-Seminar-of-the-CP-of-Venezuela/ und zur Faschismus-Definition schreibt die RKAP an die KKE: „Es ist seltsam, überraschend und sogar schmerzhaft, Ihre Aussage zu hören, dass sich Dimitroffs Definition als angeblich unhaltbar erwiesen hat. Das ist aus unserer Sicht nicht nur Ihr großer Fehler, sondern Ihr Ärger! Schließlich leugnen Sie nicht nur die bestehende wissenschaftliche Definition, Sie bleiben überhaupt ohne Definition. Sie geben trotz unserer bereits langjährigen Diskussion keine Definition von Faschismus.“ (https://kommunistische-organisation.de/dossier/rkap-iii-zur-prinzipiellen-position-der-rkap-in-fragen-der-beziehungen-zur-kke-und-bewertung-der-lage-und-militaeroperationen-in-der-ukraine-und-im-donbass/)

26http://www.solidnet.org/article/22nd-IMCWP-RESOLUTION-on-the-imperialist-war-on-the-territory-of-Ukraine/

27http://www.solidnet.org/article/22nd-IMCWP-The-Struggle-Against-USA-and-NATO-Imperialism-which-Seek-World-Hegemony-is-the-Key-Task-of-the-Progressive-Forces/

28Ich schreibe hier „genug“, weil die drei genannten intern gerne noch um einige Parteien mehr ergänzt werden, die in wesentlichen Fragen denselben oder einen sehr ähnlichen Standpunkt einnehmen.

29https://verlagdasfreiebuch.kommega.de/der-sozialismus-der-untote-des-21-jahrhunderts/

30http://www.k-p-d-online.de/images/daten/dokumente/oekonomische-analyse-chinas_zk-der-kpd.pdf

31https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2022/12/ZL_LeitantragaKO.pdf

Ankündigung zur Einleitung von Ausschlussverfahren gegen die Initiatoren einer Fraktionierung innerhalb der KO

0

Hiermit geben wir bekannt, dass wir ein Ausschlussverfahren gegen die Initiatoren einer Fraktionierung in der KO eingeleitet haben.

Der Hintergrund ist die weitere Zuspitzung der bereits eingetretenen Situation der Spaltung. Es hat sich eine Gruppe innerhalb der KO herausgebildet die sich eine eigene Beschlussdisziplin gegeben hat, sich dementsprechend der geltenden Beschlusslage widersetzt und sich zudem als alternative Leitung der Organisation präsentiert.

Zuletzt hat diese Gruppe die Zersetzung der Organisation dadurch auf ein noch höheres Level getrieben, dass sie die Kommunikationsstrukturen der Leitung gekapert und sich zugleich einen Außenauftritt durch die Ermächtigung über die (mittlerweile ehemalige) Website der KO verschafft hat.

Als Leitung sehen wir die Notwendigkeit der Einleitung eines Ausschlussverfahrens gegen die führenden Köpfe dieser Fraktionsbildung gegeben. Eine weitere Tolerierung dieser Fraktion kann nicht gerechtfertigt werden und erzeugt immer größeren Schaden für die Organisation.

Uns ist bewusst, dass wir uns damit in den Widerspruch bewegen, dass die Anhänger des fraktionierten Teils dieses Verfahren nicht anerkennen werden. Der Machtkampf, den sie um ihre Fraktionierung ausgelöst haben, wird an dieser Stelle sehr gut sichtbar. Wir haben auch auf unserer Seite eine Zurückhaltung bei diesem eigentlich völlig logischen und gerechtfertigten Schritt beobachtet. Die Befürchtung bestand, dass die Ausschlüsse als Mittel zum Zweck der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse auf dem anstehenden außerordentlichen Kongress verstanden werden könnten. Das ist nicht der Hintergrund der Ausschlüsse und wir lehnen es ab, uns durch diese Darstellung unter Druck setzen zu lassen. Es würde bedeuten, dass wir uns als Leitung der Organisation den Vorwurf machen müssten, die Organisation trotz dem schweren Vergehen einer Fraktionierung, die dafür vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten nicht angewendet zu haben. Die Kapitulation vor der Zerstörung der Organisation, wäre genauso ein Verstoß gegen unsere Prinzipien.

Schließlich müssen wir Selbstkritik an dieser Stelle üben. Ausgehend von einem inzwischen entwickelteren Reflexionsprozess haben wir als Leitung Fehler festgestellt, die wir im Zusammenhang mit der Fraktionsbildung gemacht haben. Im wesentlichen besteht unser Fehlverhalten darin, durch faktische Kompromisse, eine Legitimationsgrundlage für die Existenz der Fraktion zu gewähren. Außerdem haben wir an einigen Stellen zu spät realisiert, welche Art von Zersetzungsprozess in der Organisation vor sich geht. Dementsprechend haben wir teilweise zu spät gehandelt.

Eine weitergehende Einordnung und Begründung der Ausschlüsse wird in Kürze an dieser Stelle erscheinen. Wir wollen damit einer konsequenten Umsetzung der Organisationsprinzipien gerecht werden. Insbesondere sehen wir diesen Schritt als notwendige Voraussetzung, um die Reflexion und Bewusstwerdung der eingetretenen Situation zu fördern.

Zentrale Leitung der KO

Ankündigung zur Einleitung von Ausschlussverfahren gegen die Initiatoren einer Fraktionierung innerhalb der KO

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Hiermit geben wir bekannt, dass wir ein Ausschlussverfahren gegen die Initiatoren einer Fraktionierung in der KO eingeleitet haben.

Der Hintergrund ist die weitere Zuspitzung der bereits eingetretenen Situation der Spaltung. Es hat sich eine Gruppe innerhalb der KO herausgebildet die sich eine eigene Beschlussdisziplin gegeben hat, sich dementsprechend der geltenden Beschlusslage widersetzt und sich zudem als alternative Leitung der Organisation präsentiert.

Zuletzt hat diese Gruppe die Zersetzung der Organisation dadurch auf ein noch höheres Level getrieben, dass sie die Kommunikationsstrukturen der Leitung gekapert und sich zugleich einen Außenauftritt durch die Ermächtigung über die (mittlerweile ehemalige) Website der KO verschafft hat.

Als Leitung sehen wir die Notwendigkeit der Einleitung eines Ausschlussverfahrens gegen die führenden Köpfe dieser Fraktionsbildung gegeben. Eine weitere Tolerierung dieser Fraktion kann nicht gerechtfertigt werden und erzeugt immer größeren Schaden für die Organisation.

Uns ist bewusst, dass wir uns damit in den Widerspruch bewegen, dass die Anhänger des fraktionierten Teils dieses Verfahren nicht anerkennen werden. Der Machtkampf, den sie um ihre Fraktionierung ausgelöst haben, wird an dieser Stelle sehr gut sichtbar. Wir haben auch auf unserer Seite eine Zurückhaltung bei diesem eigentlich völlig logischen und gerechtfertigten Schritt beobachtet. Die Befürchtung bestand, dass die Ausschlüsse als Mittel zum Zweck der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse auf dem anstehenden außerordentlichen Kongress verstanden werden könnten. Das ist nicht der Hintergrund der Ausschlüsse und wir lehnen es ab, uns durch diese Darstellung unter Druck setzen zu lassen. Es würde bedeuten, dass wir uns als Leitung der Organisation den Vorwurf machen müssten, die Organisation trotz dem schweren Vergehen einer Fraktionierung, die dafür vorgesehenen Sanktionsmöglichkeiten nicht angewendet zu haben. Die Kapitulation vor der Zerstörung der Organisation, wäre genauso ein Verstoß gegen unsere Prinzipien.

Schließlich müssen wir Selbstkritik an dieser Stelle üben. Ausgehend von einem inzwischen entwickelteren Reflexionsprozess haben wir als Leitung Fehler festgestellt, die wir im Zusammenhang mit der Fraktionsbildung gemacht haben. Im wesentlichen besteht unser Fehlverhalten darin, durch faktische Kompromisse, eine Legitimationsgrundlage für die Existenz der Fraktion zu gewähren. Außerdem haben wir an einigen Stellen zu spät realisiert, welche Art von Zersetzungsprozess in der Organisation vor sich geht. Dementsprechend haben wir teilweise zu spät gehandelt.

Eine weitergehende Einordnung und Begründung der Ausschlüsse wird in Kürze an dieser Stelle erscheinen. Wir wollen damit einer konsequenten Umsetzung der Organisationsprinzipien gerecht werden. Insbesondere sehen wir diesen Schritt als notwendige Voraussetzung, um die Reflexion und Bewusstwerdung der eingetretenen Situation zu fördern.

Zentrale Leitung der KO

„Russland ist unser Feind“: Das Klärungsverständnis der Fraktionierer wird praktisch aufgezeigt

Von Alexander Kiknadze

Ich will hier kurz auf den Text von Marc Galwas eingehen. Ich möchte darauf eingehen, wie der Text mit Verdrehungen von Fakten und Klassikern arbeitet, damit die Aussagen, die der Autor treffen will, instrumentalisierbar sind. Ergebnis seiner Arbeit ist eine exakte Apologetik der NATO-Propaganda über Russland und eine Relativierung des deutschen Faschismus. Zur politischen Bedeutung einer solchen Veröffentlichung in einer Zeit, in der Deutschland Krieg gegen Russland führt, ist im Kommentar der Zentralen Leitung alles gesagt.

Behauptung 1: Russland könne nicht gegen die NATO kämpfen, weil es ein arbeiterfeindlicher Staat sei

Dem Autor ist es zuerst daran gelegen, die Argumentation von Genossen zu entkräften, nach der es zwischen dem russischen Staat und seiner Arbeiterklasse trotz kapitalistischer Gesellschaftsformation eine Interessensüberschneidung im Kampf gegen die NATO gebe. Laut Galwas kämpfe Russland nämlich gar nicht wirklich gegen die NATO. Diese Behauptung wird nicht belegt, stattdessen führt er ausführlich Repressionsmaßnahmen des russischen Staates gegen die liberale, linke und gewerkschaftliche Opposition auf (Der repressierte Gewerkschafter Kirill Ukrainzew, den der Autor für seine Argumentation heranzieht, hat sich übrigens vor kurzem öffentlich dagegen verwehrt, von Leuten, die die Militäroperation ablehnen, vereinnahmt zu werden. https://colonelcassad.livejournal.com/8047922.html)

Galwas schlussfolgert, ohne überhaupt auf den Gehalt der Argumentation einzugehen, die er widerlegen möchte, dass Russland ein arbeiterfeindlicher Staat sei und es deshalb auch keine partiellen Interessensüberschneidungen mit der Arbeiterklasse geben könne. Sein „Argument“ kommt also ganz ohne eine Befassung des Verhältnisses zwischen Russland und NATO aus, obwohl er doch der Frage nachgeht, ob Russland gegen die NATO kämpfe und es dabei eine Interessensüberschneidung gäbe. Dafür interessiert sich der Autor aber überhaupt nicht, sondern arbeitet lieber mit der nicht nachgewiesenen Unterstellung, dass kapitalistische Staaten grundsätzlich keine partiellen Interessensüberschneidungen mit ihrer Arbeiterklasse hinsichtlich der Verteidigung der nationalen Souveränität haben könnten.

Diese Herangehensweise ist keineswegs ein Ausrutscher, sondern notwendiges Mittel, um zu einem Ergebnis zu kommen, das bereits vor der Untersuchung feststeht. Ein Paradebeispiel für die Argumentation der Fraktionierer der KO: Unterstellen, dass ihre grundsätzlichen Annahmen schon richtig sind, sodass eine Befassung mit den konkreten Interessen der Staaten und der Bedeutung dieser Interessen für die Arbeiterklasse gar nicht mehr nötig ist.

Zum ausschlaggebenden Argument wird die sogenannte Protestwelle von 2021 in Russland. Dort sei es vor allem um Widerstand gegen die Preissteigerungen und die Rentenreform gegangen, legitime Forderungen der Arbeiterklasse also. Dankenswerterweise fällt dem Autor selbst noch auf, dass der stramm rechte Lieblingsblogger des Westens Alexej Nawalny an der Spitze dieser Proteste stand. „darum gehe es aber hier nicht“, so Galwas. Auch hier zeigt sich, dass ihn der politische Inhalt der Auseinandersetzung überhaupt nicht interessiert, da er an der Befassung mit dieser Auseinandersetzung ein ganz anderes Interesse hat: Sie als Beleg für den arbeiterfeindlichen Charakter der Russischen Föderation (RF)heranzuziehen. Dass er dabei sogar die in der BILD-Zeitung abgedruckte Erzählung von „Putins goldener Klobürste“ als Beleg für die „zum Himmel schreiende Korruption“ heranzieht, ist dann das traurige Resultat dieser „Befassung“.

Behauptung 2: Das russische Staatswesen seit 2000 könne als Bonapartismus charakterisiert werden

Die Summe seiner Erkenntnisse bringt der Autor dann damit auf den Nenner, dass in Putins Russland ein bonapartistisches Regime herrsche, eine gern auch von Antideutschen (https://jungle.world/artikel/2022/43/putin-bonaparte) propagierte Charakterisierung der russischen Politik seit 2000. Dabei setzt sich Galwas nicht etwa mit dem Bonapartismus, den Marx in seinem Text „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ beschreibt, auseinander und arbeitet Parallelen zu den Klassenverhältnissen im heutigen Russland heraus. Er bezieht sich dagegen auf die Interpretation des Originaltextes von der Vereinigten Kommunistischen Partei Russlands (VKPR), nach der der Bonapartismus „im Wesentlichen darauf [abziele], ein Gleichgewicht zwischen den (sic!) starken linken und rechten Flügel der öffentlichen Politik aufrechtzuerhalten“. Das geht für Galwas so in Ordnung, denn: Der Bezug auf den Bonapartismus bezweckt hier überhaupt nicht, die heutigen Klassenverhältnisse in Russland und ihr Verhältnis zum Staat zu verstehen. Das wäre in der Tat eine interessante Befassung. Galwas geht es aber um etwas ganz Anderes, nämlich darum, Russlands „autoritären Charakter“ zu „entlarven“. Dies ist der Zweck, für den er den Klassiker instrumentalisiert. Und für eine solche Instrumentalisierung braucht es nicht etwa eine gehaltvolle und elaborierte Auseinandersetzung mit dem Original, sondern eine Interpretation dessen, die für das, was man entlarven will, eben passt.

Das ist es nicht, was ich mir als Unterstützer des Leitantrags und der darin formulierten Klärung  unter einer produktiven Anwendung der Klassiker für ein Verständnis der heutigen Klassenverhältnisse vorstelle.

Behauptung 3: Die russische Außenpolitik könne mit der der Okkupationspolitik der deutschen Faschisten in den (Ex-)Sowjetrepubliken verglichen werden.

Zuletzt befasst sich der Autor mit der Außenpolitik der RF, speziell in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Auch diese Auseinandersetzung kommt ohne Befassung mit den konkreten Interessen in diesen Gebieten und deren Folgen für die dortigen Bevölkerungen aus, sondern verfolgt ausschließlich den Zweck, anhand von Zitaten russischer Strategen aufzuzeigen, dass es ihnen dort um Ansprüche geht. So, als würde dies irgendjemand abstreiten und so, also sei mit diesem einfachen Fakt schon das bestätigt, was dem Autor sowieso klar sei: Nämlich dass solche Ansprüche definitiv nicht im Interesse der dortigen Bevölkerungen sein könnten. Eine wirkliche Befassung mit den (positiven wie negativen) Folgen der russischen Interventionen in Georgien, Tschetschenien, Syrien und Ukraine braucht es für diese Art Nachweis gar nicht. Es ist allein die simple Logik, dass die Ansprüche kapitalistischer Staaten auf ein ausländisches Territorium immer gegen das Interesse der dortigen Bevölkerung stehen müssen. Und ist diese einfache Verallgemeinerung einmal vorausgesetzt, dann ist es nur noch ein letzter Schritt zum abscheulichen Höhepunkt seines Textes, nämlich der Aussage, dass die russische Außenpolitik in den ehemaligen Sowjetrepubliken mit der Okkupationspolitik der deutschen Faschisten vergleichbar ist:

„Hier geht es also um die Heimholung abtrünniger Regionen und Staaten. Das „Sammeln“, der mit dem Zusammenbruch der UdSSR verlorenen „Ostgebiete“, um es mal auf „deutsch“ zu sagen.

Schluss

Dieser Text hat nichts zu tun mit einer kommunistischen Analyse. Er ist das Resultat völligen Desinteresses an den tatsächlichen Verhältnissen in Russland und der Weltlage. Wenn Klassiker bemüht werden, dann indem sie interessiert interpretiert oder aus dem Kontext gerissen werden. Wenn Fakten genutzt werden, dann indem sie verdreht werden. Galwas schreckt nicht davor zurück, bürgerlichen und reaktionären Ideologen das Wort zu reden, während Kriegspropaganda und Mobilmachung immer bedrohlichere Ausmaße annehmen. Es hat nichts mit Klärung zu tun, sondern im Gegenteil zeigt uns Galwas auf eindrückliche Weise wie Klärung im Lager der Fraktionierer zu verstehen ist: Es geht um Selbstbestätigung ohne jeglichen politischen Anspruch. Eigentlich müssen wir Galwas und den anderen Fraktionierern dankbar sein, das für alle sichtbar zu Schau zu stellen.

„Russland ist unser Feind“: Das Klärungsverständnis der Fraktionierer wird praktisch aufgezeigt

Von Alexander Kikidnaze

Ich will hier kurz auf den Text von Marc Galwas eingehen. Ich möchte darauf eingehen, wie der Text mit Verdrehungen von Fakten und Klassikern arbeitet, damit die Aussagen, die der Autor treffen will, instrumentalisierbar sind. Ergebnis seiner Arbeit ist eine exakte Apologetik der NATO-Propaganda über Russland und eine Relativierung des deutschen Faschismus. Zur politischen Bedeutung einer solchen Veröffentlichung in einer Zeit, in der Deutschland Krieg gegen Russland führt, ist im Kommentar der Zentralen Leitung alles gesagt.

Behauptung 1: Russland könne nicht gegen die NATO kämpfen, weil es ein arbeiterfeindlicher Staat sei

Dem Autor ist es zuerst daran gelegen, die Argumentation von Genossen zu entkräften, nach der es zwischen dem russischen Staat und seiner Arbeiterklasse trotz kapitalistischer Gesellschaftsformation eine Interessensüberschneidung im Kampf gegen die NATO gebe. Laut Galwas kämpfe Russland nämlich gar nicht wirklich gegen die NATO. Diese Behauptung wird nicht belegt, stattdessen führt er ausführlich Repressionsmaßnahmen des russischen Staates gegen die liberale, linke und gewerkschaftliche Opposition auf (Der repressierte Gewerkschafter Kirill Ukrainzew, den der Autor für seine Argumentation heranzieht, hat sich übrigens vor kurzem öffentlich dagegen verwehrt, von Leuten, die die Militäroperation ablehnen, vereinnahmt zu werden. https://colonelcassad.livejournal.com/8047922.html)

Galwas schlussfolgert, ohne überhaupt auf den Gehalt der Argumentation einzugehen, die er widerlegen möchte, dass Russland ein arbeiterfeindlicher Staat sei und es deshalb auch keine partiellen Interessensüberschneidungen mit der Arbeiterklasse geben könne. Sein „Argument“ kommt also ganz ohne eine Befassung des Verhältnisses zwischen Russland und NATO aus, obwohl er doch der Frage nachgeht, ob Russland gegen die NATO kämpfe und es dabei eine Interessensüberschneidung gäbe. Dafür interessiert sich der Autor aber überhaupt nicht, sondern arbeitet lieber mit der nicht nachgewiesenen Unterstellung, dass kapitalistische Staaten grundsätzlich keine partiellen Interessensüberschneidungen mit ihrer Arbeiterklasse hinsichtlich der Verteidigung der nationalen Souveränität haben könnten.

Diese Herangehensweise ist keineswegs ein Ausrutscher, sondern notwendiges Mittel, um zu einem Ergebnis zu kommen, das bereits vor der Untersuchung feststeht. Ein Paradebeispiel für die Argumentation der Fraktionierer der KO: Unterstellen, dass ihre grundsätzlichen Annahmen schon richtig sind, sodass eine Befassung mit den konkreten Interessen der Staaten und der Bedeutung dieser Interessen für die Arbeiterklasse gar nicht mehr nötig ist.

Zum ausschlaggebenden Argument wird die sogenannte Protestwelle von 2021 in Russland. Dort sei es vor allem um Widerstand gegen die Preissteigerungen und die Rentenreform gegangen, legitime Forderungen der Arbeiterklasse also. Dankenswerterweise fällt dem Autor selbst noch auf, dass der stramm rechte Lieblingsblogger des Westens Alexej Nawalny an der Spitze dieser Proteste stand. „darum gehe es aber hier nicht“, so Galwas. Auch hier zeigt sich, dass ihn der politische Inhalt der Auseinandersetzung überhaupt nicht interessiert, da er an der Befassung mit dieser Auseinandersetzung ein ganz anderes Interesse hat: Sie als Beleg für den arbeiterfeindlichen Charakter der Russischen Föderation (RF)heranzuziehen. Dass er dabei sogar die in der BILD-Zeitung abgedruckte Erzählung von „Putins goldener Klobürste“ als Beleg für die „zum Himmel schreiende Korruption“ heranzieht, ist dann das traurige Resultat dieser „Befassung“.

Behauptung 2: Das russische Staatswesen seit 2000 könne als Bonapartismus charakterisiert werden

Die Summe seiner Erkenntnisse bringt der Autor dann damit auf den Nenner, dass in Putins Russland ein bonapartistisches Regime herrsche, eine gern auch von Antideutschen (https://jungle.world/artikel/2022/43/putin-bonaparte) propagierte Charakterisierung der russischen Politik seit 2000. Dabei setzt sich Galwas nicht etwa mit dem Bonapartismus, den Marx in seinem Text „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ beschreibt, auseinander und arbeitet Parallelen zu den Klassenverhältnissen im heutigen Russland heraus. Er bezieht sich dagegen auf die Interpretation des Originaltextes von der Vereinigten Kommunistischen Partei Russlands (VKPR), nach der der Bonapartismus „im Wesentlichen darauf [abziele], ein Gleichgewicht zwischen den (sic!) starken linken und rechten Flügel der öffentlichen Politik aufrechtzuerhalten“. Das geht für Galwas so in Ordnung, denn: Der Bezug auf den Bonapartismus bezweckt hier überhaupt nicht, die heutigen Klassenverhältnisse in Russland und ihr Verhältnis zum Staat zu verstehen. Das wäre in der Tat eine interessante Befassung. Galwas geht es aber um etwas ganz Anderes, nämlich darum, Russlands „autoritären Charakter“ zu „entlarven“. Dies ist der Zweck, für den er den Klassiker instrumentalisiert. Und für eine solche Instrumentalisierung braucht es nicht etwa eine gehaltvolle und elaborierte Auseinandersetzung mit dem Original, sondern eine Interpretation dessen, die für das, was man entlarven will, eben passt.

Das ist es nicht, was ich mir als Unterstützer des Leitantrags und der darin formulierten Klärung  unter einer produktiven Anwendung der Klassiker für ein Verständnis der heutigen Klassenverhältnisse vorstelle.

Behauptung 3: Die russische Außenpolitik könne mit der der Okkupationspolitik der deutschen Faschisten in den (Ex-)Sowjetrepubliken verglichen werden.

Zuletzt befasst sich der Autor mit der Außenpolitik der RF, speziell in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Auch diese Auseinandersetzung kommt ohne Befassung mit den konkreten Interessen in diesen Gebieten und deren Folgen für die dortigen Bevölkerungen aus, sondern verfolgt ausschließlich den Zweck, anhand von Zitaten russischer Strategen aufzuzeigen, dass es ihnen dort um Ansprüche geht. So, als würde dies irgendjemand abstreiten und so, also sei mit diesem einfachen Fakt schon das bestätigt, was dem Autor sowieso klar sei: Nämlich dass solche Ansprüche definitiv nicht im Interesse der dortigen Bevölkerungen sein könnten. Eine wirkliche Befassung mit den (positiven wie negativen) Folgen der russischen Interventionen in Georgien, Tschetschenien, Syrien und Ukraine braucht es für diese Art Nachweis gar nicht. Es ist allein die simple Logik, dass die Ansprüche kapitalistischer Staaten auf ein ausländisches Territorium immer gegen das Interesse der dortigen Bevölkerung stehen müssen. Und ist diese einfache Verallgemeinerung einmal vorausgesetzt, dann ist es nur noch ein letzter Schritt zum abscheulichen Höhepunkt seines Textes, nämlich der Aussage, dass die russische Außenpolitik in den ehemaligen Sowjetrepubliken mit der Okkupationspolitik der deutschen Faschisten vergleichbar ist:

„Hier geht es also um die Heimholung abtrünniger Regionen und Staaten. Das „Sammeln“, der mit dem Zusammenbruch der UdSSR verlorenen „Ostgebiete“, um es mal auf „deutsch“ zu sagen.

Schluss

Dieser Text hat nichts zu tun mit einer kommunistischen Analyse. Er ist das Resultat völligen Desinteresses an den tatsächlichen Verhältnissen in Russland und der Weltlage. Wenn Klassiker bemüht werden, dann indem sie interessiert interpretiert oder aus dem Kontext gerissen werden. Wenn Fakten genutzt werden, dann indem sie verdreht werden. Galwas schreckt nicht davor zurück, bürgerlichen und reaktionären Ideologen das Wort zu reden, während Kriegspropaganda und Mobilmachung immer bedrohlichere Ausmaße annehmen. Es hat nichts mit Klärung zu tun, sondern im Gegenteil zeigt uns Galwas auf eindrückliche Weise wie Klärung im Lager der Fraktionierer zu verstehen ist: Es geht um Selbstbestätigung ohne jeglichen politischen Anspruch. Eigentlich müssen wir Galwas und den anderen Fraktionierern dankbar sein, das für alle sichtbar zu Schau zu stellen.

Zur „multipolaren Weltordnung“

Von Marc Galwas

Vorbemerkung der Zentralen Leitung der KO:

Dieser Artikel von Marc Galwas wurde von den Fraktionierern in der KO am 23.12. unkommentiert auf der von ihnen okkupierten alten Website der KO veröffentlicht. Die ZL hatte die Veröffentlichung bereits geplant, allerdings mit einer Einordnung. Dies nehmen wir hiermit vor. Alexander Kikidnaze hat außerdem einen kurzen kritischen Kommentar (LINK) zu dem Text verfasst. Galwas‘ Text arbeitet mit der Verdrehung von Fakten und Klassikern, damit sie für die Annahmen, die der Autor hat, als Belege instrumentalisiert werden können. Das Resultat dieser Verdrehungen ist, dass der Artikel die NATO-Propaganda textgenau reproduziert und am Ende den deutschen Faschismus relativiert. Die Veröffentlichung eines solchen Artikels generell, insbesondere aber in einer Zeit, in der Deutschland Krieg gegen Russland führt, ist eine Parteinahme für unseren Gegner und zeigt, welche politischen Haltungen von der fraktionierten Minderheit nicht nur geduldet, sondern sogar mit Veröffentlichungen gefördert werden. Es ist genau diese Art von verdrehenden und im Ergebnis apologetischen Texten, die wir meinen, wenn wir in unserem Leitantrag schreiben: „Unser strategischer Hauptfeind, der deutsche Imperialismus, führt aktiv Krieg gegen Russland. In einer solchen Situation leichtfertig eine Position zu vertreten, die den Gegner der BRD zum Imperialisten erklärt und seine Handlungen als imperialistisch verurteilt, genau wie es unsere Herrschenden tun, ist brandgefährlich! Es mag sein, dass diese Sicht richtig ist. Doch weil die Konsequenzen fatal wären, wenn diese Sicht sich als falsch erweist und wir sie jetzt, sozusagen ‚vorläufig‘, trotzdem propagieren, müssen wir die Klärung in dieser Situation umso ernster nehmen und an den Anfang stellen!“

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INHALT

Russland

Zu Russlands Innenverfasstheit

Zur Russlands Außenpolitik

Zwischenfazit

China

Chinas Außenpolitik der 1960er Jahre bis zur Konterrevolution 1989/91: konterrevolutionär, antisowjetisch, nationalistisch

Vietnam / Kambodscha

Afghanistan

Pakistan

Afrika

Zwischenfazit

Chinas imperialistische Außenpolitik heute

Pakistan

Sudan

Kasachstan

Usbekistan

Turkmenistan

Die 9-Strich-Linie

Schlussbemerkungen

In unserer Diskussion um den Krieg in der Ukraine und um die Dissense in der internationalen kommunistischen Bewegung schwingt mit – auch wenn das nicht von allen Beteiligten offen ausgesprochen wird, oder manch einer dies für sich auch (noch) nicht explizit formuliert hat – die Frage des Strebens Russlands und Chinas nach einer „multipolaren Weltordnung“ und wie sich die Kommunisten dazu zu stellen haben. Am weitesten lehnen sich in Deutschland bei der Bewertung DKP und Rotfuchs hinaus, die für sich die Frage anscheinend beantwortet haben: dieses Streben der beiden Staaten für fortschrittlich einstufen und dafür plädieren dieses Streben zu unterstützen, um die Hegemonie des (westlichen) Imperialismus zu brechen.

In unserer Diskussion wird meist darauf abgehoben, dass das Streben Russlands (und Chinas?) der Aggressivität des imperialistischen Hegemon (USA) und seiner Verbündeten (EU, UK und einige andere) entgegen stehe, ihm gewissermaßen Paroli biete, damit dessen Aggressivität begrenze und somit schließlich (auch) der internationalen Arbeiterklasse zugutekäme. Bisweilen wird von Einzelnen (Klara Bina) sogar eingefordert, dass die kommunistische Bewegung sich für ein deutlicheres militärisches Engagement Russlands auch in anderen Teilen der Welt einsetzen solle[1].

Ist das so? Sollten sich die Kommunisten hinter China und Russland stellen? Ist die Forderung nach einer „multipolaren Weltordnung“ fortschrittlich? Und zugespitzt formuliert: sind die Außenpolitiken Russlands und Chinas fortschrittlich?

Ich will mich an dieser Stelle nicht damit aufhalten, nachzuweisen, dass Russland (und China) imperialistisch ist. Das wurde an anderer Stelle und zu genüge getan.[2] Ich will auch nicht auf das leninsche Imperialismusverständnis und deren adäquate moderne Widerspiegelung im Bild der imperialistischen Pyramide eingehen (siehe z.B. Podcast mit Lucas Zeise[3], die Beiträge der SKP[4], die zahlreichen Artikel und Analysen der KKE[5][6][7]). Worum es mir geht, ist, einen kritischen Blick dafür zu öffnen, womit wir es zu tun haben, wenn wir über die Außenpolitiken Russlands und Chinas sprechen. Hierzu habe ich zahlreiche Analysen und Aussagen, vor allem von Kommunistischen Parteien, gesichtet und werde z.T. ausführlich deren Erfahrungen und Positionen wiedergeben. Das entbindet uns natürlich nicht davon, weiter in die Materie vorzustoßen und marxistische Analysen heranzuziehen, um ein adäquates Bild zu erlangen.

Russland

Zu Russlands Innenverfasstheit

In einem Diskussionsbeitrag in der UZ – Zeitung der DKP äußert sich ein Genosse kritisch zu den Ergebnissen ihres letzten Parteitages. Auf diesem Parteitag hat sich die DKP ebenfalls mit der Bewertung des Ukrainekrieges beschäftigt und versucht, ihren Dissens in der Frage zu überwinden. Sie stellt sich in ihrem Beschluss nun eindeutig auf die Seite der Verteidiger der russischen Außenpolitik und meint festhalten zu können, „Auch Russland ist ein Staat, in dem die Bourgeoisie die Macht hat. Sie hat aber mit der Arbeiterklasse das Interesse gemein, dass Russland der Bedrohung durch die NATO widersteht.“ – eine Position, die auch in unseren Reihen so anzutreffen ist.

Der Diskussionsteilnehmer Reiner Wolf schreibt hierzu: „einen solch apodiktischen Satz zu formulieren, ist schwer verdaulich“ und fragt: „Hätte man sich nicht etwas mehr mit der russischen Realität, den Lebens- und Arbeitsbedingungen der russischen Kolleginnen und Kollegen beschäftigten müssen? Ein Blick auf die Internetseite LabourNet.de lohnt sich für jede Genossin, jeden Genossen: Verhaftungen von Gewerkschaftsvorsitzenden, Verbot von Gewerkschaften, elende Arbeitsbedingungen mit 12-Stunden-Schichten, zahlreiche Todesfälle wegen nicht vorhandener beziehungsweise nicht eingehaltener Arbeitsschutzmaßnahmen in den Fabriken. Manchesterkapitalismus nannte man einmal solche Verhältnisse.“[8]

Einmal muss man sich natürlich fragen, wie es der Genosse Reiner Wolf in seinem Diskussionsbeitrag tut, ob man, wenn man die russische Außenpolitik betrachtet, die Innenpolitik ausblenden kann. Der Genosse hat natürlich vollkommen Recht, wenn er auf die Beispiele der Repression und Ausbeutung der russischen Arbeiterklasse verweist und empfiehlt einen Blick ins LabourNet zu tun. Auch bin ich ihm dankbar für seinen Hinweis auf den folgenden Fakt, der mir bis dato unbekannt war,: „Am 31. Dezember 1993 berichtete das „Neue Deutschland“: „Wladimir Putin, 2. Bürgermeister von St. Petersburg (…), hat vor deutschen Wirtschaftsvertretern deutlich gemacht, dass eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild die für Russland wünschenswerte Lösung der gegenwärtigen politischen Probleme wäre. (…) Putin antwortete auf Fragen von Vertretern von BASF, Dresdner Bank, Alcatel und anderen (…). Dabei unterschied Putin zwischen ‚notwendiger‘ und ‚krimineller‘ Gewalt. Kriminell sei politische Gewalt, wenn sie auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse abziele, ‚notwendig‘, wenn sie private Kapitalinvestitionen befördere oder schütze.“[9]

Die Hinweise des Genossen Wolf sind sehr wertvoll und es lohnt sich mit der russischen Wirklichkeit vertraut zu machen, will man über Russland urteilen. Die Berichte auf den Internet- und Telegramseiten der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei[10], als auch der kleineren Vereinigten Kommunistischen Partei[11] sind voll von Berichten über das „Anziehen der Schrauben“ gegen  die russische Arbeiterklasse und voll von Berichten über den reaktionären und antikommunistischen Charakter des russischen Staates. Es ließen sich eigentlich keine Illusionen machen, unter welchen Bedingungen die russischen Kommunisten arbeiten müssen, und dass dieser Staat zutiefst den Interessen der Arbeiterklasse entgegensteht:

  • Dezember 2022:  Weitere Verhaftungen, Hungerstreik und inakzeptable Haftbedingungen: 1.) „SERGEI MASLOV, MITGLIED DER REVOLUTIONÄREN ARBEITERPARTEI, WURDE FESTGENOMMEN: Am Morgen des 7. Dezember brachen Polizeibeamte in seine Wohnung in Serpukhov ein. Sergej Maslow wurde festgenommen und in die Polizeiabteilung Serpuchow des russischen Innenministeriums in der Region Moskau (Serpuchow, Kaluzhskaja 37) gebracht. Der Aktivist wurde unter dem Vorwand festgenommen, nachträgliche Erklärungen für das Verteilen von Flugblättern am 24. Februar abzugeben, wofür Sergei bereits 10 Tage im Gefängnis gesessen hatte.“ 2.)  „Der verurteilte Gewerkschafter K. Zavalin beschwerte sich über die Verletzung seiner Rechte in der Haftanstalt (3.12.2022). Der verurteilte Aktivist K. Zavalin beschwerte sich über die Verletzung seiner Rechte in der Justizvollzugsanstalt. Zuvor hatte der verurteilte Aktivist Konstantin Zavalin aus Astrachan vor Journalisten über die Verletzung seiner Arbeitsrechte und die unannehmbaren Haftbedingungen in der Anstalt berichtet.  Der Gewerkschaftsaktivist Konstantin Zavalin aus Astrachan, der wegen eines Angriffs auf einen Polizeibeamten zu 1 ½ Zwangsarbeit verurteilt wurde, berichtete am 4. Oktober, dass er in einer Strafzelle in der Strafkolonie Nr. 6 untergebracht sei. Am 5. Oktober trat Zavalin in einen Hungerstreik, um gegen seine Einlieferung in die Strafzelle zu protestieren, weil er sich geweigert hatte, ohne spezielle Uniform zur Zwangsarbeit zu erscheinen.“
  • November 2022: Verhaftungen von linken Aktivisten und Journalisten: 1.) „Am Morgen des 29. November 2022 wurde Wladimir Timofejew, ein überzeugter Sozialist, Veteran des Afghanistan- und Tschetschenienfeldzugs, auch bekannt als Baikalpartisan und Aktivist von Narodnaja Wolja (https://vk.com/narodnayavolia), in Irkutsk festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, die Streitkräfte zu diskreditieren und den Terrorismus zu rechtfertigen. Vladimir hat von Anfang an eine scharfe Kritik an der SMO geübt.“ 2.) „Gestern wurde Sergej Dorenskij in der Region Moskau von den Ordnungskräften festgenommen. Am Morgen des 25. November schrieb er an einen Freund, dass die Ordnungshüter ihn zur Kriminalpolizei in Iksha bringen würden. […] Später rief ein Ermittler einen Bekannten von Dorensky an und teilte ihm mit, dass er als Verdächtiger festgenommen worden sei. Es ist nicht genau bekannt, in welchem Fall er festgehalten wurde. Dorensky befindet sich nun in der Haftanstalt Iksha und wartet auf seinen Prozess, der am Montag stattfinden wird. Sergei Dorensky ist Kriegsgegner, war früher Mitglied der Marxistischen Union und hat eine kleine Tochter.“ 3.) „DAS „NETZ“ FÜLLT SICH WEITER. Die Behörden versuchen nach wie vor, sich unerwünschter und unbequemer Personen zu entledigen, indem sie auf bewährte Methoden zurückgreifen: falsche Anschuldigungen, aus der Luft gegriffene Beweise und Geständnisse, die in engen Verhören erpresst werden. Die Liste der Personen, die nicht wegen Verbrechen, sondern aus politischen Gründen inhaftiert wurden, folgt nun, nach dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Kurier, Kirill Ukraintsev, nun auch Artyom Borodin, ein Journalist der Rabochaya Demokratiya […]“.
  • Mai 2022: Verhaftung und Anklage gegen Kirill Ukraintsev, Ko-Vorsitzender der Gewerkschaft COURIER, nachdem Courier-Mitglieder eine Kundgebung und Streik organisierten: „Am Abend des 25. April, dem Geburtstag des Ko-Vorsitzenden der Gewerkschaft COURIER und unseres gemeinsamen Freundes Kirill Ukraintsev, brach die Polizei in seine Wohnung ein […]. Nach Angaben der Polizei wurde gegen Kirill Ukraintsev ein Strafverfahren gemäß Artikel 212.1 `Dadin` des Strafgesetzbuchs: `Wiederholter Verstoß gegen das festgelegte Verfahren zur Organisation oder Durchführung einer Versammlung, Kundgebung, Demonstration, Prozession oder Streikposten` eröffnet. Grund dafür war der Streik der Taxifahrer in Sergiev Posad, der im Herbst 2021 stattfand. […] die Behörden versuchen auf diese Weise, ihre Stärke zu demonstrieren und Aktivisten einzuschüchtern, die versuchen ihre Rechte zu verteidigen“. Der Gewerkschaftsführer sitzt auch ein halbes Jahr nach der Verhaftung weiterhin in Untersuchungsgefängnis und der zuständige Richter hat jüngst die Verlängerung der Untersuchungshaft um ein weiteres halbes Jahr (gegen die geltenden Regeln) angeordnet, wie am 18.10. auf verschiedenen Kanälen berichtet wurde.
  • Mitte April 2022: Verhaftung und Hexenjagd auf Alexander Anidalow, KPRF, weil er gegen eine Platzumbenennung nach dem Erzreaktionären Stolypin in Saratow protestierte. (Pjotr Arkadjewitsch Stolypin war Innenminister des Russischen Reiches und verantwortlich für die Verfolgung von revolutionären Sozialdemokraten nach der 1905er Revolution. Innerhalb von fünf Jahren legte man 4500 Revolutionären die so genannte »Stolypinsche Krawatte« um den Hals, das hieß sie wurden gehenkt.): „Am 18. April verhaftete die Polizei von Saratow Alexander Anidalow, einen Abgeordneten der Regionalduma der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Der Kommunist versuchte, die Umbenennung der S. M. Kirov Avenue in die `Henker`-Stolypin-Avenue zu verhindern. Die `Dekommunisierung` dieser Stadtallee wurde von klassischer Musik begleitet, die von Studenten des Konservatoriums aufgeführt wurde. Auch Studentengruppen anderer Universitäten wurden organisiert – mit Fahnen und `patriotischen` Gesängen. Dmitry Ayatskov, der ehemalige Gouverneur und Leiter der Entwicklungsdirektion des Saratower Ballungsraums, kam, um den Bürgern zur Umbenennung zu gratulieren. Er bot auch an, die Asche von Stolypin von Kiew nach Saratow zu transportieren. Der Abgeordnete der Regionalduma der Kommunistischen Partei, Alexander Anidalow, nannte das Geschehen einen Akt der Dekommunisierung. `In der Ukraine machen sie dasselbe: Sie zerstören alles, was mit dem Kommunismus zu tun hat`, sagte er. Bei der Umbenennung rief der kommunistischer Abgeordneter: `Schande über die jetzige Regierung!` und versuchte, von der Hauswand ein Schild zu Ehren des Henkers Stolypin zu entfernen. Danach trafen Polizisten am Tatort ein, die den Kommunisten fest verdrehten und in ein Auto schoben. Unmittelbar nachdem das Haupthindernis Anidalov beseitigt war, luden die Studenten zur Zeremonie ein und sangen `Stolypin!`. Laut `Kommersant` gab es unmittelbar nach dem Vorfall eine sofortige Reaktion des Vorsitzenden der Regionalduma von Saratow, Alexander Romanow (Partei „Einiges Russland“). Seiner Meinung nach hat Alexander Anidalov `die parlamentarische Ethik grob verletzt, was mit der Unmöglichkeit verbunden ist, ein bezahltes Amt zu bekleiden und selbst im Regionalparlament zu sein`.
  • Ende März 2022: „Aushebung einer Terrorzelle“ im Ural. In Wirklichkeit handelte es sich um die Zerschlagung eines marxistischen Bildungszirkels: „27.03.2022: Marxistischer Kreis als terroristische Zelle. Schockierende Details der Verhaftungen von vorgestern sind bekannt geworden. Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass der örtliche marxistische Zirkel, in dem der Angeklagte Kurse besuchte, ein Ort der Vorbereitung einer gewaltsamen Machtübernahme war. Vorgestern wurden mindestens zwölf Bürger, die mit verschiedenen linken Bewegungen in Verbindung stehen, durch die Polizei verhört. […] Die Rolle des Anführers wurde dem 46-jährigen Pavel Matisov zugeschrieben. Dmitry Chuvilin, 38 Jahre alt, Rinat Burkeev, 36 Jahre alt, Alexey Dmitriev, 40 Jahre alt und Yury Yefimov, 62 Jahre alt, werden als Teilnehmer der terroristischen Organisation betrachtet. Jefimow und Dmitriew werden auch wegen öffentlicher Aufrufe zu terroristischen Aktivitäten angeklagt. Pavel Matisov war zu verschiedenen Zeiten als Tischler, Polizeibeamter und Unternehmer tätig. Im Jahr 2014 zog er als Freiwilliger in den Kampf im Donbass. Er war Mitglied der Geisterbrigade und hatte das Rufzeichen `Matros`. Er selbst sprach darüber in einem Videointerview im Herbst 2021 – er kandidierte für die Staatsduma bei den Kommunisten Russlands. Auch Rinat Burkeyev kämpfte als Freiwilliger im Donbass. Alexey Dmitriev arbeitet als HNO-Arzt am Städtischen Klinikum Nr. 21 und betreibt einen Oppositionskanal auf YouTube. Der Rentner Yury Yefimov ist in bestimmten Kreisen als langjähriges Mitglied der linken Bewegung bekannt. Dmitri Chuwilin ist ein bekannter linker Oppositionspolitiker in Baschkortostan. Er leitet den regionalen Zweig der Linksfrontbewegung. Im Jahr 2018 gewann er das Mandat eines Kurultai-Abgeordneten und trat der KPRF-Fraktion bei. […].“
  • . „21.01.2022: Eilt! Alexander Zimbovsky erneut inhaftiert! Die 15-tägige Haft des VKP-Aktivisten Alexander Zimbovsky im Sacharow-Gefängnis endete heute. Am 6. Januar 2022 wurden Alexander und seine Mitstreiter während einer Kundgebung mehrerer kommunistischer Organisationen festgenommen, die sich versammelt hatten, um ihre Solidarität mit den Arbeitern Kasachstans zu bekunden. Die Polizei stürzte sich auf die Kommunisten mit einer derartigen Inbrunst, als würden sie bewaffnete Banditen neutralisieren (…) Heute wurde er auf dem Weg aus dem Sonderaufnahmezentrum von der Polizei erneut aufgegriffen und an einen unbekannten Ort gebracht. Wir vermuten, dass er auf der Grundlage des zweiten Artikels – 20.2 Teil 8 – belangt wird, der eine zusätzliche 30-tägige Haftstrafe verspricht. Stoppt die Repression gegen Kommunisten!“

Diese wenigen Beispiele, es können weitere hinzugefügt werden, sind dem Telegramkanal der Vereinigten Kommunistischen Partei[12] entnommen und konnten zum Teil auch in anderen Quellen nachverfolgt werden. So ist der Fall Kirill, die Inhaftierung der Genossen des marxistischen Bildungszirkels, wie die Repression gegen Teilnehmer von Solidaritätskundgebungen für die Arbeiter in Kasachstan auch auf den Seiten der RKAP[13] [14] [15] dokumentiert, im Falle von Kirill ist mir auch eine Solidaritätsbotschaft der PAME bekannt.[16]

An dieser Stelle ist es angebracht, darauf zu verweisen, dass es in der russischen linken und kommunistischen Bewegung eine Debatte darum gibt, mit welchem Staat man es zu tun hat, eine Debatte darum, was der „Putinismus“ ist und ob man es mit einer Faschisierung des Staates zu tun habe. Eine Debatte, die scheinbar nur die wenigsten Kommunisten hier in Deutschland mitbekommen haben. Dabei ist die Debatte vergleichbar mit der hiesigen über die  Entwicklung, die wir für unseren eigenen bürgerlichen Staat ähnlich erkennen, wenn wir über „autoritären Staatsumbau“ reden und die wir auch aus anderen europäischen Staaten wie aus Macron`s Frankreich[17] oder jüngst mit dem Wahlsieg von Giorgia Meloni in Italien kennen. Einen Einblick in die Debatte in Russland kann bspw. in dem Artikel „Typologie reaktionärer Regime und linke Taktiken“ genommen werden.[18]

Fakt scheint zu sein, dass mit der Etablierung des „Putinismus“, von Jahr zu Jahr die Spielräume bürgerlicher Demokratie abgebaut und das Repressieren der politischen Opposition zunimmt.

„Seit 2012 werden die Möglichkeiten, öffentliche Kundgebungen abzuhalten, immer geringer: Ihre Genehmigung ist praktisch unmöglich geworden, und bei einem Verstoß gegen das Genehmigungsverfahren droht den Aktivisten eine strafrechtliche Verfolgung. […] Auch die Möglichkeiten für öffentliche Kampagnen haben sich seit den 2000er Jahren erheblich eingeschränkt. Es geht nicht mehr nur um die Zensur der großen Medien: Sogar das Bloggen wird durch Roskomnadzor[19] -Beschränkungen behindert. Und der jüngste Gesetzentwurf über `Bildungsaktivitäten`[20] könnte unter anderem Clubs, Diskussionsclubs und YouTube-Propaganda treffen. Darüber hinaus macht es die unendlich weite Auslegung des Begriffs „Extremismus“ möglich, selbst für Äußerungen in sozialen Netzwerken Straftaten zu konstruieren. […] Auch die Kontrolle über die `systemischen` Parteien wird immer stärker. […] heute [führt] jede Abweichung von der `Generallinie` zu einer Strafanzeige (siehe die Fälle Furgal, Grudinin, Bondarenko usw.). Vertreter der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, der Liberaldemokratischen Partei oder der SR dürfen offizielle Ämter nur unter der Bedingung absoluter Loyalität und Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit mit den Funktionären von `Einiges Russland` besetzen.“[21]

Erinnert sei auch an die Protestwelle vom Januar 2021 – die so genannten Nawalny-Proteste. Entzündet hatten sie sich an der Verhaftung des Herrn Nawalny[22], Ursache waren aber die zum Teil exorbitanten Preissteigerungen des täglichen Lebens der arbeitenden Klasse (Zucker + 65%, Sonnenblumenöl + 26%, Kartoffeln + 100%), die Anhebung des Rentenalters um 5 Jahre, bei gleichzeitiger Kürzung im Gesundheitswesen in Höhe von 135 Milliarden Rubel (2019 lagen die Ausgaben des Staates für das Gesundheitswesen bei 713 Milliarden Rubel!) als auch Kürzungen im 100stelligen Milliardenbereich bei den Sozialausgaben. Dies alles bei andauernder Privatisierung, Outsourcing, Abbau von Krankenhausbetten, einer gerade durchgezogenen Verlängerung der Amtszeit von Putin und einer zum Himmel schreienden Korruption (der Fall der goldenen Klobürste in einem Luxushotel eines lieben und engen Freundes Putins, der so bezeichnete „Putin-Palast“ in Gelendschik[23]). Damals kam es an einzelnen Tagen zu mehr als 100 Demonstrationen, mit mehr als 150.000 Teilnehmern. Die Polizei griff hart ein und es kam zu brutalen Verhaftungen von mehreren tausend Personen, auch wurde die Nationalgarde Rosgvarida eingesetzt – eine militärische Einheit die ausgerüstet ist mit Sturmgewehren, Panzern, Hubschraubern, Handgranaten, Raketenwerfen und deren Einsatzrichtlinien sich auf Terroranschläge, Geiselnahmen und Ausnahmezustände bezieht. Die Zeitung der RKAP „Arbeitendes Russland“ zitierte damals Stimmen aus der Arbeiterklasse: „Egal, was die Regierung und ihre Hofkumpane sagen, es ist die erdrückende und eklatante Ungerechtigkeit, die die Menschen auf die Straße bringt. Es wird immer schwieriger, den ostentativen Luxus von Milliarden und Palästen mit der hoffnungslosen Armut von Almosen zu vereinbaren.“ Eine andere Stimme sagt: „Junge Menschen haben begonnen zu erkennen, dass der klassenbasierte Staat sie ihrer Zukunft beraubt hat. […] Bald werden Großmütter und Großväter auf die Straße gehen. Die Mietkosten wurden ins Unermessliche gesteigert, die Rente von 6000-7000 Rubel nimmt ab und wovon soll man leben? Und die Preise sind in die Höhe geschossen!“ Und ein Dritter meint: „Die Zeit ist gekommen, in der die himmelschreienden Ungerechtigkeiten der sozialen Verhältnisse für jeden Schuljungen offensichtlich geworden ist. Wir haben eine Klobürste im Wert des Jahreseinkommens eines Rentners etabliert. Im Jahre 1994 gab es Sicherheiten-Auktionen[24], die eine Schicht von Oligarchen schufen und alle anderen machtlos machten. Und seitdem hat sich nichts geändert, nicht einmal die Präsidenten – es gab seither nur zweieinhalb von ihnen, wenn man Medwedew mitzählt. Es ist eine Generation herangewachsen, die vom Tag ihrer Geburt an alles hasst – die totale Unfreiheit und den totalen Raub. Auf der Kundgebung habe ich fast nie den Nachnamen Nawalny gehört. Aber ich sah viele WC-Bürsten als ein Symbol für soziale Ungerechtigkeit. Ich erinnere mich an einen dünnen kleinen Kerl, der in einem Fernsehsender einen Kommentar abgab: Er sprach auch über die WC-Bürste und sagte, dass seine Mutter ungefähr so viel wie jene WC-Bürste im Jahr verdiene und das er deshalb während seiner gesamten Kindheit unterernährt war.“[25]

Einem Monat zuvor kommentiert die RKAP im „Arbeitenden Russland“ den Fall eines zu sechs Jahren Haft verurteilten Jugendlichen. „OPPOSITIONELLE JUGENDLICHE SOLLEN EINGESCHÜCHTERT WERDEN. Absolvent der Moskauer Staatsuniversität zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, weil er ein Fenster im Büro von `Einiges Russland` eingeschlagen hat. […] Der Grund für die Inhaftierung des jungen Mathematikers an einem `nicht so fernen Ort` ist das vor drei Jahren, in der Nacht zum 30. Januar 2018, eingeschlagene Fenster im Büro von `Einiges Russland` und eine hineingeworfene Rauchbombe. Bei dem Vorfall wurde niemand verletzt. Diejenigen, die direkt gehandelt haben, gaben teilweise ihre Schuld zu und kamen mit Bewährungsstrafen davon. Azat Miftakhov, 27, hat nichts zerschlagen oder geworfen, bekam aber trotzdem die volle Strafe, da die Staatsanwaltschaft ihn als `Koordinator des Angriffs` auf die Filiale der Regierungspartei eingestuft hatte. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat die ganze Zeit Azat Miftakhov unterstützt und versucht, ihn von der russischen `Justiz` zu beschützen. Akademiker der Russischen Akademie der Wissenschaften setzten sich für ihn ein. Ein offener Brief russischer Mathematiker zur Verteidigung des Diplomanden wurde von Hunderten von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern unterzeichnet. Am 2. März 2019 fand eine Volkskundgebung zur Unterstützung des Mathematikers vor dem Hauptgebäude der Moskauer Staatsuniversität statt, bei der vier Aktivisten festgenommen wurden. Und im vergangenen Dezember 2020 veröffentlichte die mathematische Gemeinschaft der Vereinigten Staaten, Kanadas und mehrerer europäischer Länder einen offenen Brief, in dem sie ihre Kollegen aufforderte, die Teilnahme am Internationalen Mathematikerkongress, der 2022 in St. Petersburg stattfinden soll, zu verweigern. Es sollte angemerkt werden, dass Wissenschaftler Gründe hatten, den Doktoranden zu verteidigen; selbst während der Haft setzte Miftachow seine wissenschaftliche Arbeit fort. Aber die russischen Staatsanwälte blieben gegenüber all dem taub. […] In der Tat wächst die Zahl der oppositionell gesinnten jungen Menschen, auch derjenigen, die die kapitalistische Ordnung in Russland vehement ablehnen. Es liegt im Interesse der Machthaber, den Zustrom von linken Aktivisten zu stoppen oder zu verlangsamen. Dazu müssen die jungen Oppositionellen eingeschüchtert werden, und die russische Regierung geht in eine neue Runde der Einschüchterung ihrer Bürger. Ein weiteres hartes Urteil ist gefällt worden. Ein weiteres Schicksal ist ruiniert. Es besteht kein Zweifel, dass Azat Miftakhov nicht der erste und nicht der letzte war. Es erwarten uns neue Offenbarungen über die Fähigkeiten des russischen `Rechtsstaates`.“[26]

Die Anfangsjahre der Präsidentschaft Putins werden in dem oben genannten Beitrag „Typologie reaktionärer Regime …“ als bonapartistische Manöver, angesichts einer noch lebendigen und aufmüpfigen Arbeiterklasse bezeichnet. „Der Bonapartismus zielt im Wesentlichen darauf ab, ein Gleichgewicht zwischen den starken linken und rechten Flanken der öffentlichen Politik aufrechtzuerhalten.“[27]Bezugnehmend auf Engels und Lenin wird diese Phase des russischen Kapitalismus als instabile Herrschaft bezeichnet, in der die Staatsgewalt die Bourgeoisie vor Angriffen der Arbeiterklasse schützt, mittels großer „nationaler Projekte“ und mit dem Ausbau von Sozialtransfers die Arbeiterklasse beruhigt, beide aber – die Bourgeoisie wie auch die Arbeiterklasse – von politischen Handlungsmöglichkeiten abschneidet. Während bonapartistische Regime der Bourgeoisie die demokratischen Instrumente nehme, hindere es sie aber nicht daran, ihren Einfluss in der Wirtschaft zu stärken. „Der wichtigste davon war der Pakt der Regierung mit der Großbourgeoisie: volle Freiheit der Wirtschaftstätigkeit und Unantastbarkeit der Privatisierungsergebnisse im Gegenzug für erhöhte Steuerdisziplin, Loyalität und Nichteinmischung in die Politik. Indem die neue Regierung die Oligarchie sanft, aber bestimmt aus der Politik ausschloss (und später die Unantastbarkeit dieses Paktes durch die Yukos-Affäre bestätigte), hat sie die Macht zentralisiert.“[28] Da aber inzwischen die kapitalistische Herrschaft konsolidiert und es angesichts wirtschaftlicher Stagnation und fehlender Opposition nicht mehr nötig und möglich ist, die Arbeiterklasse in dem Maße wie vorher zu bestechen, wendet sich das Regime immer mehr zu autoritären Herrschaftsformen hin: „Wenn die Linke jedoch jegliche Unterstützung, Kapazität und Organisation verliert, entfällt die Notwendigkeit für klassenübergreifende `Manöver`. Angesichts der anhaltenden und tiefgreifenden Stagnation muss der Staatsapparat so weit wie möglich gestärkt werden, indem das politische Feld gründlich `gesäubert` wird, damit der `manuellen Kontrolle` im Interesse des Kapitals nichts im Wege steht.“[29]

Mit dem Ende der populistischen Maßnahmen sei auch die populistische Rhetorik als auch anfängliche „Anti-Oligarchie“-Rhetorik, die das Ansehen der Regierung gestärkt habe, allmählich verschwunden und die Interessen des Großkapitals immer eifriger und offener verteidigt worden. Während die Einmischung der Regierung in die „soziale Verantwortung“ der Unternehmer praktisch aufgehört hat.

„Die restriktive Politik des Justizministeriums, die rein dekorative Funktion von Bundes- und Kommunalparlamenten und Fälschungen im großen Stil – all das macht es spätestens seit Mitte der 2000er Jahre unmöglich, Wahlen und Parlamente effektiv als Propaganda-Plattform zu nutzen.“[30]

Seit 2012 wurden die Möglichkeiten, öffentliche Kundgebungen abzuhalten, immer geringer, ihre Genehmigung praktisch unmöglich und bei einem Verstoß gegen das Genehmigungsverfahren setzten sich Aktivisten der strafrechtlichen Verfolgung aus. Die neuen Verbots- und Repressionsmaßnahmen haben den Raum für die Organisation von Massenaktionen und öffentlicher Agitation drastisch eingeschränkt. Gerade die „Erfahrungen mit den „Nawalny“-Kundgebungen […] zeigen deutlich, dass die Behörden bereit sind, alle Aktivitäten auf der Straße gewaltsam zu unterdrücken“[31]. Soweit zu den Einschätzungen, welche die Genossen der VKP im April diesen Jahres zum Wandel der Herrschaftsausübung des russischen Kapitalismus veröffentlichten.

Anfang des Monats November wird in einem Manifest gegen den Krieg von den Unterzeichner – Genossen aus verschiedenen kommunistischen Parteien und Organisationen, unter ihnen auch eine Fraktion der VKP – die Entwicklung des „Putinismus“ als zunehmende Faschisierung des Staates charakterisiert: „Gleichzeitig befand sich das Putin-Regime am Ende des 20.Jahrhunderts in einer Krise. Alle wichtigen Wahlversprechen Putins, wie die Verdoppelung des russischen BIP und die Reindustrialisierung Russlands, sind gescheitert, und die Realeinkommen sind seit mehreren Jahren in Folge gesunken. Die Schwäche des herrschenden Regimes hat sich in zunehmenden faschistischen Erscheinungen manifestiert, wie z. B: Die Unterdrückung der Proteste der Bevölkerung gegen die Korruption von Putin und seinen Beamten, die Zerschlagung bürgerlich-liberaler Organisationen und die Unterdrückung von Menschenrechtsinitiativen, die vollständige Unterbindung des Zugangs der nichtsystemischen Opposition zu den Wahlen, Beseitigung der Versammlungsfreiheit unter dem Vorwand von Anti-Covit-Maßnahmen. […]“[32]

Über die vermeintliche antifaschistische Rolle, die Russland in der Ukraine spielen würde, wurde schon viel geschrieben. Es wurde darauf verwiesen, wie es sein könne, dass man einem Regime und seinem obersten Protagonisten, welche faschistischen Ideologen (Dugin[33], Illjin[34], Solschenizyn[35]) nahestehen, eine objektiv antifaschistische Rolle zuschreibe. Die Unterzeichner des Manifests der Kommunistischen Internationalisten meinen zu erkennen, dass „In Wirklichkeit […] das russische Regime in den letzten acht Jahren einen weiten Weg in Sachen Faschismus zurückgelegt [hat]“. Und heute durchaus das russische Regime „mit seinen ukrainischen Zwillingsbrüdern verglichen werden“ kann. „Den russischen `Halbfaschismus` zu unterstützen, weil er angeblich den ukrainischen `Zwei-Drittel-Faschismus` bekämpft, ist eine Verhöhnung des Internationalismus, der Gipfel der Verschlagenheit oder der politischen Kurzsichtigkeit, eine raffinierte sozialchauvinistische Linie pseudo-antifaschistischer Rhetorik.“[36]

Was die „Dekommunisierung“ angeht, so mag es sein, dass sie nicht so weit vorangeschritten ist, wie in den anderen osteuropäischen Staaten, aber dennoch sollten wir zur Notiz nehmen, dass die beispielhaft genannte Platzumbenennung nach dem Erzreaktionär Stolypin[37] kein Einzelbeispiel ist, sondern weiter verbreiteter ist, als man von hier allgemein mitbekommt. So berichtete die RKAP am 15. Juni, nachdem schon die VKP auf den Vorfall aufmerksam machte, dass „Anfang März 2022 im Dorf Ikryanoye in der Region Astrachan eine, den Befreiungssoldaten gewidmete, Stele mit der Aufschrift `Wir haben die Welt verteidigt! Wir werden den Frieden verteidigen`, Bilder von Soldaten der Roten Armee und ein Porträt von Lenin auf skrupellose Weise abgerissen wurde. Das Vorgehen der örtlichen Behörden bei der Zerstörung der Stele löste damals auf föderaler Ebene ein breites Echo aus, und der Vorsitzende des Gemeinderats von Ikryaninsky, Astafyev, versprach den Abgeordneten des Dorfes, die Stele wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. Im Juni wurde die Stele restauriert, allerdings mit einem völlig anderen Inhalt. Anstelle der versprochenen Originalstele sahen die Einwohner eine Wand aus Plastikplatten mit dem Yunarmiya[38]-Emblem anstelle der Rotarmisten, und Lenins Porträt wurde durch ein Zitat von Putin ersetzt: `Wir haben keine andere verbindende Idee als den Patriotismus und können es auch nicht haben`.“[39]

Aber genug der Beispiele. Widmen wir uns der russischen Außenpolitik.

Zur Russlands Außenpolitik

Ich beziehe mich hier vor allem auf einen Artikel aus der Zeitung „Russia in Global Affairs“ mit dem Titel „Von der konstruktiven Zerstörung zum Wiederaufstieg“ von Segej Karaganow[40]. Und beispielhaft möchte ich aus einer Rede von Herrn Putin zitieren, einer seiner Reden, die üblicherweise eben nicht in der Jungen Welt oder anderen progressiveren deutschen Medien übernommen wird, aber doch einiges aussagt zum Weltbild, welches in Russland von seinen Vertretern bemüht wird. Vom Weltbild der Bourgeoisie auf ihre Handlungsmöglichkeiten zu schließen, wäre natürlich verkürzt, zeigt uns aber, auf welcher ideologischen Grundlage sie handelt, zeigt ihre reaktionäre Ideologie und ihre reaktionären Absichten.

Einige einleitende Worte zur Person Sergej Karaganow:

Sergej Karaganow, geb. 1952 in Moskau, zählt zu einem der einflussreichsten bürgerlichen Intellektuellen in Russland. Er galt als Berater von Boris Jelzin und gilt heute als Berater von W. Putin. Er schreibt für die „Russia in Global Affairs“ und ist regelmäßiger Redner auf den Tagungen des „Valdai Diskussions-Clubs“.

Der Doktor der Geschichtswissenschaft, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Karaganow ist ehemaliger Dekan der 1992 gegründeten Fakultät der Weltwirtschaft und Weltpolitik an der National Research University High School of Economics (HSE). Hierzu sollte man wissen, dass die HSE ins Leben gerufen wurde, um einen neuen bürgerlichen Beamtenapparat aufzubauen und seit 2008 direkt der Regierung unterstellt ist. Ihren Vorläufer hat die HSE im Institut für Wirtschaftswissenschaften. Dieses wurde explizit als ein „nicht-marxistisches“, und  „alternatives“ Institut im Zuge des konterrevolutionären Prozesses 1989 geschaffen. Ihr Ziel: marktwirtschaftliche „Reformen in Russland voranzutreiben, Ökonomen, Analytiker und Lehrer auszubilden, die unter den neuen Bedingungen für die Regierung arbeiten können“.[41]

Karaganow ist auch regelmäßiger Gast und Referent des Valdai-Diskussions-Clubs. Der Valdai Diskussions-Club – Putin tritt dort regelmäßig auf und hält schon mal dreistündige Reden – ist ein Forum mit internationaler Ausrichtung, in dem Politiker und Intellektuelle zusammenkommen, um über die Zukunft Russlands zu beraten. Themen in der Vergangenheit waren so z.B. „Neue Weltordnung“, „Die Morgenröte im Osten …“, „Globaler Umbruch …“, „Die nationale Idee im globalen Kontext“, … usw. usf.

Auf ihrer Homepage findet man von Karaganow u.a. einen Aufsatz über das „Demokratiemodell in Europa“, welches dem Untergang geweiht sei, und ein 2018 von ihm veröffentlichtes Papier mit dem Titel „Die Kriegsgefahr liegt in der Luft, man darf nicht auf einen Angriff warten“, indem er sich für die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit mit China ausspricht. Als Vorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, einem nichtstaatlichen Think Tank, ist er aber nicht nur Gast und Redner, sondern auch an der Erarbeitung des Programms der alle 1-2 Jahre stattfindenden internationalen Tagung des Valdai-Clubs verantwortlich, gemeinsam mit seinem Komplizen Fjodor Lukjanow[42], welcher Vorsitzender des Präsidiums eben diesen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik ist. So ist die Stiftung des Valdai-Clubs auch eine gemeinsame Initiative vom besagten „Rat für Außen- und Verteidigungspolitik“, des „Russischen Rats für internationale Angelegenheiten“ (Lukjanow ist dort ebenfalls Mitglied des Präsidiums) und des „Moskauer Staatlichen Instituts für internationale Beziehungen (Universität) des Außenministeriums Russlands“ sowie der HSE.[43] In diesem Jahr hielt Wladimir Putin eine weit beachtete Rede auf dem Valdai-Club, in der er noch deutlicher als in der Vergangenheit den Machtanspruch Russlands und die Unumgänglichkeit des Aufstieges einer multipolaren Weltordnung formulierte, die der „Globale Westen“ nur als eine Kampfansage verstehen kann.[44]

Karaganow hat eine ganze Reihe an Auszeichnungen für seine Arbeit vom russischen Staat erhalten, insbesondere zweimal (2016 und 2017) für die „Popularisierung außenpolitischer Themen“. Für uns zudem interessant: Seit 1993 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, seit 1996 Mitglied des Beirats unter dem Vorsitzenden des Föderationsrates der Russischen Föderation, und seit 2001 Berater des stellvertretenden Leiters der Verwaltung des Präsidenten der Russischen Föderation für Außenpolitik. Um seine antikommunistische Gesinnung deutlich zu machen, sei erwähnt, dass unter seiner Leitung 2011 eine Arbeitsgruppe von der Regierung beauftragt war, ein Programm zur „Entstalinisierung der Gesellschaft“ auszuarbeiten. Zitat: „Die Gesellschaft kann nicht beginnen, sich selbst und ihr Land zu respektieren, während sie die schreckliche Sünde von siebzig Jahren Kommunismus-Stalinismus-Totalitarismus vor sich selbst verbirgt. Daher ein weiterer Vorschlag – wir brauchen ein Gesetz, nach dem Beamte, die in den Jahren des Totalitarismus begangene Verbrechen öffentlich leugnen oder gar rechtfertigen, nicht im öffentlichen Dienst stehen können. Es ist notwendig, die wahre russische Identität wiederherzustellen, die Selbstachtung, ohne die es unmöglich ist, voranzukommen.“[45]

Soweit zu Herrn Karaganow. Keine unbedeutende Person. Nun zu seinem nicht wegzudiskutierenden Aufsatz zur „außenpolitischen Wende“ der Russischen Föderation vom Frühjahr 2022. Der Artikel ist überschrieben mit „Von der konstruktiven Zerstörung bis zum Neuaufbau“ und ist acht Tage vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine auf dem russischen Portal „Russia in Global Affairs“[46] veröffentlicht worden.

In dem knapp 12-seitigen Aufsatz legt Karaganow dar, wie sich der Spielraum für Russland durch den Niedergang des Westens vergrößere und das Russland die Aufgabe zukomme, die Talfahrt, in dem sich der Westen befände, zu beschleunigen. Noch deutlicher wird er, wenn er schreibt, dass es Russlands Aufgabe sei, das „euro-atlantische Sicherheitssystem systematisch zu zerstören“.

  1. „Im Jahr 2021 beginnt für Russland offensichtlich eine neue Phase seiner Außenpolitik. Nennen wir es „konstruktive Zerstörung“ des bisherigen Modells der Beziehungen zum Westen. Elemente einer solchen Linie haben sich seit anderthalb Jahrzehnten herausgebildet – im Grunde seit Wladimir Putins berühmter Rede in München im Jahr 2007.“ (Sergej Karaganow[47])

Der Artikel beginnt mit einer längeren Analyse der Entwicklung Russlands seit der Konterrevolution, für die er die Vokabeln gebraucht: „Aufstehen von den Knien“ und „Rückkehr zur Größe“. Diese Entwicklung beschreibt er als eine Phase, geprägt von Selbsttäuschung und Try and Error. Entscheidend für ihn ist, das, nachdem die erste Phase unter Boris Jelzin, „eine Periode von Schwäche und Illusionen“, in der „wir keine Kraft zum Widerstand hatten und wir glauben wollten, dass die Demokratie und der Westen uns helfen würde“, sich eine neue russische Politik durchzusetzen begann, in der der russische Staat seine Interessen souverän durchzusetzen begann und heute eine solche Konsistenz aufweist, dass er von relativer Unverwundbarkeit und der Fähigkeit des russischen Staates spricht, die es ermögliche die „Eskalation zu beherrschen“.

„Die neue Phase der russischen Außenpolitik“ – in der Russland sich heute befinde und der die Aufgabe zukomme, die Stellung der westlichen kapitalistischen Staaten in der imperialistischen Pyramide zu untergraben und herauszufordern – „gingen drei weitere voraus. „Die erste war eine Periode der Schwäche und Illusion, […] Diese Periode endete 1999 […].

Im Stillen und heimlichen (lächelnd und sich in der Öffentlichkeit verbeugend) begann Russland die Phase des Aufstehens von den Knien. Der Wiederaufbau des Staates begann. […]

Die Münchner Rede, der Krieg in Georgien[48], die Einleitung einer tiefgreifenden Reform der allgemeinen Streitkräfte, parallel zur beginnenden Weltkrise, die auch das Scheitern des westlichen liberalen, globalistischen und imperialistischen Modells signalisierte (ein Begriff, den ich von dem bemerkenswerten englischen internationalen Gelehrten Richard Sakwa übernommen habe), markierten eine neue Phase in der russischen Politik: die Rückkehr zu einer großen Weltmacht, die in der Lage ist, ihre Souveränität und ihre Interessen zu verteidigen. Zu den Meilensteinen auf diesem Weg gehören die Krim, Syrien, die militärische Konsolidierung, die konsequente Einschränkung der Einflussmöglichkeiten des Westens auf die russische Innenpolitik und die Vertreibung – auch durch geschickte Ausnutzung der westlichen Reaktionen auf diese Aktionen – kompradorischer Elemente aus der russischen Führungsschicht. […]

Die Phase der `Rückkehr zur Größe` endete zunächst in den Jahren 2017-2018. Danach erreichten wir ein Plateau, auf dem die Modernisierung stattfand, allerdings mit einer schleppenden Wirtschaft, die in eine Abwärtsspirale zu geraten drohte. Dieser Schluckauf irritierte viele, darunter auch den Verfasser dieser Zeilen, der zu befürchten begann, dass Russland zum x-ten Mal in seiner Geschichte `eine Niederlage dem Sieg noch entreißen würde`. Aber wie sich herausstellte, war dies eine weitere Etappe im Aufbau von Stärke, vor allem im militärischen Bereich.

Russland hat sich einen Vorsprung von einem Jahrzehnt relativer strategischer Unverwundbarkeit und der Fähigkeit verschafft, im Falle des Ausbruchs von Konflikten in Regionen, die für das Land von entscheidender Bedeutung sind, die `Eskalation zu beherrschen`.“

Mit „konstruktiver Zerstörung“ meint Karaganow die Durchführung einer Außenpolitik, die darauf gerichtet ist, das Verhältnis der westlichen kapitalistischen Staaten zueinander (die Staaten der EU, aber auch der EU zur USA und damit das Innenverhältnis der NATO) und bisherige Bündnis- und Vertragsregelungen, die als vom Westen gesetzt und dominiert gelten, ins Ungleichgewicht zu bringen bzw. sie zu untergraben.[49] Diese Politik der „konstruktive Zerstörung“ habe Russland 2021 begonnen, als sie Ultimaten an die USA und NATO gestellt habe. Russland solle tunlichst jegliche institutionelle Zusammenarbeit mit der NATO einstellen und helfen die NATO politisch-moralisch zu delegitimieren, so Karaganows Rat. Da die OSZE ebenfalls dem vom Westen geschaffenen Sicherheitssystems diene, sei „die Reduzierung der Beteiligung an diesem Programm auf ein absolutes Minimum“ ebenfallsnotwendig, wie auch eine Kooperation mit der EU nur dort erfolgen solle, wo es sich lohne. Er schreibt, dass die „Beibehaltung der Institutionen in Europa schädlich ist“ und das Russland deren „Expansion begrenzen solle, indem wir die Zusammenarbeit verweigern und zur Erosion des Systems beitragen“. Eine Erosion der EU, die er bereits festzustellen glaube: „In der Erwartung, dass harter Widerstand und die Möglichkeit, im eigenen Saft zu schmoren, die Elite der westlichen Zivilisationsnachbarn zu einer weniger selbstmörderischen und fremdgefährdenden Politik führen wird.“.

Der Ukrainekonflikt taucht bei ihm nur als Störfaktor auf. Ein Störfaktor für die Entwicklung Russlands, indem der Westen versuche, seine eigene Talfahrt durch die Schaffung von Problemen in der Ukrainefrage aufzuhalten. Aber, der Westen sei nur ein Papiertiger, die Konfrontationsfähigkeit der NATO sei anzuzweifeln und die USA sei nicht wirklich bereit für kleine Staaten ins Feuer zu springen, angesichts einer Atomkriegsgefahr die sie damit heraufbeschwöre. „Die Behauptung, dass Artikel 5 des Nordatlantikvertrags eine kollektive Verteidigung im Falle eines Angriffs vorsieht, ist unzutreffend. Es gibt keine automatischen Garantien. Ich kenne die Geschichte des Blocks und die Debatte in den USA im Zusammenhang mit seiner Gründung und kann mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass die Vereinigten Staaten unter keinen Umständen Atomwaffen einsetzen würden, um ihre Verbündeten in einem Konflikt mit einer Atommacht zu `schützen`.“

Die „Geschichte“ – eine beliebte Floskel die Karaganow bemüht; wir kennen das aus unserer deutschen Geschichte wenn von „Schicksal“ gesprochen wird, das von „Deutschland“ verlange … – diese „Geschichte“ verlange von „Russland das Entscheidungen jetzt schnell getroffen werden“, und zwar Entscheidungen, um den Zerfallsprozess des Westens zu beschleunigen. Hierzu müsse man notfalls auch mit militärischen oder „militärisch-technischen Instrumenten“[50] vorgehen. „Dies wird unweigerlich zu einer Stärkung der geopolitischen, geoökonomischen und geoideologischen – kulturellen – Position des Nicht-Westens führen, dessen wesentlicher Bestandteil historisch gesehen Russland ist“.

Weiter schreibt Karaganow, es „gibt keinen Grund, eine Eskalation der Konfrontation zu fürchten“ und betont, nicht nur der Westen könne mit zerstörerischen Sanktionen drohen, „auch wir sind in der Lage, Abschreckung zu betreiben, indem wir damit drohen, ihre Wirtschaft und Gesellschaft mit asymmetrischen Gegenmaßnahmen zu zerstören.“

All das liest sich, wie ein direktes Programm, und der Offenlegung der Motive des acht Tage später begonnen Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine. Und tatsächlich äußerte sich Karaganow in der Richtung unmittelbar nach dem 24.02.2022, indem er sagte, er habe keinen Grund an seinen gemachten Aussagen etwas zu ändern und empfahl, den Artikel weiter zu publizieren.[51]

  • „Um zur Schaffung eines neuen Systems überzugehen, wird der wichtigste Inhalt der nächsten Etappe (neben der Demontage des alten Systems) die `Landnahme` sein. Dies geschieht nicht einmal so sehr auf Wunsch Moskaus, sondern eher aus der Not heraus.“

Eine weitere bemerkenswerte Offenlegung, die Karaganow in dem Artikel macht, ist die der „Landnahme“ und des „Sammelns von Territorien“ der ehemals zur Sowjetunion gehörenden Staaten. Während es darauf ankomme, die vormals vorherrschende Westorientierung der Eliten weiter abzubauen – und die beschriebene Außenpolitik der „konstruktiven Zerstörung“ des Westens zu betreiben – gelte es auf der anderen Seite die „Integration Groß-Eurasiens“ zu fördern und ein „Sicherheits- und Kooperationssystem“ aufzubauen, welches das des Westens ablösen soll.

Es geht hier einmal mehr um die Kooperation mit China, zum anderen um die neue Rolle Russlands als Großmacht, dessen Aufgabe es sei, Staaten in das neue System aufzunehmen, eines Systems eines „Großraums Eurasien“. Dabei verweist er auf die post-sowjetischen Länder, denen es nicht gelungen sei „leistungsfähige“ Staaten aufzubauen und die drohen, „staatsunfähig“ zu werden. Er spricht hier von möglicher „Somalisierung“[52]von Staaten oder von ihrer „Unterwerfung“ unter externer Kontrolle. Dabei ist freilich nicht die Kontrolle durch Russland gemeint, sondern implizit der des Westens.

„Die Gründe dafür sind vielfältig. Und sie müssen analysiert werden. Vorerst beschränke ich mich auf eine, die an der Oberfläche liegt: Die Mehrheit der lokalen Eliten hat keine historische, kulturelle Erfahrung mit dem Aufbau von Staaten. […]. Es waren die kleinen Länder, die durch den Zusammenbruch des geistigen und kulturellen Raums des Reiches am meisten verloren. Der Zugang zum Westen, der erschlossen wurde, konnte diesen Raum nicht ersetzen. Das Fehlen eines staatsbildenden Rückgrats führte zu einem extremen Krämergeist/ Kompradoren-Wesen an der Spitze. […] Es bleibt abzuwarten, wie das „Sammeln“ für Russland effektiver und profitabler gestaltet werden kann, […]“.

Hier geht es also um die Heimholung abtrünniger Regionen und Staaten. Das „Sammeln“, der mit dem Zusammenbruch der UdSSR verlorenen „Ostgebiete“, um es mal auf „deutsch“ zu sagen.

In dem Artikel geht er selber nicht weiter darauf ein, sondern verweist darauf, dass dies an anderer Stelle nachzuholen sei. Soviel sei sicher, der Weg „diese von der Geschichte auferlegten `Ansammlung`“ zu finden, muss sorgfältig und mit Blick auf die Erfahrungen des Zarismus und den Fehlern der Bolschewikigesucht  werden.

Man kann das als ledigliche Integration in die Eurasische Wirtschaftsunion lesen, die Hinweise auf „Landnahme“ und der explizite Verweis auf den Zarismus legt aber eine Interpretation nahe, dass hiermit die „Integration“ in die Russische Föderation gemeint ist. Die jüngst gemachten und wiederholten Äußerungen Putins zur Künstlichkeit und Illegitimität des Ukrainischen Staates und der „Russischen Welt“ sind ein Hinweis darauf, dass letzteres gemeint ist.[53]

  • „Wenn wir uns entwickeln und gewinnen wollen, brauchen wir unbedingt einen geistigen Kern – eine nationale Idee, eine Ideologie, die uns eint und den Weg nach vorne weist. Es ist unbestreitbar, dass große Länder ohne eine solche Idee nicht groß sein können.“

Die Außenpolitik kann man nicht von der Innenpolitik trennen. Eine imperialistische Außenpolitik bedingt eine reaktionäre Innenpolitik. Insofern gibt das Zitat einen hübschen Blick auf das Selbstverständnis der russischen Bourgeoisie. Natürlich hat das jetzt nichts unmittelbar mit unserer Ausgangsfrage zu tun, ergänzt aber unsere Überlegungen, ob die russische Außenpolitik, das Streben nach einer neuen „multipolaren Weltordnung“, erstrebenswert und fortschrittlich ist.

In dem Artikel verweist Karaganow auf die von Wladimir Putin im Oktober 2021 auf der internationalen Konferenz des Valdai-Clubs in Sotschi gehaltene Rede. Von dieser Rede sei ein ermutigendes Signal ausgegangen. Was hat Putin denn so Tolles gesagt? Nun, Putin hat nicht viel anderes gesagt, als auch Karaganow sagt. Aber als Staatslenker gebührt ihm natürlich mehr Respekt  und eine größere Wirkung der Rede in der Öffentlichkeit. Insbesondere hat Putin sich über die „Suche nach einem neuen internationalen Gleichgewicht“ geäußert, den Gefahren aber auch Chancen, wie er sich ausdrückte, die von der nun begonnen „Ära der großen Veränderungen“ ausgehe. Er sagte: „Die Menschheit ist vor mehr als drei Jahrzehnten in eine neue Periode eingetreten“ und damit begann das Suchen eines neuen Gleichgewichts. Aber nun stehen Transformationen an „deren Zeugen und Teilnehmer wir sind, die von einem anderen Kaliber sind, als die welche in der Geschichte der Menschheit sich wiederholt ereignet haben.“ Nachdem er sich Klima und Umwelt, dem „bestehenden Modell des Kapitalismus“, welches sich erschöpft habe, und der technischen Revolution und dem veränderten Kräfteverhältnis widmete („Die Vormachtstellung des Westens im Weltgeschehen, weicht einem vielfältigerem System“),nahm er sich dem Problem des Staates und der Dekadenz des Westens an. Unnötig zu sagen, dass er der Rolle des Staates eine große Bedeutung zumaß? Und unnötig zu sagen, dass er den Westen moralisch-ethisch als ein faulendes, intolerantes und inhumanes System geißelt? Ich zitiere hier einmal ausführlich:

„In der heutigen zerbrechlichen Welt nimmt die Bedeutung einer soliden Grundlage auf dem Gebiet von Moral, Ethik und Werten erheblich zu. […] Wir schauen mit Erstaunen auf die Prozesse, die in den Ländern ablaufen, die traditionell als Vorreiter des Fortschritts angesehen werden. […] Manche Menschen im Westen glauben, dass die aggressive Streichung ganzer Seiten aus der eigenen Geschichte, die `umgekehrte Diskriminierung` der Mehrheit zugunsten einer Minderheit und die Forderung, die traditionellen Vorstellungen von Mutter, Vater, Familie und sogar Geschlecht aufzugeben, Meilensteine auf dem Weg zur gesellschaftlichen Erneuerung sind. Hören Sie, ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass sie ein Recht darauf haben, wir halten uns da raus. Aber wir möchten sie bitten, sich auch aus unseren Angelegenheiten herauszuhalten. […]

Die Verfechter des so genannten `sozialen Fortschritts` glauben, dass sie die Menschheit in eine Art neues und besseres Bewusstsein einführen. Viel Glück, hisst die Fahnen, wie wir sagen, macht weiter so. Das Einzige, was ich jetzt sagen möchte, ist, dass ihre Rezepte überhaupt nicht neu sind. Es mag einige überraschen, aber Russland war schon einmal an dieser Stelle. Nach der Revolution von 1917 sagten auch die Bolschewiki, gestützt auf die Dogmen von Marx und Engels, dass sie die bestehenden Sitten und Gebräuche ändern würden, und zwar nicht nur die politischen und wirtschaftlichen, sondern auch den Begriff der menschlichen Moral und die Grundlagen einer gesunden Gesellschaft. Die Zerstörung uralter Werte, der Religion und der zwischenmenschlichen Beziehungen, bis hin zur völligen Ablehnung der Familie […]

Wenn wir uns ansehen, was in einer Reihe westlicher Länder geschieht, sind wir erstaunt über die dortigen Praktiken, die wir, wie ich hoffe, glücklicherweise in der fernen Vergangenheit gelassen haben. […] Das ist noch schlimmer als die Agitprop-Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. […] In einigen westlichen Ländern hat sich die Debatte über die Rechte von Männern und Frauen zu einem perfekten Hirngespinst entwickelt. Hüten Sie sich davor, dorthin zu gehen, wo die Bolschewiken einst hinwollten – nicht nur die Hühner, sondern auch die Frauen zu vergemeinschaften. Noch einen Schritt weiter und Sie sind am Ziel.

Eiferer dieser neuen Ansätze gehen sogar so weit, dass sie diese Konzepte ganz abschaffen wollen. Jeder, der es wagt, zu erwähnen, dass es Männer und Frauen gibt, was eine biologische Tatsache ist, riskiert, geächtet zu werden. `Elternteil Nummer eins` und `Elternteil Nummer zwei`, `gebärender Elternteil` statt `Mutter` und `menschliche Milch` statt `Muttermilch`, weil es die Menschen, die sich ihres eigenen Geschlechts nicht sicher sind, verunsichern könnte. Ich wiederhole, das ist nichts Neues; in den 1920er Jahren erfanden die so genannten sowjetischen Kulturträger ebenfalls eine Art Neusprech, […]

Ganz zu schweigen von einigen wirklich ungeheuerlichen Dingen, wenn Kindern von klein auf beigebracht wird, dass ein Junge problemlos ein Mädchen werden kann und umgekehrt. Das heißt, die Lehrer zwingen ihnen tatsächlich eine Wahl auf, die wir angeblich alle haben. Dabei schließen sie die Eltern aus dem Prozess aus und zwingen das Kind zu Entscheidungen, die sein ganzes Leben verändern können. […] Um es beim Namen zu nennen: Das grenzt an ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und es geschieht im Namen und unter dem Banner des Fortschritts. […]

Ich habe bereits erwähnt, dass wir uns bei der Gestaltung unserer Ansätze von einem gesunden Konservatismus leiten lassen werden. […] Jetzt, wo die Welt einen strukturellen Umbruch erlebt, hat die Bedeutung eines vernünftigen Konservatismus als Grundlage des politischen Kurses um ein Vielfaches zugenommen – gerade weil sich die Risiken und Gefahren vervielfachen und die Realität um uns herum zerbrechlich ist […].Es geht in erster Linie um das Vertrauen in eine bewährte Tradition, um den Erhalt und das Wachstum der Bevölkerung, […] und um eine grundsätzliche Ablehnung vom Extremismus als Methode.“[54]

Ein ermutigendes Signal!? Ich würde einen großen Teil des Inhalts der Rede irgendwo ansiedeln bei Trump und der AFD. Fortschrittlich klingt anders.

Karaganow misst in seinem Aufsatz aber den Inhalten dieser Rede von Putin große Aufmerksamkeit zu und empfiehlt sie seinen Lesern. Und tatsächlich geht es ihm, wie oben in dem Eingangszitat zu diesem Unterkapitel gesagt, darum, dass ein Staat, insbesondere, wenn er große Aufgaben zu bewältigen hat, auch ein inneren Kitt braucht – einen nationalen Gedanken. Und wie kann er anders sein im Imperialismus als der Bezug auf traditionelle und angeblich eigene jahrhundertealte kulturelle Werte.

Karaganow sagt, ein Sieg im oben genannten Sinne, sei unmöglich ohne Überwindung eines „offensichtlich schädlichen ideologischen Fundamentes“ und der Erneuerung eines solchen. Jahrzehntelang habe man im „Dunkeln“ eines von „außen importierten Marxismus“ gelebt, den man aber kürzlich, wie er sagt, „genüsslich verdrängt“ habe. Danach, und darauf spielt Putin in seiner Rede an, sei man „unter einem neuen, von außen importiertem Dogma gefallen“, diese sei die „liberal-demokratische Ideologie“ und das habe u.a. dazu geführt, dass man „Territorien verloren“ habe. Um dann die Frage nach dem „Fundament des Staates“ aufzuwerfen und zu beantworten: dieses läge in der Liebe zur Familie und zur Heimat aber die Werte der Geschichte, der Heimat, des Glaubens und des Geschlechts seien bedroht von einem aggressiven LGBTismus und Ultrafeminismus.[55]

Abschließend geißelt er einen Konsumismus in der heutigen Welt, der zu einer „Sättigung“ des Menschen geführt habe.

„In der heutigen Welt haben die Entwicklung der Technologie und das Wachstum der Produktivität zu einer Sättigung der meisten Menschen geführt, gleichzeitig aber auch zu einem Zustand gewohnheitsmäßiger Anarchie und auf globaler Ebene zu einem Verlust der gewohnten Bezugspunkte für die meisten.“ Um sich anschließend wieder seinem eigentlichen Thema zu widmen, der Außenpolitik: „Vielleicht sind es nicht mehr die wirtschaftlichen, sondern die sicherheitspolitischen Interessen, die wieder in den Vordergrund rücken: die Instrumente der militärischen Gewalt und der politische Wille, die dies gewährleisten.“

Unnötig zu sagen, dass er sich gegen Rüstungskontrolle ausspricht, die er als „grobschlächtig erfundene Torheit“ bezeichnet, auf die „die sowjetische Führung hereinfiel“? Und unnötig zu sagen, dass er die bürgerlich parlamentarische Demokratie schlechthin anzweifelt, wenn er sich fragt, „ist die Demokratie wirklich die Krone der politischen Entwicklung?“.

Zwischenfazit

Ist anzunehmen, dass ein solcher Staat und ein Konzept eines Staates auf dieser Grundlage Hoffnung wecken kann, dass sein Streben, dem Westen bei seiner Talfahrt mit einem Tritt in den Allerwertesten behilflich zu sein und mittels „konstruktiver Zerstörung“ die „Eskalation beherrschen“ will, um eine neue Weltordnung zu etablieren, dass diese neue „Multipolarität“ Fortschritte für die Menschheit und die Arbeiterklassen der Länder beinhalte? Ist anzunehmen, dass die Arbeiterklasse in Russland und die Arbeiterklassen derjenigen Länder, die möglicherweise vor der „Landnahme“ durch Russland stehen, etwas an diesem Staatskonzept Positives zu gewinnen haben? Ich denke, das ist nicht so.

Die ganze Konzeption, wie sie hier zum Ausdruck gebracht wird, das Streben des russischen kapitalistisch-imperialistischen Staates, ist zutiefst reaktionär, gleicht einem autoritären Staatskonzept und ist darauf ausgerichtet seine Interessenssphären auch militärisch und aggressiv zu verteidigen und auszudehnen. Die Arbeiterklasse und die Völker Russlands sollen dabei unter einer ideologischen Haube genommen werden, die an der einer „Schicksalsgemeinschaft“ oder „Volksgemeinschaft“ erinnert. Mancher Opportunist und Sozialchauvinist versucht dem ganzen Gedanken der sogenannten „Russischen Welt“ einen fortschrittlichen Charakter anzudichten, vergleiche dazu Sjuganovs Elaborat „Der russische Kern der Macht – Manifest von Gennadi Sjuganow“[56]. Es würde jetzt zu weit gehen, auf diese Rechtfertigung einzugehen und es kann nur empfohlen werden, sich damit eingehender zu beschäftigen, und ist auch nicht unser Thema. Abschießend möchte ich dieses Kapitel trotzdem mit folgendem Zitat aus dem „Manifest“ Sjuganovs, das zeigt, mit welchen „Argumenten“ von sozialchauvinistischer Seite die angebliche „Fortschrittlichkeit“ gepriesen wird:

„Ohne die Würde und die Interessen anderer ethnischer Gruppen, die das multinationale russische Volk bilden, herabzusetzen, muss anerkannt werden, dass die russische Frage heute die akuteste und aktuellste ist. Das Schicksal Russlands und aller Völker, die sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR leben, hängt von seiner Entscheidung ab. […] für ein Land, in dem 80 % ethnische Russen sind, sollte das wichtigste Element der nationalen Politik das Programm zur Rettung der ursprünglichen russischen Zivilisation und der Wiederbelebung der Russen als Rückgrat des Vaterlandes sein.

In Rus entstand viel früher ein gemeinsames patriotisches Gefühl als die politische, wirtschaftliche oder kulturelle Einheit der Völker, die es bewohnten. […] es war dieses Volk, das es trotz der scheinbar unüberwindbaren Hindernisse schaffte, die größte Macht auf dem Planeten zu schaffen. Weil sein Wille von unbeugsamem Patriotismus zusammengehalten wurde […]. Die Einzigartigkeit und Stärke der russischen Welt liegt in der Tatsache, dass sie bestrebt war, die besten Eigenschaften von Ost und West zu kombinieren, aus einer Kombination von hoher Spiritualität, dem Festhalten an traditionellen Werten und Kollektivismus und innovativem Denken hervorgegangen ist, das nach Wissenschaft strebt und kulturelle Höhen. […]

Kollektivismus, Souveränität, Selbstversorgung des russischen Staates, der Wunsch, die höchsten Ideale von Gerechtigkeit und Brüderlichkeit zu verkörpern, sind die Grundwerte der russischen Zivilisation. […] Der russische Staat als einzigartige Zivilisation und als Großmacht ist das wichtigste historische Ergebnis der Aktivitäten des russischen Volkes. […]

Das von den Russen geschaffene Reich ist das einzige in der Weltgeschichte, dass sich nicht durch Eroberung, Raub und Vernichtung anderer Völker entwickelt hat, sondern durch verbündete Einheit mit ihnen, in der Regel auf freiwilliger Basis. Auf diesem Weg mussten die Russen nur dann zu den Waffen greifen, wenn sie die mit ihnen verbündeten Völker unter ihren Schutz nahmen und ihnen halfen, sich gegen die mit Vernichtung drohenden Eindringlinge zu verteidigen.“[57]

Noch Fragen?

China

Vorweg, ich bin weder China noch Russlandexperte. Erst in den letzten 4 Jahren habe ich mich wieder intensiver mit den beiden Ländern befasst. So habe ich mich erst mit der Auseinandersetzung in der DKP – in der ich 23 Jahre organisiert war – über die Rolle Russlands als vermeintlich „objektiv anti-imperialistisch“ und mit der jüngeren kapitalistischen Entwicklung Russlands eingehender auseinandergesetzt. Auch habe ich mich überhaupt intensiver mit der politischen Entwicklung in der VR China beschäftigt, nachdem in der DKP plötzlich ein Hype um den „chinesischen Weg zum Sozialismus“ gemacht wurde und dies offensichtlich zusammenhing mit der Propagierung der Seidenstraße durch die VR ab Mitte der 2010er Jahre.

Wenn wir uns Chinas gegenwärtige Außenpolitik anschauen und bewerten wollen, sollten wir uns einen Überblick auf Chinas Wirtschaftsbeziehungen verschaffen und ihre ökonomische und politische jüngere Geschichte studieren. Ich will mit letztem Beginnen, um nachzuzeichnen, wie die Außenpolitik der VR China mit ihrer Abwendung von der Sowjetunion in der DKP reflektiert wurde und was andere Kommunistische Parteien für Erfahrungen mit ihr gemacht haben. Vorweg aber eine Karte der Belt and Road Initiative (BRI), die einen kleinen Einblick vermittelt.

Es gibt unzählige Darstellungen der BRI, diese hat den Vorteil auch Amerika einzubeziehen.[58]

Zu sehen sind, blau dargestellt die Schifffahrtswege, gelb die Überlandrouten (Bahnrouten), einige Beteiligungen der VR an Häfen (rot dargestellt mit Mehrheitsbeteiligungen) und dunkelgrün wurden die Staaten eingefärbt, in welchen die VR Platz 1 als Handelspartner belegt, etwas heller eingefärbt die Staaten in denen China den 2. Platz und hellgrün den 3. Platz einnimmt.

Wir widmen uns gleich nochmal der BRI, um an Beispielen zu zeigen, wo die chinesischen Wirtschaftsinteressen liegen und was das mit ihrer Außenpolitik zu tun hat. Dies aber vorweg. Dies ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen, ob die gegenwärtige von China geschaffene Belt and Road fortschrittlich gemeint ist und gemeint sein kann.

Chinas Außenpolitik der 1960er Jahre bis zur Konterrevolution 1989/91: konterrevolutionär, antisowjetisch, nationalistisch

Unumstritten war in der DKP jahrzehntelang Chinas negative Rolle in der internationalen Politik, ihre Zusammenarbeit mit dem Imperialismus und ihre destruktive Rolle in der Internationalen Kommunistischen Bewegung. Für mich stand vor ein paar Jahren die Frage, was ist passiert, dass in der DKP plötzlich eine ganz andere Bewertung vorgenommen wurde. Obwohl ich mich vorher nie intensiv mit der Position der alten DKP beschäftigt habe, war das für mich trotzdem eine Überraschung. Aus dem wenigen, was ich über die Reformprozesse in China und ihrer kapitalistischen Entwicklung der 1990er Jahre und ihre Zusammenarbeit mit der SPD und der Hans-Böckler-Stiftung wusste, war für mich klar, dass wir es mit einem kapitalistischen China zu tun haben. Einem China, wo vielleicht noch nicht das letzte Wort gesprochen ist, da die KP die Macht hat und es vielleicht doch noch eine „Wende“ hin zu Wiederverstaatlichung und sozialistischer Planwirtschaft geben könnte. Wenngleich dies auch nicht ohne revolutionären Umbruch möglich sei, so war das plötzliche Schönreden der Privatisierung als vermeintliche chinesische Kopie der Neuen Ökonomischen Politik Anfang der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts in der Sowjetunion für mich an den Haaren herbeigezogen und hielt keiner Prüfung stand. Schließlich bestand dies Anfang und Mitte der 1920er Jahre darin, die Folgen des Bürgerkrieges und imperialistischer Intervention zu begegnen, in dem inländisches und ausländische Kapital ein gewissen Spielraum erhielten, um, und das ist entscheidend, den verstaatlichten Sektor auszubauen. Sowie sich die sozialistischen (staatlichen und genossenschaftlichen) Produktionsverhältnisse stabilisiert und die Hegemonie erlangten, wurde die NEP abgeschafft und die sich wieder entwickelten kapitalistischen Produktionsverhältnisse revolutionär überwunden. In der VR China wurden dagegen kapitalistischeProduktionsverhältnisse seit den späten 1970er Jahren mehr und mehr entwickelt, Produktionseinheiten mehr und mehr privatisiert und die gesamtgesellschaftliche Planung von Produktion und Distribution eingeschränkt.

Diese Wirtschaftspolitik der Öffnung der chinesischen Wirtschaft für ausländisches Kapital sowie die schrittweise Privatisierung der sozialistischen Produktionseinheiten[59] begann in den 1970er Jahren und steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der konterrevolutionären Rolle, die China einnahm. Man kann mit einigem Recht sagen, dass die VR eine enge Zusammenarbeit mit der USA einging und – in einem Spiel mit verteilten Rollen – eine wichtige Schachfigur im gemeinsamen Kampf der imperialistischen Staaten gegen die sozialistischen Staaten war. Dafür wurde sie reichlich belohnt, militärisch und finanziell und wurde wirtschaftlich in das kapitalistisch-imperialistische Weltsystem aufgenommen.

„Die rasante wirtschaftliche Entwicklung der VR China beruht auf der Politik der KPCh, die seit den Gesprächen zwischen Zhou und Kissinger während Kissingers Geheimbesuch in Peking im Juli 1971 darauf abzielte, sich der imperialistischen transnationalen Durchdringung zu öffnen und gleichzeitig die politische Zusammenarbeit mit dem Imperialismus auf einer wütenden antisowjetischen Plattform zu formalisieren“, schreibt die PKP-1930 in einer Vorlage für ihren letzten Parteitag.[60]

1971, das war noch zu Zeiten Mao-Tse-Tungs. In den 1960er Jahren, das setzte ich als allgemein bekannt voraus, kam es zum Bruch der VR China mit der Sowjetunion. Vordergründig und damit erklärt, ging es der VR um die Ablehnung des Kurses von Nikita Chruschtschow und der Verteidigung des Leninismus. Mit der so genannten „großen proletarischen Kulturrevolution“ sollte, wie behauptet wurde, der Chinesische Sozialismus gerettet werden vor denen – analog zu den Chruschtschowianern – die den „kapitalistischen Weg gehen wollen“. In Wirklichkeit war das eher eine Palastrevolution in der Mao Tse-Tung alle Widersacher hinwegputschen ließ und die Partei von Grund auf zerstörte. Auch ist es nicht wahr, dass damit der sozialistische Weg gesichert wurde, vielmehr wurde der anfängliche Weg zum Sozialismus abgebrochen und Maos Theorie der gemischten Wirtschaft gegen den Willen der Partei durchgedrückt.

Die Marxistischen Blätter (MBL) schrieben 1969:

„Im Oktober 1968 wurde, unter Mißachtung wesentlicher Bestimmungen des Parteistatuts, das XII. Plenum des ZK der KPCh abgehalten. Diese Versammlung ausgesuchter Maoisten hatte lediglich den Zweck, die Ergebnisse der `Kulturrevolution` zu billigen. […] Damit hat die Gruppe Mao Tse-tungs eine neue Stufe der Durchsetzung ihrer Politik erreicht. Nachdem die KPCh als führende Kraft ausgeschaltet, die Volkskongresse, die gewählten Organe der Staatsmacht auseinandergejagt, die Gewerkschaften, der Jugendverband und alle sonstigen gesellschaftlichen Organisationen offiziell und faktisch aufgelöst worden sind, […]. Das neue maoistische Regime ist damit eine militärbürokratische Diktatur, das die Teilnahme der werktätigen Bevölkerung an der Regierung und ihre Interessenvertretung in keiner Weise zuläßt, jede Opposition unterdrückt, das Gegenteil sozialistischer Demokratie.“ Und weiter: „Die einzige Klasse jedoch, die in ihren entscheidenden ökonomischen und sonstigen Rechten und Privilegien ungeschoren blieb, ist die nationale Bourgeoisie!“[61]

Acht Jahre später, zum XI. Parteitag der KPCh, schreiben die Marxistischen Blätter:

„Die neue Führung stützt sich noch mehr auf die Armee als ihre Vorgänger. Der Einfluß hoher Offiziere im Zentralkomitee, im Politbüro und in anderen parteilichen und staatlichen Schlüsselpositionen ist beträchtlich. […] Auch in der zukünftigen außenpolitischen Linie Chinas bekräftigte der Parteitag das Festhalten an den maoistischen Grundsätzen des Großmachtchauvinismus und Antisowjetismus, ja es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, er habe eine weitere Verschärfung dieses Kurses eingeleitet. Der X. Parteitag hatte 1973, wenn auch nur pro forma, noch beiden Supermächten den Kampf angesagt“, diesmal wurde behauptet: „Die Sowjetunion befinde sich weltweit in der `Offensive`, während die USA in die `Defensive` geraten seien, das bedeute, daß heute alle Kräfte und der Hauptstoß gegen die Sowjetunion gerichtet werden müßten, während die USA zur Zeit keine Gefahr darstellten! Zur Begründung dieser wahnwitzigen Behauptung berief sich Hua Kuo-Ieng auf die 1974 erstmals aufgestellte Theorie der „drei Welten“ von die Deng Hsiao-p’ing.“[62]

Diese „Drei-Welten-Theorie“ besagte, dass sich die 2te und 3te Welt gegen die Erste stellen solle. Mit der 2ten Welt sind alle kapitalistischen Staaten außer der USA, mit der 3ten die sogenannten Entwicklungsländer gemeint, in die sich die VR ebenfalls verortete. Wie die MBL hier darlegte, nahm die VR die USA aus dem Schussfeld, um schließlich zu einer Zusammenarbeit mit den USA überzugehen, gegen den „Hauptfeind“ Sowjetunion bzw. dem sozialistischen Block. So wurde Mitte der 1970er Jahre eine militärische Zusammenarbeit mit dem „Westen“ angestrebt und auch realisiert. Die MBL schreibt u.a. von gegenseitigen Besuchen französischer und chinesischer Generäle. Weiter das China „Waffenkäufe in der BRD, den USA, Frankreich und Großbritannien, mit Rüstungskonzernen wie Messerschmitt-Bölkow-Blohm und Rolls Royce“ tätigte und plane. „Es ging“ dabei „um französische Hubschrauber und Düsenflugzeuge, britische Triebwerke, amerikanische Rechentechnik, deutsch-französische Lenkwaffen, Panzer- und Luftabwehrraketen, schwere Hubschrauber und manches andere.“[63]

Diese „Theorie“ wurde später weiter entwickelt zur Theorie des Sozialimperialismus. (Siehe Spanidis 2018.[64])

Fidel Castro – der in seinen späteren Jahren offensichtlich seine Position zu China änderte und bspw. 2009 von China als einer Stütze für die Länder der Dritten Welt sprach[65] – sagte damals über diese Politik der VR „Es gibt keinen einzigen Aspekt der internationalen Lage, in dem sich die Politik der chinesischen Führung mit der Politik des Imperialismus nicht decken würde.“[66]

Gut, kommen wir zu den Beweisen:

Vietnam / Kambodscha

„Ein charakteristisches Beispiel ist die Haltung Chinas gegenüber dem kämpfenden Volk Vietnams während der Zeit seines nationalen Befreiungskampfes“, schreibt die KKE in ihrem 2010 veröffentlichten Aufsatz „The International role of China“, erschienen in der International Communist Review, Nr. 6.[67]

Was war damals geschehen? Während die SU das vietnamesische Volk gegen die USA-Aggression unterstützte, versuchte die VR China diese Hilfe zu blockieren und lehnte Ansuchen der Regierung der SU ab, Hilfs- und Waffenlieferungen über chinesisches Territorium zu führen. Stattdessen drangen mit dem Sieg 1975, unmittelbar nach der Befreiung Saigons, chinesische Streitkräfte in die von Vietnam verwalteten Paracelsus-Inseln ein und begannen, diese nach einem Massaker an ihren vietnamesischen Verteidigern zu besetzen. Inzwischen kam es in Kambodscha zu einem Putsch gegen den damaligen Präsidenten, unterstützt von den USA. Dieser Putsch wurden von den Roten Khmer ihrerseits unterstützt, in dessen Verlauf die Khmer die gesamte Macht übernahmen. Die Roten Khmer waren dabei Verbündete der VR China.

Die PKP-1930 schreibt hierüber, das „die KPCh […] die hegemoniale Macht hinter dem maoistischen Regime der Roten Khmer unter der Führung von Pol Pot“ war und bis zur Befreiung Kambodschas durch die militärische Hilfe des sozialistischen Vietnams „bis Januar 1979 […] indirekt das wahnsinnige maoistische Massaker an fast drei Millionen Kambodschanern“ unterstützte. Damit nicht genug, mit der Vertreibung der Roten Khmer durch einheimische Kräfte und vietnamesischer Streitkräfte – dem voraus gingen wiederholte Angriffe der Roten Khmer auf Vietnam  – beeilte sich die VR eine Strafexpedition gegen Vietnam durchzuführen und fielen vom 17. Februar bis 16. März 1979 mit 600.000 Soldaten in mehrere Städte im Norden Vietnams ein und plünderten diese, wobei Zehntausende von Zivilisten getötet wurden[68]. Wie KKE schreibt, ging dem „im Februar 1979 ein Besuch des chinesischen Vizepräsidenten Deng Xiaoping in Washington voraus, der von der Notwendigkeit sprach, `Vietnam eine blutige Lektion zu erteilen`, was von den amerikanischen Politikern begrüßt wurde, die die Lieferung von Waffen aus westlichen Ländern versprachen.“[69] Beim Rückzug aus Nordvietnam zerstörten dann die Truppen der VR China alle Infrastrukturen entlang des Weges und plünderten alle nützlichen Ausrüstungen und Ressourcen, einschließlich des Viehbestands.

Seit dieser Zeit gab „es viele Kontakte auf verschiedenen Ebenen zwischen China und den USA. Am 4. November 1979 wurde in der „New York Times“ ein offizielles „durchgesickertes“ Dokument veröffentlicht, in dem erwähnt wurde, dass die amerikanische Militärhilfe für die People‘s Liberation Army of China auf 50 Milliarden Dollar geschätzt wurde, um `ein Hindernis für die Rote Armee zu bilden`. Als der Minister für Forschung und Ingenieurwesen, William Perry, 1980 Peking besuchte, informierte er die Chinesen darüber, dass die Regierung der USA „die Ausfuhr von 400 Lizenzanträgen für verschiedene Arten von Zweizweckgütern und militärischen Geräten genehmigt habe.“[70]

Auch sollen die USA wie die VR China noch lange nach dem Sturz der Roten Khmer diese politisch und militärisch unterstützt haben, als diese sich in den Dschungeln Thailands versteckte; auch als legitime Vertreter Kambodschas in der UNO.[71]

Afghanistan

Die KKE schreibt, dass „China Teil eines `Blocks` der Kräfte war, die von den USA zusammen mit Saudi-Arabien, Pakistan und anderen gebildet wurden“[72], um die reaktionär-islamischen Kräfte gegen die demokratisch-sozialistische Umwälzung in Afghanistan zu unterstützen, auszubilden und zu finanzieren.

Während die sozialistisch orientierte Regierung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (PDPA) ab 1978 von der UdSSR und anderen Mitgliedern der sozialistischen Gemeinschaft unterstützt wurde, unterstützte die KP China andererseits die vom US-Imperialismus zusammengestellten antirevolutionären und ultrareaktionären „Mudschaheddin“-Kräfte, zu denen auch Al-Qaida gehörte. Über ihre schmale Grenze zu Afghanistan leistete die VR China den antikommunistischen dschihadistischen Kräften militärische Hilfe und schon bald gesellten sich in der VR China hergestellte Panzerabwehrraketen, Panzerfäuste und andere Waffen zu den US/NATO-Waffen, mit denen die afghanischen Regierungstruppen und die sowjetischen internationalistischen Kräfte getötet und verstümmelt wurden.[73]

Matin Baraki, selbst Afghane und bekannter deutscher Friedensaktivist, veröffentlichte 2007 einen längeren Aufsatz in der Zeitschrift Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung, in der er sehr akribisch die chinesische Unterstützung der reaktionären islamischen Terroristen beschrieb und ihre Zusammenarbeit mit den USA, um die volksdemokratische Entwicklung in Afghanistan rückgängig zu machen und der Sowjetunion eine Niederlage zu bereiten:

 „In einem Artikel des kanadischen Magazins McLeans vom 30. April 1979, so führt er auf, wurde auf die Beteiligung Chinas an der Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Modjahedin hingewiesen. US-amerikanische Agenten der Behörde für Rauschgiftbekämpfung in Pakistan hätten an der afghanisch-pakistanischen Grenze Chinesen entdeckt, die zunächst für Rauschgifthändler aus Hongkong gehalten, später als chinesische Offiziere und Instrukteure identifiziert worden seien. Die japanische Nachrichtenagentur Kyodo berichtete, dass `1.000 von Chinesen ausgebildete pakistanische Guerillaexperten für ultrasubversive Aktivitäten abkommandiert wurden, um Blitzaktionen gegen afghanische Truppen durchzuführen, welche die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan bewachen`. Kyodo stellte weiter fest, dass `die Guerillas von ihren Ausbildungsbasen bei Kashgar in der Provinz Xingjiang` (in China) in die durchdringbaren Grenzgebiete Afghanistans geschickt werden.

Mitte Januar 1980 berichtete die Neue Zürcher Zeitung über einen `großen Plan` zum Sturz der afghanischen Regierung sowie über Trainingslager und Finanz-, Ausbildungs- und Waffenhilfe unter Beteiligung der VR China. Waren die Modjahedin bis zur militärischen Intervention der SU noch versteckt unterstützt worden, so erhielten sie jetzt offen Unterstützung aus Peking. Für den Widerstand wurden aus 40 islamischen Staaten, aber auch aus Ländern mit islamischer Bevölkerung Kämpfer rekrutiert. Dazu gehörte auch China mit rund 20 Millionen Muslimen, darunter ca. 9 Millionen Hui und etwa 8 Millionen Uiguren aus der Provinz Xingjiang in Nord-West China. Dort wurden auch afghanische Modjahedin in fünf Lagern an chinesischen Waffen ausgebildet.

Infolge der sowjetischen Intervention in Afghanistan kam es zwischen den USA und China zur Vereinbarung einer engen militärischen Kooperation. Zu diesem Zweck war US-Verteidigungsminister Harold Brown am 8. Januar 1980 nach China gereist, wo er eine siebenstündige Unterredung mit dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Geng Giao und Außenminister Huang Hua geführt hatte. Beim Besuch der sechsten Panzerdivision der Volksbefreiungsarmee im Peking sagte er: `Ich freue mich auf verstärkte Zusammenarbeit des amerikanischen Militärs und des chinesischen Militärs`. Brown hatte dem starken Mann Chinas, Deng Hsiaoping, eine koordinierte Politik bezüglich Afghanistans vorgeschlagen.“ Soweit Baraki.[74]

Pakistan

Sind wir bei Afghanistan, so muss man Pakistan nennen. Wie Baraki erwähnt, erfolgte die Unterstützung der Mudschaheddin u.a. über die pakistanische Grenze. China unterhielt seit langen enge Beziehungen zu Pakistan und leistete dem Land großzügige Entwicklungs- und Militärhilfe. Man sollte wissen, dass zu diesem Zeitpunkt eine Militärjunta unter General Mohammed Zia-ul-Haq Pakistan regierte. Dieser rief 1977 das Kriegsrecht aus und begründete damit die dritte Militärdiktatur Pakistans. Auch leitete er die Islamisierung Pakistans ein, unter anderem, indem er die Scharia als Rechtsgrundlage einführte.[75] Infolge der sowjetischen Intervention im Dezember 1979 in Afghanistan wurde die Zusammenarbeit Chinas mit Pakistan intensiviert. Eine hochrangige chinesische Militärdelegation besuchte im März 1980 Pakistan und Anfang Mai 1980 reiste der pakistanische Präsident General Zia-ul Haq nach Peking, wo er sich mit Partei- und Regierungschef Hua Kuo-feng und weiteren führenden Politikern traf. Daraufhin verstärkte China die Lieferung von Infanteriewaffen und Artillerie an Pakistan. Anfang Juni 1981 besuchte der chinesische Ministerpräsident Zhao Ziyang Pakistan, wo er auch die Führer der afghanischen Mudschaheddin traf und weitere Waffenlieferungen zusagte.[76] Das ist auch zu erwähnen, weil seither der chinesische Einfluss in Pakistan erheblich gestiegen ist, so dass die pakistanische KP in einer ihrer jüngeren Veröffentlichungen zu den Ereignissen rund um den Abzug der US-Streitkräfte in Afghanistan u.a. betont, dass China inzwischen die Wirtschaft Pakistans dominiere.[77]

Afrika

Man könnte noch weiter ausholen. So das Engagement der VR China in Afrika. Auch hier wurden zutiefst reaktionäre Kräfte durch die KP China unterstützt. So unterhielt die VR China freundschaftliche Beziehungen zum südafrikanischen Apartheidsregime, boykottierte die Anti- Apartheidsbewegung und unterstützte die konterrevolutionären Kräfte in den Anrainerstaaten.

„Ein weiteres Beispiel“ so die KKE, aber auch die Philippinische KP, „ist die Haltung Chinas zum Bürgerkrieg in Angola, wo es die lokalen Reaktionskräfte (wirtschaftlich und militärisch) unterstützte, die gemeinsam mit den rassistischen Armeen Südafrikas, die in die Volksrepublik Angola eingedrungen waren, kämpften.“[78]

„Die Volksrepublik Angola wurde von Waffen- und Militärberatern aus der UdSSR und von Tausenden kubanischer Freiwilliger unterstützt, die freiwillig kämpften und entscheidend zur Zerstörung der südafrikanischen Streitkräfte und zur Niederlage der einheimischen reaktionären Kräfte beitrugen. Wie heute aus den deklassifizierten Dokumenten der CIA hervorgeht, gab es in diesem Zeitraum eine eigentümliche Form der `Koordination` zwischen den USA und China, einschließlich sogar der militärischen Operationen, die in Angola durchgeführt wurden“[79]

Dies als Beispiele, welche außenpolitische Rolle die VR China in der Zeit des Systemgegensatzes spielte.

Zwischenfazit

Auch wenn das weiter zu untersuchen ist, weitere Quellen herangezogen und eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Maoismus noch aussteht: In den 1950er/60er Jahren findet in der VR China ein Kampf in der KP statt, den Mao und seine Getreuen gewinnen. Die anfängliche an den Erfahrungen des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR orientierte Wirtschaftspolitik und Bevorzugung der Schwerindustrie wird abgebrochen[80], die sozialistischen Machtorgane wie Partei, Jugend und Gewerkschaften zerschlagen. Das Militär gewinnt massiv an Einfluss. Maos Theorie der „5-Säulen“[81] wird Doktrin, die nationale Bourgeoisie ist Teil des Konzepts des Aufbaues eines neuen Chinas. Antisowjetismus wird getarnt als Kampf gegen den Revisionismus, im Ergebnis wird die Internationale Kommunistische Bewegung gespalten.[82]

In den 1970er Jahren werden mit der Theorie der Drei-Welten der Kampf gegen die Sowjetunion als Hauptfeind begründet. Die USA unterstützen China militärisch, im Gegenzug öffnet China seine Wirtschaft, lässt ausländisches Kapital ins Land und fängt schrittweise an, die Staatsunternehmen zu privatisieren. Außenpolitisch stellt sie sich an die Seite der imperialistischen Länder, sabotiert den Befreiungskampf in Vietnam, schließlich greift sie Vietnam an und raubt ihr die Paracelsus-Inseln im südchinesischen Meer.

Ende der 1970er/Anfang der 80er Jahre ist sie Teil des großangelegten Kampfes gegen die Sowjetunion in Afghanistan, unterstützt die islamistische Militärdiktatur in Pakistan, bildet islamistisch radikale Kräfte aus und schickt auch eigene islamistische Kämpfer in den Krieg gegen die Volksrepublik in Afghanistan.[83] Ebenso engagiert sich China in Afrika bei der Bekämpfung des Einflusses des Sozialismus, indem sie gemeinsam mit den USA die von den sozialistischen Ländern unterstützten Befreiungsbewegungen bekämpft.

Im Gegenzug für all dies wird die chinesische Wirtschaft in das kapitalistische Wirtschaftssystem integriert und zur verlängerten Werkbank der transnationalen Konzerne. Die chinesische Arbeiterklasse dient dabei als internationaler Lohndrücker. In dem Zuge werden chinesische Staatsunternehmen umgestellt und schrittweise privatisiert, es entstehen eigene chinesische Monopolunternehmen, die heute, so muss man sagen, zu einem Konkurrenten der westlichen Monopole und zum Ärgernis für die USA werden. Mit dem Handelsexport steigt auch der Kapitalexport. Seit 2013 propagiert die neue chinesische Führung unter Xi Jinping die sogenannte Seidenstraße, auch Belt and Road Initiative genannt.[84]

Chinas imperialistische Außenpolitik heute

Eingangs schrieb ich – und illustrierte hierzu eine Karte der BRI – dass die Außenpolitik nicht von der Wirtschaftspolitik zu trennen ist. Genauer: die Ökonomie eines Staates, seine wirtschaftlichen Interessen, bestimmen die Außenpolitik.

Schauen wir uns eine andere Karte zur BRI nochmal genauer an.

Pakistan

Wir erwähnten Pakistan, zu der die VR schon lange Beziehungen hat und Einfluss ausübt. „Unwichtig“ zu erwähnen, dass China damit eine islamistisch-reaktionäre Militärjunta unterstützt?

Entlang der see-seitigen Initiative hat China Häfen aufgekauft, der pakistanische Hafen in Gwadar ist nur ein Mosaikstein in einer Reihe von chinesischen (privatkapitalistischen) Erwerbungen.

Im Rahmen der BRI findet ein Ausbau des China-Pakistan Ecomonic Corridor (CPEC) statt, ein Wirtschaftskorridor von Xingjang (Verbindung bis Usbekistan) über Wüstengebiete, den Afghanischen Bergen, durch Pakistan bis ans Meer nach Gwadar und von hier als Verbindung und Knotenpunkt zum Golf von Oman und dem Persischen Golf (VAS, Katar, Bahrein, Kuwait. Irak), zum Suezkanal als auch zur Afrikanischen Küste der BRI.

Gwadar liegt in Belutschistan. Nach Abzug der Briten 1947 aus Britisch-Indien annektierte Pakistan Teile Belutschistans (Belutschistan wurde aufgeteilt an Afghanistan, Iran und Pakistan) und gilt heute für viele als eine Kolonie Pakistans, die äußerst unentwickelt, in großer Armut und dem Fehlen jeglicher Grundversorgung gehalten wird.

In einem Umkreis von 70 km um Gwadar kaufte China alles Land auf, um einen Öl- und Containerhafen zu bauen. Errichtet wurden neben Hafenanlagen, Industrien und Wohnungen für chinesische Arbeiter – es arbeiten ausschließlich Chinesen auf den Anlagen! Darüber hinaus hat Pakistan den Hochseefischfang für (ausschließlich) chinesische Trawler legalisiert (und ruiniert damit die einheimischen Fischer). Die Hafenverwaltung wurde China für 35 Jahre übertragen.

In einem Interview mit der Roten Hilfe Zeitung[85], vom Januar diesen Jahres heißt es zur Situation der Belutschen und Chinas Einfluss auf die Region:

„Im Namen der `Entwicklung` einigten sich China und Pakistan auf ein milliardenschweres Projekt mit dem Namen China-Pakistan Economic Corridor (CPEC). Tausende von unschuldigen Menschen wurden gewaltsam vertrieben, weil China einen riesigen Hafen in Gwadar (Belutschistan) und Autobahnen, die durch Belutschistan führen, bauen will.

Das ganze Projekt wurde als Hoffnungsträger für die von Armut geplagten Menschen propagiert, aber in Wirklichkeit ist es nichts Anderes als Landraub und Ausbeutung von unschuldigen Menschen. Stattdessen wurde in den letzten Jahren die gesamte Stadt eingezäunt. Selbst die Menschen, die aus Gwadar kommen, brauchen eine Sondergenehmigung, um die Stadt zu betreten oder zu verlassen.“[86]

Es wird berichtet von Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen gegen Mitglieder und vermeintliche Sympathisanten der Belutschistanischen Unabhängigkeitsbewegung.

„Diese Präsenz des Militärs in jedem Winkel Belutschistans hat eine einschüchternde und beängstigende Wirkung auf die gesamte indigene Bevölkerung, insbesondere auf politische Aktivist*innen und ihre Familien, da jede*r ständig kontrolliert wird.

Neben der direkten Beteiligung des Militärs verfügt Pakistan über organisierte und geförderte nichtstaatliche Akteure, zu denen die belutschische Landmafia, die Drogenmafia, Kriminelle und religiöse Extremistengruppen gehören. Diese (belutschischen) nichtstaatlichen Akteure werden von der pakistanischen Armee vor allem dazu benutzt, Gebiete zu kontrollieren und Informationen über Aktivist*innen und ihre Familien zu erhalten.“[87]

Die Zustände und die brutale Unterdrückung der Bevölkerung wird auch von der Pakistanischen KP bestätigt. Der Bericht des Generalsekretärs der PKP auf dem 19. IMCWP von 2017 gibt Auskunft dazu:

„Liebe Genossen!

In Ländern wie Pakistan, in denen religiöser Terrorismus von staatlichen Organen offen unterstützt wird, dürfen religiöse Fanatiker und Reaktionäre frei agieren. Jede Person kann unter dem Vorwurf der Blasphemie entführt, gefoltert und getötet werden. […]

Ein aktuelles Beispiel ist das Lynchen eines Universitätsstudenten „Mashal Khan“ durch einen wütenden Mob in der KPK-Provinz[88]. Für die polizeiliche Registrierung des Falls braucht es einen Berg zu versetzen. Anwälte und Richter zögern, den Fall zu bearbeiten. Meistens lehnen sie es offen ab. […]

Religiöse Minderheiten stehen vor dem Schlimmsten. Ihre kleinen unschuldigen Mädchen werden entführt, vergewaltigt und gezwungen, ihre Religion zu ändern. Ihr Eigentum wird geplündert. Unter diesen schrecklichen Bedingungen wandern sie entweder massenhaft aus oder wechseln unfreiwillig ihre Religion. Die Bauern sind so verschuldet, dass sie wie Sklaven ohne Bezahlung für die Gutsbesitzer arbeiten müssen. Ihre Frauen sind sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Kleinbauern und Landwirte sind gezwungen, ihre Produkte auf dem Markt zu einem Preis zu verkaufen, der normalerweise unter den Produktionskosten liegt. Die Situation der Industriearbeiter ist nicht besser. Die Regierung hat 170 Dollar als Mindestlohn festgelegt, aber aufgrund des Vertragssystems werden ihnen monatlich 40 bis 70 Dollar gezahlt. Sie erhalten keinen Terminbrief, keine Sozialversicherung, keine Anmeldung bei der Arbeitnehmer-Altersvorsorgeeinrichtung. Ihnen wird das Vereinigungsrecht verweigert und Gewerkschaften gibt es in dieser Gruppe nicht. Echte Gewerkschafter müssen gegen Taschengewerkschaften, d.h. Hüter der Interessen des Arbeitgebers, kämpfen.“[89]

Zur Erinnerung: China duldet nicht nur diese Verhältnisse, sondern profitiert davon und stützt das Regime seit Jahrzehnten.

Über die Unterdrückung in Belutschistan/Pakistan heißt es weiter, dass Massengräber gefunden worden seien und dass es auch regelmäßig zu Entführung und Ermordung, auch von Familienangehörigen, von Aktivisten aus Belutschistan komme. Dass ihre Häuser verbrannt und bombardiert werden, auch, dass Exilanten, die über die Situation im Ausland aufklären, durch den pakistanischen Geheimdienst ermordet werden.[90]

„Wie präsentiert die offizielle Seite in China ihre Pakistan-Politik?“, fragt Anton Stengl in seinem Buch „Chinas neuer Imperialismus“, und gibt Auskunft:  

„Dazu gibt es eine Flut von Veröffentlichungen. China Social Sciences Press hat eine Reihe von Büchern des National Think Tank Report der Silk Road Academy zum Thema Belt  Road (OBOR) herausgebracht, darunter Band 9 The Development in the Four Economic Corridors of the Indien Ocean under the Cinese Belt and Road Perspective (2017).

Unter diesem neutralen Titel wird sehr anschaulich erklärt, dass es sich um die Schaffung einer weltweiten Herrschaftsstruktur (`new global governance framework`) unter der Führung Chinas handelt, von der aber die ganze Welt profitieren soll. In Belutschistan geht es konkret um die `unter der Leitung Chinas stehende Freihandelszone`, `den Transfer industrieller Technologie` und die `Bereitstellung von Ressourcen`. Der Hafen von Gwadar ist `China`s gateway to die Idian Ocean`.

Als Schwierigkeit in diesem Gebiet wird die `politische Unruhe, verursacht durch die Einführung ungeeigneter Wahlsysteme durch westliche Länder in Entwicklungsländern mit unreifen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen` genannt. […]

Wie sieht die chinesische Regierung die Unabhängigkeitsbewegung in Belutschistan? `As for the Baluch National Movement, we should strenghten cooperate with the Pakistani goverment in counter-terrorism.` […]

Im letzten, zusammenfassenden Kapitel des Bandes heißt es dann noch einmal, für `the protections oft he interests of China` sei ein `global anti-terrorism mechanism` nötig,  die Zusammenarbeit und Unterstützung der hiesigen Regierung bis hin zu `joint anti-terrorism operations`.“[91]

Eine klare Ansage, kommentiert Stengl und meint „Nicht nur die deutsche Demokratie wird `am Hindukusch verteidigt`, sondern auch die Interessen des chinesischen Kapitals am Indischen Ozean.“ Soweit zu Chinas Engagement in Pakistan.

Aber es ist kein Einzelfall, dass China ein doch sehr reaktionäres Regime unterstützt und wirtschaftlich davon profitiert:

Nach Süden zum nächsten Hafen haben wir Sri Lanka, wo gerade große Unruhen ausgebrochen waren und diese gewaltsam niedergeschossen wurden – der Gewerkschafter und Protestanführer Joseph Stalin von der Lehrergewerkschaft ist wieder auf freien Fuß und ruft auf mit den Aktionen nicht aufzuhören! – auch zu diesem Regime unterhält China gute und lange Beziehungen.

Oder nehmen wir Myanmar. Die dortige Militärregierung und China sind seit langer Zeit auf Du und Du. Auch Myanmar spielt in der BRI eine große Rolle. Auch da passt wohl die Aussage aus dem Buch, welches Stegel zitiert: Sie sei gegen die Einführung ungeeigneter Wahlsysteme …  in Entwicklungsländern mit unreifen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Zumindest erfreut sich China ungebrochener Freundschaft mit dem sich zurückgeputschten Militär.

Aber ich möchte mich einer anderen Region widmen, wo es immer heißt, China fördere dort die Entwicklung, nämlich Afrika.

Sudan

Ebenfalls eine islamistisch regierte Diktatur zu der die VR eine intensive Beziehung pflegt.[92] 2019 berichtet die Schwedische KP von einer Unterredung mit den sudanesischen Genossen am Rande des Internationalen Treffens der Kommunistischen und Arbeiterparteien.

„Die Geschichte des Sudan ist von Diktaturen geprägt. Die jüngste, 1989 gegründete, mit der Muslimbruderschaft als führende Kraft, begann damit, gegen die Kommunisten und die Gewerkschaften vorzugehen, die den Widerstand gegen sie anführten. Die gleiche Regierung, aber unter einem anderen Namen, ist immer noch an der Macht. Die National Congress Party (NCP) ist der Name der derzeitigen Regierungspartei des Landes, aber die Repression ist gleichgeblieben.

In den späten 1980er Jahren waren die Vereinigten Staaten mit der Ölförderung im Südsudan in vollem Gange, der um 1990 stillgelegt wurde. Als die Vereinigten Staaten abzogen, öffnete sich das Feld für China, das frühere US-Operationen übernahm. Die Routine, die die Chinesen im Sudan hatten, bestand darin, nur chinesische Arbeitskräfte einzusetzen. Sowohl Arbeiter als auch Beamte wurden aus China geholt und es wurden überhaupt keine Sudanesen angestellt.

In den großen Komplexen, in denen die Chinesen Öl förderten und Mineralien abbauten, brachten sie auch Sicherheitskräfte mit, die garantieren konnten, dass keine Außenstehenden hereinkamen. Wenn jemand zu nahe kommt, zögern die Wachen nicht, das Feuer zu eröffnen, sagen die sudanesischen Kommunisten.

Die Zusammenarbeit zwischen den Chinesen und der regierenden sudanesischen NCP war für die Chinesen fruchtbar, die bis 2011 mindestens 72 Milliarden Dollar aus dem Land holen konnten.

Gleichzeitig weigerten sich die Vertreter Chinas, Gespräche mit den sudanesischen Kommunisten zu führen und zogen stets Beziehungen zur Muslimbruderschaft / National Congress Party vor. Die sudanesischen Kommunisten sagen auch, dass die Chinesen sich geweigert haben, auf internationalen Konferenzen wie dem Weltkongress in Athen mit ihnen zu sprechen. Sie gehen früh, meiden sie oder machen Ausflüchte.

Vertreter der Kommunistischen Partei Sudans sprechen auch über etwas, das sie `die Taktik der verbrannten Erde` nennen und die China ihrer Meinung nach im Sudan anwendet.

Kurz gesagt, sie sagen, die Chinesen halfen bei der Zerstörung von mindestens 15.000 Dörfern und trugen zum Tod von 600.000 Menschen bei, indem sie Waffen, Munition und Militärhubschrauber lieferten, die gegen die Menschen eingesetzt wurden, um sie aus dem Land zu vertreiben. Inzwischen hat China das Land übernommen und betreibt neben der Förderung von Öl und Mineralien großflächige Landwirtschaft. Sie produzieren die landwirtschaftlichen Produkte im Sudan, exportieren dann aber – natürlich ohne dem sudanesischen Volk zu nützen“.[93]

Wenden wir uns dem Nordwesten Chinas zu. Die verschiedenen Routen der BRI (Eisenbahn, Gas und Erdöltrassen durchkreuzen die Länder Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan, Kasachstan auf den Weg nach Europa. Alle Wege gehen durch das autonome chinesische Xingjiang, eben welches, dass in der Zeit des Kampfes gegen die SU in Afghanistan Ausbildungslager und Rekrutierungsgebiet für islamische Kämpfer bildete.

Kasachstan

Die Ölpipeline Kasachstan–China ist Chinas erste direkte Ölimportpipeline, die den Ölimport aus Zentralasien ermöglicht. Eigentümer der Pipeline sind die China National Petroleum Corporation (CNPC) und die kasachische Ölgesellschaft KazMunayGas. Die 2.228 Kilometer lange Pipeline verläuft von Atyrau in Kasachstan nach Alashankou im chinesischen Xinjiang. Atyrau ist eines der Zentren der Arbeiterbewegung in Kasachstan und spielte im Generalstreik im Januar 2022, neben der Region Mangghystau, eine hervorgehobene Rolle. Die Sozialistische Bewegung Kasachstans (SMK) berichtete schon 2012/13, dass chinesische Eigentümer und kasachische Regierungsstellen bei der Unterdrückung berechtigter Forderungen der Arbeiter zusammenarbeiten, in dessen Zuge auch Gewerkschaftsführer verhaftet wurden. Sogar die chinesische KP mischte sich in den Konflikt zu Gunsten der chinesischen Eigentümer ein. Unter der Überschrift „Hände weg von Marat Karamanov und den Ölmännern von Aktobe!“ berichtete SMK am 10. Juni 2013, dass laut „des Genossen und Menschenrechtsaktivisten Alpamys Bekturganov Repressionen und Verfolgung von Arbeiteraktivisten durch chinesische Arbeitgeber der Great Wall Drilling Company LLP und Sonderdienste nicht aufhören“ und rief die IKB zu internationalen Solidarität auf.[94] Ein Konflikt, der sich in der ganzen Region ausbreitete und gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen in chinesischen Firmen anging. In der International Communist Review Nr. 9 kann man mehr darüber erfahren.[95]

Als im Januar 2022 die Regierung den aufstandsmäßigen Generalstreik, der seinen Ausgangspunkt am kaspischen Meer bei den Ölarbeitern nahm und in kurzer Zeit die Bergarbeiter Zentral-Kasachstans erreichte und schließlich das Land lahm legte, gewaltsam niederschlagen ließ, beeilte sich die Chinesische Staatsführung, wie auch die Biden-Regierung, sich an die Seite des Staatspräsidenten zu stellen. Die chinesische Global Times (GT) titelte am 07.01.2022: „Kasachstan stellt mit Hilfe des OVKS-Einsatzes und mit der festen Unterstützung Chinas die Ordnung wieder her. Der militärische Einsatz der OVKS ist legitim und notwendig, um Extremisten und externe Kräfte mit bösen Absichten abzuschrecken“. GT berichtete in dem Artikel von einem Telefonat Xi Jingpings mit dem Kasachischen Präsidenten Tokajew, und dass Xi diesem beglückwünsche „in einem entscheidenden Moment entschiedene und wirksame Maßnahmen ergriffen“ zu haben, „die Situation schnell unter Kontrolle gebracht und die Verantwortung eines Staatsmannes gegenüber dem Land und dem Volk gezeigt“ habe.[96]

Usbekistan

In Usbekistan gab es vor kurzem einen kleinen, aber heftigen Aufstand[97] im westlichen Teil des Landes. Auch hier unterstützte die VR China die offizielle Regierung. Hintergrund des Aufstands ist ein langfristiger Konflikt, der durch die Eingliederung einer ehemals Autonomen Sowjetrepublik in das konterrevolutionär gewendete Usbekistan, ausgelöst wurde. Die sich mehr der kasachischen Nationalität zugehörig fühlende und äußerst arme und industriell abgehängte Bevölkerung von Karakalpakstan sollte durch eine reaktionäre Verfassungsänderung in ihrem Autonomiestatus stark eingeengt werden und ihr Recht auf Loslösung aus dem Staat entzogen werden. Dies führte zu Ausschreitungen und wiederaufleben von Sezessionsbestrebungen. China, dass wirtschaftliche Interessen in Usbekistan hat, stützt die autokratische usbekische Führung und ist an geordneten friedlichen Verhältnissen interessiert. Als „freundlicher Nachbar Usbekistans und umfassender strategischer Partner unterstützt China die usbekische Regierung bei der Wahrung der nationalen Stabilität und glaubt, dass Usbekistan unter der Führung von Präsident Shavkat Mirziyoyev Ruhe und Einheit bewahren wird, kommentierte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Zhao Lijian, am Montag die jüngsten Vorfälle in Nukus, der Hauptstadt der autonomen Region Karakalpakstan in Usbekistan“, so die GT vom 04.07.2022.[98]

Dazu ist zu wissen, dass Usbekistan Teil der Konzeption der BRI ist und augenblicklich der Bau einer seit 1997 geplanten Eisenbahnverbindung China-Kirgisistan-Usbekistan beginnen soll. Die Eisenbahn soll die kürzeste Route für den Warentransport von China nach Europa und in den Nahen Osten sein, die Reise um 900 Kilometer verkürzen und sieben bis acht Tage Reisezeit einsparen.[99]

Die Politik Usbekistans wurde nach der Konterrevolution praktisch vollständig vom Präsidenten Karimovin in seiner 25-jährigen Regierungszeit bestimmt (1991–2016).    Nach seinem Tod hat die Präsidentschaft Shavkat Mirziyoyev übernommen.[100]

Turkmenistan

Nördlich angrenzend zu Usbekistan liegt Turkmenistan. Neben der genannten Eisenbahnlinie geht auch eine Gaspipeline von Xinjang durch Kasachstan und Usbekistan nach Turkmenistan. Hier wurde kürzlich durch das chinesische Unternehmen China National Petroleum Corp (CNPC) ein neues Gasfeld in Betreib genommen und soll dabei helfen, Chinas Gasversorgung zu decken. Chinas Botschafter in Turkmenistan spricht von einem goldenen Zeitalter der Zusammenarbeit, das für beide Staaten anbreche. Mit einer Gesamtlänge von 1.833 km und einer geplanten jährlichen Gastransportkapazität von 60 Milliarden Kubikmetern wurde die Pipeline im Dezember 2009 in Betrieb genommen. Inzwischen befindet man sich in der vierten Ausbauphase und erwartet das diese fast die Hälfte von Chinas Erdgasimporten ausmachen werden.[101]

Im deutschen Wikipedia Eintrag heißt es zum politischen Regime in Turkmenistan: „Die ehemalige Sowjetrepublik erlangte 1991 die Unabhängigkeit. In den Folgejahren wurde Turkmenistan vom ersten Präsidenten Saparmyrat Nyýazow in ein totalitäres System umgewandelt, das bis heute besteht. Turkmenistan gilt damit als einer der restriktivsten international anerkannten Staaten der Gegenwart. Die Menschenrechtslage ist äußerst kritisch, so ist zum Beispiel die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt.“[102]

Der Inhaber des Staatspräsidentenamtes ist zugleich Staats- sowie Regierungschef und ist mit weitgehend diktatorischen Vollmachten ausgestattet. Das Land hat ein präsidentielles Regierungssystem mit einer herrschenden Einheitspartei, der Demokratischen Partei Turkmenistans. Die neue Verfassung aus dem Jahr 2008 erlaubt nun auch Parteigründungen. Bis dato hat während der Präsidentschaft Nyýazows stets ein Einparteiensystem vorgeherrscht. Die einzig zugelassene neue Partei konnte bei der Parlamentswahl in Turkmenistan 2013 mit 14 Abgeordneten in das Parlament einziehen. Diese Entwicklung war allerdings nur möglich, da die „Partei der Industriellen und Unternehmer Turkmenistans“, so ihr Name, loyal gegenüber dem Präsidenten ist und keine politische Opposition darstellt. Die Registrierung oppositioneller Parteien ist in Turkmenistan weiterhin nicht möglich.

Die 9-Strich-Linie

Abschließend möchte ich mich zu Chinas Interessensphäre Südchinesisches Meer und dem Problem der so genannten 9-Strich-Linie widmen.

Wie auf den Karten der Belt and Road Initiative sichtbar ist, geht Chinas Außenhandel im Wesentlichen auch durchs Südchinesische Meer (SCS). Die Bedeutung dieser Seepassage ist nicht zu unterschätzen. Etwa 80 Prozent der Öl-Lieferungen in den Nordosten Asiens passieren das Südchinesische Meer und ca. ¾ des internationalen Handels.

Von den 3.685.000 km2, über die sich die Fläche des SCS erstreckt, beansprucht China 3 Millionen km2 als eigenes Gebiet. Um diesen Anspruch zu legitimieren, legte sie im Mai 2009 eine Karte mit „9-Strichen“ vor – 27 Jahre nach der Unterzeichnung des Seerechtsabkommens der VN, welche die Ansprüche der jeweiligen Anrainerstaaten am SCS regelt und welches China ebenfalls unterschrieben hat. Dabei geht diese 9-Strich-Karte auf eine Markierung des SCS durch die Kuomintang von 1947 zurück und soll auf die imaginäre Ausdehnung der sagenumwobenen Meereserkundungen der historischen Song-Dynastie (960-1279) beruhen.

Damit beansprucht China internationales Seegebiet und See- und Inselgebiete, die in „Ausschließlicher Wirtschaftszone“ (AWZ) der Anrainer liegen (Philippinen, Vietnam, Malaysia, Brunei und Indonesien).

Zwölf Jahre später, im Januar 2021 erließ China dann ein Gesetz, um seinen Besitzanspruch auf alle geologischen Merkmale und Ressourcen (Fisch, Öl, Gas und Mineralien) innerhalb der 9-Strich-Linie abzusichern. Dieses Gesetz erlaubt der chinesischen Küstenwache die Zerstörung von Bauwerken, die von anderen Staaten auf von China beanspruchten geologischen Merkmalen in der SCS errichtet wurden. Dass China sich nicht an internationale Vereinbarungen hält, die sie auch selbst unterschrieben hat, hat sie schon in der Vergangenheit bewiesen und sich illegal Gebiete anderer Staaten im SCS angeeignet. So hat sie den Philippinen 1988 das Subi-Riff, 1995 das Mischief-Riff, 2012 Scarborough Shoal und 2017 Sandy Cay geraubt. Schon 1974 „beschlagnahmte“ sie die zu Vietnam gehörende Crescent Group der Paracel-Inseln und verleibte sich 1988 das Johnson South Reef auf den Spratly-Inseln an. Vier Jahre nach der Veröffentlichung der ominösen 9-Striche-Karte, im Jahr 2013 beschlagnahmte China, wie kurz zuvor schon den Philippinen, die Inseln bzw. das Riff der Luconia Shoals von Malaysia.

Die philippinische Regierung hat am 22. Januar 2013 einen Antrag auf ein Schiedsverfahren beim Ständigen Schiedsgerichtshof der Vereinten Nationen gestellt. Diese entschied in einem Schiedsspruch vom 12. Juli 2016, dass Chinas „9-Strich-Linie“ ungültig ist.

Auch auf kommunistischer Seite ist das Vorgehen Chinas bemerkt und verurteilt worden. So schrieb die Philippinische Kommunistische Partei:

„Die Partido Komunista ng Pilipinas (PKP-1930, Kommunistische Partei der Philippinen) verurteilt die Verabschiedung eines neuen Gesetzes durch das chinesische Parlament am 22. Januar dieses Jahres, das am kommenden 1. Februar in Kraft treten soll und die chinesische Küstenwache ermächtigt, auf ausländische Schiffe zu schießen, die das von China unrechtmäßig beanspruchte Gebiet der „9-Strich-Linie“ durchfahren. Dieses Gesetz, das den Einsatz von Waffengewalt erlaubt, um seinen betrügerischen Anspruch auf fast das gesamte Südchinesische Meer (SCS) zu sichern, ist eine Kriegsdrohung gegen alle Länder, deren Schiffe diese Gewässer durchfahren, und insbesondere gegen einige seiner ASEAN-Nachbarn. […]

Die PKP-1930 [fordert] China auf, sein neues, kriegsbedrohendes Gesetz zurückzuziehen, die Bestimmungen über die Schiffssperrzone und die Luftverteidigungsidentifikationszone aufzuheben, die Freiheit der Schifffahrt und des Überflugs über die SCS zu respektieren, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und den Schiedsspruch vom 12. Juli 2016 zu respektieren. […]

Chinas absurde Behauptung von „historischen Rechten“ basiert auf einer „9-Strich-Linien“-Karte, die keine Koordinaten und keine exakten Entfernungen von chinesischen Basislinien aufweist und die China den Vereinten Nationen im Mai 2009 vorgelegt hat – also 27 Jahre nach der Unterzeichnung des UNCLOS, das auch China unterzeichnet hat. […]

Bisher hat sich China zu Recht auf das ´Jahrhundert der Demütigun` berufen, dass ihm durch den westlichen Kolonialismus zugefügt wurde. Aber durch die Inbesitznahme von Inseln und geologischen Besonderheiten und den Bau von künstlichen Inseln und Militärstützpunkten in den AWZ seiner drei Nachbarländer hat China begonnen, seinen drei Nachbarn, die ihm nichts getan haben, eine Zeit der Demütigung zuzufügen. Dies kann China nur Zorn und nicht Freundschaft einbringen. […]

Die Ausbeutung von Ressourcen kann nicht im Interesse eines echten sozialistischen Landes sein, sondern liegt nur im Interesse der gierigen Multimillionäre und Milliardäre, die einen imperialistischen Expansions- und Hegemonisierungskurs vorantreiben wollen. Leider ist es einer Reihe dieser Parasiten, die das wirtschaftliche Leben der Chinesen und anderer Völker in einem System namens `Sozialismus mit chinesischen Merkmalen` beherrschen, offenbar gelungen, sich in das Machtzentrum einzuschleichen, das man wohl als eine eigentümliche `kommunistische Partei mit chinesischen Merkmalen` bezeichnen könnte.“[103]

Damit möchte ich hier meine Ausführungen beenden. Vom SCS durch die Straße von Malakka (Meerenge zwischen Sumatra und Malaysia zum indischen Ozean) geht die Maritime Seidenstraße rund um den Erdball. Fast 2/3 der 50 größten Häfen der Welt an dieser Route sind im Besitz Chinas oder China hat Anteile daran – allein eine Passage an Taiwan in Richtung Osten vorbei nähert sie sich dem amerikanischen Kontinent von der anderen Seite. Und dies wäre dann auch nochmal ein Kapitel für sich: Taiwan.

Schlussbemerkungen

Eingangs schrieb ich, dass in unserer Diskussion um den Krieg in der Ukraine, auch wenn das nicht von allen Beteiligten offen ausgesprochen wird, die Frage, ob das Streben Russlands und Chinas nach einer „multipolaren Weltordnung“ als fortschrittlich und von den Kommunisten zu unterstützen sei. Ich denke, dass ich eine Reihe von Argumenten und Fakten zusammengetragen habe, die dies stark anzweifeln lassen.

Die Diskussion darum, ob das nach 1989/91 sich kapitalistisch gewendete Russland imperialistisch ist oder nur „kapitalistisch“, vielleicht sogar „objektiv anti-imperialistisch“, begleitet mich jetzt schon seit mindestens 2014 Die Frage, ob die VR China sozialistisch, oder „nur“ „sozialistisch-orientiert“ ist, fast ebenso lange. Die Antwort ist: keines von beiden, weder ist Russland anti-imperialistisch, noch China sozialistisch. Ein Blick in die Geschichte, ihre außenpolitischen ökonomischen Interessen, auch welche Freunde und Partner sie haben, kann zu weilen sehr hilfreich sein, wie ich versucht habe darzustellen. Damit habe ich freilich noch nichts gesagt über die Art der Verträge, wie sie China bspw. mit afrikanischen Ländern abschließt. Das ist eine Frage, die auf einem anderen Blatt zu beantworten wäre. Soviel sei nur angemerkt, dass China „bessere“ kapitalistische Verträge aushandelt, sagt erst einmal nicht mehr aus, als dass es kapitalistische sind und eben keine wie sie bspw. die Sowjetunion machte. Hier wird nichts geschenkt, es geht um Kapitalexport, Anlagemöglichkeiten, Ausbeutung von Rohstoffen und natürlich auch Warenexport.[104] Das sie „besser“ sind, als andere, sagt erstmal nicht mehr aus, als dass sie die Möglichkeit dazu haben und dass sie auch nötig sind, „bessere“ anzubieten, will man doch Märkte erobern, auf den andere schon sitzen.

Vielleicht meint aber auch jemand, dass bei der Beantwortung unseres ursprünglichen Dissens, die des Charakters des Krieges um die Ukraine, das dem dahinter liegenden Imperialismusverständnis und die Frage nach der „multipolaren Weltordnung“ erst einmal zurückgestellt und vorerst unbeantwortet bleiben sollte. Der hat, meiner Meinung nach, nicht aufgepasst und versucht sich dem Problem nicht marxistisch zu nähern und in seinem Gesamtzusammenhang zu begreifen. Ausgehen müssen wir von einem Verständnis über das Wesen des Kapitalismus-Imperialismus und seinen Weltzusammenhang. Die konkrete Welt  in ihren Einzelheiten, hier am Beispiel Russland und China sollen helfen dies alles noch besser zu greifen.

Die Welt ist durch eine immer schärfere Spaltung zwischen den imperialistischen Blöcken gekennzeichnet; die Teilung der Welt ist abgeschlossen und die Neuaufteilung wird zu einer konkreten Realität. Sich auf eine Seite der Konfliktparteien zu stellen, um eine vermeintlich fortschrittlichere „multipolare Weltordnung“ als Ausgangspunkt neuer, besserer Kampfbedingungen zu akzeptieren, heißt m.E. die bolschewistische Position in dieser Auseinandersetzung, nämlich den Standpunkt der Revolution, aufzugeben. Das Gegenteil geschieht, wenn man sich in einem imperialistischen Konflikt auf eine Seite stellt – auch wenn es die des anderen Kapitals ist – man stärkt die Front des Kapitals in dem Land, für das man sich einsetzt. Wir haben nur eine Aufgabe, den subjektiven Faktor in jedem einzelnen Land zu stärken, eine möglichst bewusste und revolutionäre Arbeiterbevölkerung zu organisieren und zu schaffen. Die Revolution und der subjektive Faktor müssen das Hauptaugenmerk der Kommunisten bleiben, nicht zuletzt, weil wir auch wissen, dass der einzige Weg nach vorne der Sozialismus ist und nicht die eine oder andere Richtung der kapitalistischen Entwicklung.

Ich habe mich in meinen Beitrag darauf beschränkt mich mit den beiden Playern Russland und China auseinander zu setzen. Es sollte aber kein Zweifel darin bestehen, dass in unserer Analyse des gegenwärtigen Weltsystems des Kapitalismus-Imperialismus alle Teile des Weltkapitals in ihrem Wechselverhältnis zu begreifen und anzugreifen sind, wie in der Agitation auf den selbstständigen Standpunkt der Arbeiterklasse zu orientieren ist. Nach wie vor gilt: Der Hauptfeind der Arbeiterklasse besteht in jedem Land in seiner eigenen Bourgeoisie oder wie Karl Liebknecht es in seinem berühmten Flugblatt vom Mai 1915 schrieb: „Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.“[105]


[1] https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/

[2] Spanidis: „Das zwischenimperialistische Kräftemessen und der Angriff Russlands auf die Ukraine“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/das-zwischenimperialistische-kraeftemessen-und-der-angriff-russlands-auf-die-ukraine/

Spanidis: „Zur Verteidigung der Programmatischen Thesen der KO!“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/zur-verteidigung-der-programmatischen-thesen-der-ko/#Russland

Oskar: „Russlands imperialistischer Krieg“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/russlands-imperialistischer-krieg/

Spanidis/Vermelho: „Gründe und Folgen des Ukraine-Kriegs“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/gruende-und-folgen-des-ukraine-kriegs/

Spanidis: „Die Bourgeoisie im imperialistischen Weltsystem“; https://kommunistische.org/allgemein/die-bourgeoisie-im-imperialistischen-weltsystem/

Medina: „Unipolare Welt?“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/unipolare-welt/

Spanidis: „Die Diskussion um den Klassencharakter der VR China: Ausdruck der weltanschaulichen Krise der kommunistischen Weltbewegung“; https://kommunistische.org/diskussion/die-diskussion-um-den-klassencharakter-der-vr-china-ausdruck-der-weltanschaulichen-krise-der-kommunistischen-weltbewegung/

[3] https://kommunistische.org/interview/podcast-23-lucas-zeise-dkp-uber-den-ukraine-krieg-und-politokonomische-aspekte-des-kriegs/

[4] https://riktpunkt.nu/2020/09/kapitalexport-och-anti-imperialism/

[5] http://de.kke.gr/de/articles/Einfuehrender-Beitrag-des-Generalsekretaers-des-ZK-der-KKE-Dimitris-Koutsoumbas-auf-dem-Vier-Parteien-Treffen-im-Juli-2022/

[6] https://inter.kke.gr/en/articles/Theoretical-Issues-regarding-the-Programme-of-the-Communist-Party-of-Greece-KKE/

[7] https://inter.kke.gr/en/articles/THE-MILITARY-POLITICAL-EQUATION-IN-SYRIA/

[8] https://www.unsere-zeit.de/diskussionstribuene-teil-1-170643/

[9] Ebenda

[10] https://rkrp-rpk.ru/

[11] http://ucp.su/

[12]  Telegramkanal der Vereinigten Kommunistischen Partei (VKP) https://t.me/okprf, seit Oktober 2022 auch der Telegramkanal der Vereinigten Kommunistischen Partei – Internationalisten https://t.me/ucp_rf

[13] RKAP vom 06.01.2022: „Aktivisten der Kommunistischen Arbeiterpartei Russlands (RKAP), der Bewegung `Arbeitendes Russland` und anderer linker Organisationen wurden am 6. Januar in Moskau während einer nicht genehmigten Aktion zur Unterstützung der Arbeiter in Kasachstan festgenommen“; https://ркрп.рус/2022/01/06/активисты-ркрп-задержаны-недалеко-от/

[14] RKAP vom 29.03.2022: „FSB zerschlägt marxistischen Zirkel in Ufa und meldet Verhaftung von Terroristen“; https://ркрп.рус/2022/03/29/фсб-разгромила-в-уфе-марксистский-кру/

[15] RKAP vom 11.05.2022: „Organisierender Sekretär des `Kurier` über die Verhaftung von Kirill Ukraintsev“; https://ркрп.рус/2022/05/11/оргсекретарь-курьера-об-аресте-кир/

[16] PAME vom 25.05.2022 „Solidarity with the couriers Union “KURYER” of Russia”; https://pamehellas.gr/solidarity-with-the-couriers-union-quot-kuryer-quot-of-russia

[17] „Die Faschisierung der Europäischen Union (EU) im Allgemeinen und die des Frankreichs Macrons im Besonderen verschlimmert sich weiter vor dem Hintergrund der kapitalistischen Krise, des Aufmarschs zu imperialistischen Kriegen und der akuten Krise des europäischen `Gebäudes`.“ Gemeinsamer Aufruf von Pol der kommunistischen Erneuerung in Frankreich (PRCF), Kommunistische Sammlung (RC), Revolutionäre Kommunistische Partei Frankreichs (PCRF), Nationale Vereinigung der Kommunisten (NAC), Jugend für die kommunistische Erneuerung in Frankreich (JRCF), Internationalistisches Komitee für Klassensolidarität (ICSC) vom 20.11.2020, https://pcrf-ic.fr/IMG/pdf/2020-11-25-declaration-anticommunisme_14824_.pdf

[18] Vereinigte Kommunistische Partei [Russland] (VKP): „Typologie reaktionärer Regime und linke Taktiken“; https://vk.com/@okp_rf-tipologiya-reakcionnyh-rezhimov-i-taktika-levyh

[19] „Roskomnadzor“ steht für „Föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich der Informationstechnologie und Massenkommunikation“ und ist eine russische Regulierungs-, Aufsichts- und Zensurbehörde für Massenmedien, Telekommunikation und Datenschutz. Siehe Wikipedia

[20] Das Gesetz löste eine negative Reaktion in Wissenschaft und Wirtschaft aus. Der Astrophysiker Sergei Popov erstellte auf Change.org eine Petition gegen die Annahme des Gesetzentwurfs, die bis zum 28. Januar von mehr als 178.000 Menschen unterzeichnet wurde. 1600 Wissenschaftler unterzeichneten eine Petition, die in der Zeitung Trinity Variant – Science veröffentlicht wurde. Die Änderungen wurden von 18 Gründern und Leitern unabhängiger Bildungsprojekte abgelehnt, die sagten, dass der Gesetzentwurf Zensur einführt und die Meinungs- und Diskussionsfreiheit in der Gesellschaft direkt einschränkt. Laut der Studie des Levada-Zentrums haben 71 % der Russen noch nichts über das Gesetz gehört, 23 % haben etwas gehört und 6 % sind sich der Verabschiedung des Gesetzes sehr wohl bewusst. Auf die Frage nach der Einschätzung des Gesetzes gaben 36 % der Befragten an, dass das Gesetz darauf abzielt, die Zensur zu stärken, 30 %, dass das Gesetz zur Bekämpfung antirussischer Propaganda benötigt wird, weitere 34 % fanden es schwierig zu antworten. Siehe russische Wikipedia.

[21] Ebenda

[22] Dass Herr Nawalny in den Augen des „freien Westens“ als Galionsfigur und als Anführer der „liberalen Opposition“ in Russland gilt, spielt in dem hier gesteckten Rahmen keine Rolle. Es ist unbestritten, dass er eine reaktionäre, arbeiterfeindliche und pro-kapitalistische Agenda verfolgt. Es geht in den folgenden Ausführungen nicht um ihn und welchen Einfluss seine Enthüllungsplattform auf die Proteste hatte, sondern welche sozialen und politischen Gründe es gab, für große Massen der Bevölkerung gegen Korruption auf die Straße zu gehen.

[23] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/putin-palast-nawalny-oligarch-101.html; https://www.bbc.com/news/world-europe-55876033; https://www.euronews.com/2021/04/21/watch-live-navalny-supporters-hold-mass-protests-across-russia 

[24] Der Schreiber irrt sich im Jahr. Gemeint ist 1995. Die russische wie die englische Wikipediaseite berichtet, dass die Regierung von Boris Jelzin 1995 staatseigene Unternehmensanteile durch ein Sicherheits-Auktionen-Programm (loans for shares scheme) veräußerte. Dieses half bei der „Spendenbeschaffung “ für Jelzins Wiederwahlkampagne 1996 und gleichzeitig bei der Umstrukturierung frisch verkaufter Unternehmen. Die Umsetzung des Programms führte schließlich zur Entstehung einer einflussreichen Klasse von Unternehmenseigentümern, die als russische Oligarchen bekannt sind.

[25] https://rkrp-rpk.ru vom 16.02.2021

[26] https://rkrp-rpk.ru vom 30.01.2021

[27] Vereinigte Kommunistische Partei [Russland] (VKP): „Typologie reaktionärer Regime und linke Taktiken“; https://vk.com/@okp_rf-tipologiya-reakcionnyh-rezhimov-i-taktika-levyh

[28] Ebenda

[29] Ebenda

[30] Ebenda

[31] Ebenda

[32] „DER KRIEG IN DER UKRAINE UND UNSERE AUFGABEN – Manifest der Koalition der Kommunistischen Internationalisten, angenommen auf der Konferenz am 07.11.2022. […] Die Erklärung wird von folgenden Organisationen unterstützt: Die Neuen Roten, die Marxistische Tendenz, die Internationalistische Plattform der VKP und eine Gruppe ehemaliger Mitglieder der RKAP, die aus mehr als 14 Regionen der Russischen Föderation stammen“; https://telegra.ph/VOJNA-V-UKRAINE-I-NASHI-ZADACHI-11-13-3

[33] https://zeitungderarbeit.at/international/tochter-des-russischen-faschisten-alexander-dugin-ermordet/

[34] https://de.wikipedia.org/wiki/Iwan_Alexandrowitsch_Iljin

[35] https://rksmb.org/?s=солженицын

[36] https://telegra.ph/VOJNA-V-UKRAINE-I-NASHI-ZADACHI-11-13-3

[37] https://en.wikipedia.org/wiki/Pyotr_Stolypin

[38] Yunarmiya oder: Junarmija (deutsch Jugendarmee, Юнармия) ist die Kinder- und Jugend-Militär-Erziehungsorganisation Russlands. Am 29. Juli 2016 durch einen Präsidentenerlass gegründet, gehören ihr nach eigenen Angaben im Jahr 2022 rund eine Million Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren an. Der volle Titel lautet „Nationale militär-patriotische soziale Bewegungs-Organisation ‚Junarmija'“ (Всероссийское военно-патриотическое общественное движение «Юнармия»). Sie untersteht dem Verteidigungsministerium. Siehe Wikipedia

[39] Entnommen des Telegramkanals der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei (RKAP) https://t.me/rkrpcentral

[40] https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[41] https://ru.wikipedia.org/wiki/Высшая_школа_экономики

[42] https://valdaiclub.com/about/experts/338/

[43] https://ru.wikipedia.org/wiki/Совет_по_внешней_и_оборонной_политике

[44] https://valdaiclub.com/events/posts/articles/vladimir-putin-meets-with-members-of-the-valdai-club/?sphrase_id=1422595

[45] https://ru.wikipedia.org/wiki/Караганов,_Сергей_Александрович

[46] Nach Selbstauskunft handelt es sich bei Russia in Global Affairs (Россия в глобальной политике) um „eine gesellschaftspolitische Zeitschrift über internationale Beziehungen und Außenpolitik.“ Sie erscheint seit November 2002 in zweimonatlichen Abstand. Ihr Zweck sei „informativ und lehrreich: das Verständnis der Prozesse in der sich verändernden Welt von heute zu vertiefen. Unsere Leser sind diejenigen, die auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen tätig sind: Praktiker, internationale Theoretiker, Journalisten, Lehrer, Studenten und Doktoranden spezialisierter Universitäten sowie Laien, die sich für die internationale Situation interessieren.“

[47] Alle folgende Zitate, wenn nicht anders gekennzeichnet, sind aus dem Artikel von Sergej Karaganow „Von der konstruktiven Zerstörung zum Wiederaufstieg“; https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[48] Zum Krieg um Georgien siehe auch eine am 27.08.2008 von der RKAP veröffentlichten Stellungnahme. In ihrer damaligen Erklärung beziehen die russischen Kommunisten der RKAP, gleichlautend zur Jugendorganisation RKSMb, die Position, dass es sich um einen zwischenimperialistischen Krieg handelt. Zitat: „Es ist also klar, dass der Krieg in Südossetien im Interesse der Großbourgeoisie geführt wird. Sie kommt weder russischen noch georgischen Arbeitern zugute. Genauso wenig wird dieser Krieg für die Freiheit des Volkes von Südossetien geführt. Das ist nicht das, woran Russland wirklich interessiert ist. Folglich wurde der Krieg in Südossetien in der Erklärung des Präsidiums des Zentralkomitees des Komsomol (Bolschewiki) korrekt als imperialistischer Krieg bezeichnet. Deshalb müssen alle Anstrengungen der Kommunisten in Russland und Georgien gegen den Krieg gerichtet sein. Die einzige Möglichkeit, all diese Widersprüche vollständig zu lösen, ist die Übertragung der Macht an die Arbeiter in beiden Ländern. Das heißt, die Haupttätigkeit der Kommunisten in diesen Ländern muss der Kampf gegen „ihre“ Regierung sein, der Kampf gegen den grassierenden Nationalismus und Chauvinismus, die Untergrabung des Vertrauens der Arbeiter in „ihre“ Regierungen […]. Einmal mehr wurde der Krieg zum Prüfstein, an dem das tatsächliche Engagement für kommunistische Ideen getestet wird. Die linke Bewegung in Russland hat sich, wie während des Ersten Weltkriegs, in einen echten linken internationalistischen Teil und in Sozialchauvinisten gespalten, die die Bourgeoisie unterstützen und ihre Herrschaft festigen, anstatt den entfesselten Krieg zum Kampf gegen die Bourgeoisie zu nutzen, vor allem gegen „ihre“ Bourgeoisie und gegen „ihren“ bürgerlichen Staat.“ https://rkrp-rpk.ru/2008/08/27/война-в-южной-осетии-и-российские-левы/

[49] https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[50] Gemeint ist die militärische Kooperation mit Partnern: „Über die militärisch-technische Zusammenarbeit der Russischen Föderation mit ausländischen Staaten“. Verabschiedet von der Staatsduma am 3. Juli 1998, Artikel 3, „Die Hauptziele der militärisch-technischen Zusammenarbeit der Russischen Föderation mit ausländischen Staaten sind: Stärkung der militärpolitischen Positionen der Russischen Föderation in verschiedenen Regionen der Welt“

[51] https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[52] Mit dem Begriff „Somalisierung“ wird ein „Staatszerfall“ durch Fehlen einer „wirksam funktionierenden Zentralregierung“ verstanden (siehe auch Begriff „Failing State“), aufgrund eines Bürgerkrieges bei gleichzeitiger ausländischer Einmischung, auch militärischer. Der Begriff geht auf eine bürgerliche Darstellung des Somalischen Bürgerkriegs zurück (siehe auch Wikipedia) und wird für Konflikte in Staaten wie Syrien, Mali, Togo verwendet: „Syrien am Rande der Somalisierung“, Russia Beyond (RT Ableger), https://de.rbth.com/meinung/2013/11/12/syrien_am_rande_der_somalisierung_26803; „Mali -Eine Somalisierung hätte schlimme Auswirkungen auf die gesamte Region“, Deutsche Welle Akademie, https://akademie.dw.com/de/mali-eine-somalisierung-h%C3%A4tte-schlimme-auswirkungen-auf-die-gesamte-region/a-16149471;  „Togo zum Beispiel“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/staatszerfall-in-afrika-togo-zum-beispiel-1227977.html

[53] „In den 1920er und 1930er Jahren förderten die Bolschewiki aktiv die `Lokalisierungspolitik`, die in der Ukrainischen SSR die Form der Ukrainisierung annahm.(…) Diese sowjetische Nationalpolitik sicherte auf staatlicher Ebene die Versorgung mit drei getrennten slawischen Völkern: Russen, Ukrainern und Weißrussen, anstatt der großen russischen Nation ein dreieiniges Volk“, in Putin „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ vom 12.07.2021 , http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181;  „Die Sowjetukraine ist, wie gesagt, ein Ergebnis der bolschewistischen Politik und man kann sie heute mit Fug und Recht als Vladimir-Lenin-Ukraine bezeichnen. Er ist ihr Erfinder und ihr Architekt“, in Putin „Rede an die Nation“ vom 21.02.2022, https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/;  „Russen und Ukrainer sind im Grunde ein Volk, das ist eine historische Tatsache. Aber leider sind wir aus mehreren Gründen in verschiedenen Staaten gelandet, vor allem, weil die bolschewistische Führung nach dem Zusammenbruch des Imperiums die Sowjetunion geschaffen hat.“ Putin Rede auf dem Valdai-Club vom 27.10.2022 http://kremlin.ru/events/president/news/69695

[54] https://valdaiclub.com/events/posts/articles/vladimir-putin-meets-with-members-of-the-valdai-discussion-club-transcript-of-the-18th-plenary-session/

[55] Die von Karaganow wie Putin bekämpfte Ideologie des Liberalismus und Kosmopolitismus, wie er auch in neomarxistischen und neomaoistischen Ansätzen zu finden ist, hat auf die Arbeiterklasse einen negativen Einfluss, behindert ihre konsequente Interessenartikulation und soll der Integration mit der herrschenden Klasse, ihrer menschenrechts-imperialistischen Politik dienen. Der klassische Reaktionismus, wie in Karaganow und Putin vertreten, verfolgt dasselbe Ziel, die Verwischung von Klasseninteressen mittels „Nationalisierung“ der Arbeiterklasse.

[56] http://kprf121.ru/russkij-sterzhen-derzhavy-statya-manifest-predsedatelya-ck-kprf-g-a-zyuganova

[57] Ebenda

[58] www.clingendael.org

[59] https://zeitungderarbeit.at/international/ehemaliger-chinesischer-praesident-jiang-zemin-verstorben/

[60] Kommunistische Partei der Philippinen (PKP-1930): DIE KOMMUNISTISCHE PARTEI CHINAS ZUM 100: EINIGE LEKTIONEN AUS DER GESCHICHTE, AN DIE SICH UNSERE PARTEI ERINNERN SOLLTE; Veröffentlicht in der Ausgabe „Sulong“ (Vorwärts) vom 31.07.2021; http://solidnet.org/.galleries/documents/2021-07-31-July-2021-issue-of-SULONG-Forward.pdf

[61] Dieter Nix: „Zur gegenwärtigen Lage in China“, Marxistische Blätter, 7. Jahrgang, Mai/Juni 1969, Seite 54 ff

[62] Jürgen Reusch: „China nach dem XI. Parteitag“, Marxistische Blätter, 15. Jahrgang, Mai/Juni 1977, Seite 55 ff

[63] Ebenda

[64] https://kommunistische.org/diskussion/war-die-sowjetunion-staatskapitalistisch-und-sozialimperialistisch/

[65] http://www.fidelcastro.cu/de/articulos/nachrichten-uber-chavez-und-evo

[66] Zitiert nach Reusch, aaO.

[67] KKE: „Die Internationale Rolle Chinas“; https://inter.kke.gr/en/articles/The-International-role-of-China/

[68] Kommunistische Partei der Philippinen (PKP-1930): DIE KOMMUNISTISCHE PARTEI CHINAS ZUM 100: EINIGE LEKTIONEN AUS DER GESCHICHTE, AN DIE SICH UNSERE PARTEI ERINNERN SOLLTE; http://solidnet.org/.galleries/documents/2021-07-31-July-2021-issue-of-SULONG-Forward.pdf

[69] KKE: „Die Internationale Rolle Chinas“; https://inter.kke.gr/en/articles/The-International-role-of-China/

[70] Ebenda

[71] PKP-1930, aaO.

[72] KKE, aaO.

[73] Siehe auch PKP-1930, aaO.

[74] Matin Baraki: „Die Politik der VR China gegenüber Afghanistan“, in „Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung“, Nr. 70, Juni 2007; https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/666.die-politik-der-vr-china-gegenueber-afghanistan.html

[75] https://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed_Zia-ul-Haq

[76] Vergleiche Matin Baraki, aaO.

[77] KP Pakistans: „Erklärung des Zentralsekretariats nach der Sitzung des Zentralausschusses“, vom 26.07.2021; http://solidnet.org/article/CP-of-Pakistan-Statement-of-the-central-secretariat-after–central-committee-meeting/

[78] KKE, aaO.

[79] PKP-1930, aaO.

[80] Vergleiche hierzu: Gunnar Matthiessen: „Kritik der philosophischen Grundlagen und der gesellschaftspolitischen Entwicklung des Maoismus“, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1973

[81] Gemeint ist: Staat, Arbeiter, Bauern, Kleinbürger, „nationale“ Bourgeoisie. Vergleiche: Mao Tse-Tung, in „Die chinesische Revolution und die KPCh“, 1938, „Über die Diktatur der Volksdemokratie“, 1949; Mao Tse-Tung Ausgewählte Schriften, S. Fischer Verlag, ohne Jahr. Und Matthiesen, aaO.

[82] Uns interessiert hier das Ergebnis, nicht inwiefern auch die Chruschtschow-Führung ihren Anteil daran hatte, für die es auch einige Belege gibt.

[83] Lenin zum Panislamismus, siehe „Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage“, 1920, in LW Bd.31, S.132-139; Über den reaktionären Gehalt des Islamismus und seine Verbundenheit mit dem Imperialismus siehe TKP u.a. hier: www.tkp-deutschland.com/wp-content/uploads/2019/08/tkp_wo_stehen_wir_2017.pdf

[84] 2016 hat China erstmals mehr Kapital ins Ausland transferiert als es an Direktinvestitionen erhalten hat. Die Beijing Rundschau kommentierte das damals so: „Damit sind chinesische Unternehmen die weltweit zweitwichtigsten Kapitalgeber“. Während der Handel mit Afrika sich in den 2000ern bis 2019 verzwanzigfacht, verzehnfachen sich seine ausländischen Direktinvestitionen in Afrika. Von den 2017 in Afrika tätigen chinesischen Unternehmen sind 90% Privatunternehmen. Siehe Jörg Kronauer, Junge Welt vom 02.05.2019, https://www.jungewelt.de/artikel/353935.china-in-afrika-von-wegen-kolonialmacht.html?sstr=kronauer%7Ckolonialmacht; Fred Schmidt, ISW-München vom 27.09.2017, https://www.isw-muenchen.de/2017/09/grenzen-oder-neue-perspektiven-der-globalisierung-aus-chinesischer-sicht/; „China and Africa“, Worldbank 2017

[85] Die im Interview mit der Rote Hilfe Zeitung (RHZ) gemachten Aussagen decken sich auch mit anderen Quellen. Was nicht heißt,  dass die interviewten Aktivisten für uns als Kommunisten zu unterstützen und unbedingt als fortschrittlich anzusehen sind. Die gemachten Aussagen scheinen sich aber mit den Erfahrungen der KP Pakistans zu decken und sind ein Verweis auf den reaktionären Charakter des Regimes. Siehe auch: https://www.akweb.de/gesellschaft/ungehoerter-widerstand/; http://www.schattenblick.de/infopool/politik/ausland/paasi926.html; https://www.marxists.org/history/etol/newspape/atc/3725.html; http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Pakistan/belutschistan.html   

[86] „Widerstand in Belutschistan. Ein Interview mit Aktivist*innen“, in Rote Hilfe Zeitung (RHZ), Nr. 1/2022, S. 26 ff; https://www.rote-hilfe.de/rhz-neue-ausgabe/1183-rote-hilfe-zeitung-1-2022

[87] Ebenda

[88] KPK = Khyber Pakhtunkhwa, eine Provinz Pakistans im Nordwesten, überwiegende Bevölkerung sind Paschtunen. https://de.wikipedia.org/wiki/Khyber_Pakhtunkhwa

[89] Rede von Imdad Qazi, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Pakistans auf dem 19. IMCWP in Leningrad Russland, 10.11.2017; http://solidnet.org/article/1b421d6a-e2d1-11e8-a7f8-42723ed76c54 /

[90] RHZ, Januar 2022

[91] Anton Stengl: „Chinas neuer Imperialismus. Ein ehemals sozialistisches Land rettet das kapitalistische Weltsystem“, Promedia Druck und Verlagsgesellschaft, Wien, 2021; S. 58/59

[92] Siehe auch einen ausführlichen Bericht zu den Beziehungen Chinas und Sudan hier: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Sudan/china.html

[93] „China und der Sudan“, veröffentlich in: „Riktpunkt“ (Zeitung der Kommunistischen Partei Schwedens) vom 08.02.2019; https://riktpunkt.nu/2019/02/kina-och-sudan/

[94] Sozialistische Bewegung Kasachstan: „Hände weg von Marat Karamanov und den Ölmännern von Aktobe!“, vom 10.06.2022; http://socialismkz.info/?p=8327

[95] https://www.iccr.gr/en/issue_article/Working-movement-of-Kazakhstan-in-the-period-of-restoration-of-capitalism-and-in-the-conditions-of-bourgeois-dictatorship/

[96] GLOBAL TIMES: „Kasachstan stellt mit Hilfe des OVKS-Einsatzes und mit der festen Unterstützung Chinas die Ordnung wieder her. Der militärische Einsatz der OVKS ist legitim und notwendig, um Extremisten und externe Kräfte mit bösen Absichten abzuschrecken“, vom 07.01.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202201/1245361.shtml

[97] Hintergründe zu den Ursachen des Aufstandes und des Versuchs der Kasachischen Regierung Separationsbewegungen zu unterstützen, finden sich hier: „Auf Befehl Nur-Sultans schüren Nationalisten und Liberale den Separatismus in Karakalpakstan“, vom 26.07.2022, http://socialismkz.info/?p=28021, „Meinung zu Ereignissen im benachbarten Karakalpakstan“, vom 07.07.2022, http://socialismkz.info/?p=27992 

[98] GLOBAL TIMES: „China unterstützt die usbekische Regierung bei der Wahrung der nationalen Stabilität“, vom 04.07.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202207/1269725.shtml

[99] GLOBAL TIMES: „Der Bau der China-Kirgisistan-Usbekistan-Eisenbahn wird bald beginnen“, vom 07.06.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202206/1267513.shtml?id=11

[100] Vergleiche Wikipedia

[101] GLOBAL TIMES: „Neues Erdgasfeld zwischen China und Turkmenistan in Betrieb“, vom 20.06.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202206/1268601.shtml

[102] https://de.wikipedia.org/wiki/Turkmenistan

[103] Kommunistische Partei der Philippinen (PKP-1930): „PKP-1930 verurteilt Chinas Kriegsdrohungen in dem „9-Striche“-Gebiet, das es in betrügerischer Absicht beansprucht“, Aus: „Sulong” – Zeitung der PKP-1930, Ausgabe Januar 2021; https://www.pkp-1930.com/january-2021

[104] Vergleiche auch Anton Stengl „Chinas neuer Imperialismus“. Stengl führt hierzu einige Beispiele aus verschiedenen Ländern an.

[105] Karl Liebknecht „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“; https://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1915/05/feind.htm

Zur „multipolaren Weltordnung“

Von Marc Galwas

Vorbemerkung der Zentralen Leitung der KO:

Dieser Artikel von Marc Galwas wurde von den Fraktionierern in der KO am 23.12. unkommentiert auf der von ihnen okkupierten alten Website der KO veröffentlicht. Die ZL hatte die Veröffentlichung bereits geplant, allerdings mit einer Einordnung. Diese nehmen wir hiermit vor. Alexander Kikidnaze hat außerdem einen kurzen kritischen Kommentar (LINK) zu dem Text verfasst. Galwas‘ Text arbeitet mit der Verdrehung von Fakten und Klassikern, damit sie für die Annahmen, die der Autor hat, als Belege instrumentalisiert werden können. Das Resultat dieser Verdrehungen ist, dass der Artikel die NATO-Propaganda textgenau reproduziert und am Ende den deutschen Faschismus relativiert. Die Veröffentlichung eines solchen Artikels generell, insbesondere aber in einer Zeit, in der Deutschland Krieg gegen Russland führt, ist eine Parteinahme für unseren Gegner und zeigt, welche politischen Haltungen von der fraktionierten Minderheit nicht nur geduldet, sondern sogar mit Veröffentlichungen gefördert werden. Es ist genau diese Art von verdrehenden und im Ergebnis apologetischen Texten, die wir meinen, wenn wir in unserem Leitantrag schreiben: „Unser strategischer Hauptfeind, der deutsche Imperialismus, führt aktiv Krieg gegen Russland. In einer solchen Situation leichtfertig eine Position zu vertreten, die den Gegner der BRD zum Imperialisten erklärt und seine Handlungen als imperialistisch verurteilt, genau wie es unsere Herrschenden tun, ist brandgefährlich! Es mag sein, dass diese Sicht richtig ist. Doch weil die Konsequenzen fatal wären, wenn diese Sicht sich als falsch erweist und wir sie jetzt, sozusagen ‚vorläufig‘, trotzdem propagieren, müssen wir die Klärung in dieser Situation umso ernster nehmen und an den Anfang stellen!“

Hier als PDF

INHALT

Russland

Zu Russlands Innenverfasstheit

Zur Russlands Außenpolitik

Zwischenfazit

China

Chinas Außenpolitik der 1960er Jahre bis zur Konterrevolution 1989/91: konterrevolutionär, antisowjetisch, nationalistisch

Vietnam / Kambodscha

Afghanistan

Pakistan

Afrika

Zwischenfazit

Chinas imperialistische Außenpolitik heute

Pakistan

Sudan

Kasachstan

Usbekistan

Turkmenistan

Die 9-Strich-Linie

Schlussbemerkungen

In unserer Diskussion um den Krieg in der Ukraine und um die Dissense in der internationalen kommunistischen Bewegung schwingt mit – auch wenn das nicht von allen Beteiligten offen ausgesprochen wird, oder manch einer dies für sich auch (noch) nicht explizit formuliert hat – die Frage des Strebens Russlands und Chinas nach einer „multipolaren Weltordnung“ und wie sich die Kommunisten dazu zu stellen haben. Am weitesten lehnen sich in Deutschland bei der Bewertung DKP und Rotfuchs hinaus, die für sich die Frage anscheinend beantwortet haben: dieses Streben der beiden Staaten für fortschrittlich einstufen und dafür plädieren dieses Streben zu unterstützen, um die Hegemonie des (westlichen) Imperialismus zu brechen.

In unserer Diskussion wird meist darauf abgehoben, dass das Streben Russlands (und Chinas?) der Aggressivität des imperialistischen Hegemon (USA) und seiner Verbündeten (EU, UK und einige andere) entgegen stehe, ihm gewissermaßen Paroli biete, damit dessen Aggressivität begrenze und somit schließlich (auch) der internationalen Arbeiterklasse zugutekäme. Bisweilen wird von Einzelnen (Klara Bina) sogar eingefordert, dass die kommunistische Bewegung sich für ein deutlicheres militärisches Engagement Russlands auch in anderen Teilen der Welt einsetzen solle[1].

Ist das so? Sollten sich die Kommunisten hinter China und Russland stellen? Ist die Forderung nach einer „multipolaren Weltordnung“ fortschrittlich? Und zugespitzt formuliert: sind die Außenpolitiken Russlands und Chinas fortschrittlich?

Ich will mich an dieser Stelle nicht damit aufhalten, nachzuweisen, dass Russland (und China) imperialistisch ist. Das wurde an anderer Stelle und zu genüge getan.[2] Ich will auch nicht auf das leninsche Imperialismusverständnis und deren adäquate moderne Widerspiegelung im Bild der imperialistischen Pyramide eingehen (siehe z.B. Podcast mit Lucas Zeise[3], die Beiträge der SKP[4], die zahlreichen Artikel und Analysen der KKE[5][6][7]). Worum es mir geht, ist, einen kritischen Blick dafür zu öffnen, womit wir es zu tun haben, wenn wir über die Außenpolitiken Russlands und Chinas sprechen. Hierzu habe ich zahlreiche Analysen und Aussagen, vor allem von Kommunistischen Parteien, gesichtet und werde z.T. ausführlich deren Erfahrungen und Positionen wiedergeben. Das entbindet uns natürlich nicht davon, weiter in die Materie vorzustoßen und marxistische Analysen heranzuziehen, um ein adäquates Bild zu erlangen.

Russland

Zu Russlands Innenverfasstheit

In einem Diskussionsbeitrag in der UZ – Zeitung der DKP äußert sich ein Genosse kritisch zu den Ergebnissen ihres letzten Parteitages. Auf diesem Parteitag hat sich die DKP ebenfalls mit der Bewertung des Ukrainekrieges beschäftigt und versucht, ihren Dissens in der Frage zu überwinden. Sie stellt sich in ihrem Beschluss nun eindeutig auf die Seite der Verteidiger der russischen Außenpolitik und meint festhalten zu können, „Auch Russland ist ein Staat, in dem die Bourgeoisie die Macht hat. Sie hat aber mit der Arbeiterklasse das Interesse gemein, dass Russland der Bedrohung durch die NATO widersteht.“ – eine Position, die auch in unseren Reihen so anzutreffen ist.

Der Diskussionsteilnehmer Reiner Wolf schreibt hierzu: „einen solch apodiktischen Satz zu formulieren, ist schwer verdaulich“ und fragt: „Hätte man sich nicht etwas mehr mit der russischen Realität, den Lebens- und Arbeitsbedingungen der russischen Kolleginnen und Kollegen beschäftigten müssen? Ein Blick auf die Internetseite LabourNet.de lohnt sich für jede Genossin, jeden Genossen: Verhaftungen von Gewerkschaftsvorsitzenden, Verbot von Gewerkschaften, elende Arbeitsbedingungen mit 12-Stunden-Schichten, zahlreiche Todesfälle wegen nicht vorhandener beziehungsweise nicht eingehaltener Arbeitsschutzmaßnahmen in den Fabriken. Manchesterkapitalismus nannte man einmal solche Verhältnisse.“[8]

Einmal muss man sich natürlich fragen, wie es der Genosse Reiner Wolf in seinem Diskussionsbeitrag tut, ob man, wenn man die russische Außenpolitik betrachtet, die Innenpolitik ausblenden kann. Der Genosse hat natürlich vollkommen Recht, wenn er auf die Beispiele der Repression und Ausbeutung der russischen Arbeiterklasse verweist und empfiehlt einen Blick ins LabourNet zu tun. Auch bin ich ihm dankbar für seinen Hinweis auf den folgenden Fakt, der mir bis dato unbekannt war,: „Am 31. Dezember 1993 berichtete das „Neue Deutschland“: „Wladimir Putin, 2. Bürgermeister von St. Petersburg (…), hat vor deutschen Wirtschaftsvertretern deutlich gemacht, dass eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild die für Russland wünschenswerte Lösung der gegenwärtigen politischen Probleme wäre. (…) Putin antwortete auf Fragen von Vertretern von BASF, Dresdner Bank, Alcatel und anderen (…). Dabei unterschied Putin zwischen ‚notwendiger‘ und ‚krimineller‘ Gewalt. Kriminell sei politische Gewalt, wenn sie auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse abziele, ‚notwendig‘, wenn sie private Kapitalinvestitionen befördere oder schütze.“[9]

Die Hinweise des Genossen Wolf sind sehr wertvoll und es lohnt sich mit der russischen Wirklichkeit vertraut zu machen, will man über Russland urteilen. Die Berichte auf den Internet- und Telegramseiten der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei[10], als auch der kleineren Vereinigten Kommunistischen Partei[11] sind voll von Berichten über das „Anziehen der Schrauben“ gegen  die russische Arbeiterklasse und voll von Berichten über den reaktionären und antikommunistischen Charakter des russischen Staates. Es ließen sich eigentlich keine Illusionen machen, unter welchen Bedingungen die russischen Kommunisten arbeiten müssen, und dass dieser Staat zutiefst den Interessen der Arbeiterklasse entgegensteht:

  • Dezember 2022:  Weitere Verhaftungen, Hungerstreik und inakzeptable Haftbedingungen: 1.) „SERGEI MASLOV, MITGLIED DER REVOLUTIONÄREN ARBEITERPARTEI, WURDE FESTGENOMMEN: Am Morgen des 7. Dezember brachen Polizeibeamte in seine Wohnung in Serpukhov ein. Sergej Maslow wurde festgenommen und in die Polizeiabteilung Serpuchow des russischen Innenministeriums in der Region Moskau (Serpuchow, Kaluzhskaja 37) gebracht. Der Aktivist wurde unter dem Vorwand festgenommen, nachträgliche Erklärungen für das Verteilen von Flugblättern am 24. Februar abzugeben, wofür Sergei bereits 10 Tage im Gefängnis gesessen hatte.“ 2.)  „Der verurteilte Gewerkschafter K. Zavalin beschwerte sich über die Verletzung seiner Rechte in der Haftanstalt (3.12.2022). Der verurteilte Aktivist K. Zavalin beschwerte sich über die Verletzung seiner Rechte in der Justizvollzugsanstalt. Zuvor hatte der verurteilte Aktivist Konstantin Zavalin aus Astrachan vor Journalisten über die Verletzung seiner Arbeitsrechte und die unannehmbaren Haftbedingungen in der Anstalt berichtet.  Der Gewerkschaftsaktivist Konstantin Zavalin aus Astrachan, der wegen eines Angriffs auf einen Polizeibeamten zu 1 ½ Zwangsarbeit verurteilt wurde, berichtete am 4. Oktober, dass er in einer Strafzelle in der Strafkolonie Nr. 6 untergebracht sei. Am 5. Oktober trat Zavalin in einen Hungerstreik, um gegen seine Einlieferung in die Strafzelle zu protestieren, weil er sich geweigert hatte, ohne spezielle Uniform zur Zwangsarbeit zu erscheinen.“
  • November 2022: Verhaftungen von linken Aktivisten und Journalisten: 1.) „Am Morgen des 29. November 2022 wurde Wladimir Timofejew, ein überzeugter Sozialist, Veteran des Afghanistan- und Tschetschenienfeldzugs, auch bekannt als Baikalpartisan und Aktivist von Narodnaja Wolja (https://vk.com/narodnayavolia), in Irkutsk festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, die Streitkräfte zu diskreditieren und den Terrorismus zu rechtfertigen. Vladimir hat von Anfang an eine scharfe Kritik an der SMO geübt.“ 2.) „Gestern wurde Sergej Dorenskij in der Region Moskau von den Ordnungskräften festgenommen. Am Morgen des 25. November schrieb er an einen Freund, dass die Ordnungshüter ihn zur Kriminalpolizei in Iksha bringen würden. […] Später rief ein Ermittler einen Bekannten von Dorensky an und teilte ihm mit, dass er als Verdächtiger festgenommen worden sei. Es ist nicht genau bekannt, in welchem Fall er festgehalten wurde. Dorensky befindet sich nun in der Haftanstalt Iksha und wartet auf seinen Prozess, der am Montag stattfinden wird. Sergei Dorensky ist Kriegsgegner, war früher Mitglied der Marxistischen Union und hat eine kleine Tochter.“ 3.) „DAS „NETZ“ FÜLLT SICH WEITER. Die Behörden versuchen nach wie vor, sich unerwünschter und unbequemer Personen zu entledigen, indem sie auf bewährte Methoden zurückgreifen: falsche Anschuldigungen, aus der Luft gegriffene Beweise und Geständnisse, die in engen Verhören erpresst werden. Die Liste der Personen, die nicht wegen Verbrechen, sondern aus politischen Gründen inhaftiert wurden, folgt nun, nach dem Vorsitzenden der Gewerkschaft Kurier, Kirill Ukraintsev, nun auch Artyom Borodin, ein Journalist der Rabochaya Demokratiya […]“.
  • Mai 2022: Verhaftung und Anklage gegen Kirill Ukraintsev, Ko-Vorsitzender der Gewerkschaft COURIER, nachdem Courier-Mitglieder eine Kundgebung und Streik organisierten: „Am Abend des 25. April, dem Geburtstag des Ko-Vorsitzenden der Gewerkschaft COURIER und unseres gemeinsamen Freundes Kirill Ukraintsev, brach die Polizei in seine Wohnung ein […]. Nach Angaben der Polizei wurde gegen Kirill Ukraintsev ein Strafverfahren gemäß Artikel 212.1 `Dadin` des Strafgesetzbuchs: `Wiederholter Verstoß gegen das festgelegte Verfahren zur Organisation oder Durchführung einer Versammlung, Kundgebung, Demonstration, Prozession oder Streikposten` eröffnet. Grund dafür war der Streik der Taxifahrer in Sergiev Posad, der im Herbst 2021 stattfand. […] die Behörden versuchen auf diese Weise, ihre Stärke zu demonstrieren und Aktivisten einzuschüchtern, die versuchen ihre Rechte zu verteidigen“. Der Gewerkschaftsführer sitzt auch ein halbes Jahr nach der Verhaftung weiterhin in Untersuchungsgefängnis und der zuständige Richter hat jüngst die Verlängerung der Untersuchungshaft um ein weiteres halbes Jahr (gegen die geltenden Regeln) angeordnet, wie am 18.10. auf verschiedenen Kanälen berichtet wurde.
  • Mitte April 2022: Verhaftung und Hexenjagd auf Alexander Anidalow, KPRF, weil er gegen eine Platzumbenennung nach dem Erzreaktionären Stolypin in Saratow protestierte. (Pjotr Arkadjewitsch Stolypin war Innenminister des Russischen Reiches und verantwortlich für die Verfolgung von revolutionären Sozialdemokraten nach der 1905er Revolution. Innerhalb von fünf Jahren legte man 4500 Revolutionären die so genannte »Stolypinsche Krawatte« um den Hals, das hieß sie wurden gehenkt.): „Am 18. April verhaftete die Polizei von Saratow Alexander Anidalow, einen Abgeordneten der Regionalduma der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Der Kommunist versuchte, die Umbenennung der S. M. Kirov Avenue in die `Henker`-Stolypin-Avenue zu verhindern. Die `Dekommunisierung` dieser Stadtallee wurde von klassischer Musik begleitet, die von Studenten des Konservatoriums aufgeführt wurde. Auch Studentengruppen anderer Universitäten wurden organisiert – mit Fahnen und `patriotischen` Gesängen. Dmitry Ayatskov, der ehemalige Gouverneur und Leiter der Entwicklungsdirektion des Saratower Ballungsraums, kam, um den Bürgern zur Umbenennung zu gratulieren. Er bot auch an, die Asche von Stolypin von Kiew nach Saratow zu transportieren. Der Abgeordnete der Regionalduma der Kommunistischen Partei, Alexander Anidalow, nannte das Geschehen einen Akt der Dekommunisierung. `In der Ukraine machen sie dasselbe: Sie zerstören alles, was mit dem Kommunismus zu tun hat`, sagte er. Bei der Umbenennung rief der kommunistischer Abgeordneter: `Schande über die jetzige Regierung!` und versuchte, von der Hauswand ein Schild zu Ehren des Henkers Stolypin zu entfernen. Danach trafen Polizisten am Tatort ein, die den Kommunisten fest verdrehten und in ein Auto schoben. Unmittelbar nachdem das Haupthindernis Anidalov beseitigt war, luden die Studenten zur Zeremonie ein und sangen `Stolypin!`. Laut `Kommersant` gab es unmittelbar nach dem Vorfall eine sofortige Reaktion des Vorsitzenden der Regionalduma von Saratow, Alexander Romanow (Partei „Einiges Russland“). Seiner Meinung nach hat Alexander Anidalov `die parlamentarische Ethik grob verletzt, was mit der Unmöglichkeit verbunden ist, ein bezahltes Amt zu bekleiden und selbst im Regionalparlament zu sein`.
  • Ende März 2022: „Aushebung einer Terrorzelle“ im Ural. In Wirklichkeit handelte es sich um die Zerschlagung eines marxistischen Bildungszirkels: „27.03.2022: Marxistischer Kreis als terroristische Zelle. Schockierende Details der Verhaftungen von vorgestern sind bekannt geworden. Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass der örtliche marxistische Zirkel, in dem der Angeklagte Kurse besuchte, ein Ort der Vorbereitung einer gewaltsamen Machtübernahme war. Vorgestern wurden mindestens zwölf Bürger, die mit verschiedenen linken Bewegungen in Verbindung stehen, durch die Polizei verhört. […] Die Rolle des Anführers wurde dem 46-jährigen Pavel Matisov zugeschrieben. Dmitry Chuvilin, 38 Jahre alt, Rinat Burkeev, 36 Jahre alt, Alexey Dmitriev, 40 Jahre alt und Yury Yefimov, 62 Jahre alt, werden als Teilnehmer der terroristischen Organisation betrachtet. Jefimow und Dmitriew werden auch wegen öffentlicher Aufrufe zu terroristischen Aktivitäten angeklagt. Pavel Matisov war zu verschiedenen Zeiten als Tischler, Polizeibeamter und Unternehmer tätig. Im Jahr 2014 zog er als Freiwilliger in den Kampf im Donbass. Er war Mitglied der Geisterbrigade und hatte das Rufzeichen `Matros`. Er selbst sprach darüber in einem Videointerview im Herbst 2021 – er kandidierte für die Staatsduma bei den Kommunisten Russlands. Auch Rinat Burkeyev kämpfte als Freiwilliger im Donbass. Alexey Dmitriev arbeitet als HNO-Arzt am Städtischen Klinikum Nr. 21 und betreibt einen Oppositionskanal auf YouTube. Der Rentner Yury Yefimov ist in bestimmten Kreisen als langjähriges Mitglied der linken Bewegung bekannt. Dmitri Chuwilin ist ein bekannter linker Oppositionspolitiker in Baschkortostan. Er leitet den regionalen Zweig der Linksfrontbewegung. Im Jahr 2018 gewann er das Mandat eines Kurultai-Abgeordneten und trat der KPRF-Fraktion bei. […].“
  • . „21.01.2022: Eilt! Alexander Zimbovsky erneut inhaftiert! Die 15-tägige Haft des VKP-Aktivisten Alexander Zimbovsky im Sacharow-Gefängnis endete heute. Am 6. Januar 2022 wurden Alexander und seine Mitstreiter während einer Kundgebung mehrerer kommunistischer Organisationen festgenommen, die sich versammelt hatten, um ihre Solidarität mit den Arbeitern Kasachstans zu bekunden. Die Polizei stürzte sich auf die Kommunisten mit einer derartigen Inbrunst, als würden sie bewaffnete Banditen neutralisieren (…) Heute wurde er auf dem Weg aus dem Sonderaufnahmezentrum von der Polizei erneut aufgegriffen und an einen unbekannten Ort gebracht. Wir vermuten, dass er auf der Grundlage des zweiten Artikels – 20.2 Teil 8 – belangt wird, der eine zusätzliche 30-tägige Haftstrafe verspricht. Stoppt die Repression gegen Kommunisten!“

Diese wenigen Beispiele, es können weitere hinzugefügt werden, sind dem Telegramkanal der Vereinigten Kommunistischen Partei[12] entnommen und konnten zum Teil auch in anderen Quellen nachverfolgt werden. So ist der Fall Kirill, die Inhaftierung der Genossen des marxistischen Bildungszirkels, wie die Repression gegen Teilnehmer von Solidaritätskundgebungen für die Arbeiter in Kasachstan auch auf den Seiten der RKAP[13] [14] [15] dokumentiert, im Falle von Kirill ist mir auch eine Solidaritätsbotschaft der PAME bekannt.[16]

An dieser Stelle ist es angebracht, darauf zu verweisen, dass es in der russischen linken und kommunistischen Bewegung eine Debatte darum gibt, mit welchem Staat man es zu tun hat, eine Debatte darum, was der „Putinismus“ ist und ob man es mit einer Faschisierung des Staates zu tun habe. Eine Debatte, die scheinbar nur die wenigsten Kommunisten hier in Deutschland mitbekommen haben. Dabei ist die Debatte vergleichbar mit der hiesigen über die  Entwicklung, die wir für unseren eigenen bürgerlichen Staat ähnlich erkennen, wenn wir über „autoritären Staatsumbau“ reden und die wir auch aus anderen europäischen Staaten wie aus Macron`s Frankreich[17] oder jüngst mit dem Wahlsieg von Giorgia Meloni in Italien kennen. Einen Einblick in die Debatte in Russland kann bspw. in dem Artikel „Typologie reaktionärer Regime und linke Taktiken“ genommen werden.[18]

Fakt scheint zu sein, dass mit der Etablierung des „Putinismus“, von Jahr zu Jahr die Spielräume bürgerlicher Demokratie abgebaut und das Repressieren der politischen Opposition zunimmt.

„Seit 2012 werden die Möglichkeiten, öffentliche Kundgebungen abzuhalten, immer geringer: Ihre Genehmigung ist praktisch unmöglich geworden, und bei einem Verstoß gegen das Genehmigungsverfahren droht den Aktivisten eine strafrechtliche Verfolgung. […] Auch die Möglichkeiten für öffentliche Kampagnen haben sich seit den 2000er Jahren erheblich eingeschränkt. Es geht nicht mehr nur um die Zensur der großen Medien: Sogar das Bloggen wird durch Roskomnadzor[19] -Beschränkungen behindert. Und der jüngste Gesetzentwurf über `Bildungsaktivitäten`[20] könnte unter anderem Clubs, Diskussionsclubs und YouTube-Propaganda treffen. Darüber hinaus macht es die unendlich weite Auslegung des Begriffs „Extremismus“ möglich, selbst für Äußerungen in sozialen Netzwerken Straftaten zu konstruieren. […] Auch die Kontrolle über die `systemischen` Parteien wird immer stärker. […] heute [führt] jede Abweichung von der `Generallinie` zu einer Strafanzeige (siehe die Fälle Furgal, Grudinin, Bondarenko usw.). Vertreter der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, der Liberaldemokratischen Partei oder der SR dürfen offizielle Ämter nur unter der Bedingung absoluter Loyalität und Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit mit den Funktionären von `Einiges Russland` besetzen.“[21]

Erinnert sei auch an die Protestwelle vom Januar 2021 – die so genannten Nawalny-Proteste. Entzündet hatten sie sich an der Verhaftung des Herrn Nawalny[22], Ursache waren aber die zum Teil exorbitanten Preissteigerungen des täglichen Lebens der arbeitenden Klasse (Zucker + 65%, Sonnenblumenöl + 26%, Kartoffeln + 100%), die Anhebung des Rentenalters um 5 Jahre, bei gleichzeitiger Kürzung im Gesundheitswesen in Höhe von 135 Milliarden Rubel (2019 lagen die Ausgaben des Staates für das Gesundheitswesen bei 713 Milliarden Rubel!) als auch Kürzungen im 100stelligen Milliardenbereich bei den Sozialausgaben. Dies alles bei andauernder Privatisierung, Outsourcing, Abbau von Krankenhausbetten, einer gerade durchgezogenen Verlängerung der Amtszeit von Putin und einer zum Himmel schreienden Korruption (der Fall der goldenen Klobürste in einem Luxushotel eines lieben und engen Freundes Putins, der so bezeichnete „Putin-Palast“ in Gelendschik[23]). Damals kam es an einzelnen Tagen zu mehr als 100 Demonstrationen, mit mehr als 150.000 Teilnehmern. Die Polizei griff hart ein und es kam zu brutalen Verhaftungen von mehreren tausend Personen, auch wurde die Nationalgarde Rosgvarida eingesetzt – eine militärische Einheit die ausgerüstet ist mit Sturmgewehren, Panzern, Hubschraubern, Handgranaten, Raketenwerfen und deren Einsatzrichtlinien sich auf Terroranschläge, Geiselnahmen und Ausnahmezustände bezieht. Die Zeitung der RKAP „Arbeitendes Russland“ zitierte damals Stimmen aus der Arbeiterklasse: „Egal, was die Regierung und ihre Hofkumpane sagen, es ist die erdrückende und eklatante Ungerechtigkeit, die die Menschen auf die Straße bringt. Es wird immer schwieriger, den ostentativen Luxus von Milliarden und Palästen mit der hoffnungslosen Armut von Almosen zu vereinbaren.“ Eine andere Stimme sagt: „Junge Menschen haben begonnen zu erkennen, dass der klassenbasierte Staat sie ihrer Zukunft beraubt hat. […] Bald werden Großmütter und Großväter auf die Straße gehen. Die Mietkosten wurden ins Unermessliche gesteigert, die Rente von 6000-7000 Rubel nimmt ab und wovon soll man leben? Und die Preise sind in die Höhe geschossen!“ Und ein Dritter meint: „Die Zeit ist gekommen, in der die himmelschreienden Ungerechtigkeiten der sozialen Verhältnisse für jeden Schuljungen offensichtlich geworden ist. Wir haben eine Klobürste im Wert des Jahreseinkommens eines Rentners etabliert. Im Jahre 1994 gab es Sicherheiten-Auktionen[24], die eine Schicht von Oligarchen schufen und alle anderen machtlos machten. Und seitdem hat sich nichts geändert, nicht einmal die Präsidenten – es gab seither nur zweieinhalb von ihnen, wenn man Medwedew mitzählt. Es ist eine Generation herangewachsen, die vom Tag ihrer Geburt an alles hasst – die totale Unfreiheit und den totalen Raub. Auf der Kundgebung habe ich fast nie den Nachnamen Nawalny gehört. Aber ich sah viele WC-Bürsten als ein Symbol für soziale Ungerechtigkeit. Ich erinnere mich an einen dünnen kleinen Kerl, der in einem Fernsehsender einen Kommentar abgab: Er sprach auch über die WC-Bürste und sagte, dass seine Mutter ungefähr so viel wie jene WC-Bürste im Jahr verdiene und das er deshalb während seiner gesamten Kindheit unterernährt war.“[25]

Einem Monat zuvor kommentiert die RKAP im „Arbeitenden Russland“ den Fall eines zu sechs Jahren Haft verurteilten Jugendlichen. „OPPOSITIONELLE JUGENDLICHE SOLLEN EINGESCHÜCHTERT WERDEN. Absolvent der Moskauer Staatsuniversität zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, weil er ein Fenster im Büro von `Einiges Russland` eingeschlagen hat. […] Der Grund für die Inhaftierung des jungen Mathematikers an einem `nicht so fernen Ort` ist das vor drei Jahren, in der Nacht zum 30. Januar 2018, eingeschlagene Fenster im Büro von `Einiges Russland` und eine hineingeworfene Rauchbombe. Bei dem Vorfall wurde niemand verletzt. Diejenigen, die direkt gehandelt haben, gaben teilweise ihre Schuld zu und kamen mit Bewährungsstrafen davon. Azat Miftakhov, 27, hat nichts zerschlagen oder geworfen, bekam aber trotzdem die volle Strafe, da die Staatsanwaltschaft ihn als `Koordinator des Angriffs` auf die Filiale der Regierungspartei eingestuft hatte. Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat die ganze Zeit Azat Miftakhov unterstützt und versucht, ihn von der russischen `Justiz` zu beschützen. Akademiker der Russischen Akademie der Wissenschaften setzten sich für ihn ein. Ein offener Brief russischer Mathematiker zur Verteidigung des Diplomanden wurde von Hunderten von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern unterzeichnet. Am 2. März 2019 fand eine Volkskundgebung zur Unterstützung des Mathematikers vor dem Hauptgebäude der Moskauer Staatsuniversität statt, bei der vier Aktivisten festgenommen wurden. Und im vergangenen Dezember 2020 veröffentlichte die mathematische Gemeinschaft der Vereinigten Staaten, Kanadas und mehrerer europäischer Länder einen offenen Brief, in dem sie ihre Kollegen aufforderte, die Teilnahme am Internationalen Mathematikerkongress, der 2022 in St. Petersburg stattfinden soll, zu verweigern. Es sollte angemerkt werden, dass Wissenschaftler Gründe hatten, den Doktoranden zu verteidigen; selbst während der Haft setzte Miftachow seine wissenschaftliche Arbeit fort. Aber die russischen Staatsanwälte blieben gegenüber all dem taub. […] In der Tat wächst die Zahl der oppositionell gesinnten jungen Menschen, auch derjenigen, die die kapitalistische Ordnung in Russland vehement ablehnen. Es liegt im Interesse der Machthaber, den Zustrom von linken Aktivisten zu stoppen oder zu verlangsamen. Dazu müssen die jungen Oppositionellen eingeschüchtert werden, und die russische Regierung geht in eine neue Runde der Einschüchterung ihrer Bürger. Ein weiteres hartes Urteil ist gefällt worden. Ein weiteres Schicksal ist ruiniert. Es besteht kein Zweifel, dass Azat Miftakhov nicht der erste und nicht der letzte war. Es erwarten uns neue Offenbarungen über die Fähigkeiten des russischen `Rechtsstaates`.“[26]

Die Anfangsjahre der Präsidentschaft Putins werden in dem oben genannten Beitrag „Typologie reaktionärer Regime …“ als bonapartistische Manöver, angesichts einer noch lebendigen und aufmüpfigen Arbeiterklasse bezeichnet. „Der Bonapartismus zielt im Wesentlichen darauf ab, ein Gleichgewicht zwischen den starken linken und rechten Flanken der öffentlichen Politik aufrechtzuerhalten.“[27]Bezugnehmend auf Engels und Lenin wird diese Phase des russischen Kapitalismus als instabile Herrschaft bezeichnet, in der die Staatsgewalt die Bourgeoisie vor Angriffen der Arbeiterklasse schützt, mittels großer „nationaler Projekte“ und mit dem Ausbau von Sozialtransfers die Arbeiterklasse beruhigt, beide aber – die Bourgeoisie wie auch die Arbeiterklasse – von politischen Handlungsmöglichkeiten abschneidet. Während bonapartistische Regime der Bourgeoisie die demokratischen Instrumente nehme, hindere es sie aber nicht daran, ihren Einfluss in der Wirtschaft zu stärken. „Der wichtigste davon war der Pakt der Regierung mit der Großbourgeoisie: volle Freiheit der Wirtschaftstätigkeit und Unantastbarkeit der Privatisierungsergebnisse im Gegenzug für erhöhte Steuerdisziplin, Loyalität und Nichteinmischung in die Politik. Indem die neue Regierung die Oligarchie sanft, aber bestimmt aus der Politik ausschloss (und später die Unantastbarkeit dieses Paktes durch die Yukos-Affäre bestätigte), hat sie die Macht zentralisiert.“[28] Da aber inzwischen die kapitalistische Herrschaft konsolidiert und es angesichts wirtschaftlicher Stagnation und fehlender Opposition nicht mehr nötig und möglich ist, die Arbeiterklasse in dem Maße wie vorher zu bestechen, wendet sich das Regime immer mehr zu autoritären Herrschaftsformen hin: „Wenn die Linke jedoch jegliche Unterstützung, Kapazität und Organisation verliert, entfällt die Notwendigkeit für klassenübergreifende `Manöver`. Angesichts der anhaltenden und tiefgreifenden Stagnation muss der Staatsapparat so weit wie möglich gestärkt werden, indem das politische Feld gründlich `gesäubert` wird, damit der `manuellen Kontrolle` im Interesse des Kapitals nichts im Wege steht.“[29]

Mit dem Ende der populistischen Maßnahmen sei auch die populistische Rhetorik als auch anfängliche „Anti-Oligarchie“-Rhetorik, die das Ansehen der Regierung gestärkt habe, allmählich verschwunden und die Interessen des Großkapitals immer eifriger und offener verteidigt worden. Während die Einmischung der Regierung in die „soziale Verantwortung“ der Unternehmer praktisch aufgehört hat.

„Die restriktive Politik des Justizministeriums, die rein dekorative Funktion von Bundes- und Kommunalparlamenten und Fälschungen im großen Stil – all das macht es spätestens seit Mitte der 2000er Jahre unmöglich, Wahlen und Parlamente effektiv als Propaganda-Plattform zu nutzen.“[30]

Seit 2012 wurden die Möglichkeiten, öffentliche Kundgebungen abzuhalten, immer geringer, ihre Genehmigung praktisch unmöglich und bei einem Verstoß gegen das Genehmigungsverfahren setzten sich Aktivisten der strafrechtlichen Verfolgung aus. Die neuen Verbots- und Repressionsmaßnahmen haben den Raum für die Organisation von Massenaktionen und öffentlicher Agitation drastisch eingeschränkt. Gerade die „Erfahrungen mit den „Nawalny“-Kundgebungen […] zeigen deutlich, dass die Behörden bereit sind, alle Aktivitäten auf der Straße gewaltsam zu unterdrücken“[31]. Soweit zu den Einschätzungen, welche die Genossen der VKP im April diesen Jahres zum Wandel der Herrschaftsausübung des russischen Kapitalismus veröffentlichten.

Anfang des Monats November wird in einem Manifest gegen den Krieg von den Unterzeichner – Genossen aus verschiedenen kommunistischen Parteien und Organisationen, unter ihnen auch eine Fraktion der VKP – die Entwicklung des „Putinismus“ als zunehmende Faschisierung des Staates charakterisiert: „Gleichzeitig befand sich das Putin-Regime am Ende des 20.Jahrhunderts in einer Krise. Alle wichtigen Wahlversprechen Putins, wie die Verdoppelung des russischen BIP und die Reindustrialisierung Russlands, sind gescheitert, und die Realeinkommen sind seit mehreren Jahren in Folge gesunken. Die Schwäche des herrschenden Regimes hat sich in zunehmenden faschistischen Erscheinungen manifestiert, wie z. B: Die Unterdrückung der Proteste der Bevölkerung gegen die Korruption von Putin und seinen Beamten, die Zerschlagung bürgerlich-liberaler Organisationen und die Unterdrückung von Menschenrechtsinitiativen, die vollständige Unterbindung des Zugangs der nichtsystemischen Opposition zu den Wahlen, Beseitigung der Versammlungsfreiheit unter dem Vorwand von Anti-Covit-Maßnahmen. […]“[32]

Über die vermeintliche antifaschistische Rolle, die Russland in der Ukraine spielen würde, wurde schon viel geschrieben. Es wurde darauf verwiesen, wie es sein könne, dass man einem Regime und seinem obersten Protagonisten, welche faschistischen Ideologen (Dugin[33], Illjin[34], Solschenizyn[35]) nahestehen, eine objektiv antifaschistische Rolle zuschreibe. Die Unterzeichner des Manifests der Kommunistischen Internationalisten meinen zu erkennen, dass „In Wirklichkeit […] das russische Regime in den letzten acht Jahren einen weiten Weg in Sachen Faschismus zurückgelegt [hat]“. Und heute durchaus das russische Regime „mit seinen ukrainischen Zwillingsbrüdern verglichen werden“ kann. „Den russischen `Halbfaschismus` zu unterstützen, weil er angeblich den ukrainischen `Zwei-Drittel-Faschismus` bekämpft, ist eine Verhöhnung des Internationalismus, der Gipfel der Verschlagenheit oder der politischen Kurzsichtigkeit, eine raffinierte sozialchauvinistische Linie pseudo-antifaschistischer Rhetorik.“[36]

Was die „Dekommunisierung“ angeht, so mag es sein, dass sie nicht so weit vorangeschritten ist, wie in den anderen osteuropäischen Staaten, aber dennoch sollten wir zur Notiz nehmen, dass die beispielhaft genannte Platzumbenennung nach dem Erzreaktionär Stolypin[37] kein Einzelbeispiel ist, sondern weiter verbreiteter ist, als man von hier allgemein mitbekommt. So berichtete die RKAP am 15. Juni, nachdem schon die VKP auf den Vorfall aufmerksam machte, dass „Anfang März 2022 im Dorf Ikryanoye in der Region Astrachan eine, den Befreiungssoldaten gewidmete, Stele mit der Aufschrift `Wir haben die Welt verteidigt! Wir werden den Frieden verteidigen`, Bilder von Soldaten der Roten Armee und ein Porträt von Lenin auf skrupellose Weise abgerissen wurde. Das Vorgehen der örtlichen Behörden bei der Zerstörung der Stele löste damals auf föderaler Ebene ein breites Echo aus, und der Vorsitzende des Gemeinderats von Ikryaninsky, Astafyev, versprach den Abgeordneten des Dorfes, die Stele wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen. Im Juni wurde die Stele restauriert, allerdings mit einem völlig anderen Inhalt. Anstelle der versprochenen Originalstele sahen die Einwohner eine Wand aus Plastikplatten mit dem Yunarmiya[38]-Emblem anstelle der Rotarmisten, und Lenins Porträt wurde durch ein Zitat von Putin ersetzt: `Wir haben keine andere verbindende Idee als den Patriotismus und können es auch nicht haben`.“[39]

Aber genug der Beispiele. Widmen wir uns der russischen Außenpolitik.

Zur Russlands Außenpolitik

Ich beziehe mich hier vor allem auf einen Artikel aus der Zeitung „Russia in Global Affairs“ mit dem Titel „Von der konstruktiven Zerstörung zum Wiederaufstieg“ von Segej Karaganow[40]. Und beispielhaft möchte ich aus einer Rede von Herrn Putin zitieren, einer seiner Reden, die üblicherweise eben nicht in der Jungen Welt oder anderen progressiveren deutschen Medien übernommen wird, aber doch einiges aussagt zum Weltbild, welches in Russland von seinen Vertretern bemüht wird. Vom Weltbild der Bourgeoisie auf ihre Handlungsmöglichkeiten zu schließen, wäre natürlich verkürzt, zeigt uns aber, auf welcher ideologischen Grundlage sie handelt, zeigt ihre reaktionäre Ideologie und ihre reaktionären Absichten.

Einige einleitende Worte zur Person Sergej Karaganow:

Sergej Karaganow, geb. 1952 in Moskau, zählt zu einem der einflussreichsten bürgerlichen Intellektuellen in Russland. Er galt als Berater von Boris Jelzin und gilt heute als Berater von W. Putin. Er schreibt für die „Russia in Global Affairs“ und ist regelmäßiger Redner auf den Tagungen des „Valdai Diskussions-Clubs“.

Der Doktor der Geschichtswissenschaft, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Karaganow ist ehemaliger Dekan der 1992 gegründeten Fakultät der Weltwirtschaft und Weltpolitik an der National Research University High School of Economics (HSE). Hierzu sollte man wissen, dass die HSE ins Leben gerufen wurde, um einen neuen bürgerlichen Beamtenapparat aufzubauen und seit 2008 direkt der Regierung unterstellt ist. Ihren Vorläufer hat die HSE im Institut für Wirtschaftswissenschaften. Dieses wurde explizit als ein „nicht-marxistisches“, und  „alternatives“ Institut im Zuge des konterrevolutionären Prozesses 1989 geschaffen. Ihr Ziel: marktwirtschaftliche „Reformen in Russland voranzutreiben, Ökonomen, Analytiker und Lehrer auszubilden, die unter den neuen Bedingungen für die Regierung arbeiten können“.[41]

Karaganow ist auch regelmäßiger Gast und Referent des Valdai-Diskussions-Clubs. Der Valdai Diskussions-Club – Putin tritt dort regelmäßig auf und hält schon mal dreistündige Reden – ist ein Forum mit internationaler Ausrichtung, in dem Politiker und Intellektuelle zusammenkommen, um über die Zukunft Russlands zu beraten. Themen in der Vergangenheit waren so z.B. „Neue Weltordnung“, „Die Morgenröte im Osten …“, „Globaler Umbruch …“, „Die nationale Idee im globalen Kontext“, … usw. usf.

Auf ihrer Homepage findet man von Karaganow u.a. einen Aufsatz über das „Demokratiemodell in Europa“, welches dem Untergang geweiht sei, und ein 2018 von ihm veröffentlichtes Papier mit dem Titel „Die Kriegsgefahr liegt in der Luft, man darf nicht auf einen Angriff warten“, indem er sich für die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit mit China ausspricht. Als Vorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, einem nichtstaatlichen Think Tank, ist er aber nicht nur Gast und Redner, sondern auch an der Erarbeitung des Programms der alle 1-2 Jahre stattfindenden internationalen Tagung des Valdai-Clubs verantwortlich, gemeinsam mit seinem Komplizen Fjodor Lukjanow[42], welcher Vorsitzender des Präsidiums eben diesen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik ist. So ist die Stiftung des Valdai-Clubs auch eine gemeinsame Initiative vom besagten „Rat für Außen- und Verteidigungspolitik“, des „Russischen Rats für internationale Angelegenheiten“ (Lukjanow ist dort ebenfalls Mitglied des Präsidiums) und des „Moskauer Staatlichen Instituts für internationale Beziehungen (Universität) des Außenministeriums Russlands“ sowie der HSE.[43] In diesem Jahr hielt Wladimir Putin eine weit beachtete Rede auf dem Valdai-Club, in der er noch deutlicher als in der Vergangenheit den Machtanspruch Russlands und die Unumgänglichkeit des Aufstieges einer multipolaren Weltordnung formulierte, die der „Globale Westen“ nur als eine Kampfansage verstehen kann.[44]

Karaganow hat eine ganze Reihe an Auszeichnungen für seine Arbeit vom russischen Staat erhalten, insbesondere zweimal (2016 und 2017) für die „Popularisierung außenpolitischer Themen“. Für uns zudem interessant: Seit 1993 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, seit 1996 Mitglied des Beirats unter dem Vorsitzenden des Föderationsrates der Russischen Föderation, und seit 2001 Berater des stellvertretenden Leiters der Verwaltung des Präsidenten der Russischen Föderation für Außenpolitik. Um seine antikommunistische Gesinnung deutlich zu machen, sei erwähnt, dass unter seiner Leitung 2011 eine Arbeitsgruppe von der Regierung beauftragt war, ein Programm zur „Entstalinisierung der Gesellschaft“ auszuarbeiten. Zitat: „Die Gesellschaft kann nicht beginnen, sich selbst und ihr Land zu respektieren, während sie die schreckliche Sünde von siebzig Jahren Kommunismus-Stalinismus-Totalitarismus vor sich selbst verbirgt. Daher ein weiterer Vorschlag – wir brauchen ein Gesetz, nach dem Beamte, die in den Jahren des Totalitarismus begangene Verbrechen öffentlich leugnen oder gar rechtfertigen, nicht im öffentlichen Dienst stehen können. Es ist notwendig, die wahre russische Identität wiederherzustellen, die Selbstachtung, ohne die es unmöglich ist, voranzukommen.“[45]

Soweit zu Herrn Karaganow. Keine unbedeutende Person. Nun zu seinem nicht wegzudiskutierenden Aufsatz zur „außenpolitischen Wende“ der Russischen Föderation vom Frühjahr 2022. Der Artikel ist überschrieben mit „Von der konstruktiven Zerstörung bis zum Neuaufbau“ und ist acht Tage vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine auf dem russischen Portal „Russia in Global Affairs“[46] veröffentlicht worden.

In dem knapp 12-seitigen Aufsatz legt Karaganow dar, wie sich der Spielraum für Russland durch den Niedergang des Westens vergrößere und das Russland die Aufgabe zukomme, die Talfahrt, in dem sich der Westen befände, zu beschleunigen. Noch deutlicher wird er, wenn er schreibt, dass es Russlands Aufgabe sei, das „euro-atlantische Sicherheitssystem systematisch zu zerstören“.

  1. „Im Jahr 2021 beginnt für Russland offensichtlich eine neue Phase seiner Außenpolitik. Nennen wir es „konstruktive Zerstörung“ des bisherigen Modells der Beziehungen zum Westen. Elemente einer solchen Linie haben sich seit anderthalb Jahrzehnten herausgebildet – im Grunde seit Wladimir Putins berühmter Rede in München im Jahr 2007.“ (Sergej Karaganow[47])

Der Artikel beginnt mit einer längeren Analyse der Entwicklung Russlands seit der Konterrevolution, für die er die Vokabeln gebraucht: „Aufstehen von den Knien“ und „Rückkehr zur Größe“. Diese Entwicklung beschreibt er als eine Phase, geprägt von Selbsttäuschung und Try and Error. Entscheidend für ihn ist, das, nachdem die erste Phase unter Boris Jelzin, „eine Periode von Schwäche und Illusionen“, in der „wir keine Kraft zum Widerstand hatten und wir glauben wollten, dass die Demokratie und der Westen uns helfen würde“, sich eine neue russische Politik durchzusetzen begann, in der der russische Staat seine Interessen souverän durchzusetzen begann und heute eine solche Konsistenz aufweist, dass er von relativer Unverwundbarkeit und der Fähigkeit des russischen Staates spricht, die es ermögliche die „Eskalation zu beherrschen“.

„Die neue Phase der russischen Außenpolitik“ – in der Russland sich heute befinde und der die Aufgabe zukomme, die Stellung der westlichen kapitalistischen Staaten in der imperialistischen Pyramide zu untergraben und herauszufordern – „gingen drei weitere voraus. „Die erste war eine Periode der Schwäche und Illusion, […] Diese Periode endete 1999 […].

Im Stillen und heimlichen (lächelnd und sich in der Öffentlichkeit verbeugend) begann Russland die Phase des Aufstehens von den Knien. Der Wiederaufbau des Staates begann. […]

Die Münchner Rede, der Krieg in Georgien[48], die Einleitung einer tiefgreifenden Reform der allgemeinen Streitkräfte, parallel zur beginnenden Weltkrise, die auch das Scheitern des westlichen liberalen, globalistischen und imperialistischen Modells signalisierte (ein Begriff, den ich von dem bemerkenswerten englischen internationalen Gelehrten Richard Sakwa übernommen habe), markierten eine neue Phase in der russischen Politik: die Rückkehr zu einer großen Weltmacht, die in der Lage ist, ihre Souveränität und ihre Interessen zu verteidigen. Zu den Meilensteinen auf diesem Weg gehören die Krim, Syrien, die militärische Konsolidierung, die konsequente Einschränkung der Einflussmöglichkeiten des Westens auf die russische Innenpolitik und die Vertreibung – auch durch geschickte Ausnutzung der westlichen Reaktionen auf diese Aktionen – kompradorischer Elemente aus der russischen Führungsschicht. […]

Die Phase der `Rückkehr zur Größe` endete zunächst in den Jahren 2017-2018. Danach erreichten wir ein Plateau, auf dem die Modernisierung stattfand, allerdings mit einer schleppenden Wirtschaft, die in eine Abwärtsspirale zu geraten drohte. Dieser Schluckauf irritierte viele, darunter auch den Verfasser dieser Zeilen, der zu befürchten begann, dass Russland zum x-ten Mal in seiner Geschichte `eine Niederlage dem Sieg noch entreißen würde`. Aber wie sich herausstellte, war dies eine weitere Etappe im Aufbau von Stärke, vor allem im militärischen Bereich.

Russland hat sich einen Vorsprung von einem Jahrzehnt relativer strategischer Unverwundbarkeit und der Fähigkeit verschafft, im Falle des Ausbruchs von Konflikten in Regionen, die für das Land von entscheidender Bedeutung sind, die `Eskalation zu beherrschen`.“

Mit „konstruktiver Zerstörung“ meint Karaganow die Durchführung einer Außenpolitik, die darauf gerichtet ist, das Verhältnis der westlichen kapitalistischen Staaten zueinander (die Staaten der EU, aber auch der EU zur USA und damit das Innenverhältnis der NATO) und bisherige Bündnis- und Vertragsregelungen, die als vom Westen gesetzt und dominiert gelten, ins Ungleichgewicht zu bringen bzw. sie zu untergraben.[49] Diese Politik der „konstruktive Zerstörung“ habe Russland 2021 begonnen, als sie Ultimaten an die USA und NATO gestellt habe. Russland solle tunlichst jegliche institutionelle Zusammenarbeit mit der NATO einstellen und helfen die NATO politisch-moralisch zu delegitimieren, so Karaganows Rat. Da die OSZE ebenfalls dem vom Westen geschaffenen Sicherheitssystems diene, sei „die Reduzierung der Beteiligung an diesem Programm auf ein absolutes Minimum“ ebenfallsnotwendig, wie auch eine Kooperation mit der EU nur dort erfolgen solle, wo es sich lohne. Er schreibt, dass die „Beibehaltung der Institutionen in Europa schädlich ist“ und das Russland deren „Expansion begrenzen solle, indem wir die Zusammenarbeit verweigern und zur Erosion des Systems beitragen“. Eine Erosion der EU, die er bereits festzustellen glaube: „In der Erwartung, dass harter Widerstand und die Möglichkeit, im eigenen Saft zu schmoren, die Elite der westlichen Zivilisationsnachbarn zu einer weniger selbstmörderischen und fremdgefährdenden Politik führen wird.“.

Der Ukrainekonflikt taucht bei ihm nur als Störfaktor auf. Ein Störfaktor für die Entwicklung Russlands, indem der Westen versuche, seine eigene Talfahrt durch die Schaffung von Problemen in der Ukrainefrage aufzuhalten. Aber, der Westen sei nur ein Papiertiger, die Konfrontationsfähigkeit der NATO sei anzuzweifeln und die USA sei nicht wirklich bereit für kleine Staaten ins Feuer zu springen, angesichts einer Atomkriegsgefahr die sie damit heraufbeschwöre. „Die Behauptung, dass Artikel 5 des Nordatlantikvertrags eine kollektive Verteidigung im Falle eines Angriffs vorsieht, ist unzutreffend. Es gibt keine automatischen Garantien. Ich kenne die Geschichte des Blocks und die Debatte in den USA im Zusammenhang mit seiner Gründung und kann mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass die Vereinigten Staaten unter keinen Umständen Atomwaffen einsetzen würden, um ihre Verbündeten in einem Konflikt mit einer Atommacht zu `schützen`.“

Die „Geschichte“ – eine beliebte Floskel die Karaganow bemüht; wir kennen das aus unserer deutschen Geschichte wenn von „Schicksal“ gesprochen wird, das von „Deutschland“ verlange … – diese „Geschichte“ verlange von „Russland das Entscheidungen jetzt schnell getroffen werden“, und zwar Entscheidungen, um den Zerfallsprozess des Westens zu beschleunigen. Hierzu müsse man notfalls auch mit militärischen oder „militärisch-technischen Instrumenten“[50] vorgehen. „Dies wird unweigerlich zu einer Stärkung der geopolitischen, geoökonomischen und geoideologischen – kulturellen – Position des Nicht-Westens führen, dessen wesentlicher Bestandteil historisch gesehen Russland ist“.

Weiter schreibt Karaganow, es „gibt keinen Grund, eine Eskalation der Konfrontation zu fürchten“ und betont, nicht nur der Westen könne mit zerstörerischen Sanktionen drohen, „auch wir sind in der Lage, Abschreckung zu betreiben, indem wir damit drohen, ihre Wirtschaft und Gesellschaft mit asymmetrischen Gegenmaßnahmen zu zerstören.“

All das liest sich, wie ein direktes Programm, und der Offenlegung der Motive des acht Tage später begonnen Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine. Und tatsächlich äußerte sich Karaganow in der Richtung unmittelbar nach dem 24.02.2022, indem er sagte, er habe keinen Grund an seinen gemachten Aussagen etwas zu ändern und empfahl, den Artikel weiter zu publizieren.[51]

  • „Um zur Schaffung eines neuen Systems überzugehen, wird der wichtigste Inhalt der nächsten Etappe (neben der Demontage des alten Systems) die `Landnahme` sein. Dies geschieht nicht einmal so sehr auf Wunsch Moskaus, sondern eher aus der Not heraus.“

Eine weitere bemerkenswerte Offenlegung, die Karaganow in dem Artikel macht, ist die der „Landnahme“ und des „Sammelns von Territorien“ der ehemals zur Sowjetunion gehörenden Staaten. Während es darauf ankomme, die vormals vorherrschende Westorientierung der Eliten weiter abzubauen – und die beschriebene Außenpolitik der „konstruktiven Zerstörung“ des Westens zu betreiben – gelte es auf der anderen Seite die „Integration Groß-Eurasiens“ zu fördern und ein „Sicherheits- und Kooperationssystem“ aufzubauen, welches das des Westens ablösen soll.

Es geht hier einmal mehr um die Kooperation mit China, zum anderen um die neue Rolle Russlands als Großmacht, dessen Aufgabe es sei, Staaten in das neue System aufzunehmen, eines Systems eines „Großraums Eurasien“. Dabei verweist er auf die post-sowjetischen Länder, denen es nicht gelungen sei „leistungsfähige“ Staaten aufzubauen und die drohen, „staatsunfähig“ zu werden. Er spricht hier von möglicher „Somalisierung“[52]von Staaten oder von ihrer „Unterwerfung“ unter externer Kontrolle. Dabei ist freilich nicht die Kontrolle durch Russland gemeint, sondern implizit der des Westens.

„Die Gründe dafür sind vielfältig. Und sie müssen analysiert werden. Vorerst beschränke ich mich auf eine, die an der Oberfläche liegt: Die Mehrheit der lokalen Eliten hat keine historische, kulturelle Erfahrung mit dem Aufbau von Staaten. […]. Es waren die kleinen Länder, die durch den Zusammenbruch des geistigen und kulturellen Raums des Reiches am meisten verloren. Der Zugang zum Westen, der erschlossen wurde, konnte diesen Raum nicht ersetzen. Das Fehlen eines staatsbildenden Rückgrats führte zu einem extremen Krämergeist/ Kompradoren-Wesen an der Spitze. […] Es bleibt abzuwarten, wie das „Sammeln“ für Russland effektiver und profitabler gestaltet werden kann, […]“.

Hier geht es also um die Heimholung abtrünniger Regionen und Staaten. Das „Sammeln“, der mit dem Zusammenbruch der UdSSR verlorenen „Ostgebiete“, um es mal auf „deutsch“ zu sagen.

In dem Artikel geht er selber nicht weiter darauf ein, sondern verweist darauf, dass dies an anderer Stelle nachzuholen sei. Soviel sei sicher, der Weg „diese von der Geschichte auferlegten `Ansammlung`“ zu finden, muss sorgfältig und mit Blick auf die Erfahrungen des Zarismus und den Fehlern der Bolschewikigesucht  werden.

Man kann das als ledigliche Integration in die Eurasische Wirtschaftsunion lesen, die Hinweise auf „Landnahme“ und der explizite Verweis auf den Zarismus legt aber eine Interpretation nahe, dass hiermit die „Integration“ in die Russische Föderation gemeint ist. Die jüngst gemachten und wiederholten Äußerungen Putins zur Künstlichkeit und Illegitimität des Ukrainischen Staates und der „Russischen Welt“ sind ein Hinweis darauf, dass letzteres gemeint ist.[53]

  • „Wenn wir uns entwickeln und gewinnen wollen, brauchen wir unbedingt einen geistigen Kern – eine nationale Idee, eine Ideologie, die uns eint und den Weg nach vorne weist. Es ist unbestreitbar, dass große Länder ohne eine solche Idee nicht groß sein können.“

Die Außenpolitik kann man nicht von der Innenpolitik trennen. Eine imperialistische Außenpolitik bedingt eine reaktionäre Innenpolitik. Insofern gibt das Zitat einen hübschen Blick auf das Selbstverständnis der russischen Bourgeoisie. Natürlich hat das jetzt nichts unmittelbar mit unserer Ausgangsfrage zu tun, ergänzt aber unsere Überlegungen, ob die russische Außenpolitik, das Streben nach einer neuen „multipolaren Weltordnung“, erstrebenswert und fortschrittlich ist.

In dem Artikel verweist Karaganow auf die von Wladimir Putin im Oktober 2021 auf der internationalen Konferenz des Valdai-Clubs in Sotschi gehaltene Rede. Von dieser Rede sei ein ermutigendes Signal ausgegangen. Was hat Putin denn so Tolles gesagt? Nun, Putin hat nicht viel anderes gesagt, als auch Karaganow sagt. Aber als Staatslenker gebührt ihm natürlich mehr Respekt  und eine größere Wirkung der Rede in der Öffentlichkeit. Insbesondere hat Putin sich über die „Suche nach einem neuen internationalen Gleichgewicht“ geäußert, den Gefahren aber auch Chancen, wie er sich ausdrückte, die von der nun begonnen „Ära der großen Veränderungen“ ausgehe. Er sagte: „Die Menschheit ist vor mehr als drei Jahrzehnten in eine neue Periode eingetreten“ und damit begann das Suchen eines neuen Gleichgewichts. Aber nun stehen Transformationen an „deren Zeugen und Teilnehmer wir sind, die von einem anderen Kaliber sind, als die welche in der Geschichte der Menschheit sich wiederholt ereignet haben.“ Nachdem er sich Klima und Umwelt, dem „bestehenden Modell des Kapitalismus“, welches sich erschöpft habe, und der technischen Revolution und dem veränderten Kräfteverhältnis widmete („Die Vormachtstellung des Westens im Weltgeschehen, weicht einem vielfältigerem System“),nahm er sich dem Problem des Staates und der Dekadenz des Westens an. Unnötig zu sagen, dass er der Rolle des Staates eine große Bedeutung zumaß? Und unnötig zu sagen, dass er den Westen moralisch-ethisch als ein faulendes, intolerantes und inhumanes System geißelt? Ich zitiere hier einmal ausführlich:

„In der heutigen zerbrechlichen Welt nimmt die Bedeutung einer soliden Grundlage auf dem Gebiet von Moral, Ethik und Werten erheblich zu. […] Wir schauen mit Erstaunen auf die Prozesse, die in den Ländern ablaufen, die traditionell als Vorreiter des Fortschritts angesehen werden. […] Manche Menschen im Westen glauben, dass die aggressive Streichung ganzer Seiten aus der eigenen Geschichte, die `umgekehrte Diskriminierung` der Mehrheit zugunsten einer Minderheit und die Forderung, die traditionellen Vorstellungen von Mutter, Vater, Familie und sogar Geschlecht aufzugeben, Meilensteine auf dem Weg zur gesellschaftlichen Erneuerung sind. Hören Sie, ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass sie ein Recht darauf haben, wir halten uns da raus. Aber wir möchten sie bitten, sich auch aus unseren Angelegenheiten herauszuhalten. […]

Die Verfechter des so genannten `sozialen Fortschritts` glauben, dass sie die Menschheit in eine Art neues und besseres Bewusstsein einführen. Viel Glück, hisst die Fahnen, wie wir sagen, macht weiter so. Das Einzige, was ich jetzt sagen möchte, ist, dass ihre Rezepte überhaupt nicht neu sind. Es mag einige überraschen, aber Russland war schon einmal an dieser Stelle. Nach der Revolution von 1917 sagten auch die Bolschewiki, gestützt auf die Dogmen von Marx und Engels, dass sie die bestehenden Sitten und Gebräuche ändern würden, und zwar nicht nur die politischen und wirtschaftlichen, sondern auch den Begriff der menschlichen Moral und die Grundlagen einer gesunden Gesellschaft. Die Zerstörung uralter Werte, der Religion und der zwischenmenschlichen Beziehungen, bis hin zur völligen Ablehnung der Familie […]

Wenn wir uns ansehen, was in einer Reihe westlicher Länder geschieht, sind wir erstaunt über die dortigen Praktiken, die wir, wie ich hoffe, glücklicherweise in der fernen Vergangenheit gelassen haben. […] Das ist noch schlimmer als die Agitprop-Abteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. […] In einigen westlichen Ländern hat sich die Debatte über die Rechte von Männern und Frauen zu einem perfekten Hirngespinst entwickelt. Hüten Sie sich davor, dorthin zu gehen, wo die Bolschewiken einst hinwollten – nicht nur die Hühner, sondern auch die Frauen zu vergemeinschaften. Noch einen Schritt weiter und Sie sind am Ziel.

Eiferer dieser neuen Ansätze gehen sogar so weit, dass sie diese Konzepte ganz abschaffen wollen. Jeder, der es wagt, zu erwähnen, dass es Männer und Frauen gibt, was eine biologische Tatsache ist, riskiert, geächtet zu werden. `Elternteil Nummer eins` und `Elternteil Nummer zwei`, `gebärender Elternteil` statt `Mutter` und `menschliche Milch` statt `Muttermilch`, weil es die Menschen, die sich ihres eigenen Geschlechts nicht sicher sind, verunsichern könnte. Ich wiederhole, das ist nichts Neues; in den 1920er Jahren erfanden die so genannten sowjetischen Kulturträger ebenfalls eine Art Neusprech, […]

Ganz zu schweigen von einigen wirklich ungeheuerlichen Dingen, wenn Kindern von klein auf beigebracht wird, dass ein Junge problemlos ein Mädchen werden kann und umgekehrt. Das heißt, die Lehrer zwingen ihnen tatsächlich eine Wahl auf, die wir angeblich alle haben. Dabei schließen sie die Eltern aus dem Prozess aus und zwingen das Kind zu Entscheidungen, die sein ganzes Leben verändern können. […] Um es beim Namen zu nennen: Das grenzt an ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und es geschieht im Namen und unter dem Banner des Fortschritts. […]

Ich habe bereits erwähnt, dass wir uns bei der Gestaltung unserer Ansätze von einem gesunden Konservatismus leiten lassen werden. […] Jetzt, wo die Welt einen strukturellen Umbruch erlebt, hat die Bedeutung eines vernünftigen Konservatismus als Grundlage des politischen Kurses um ein Vielfaches zugenommen – gerade weil sich die Risiken und Gefahren vervielfachen und die Realität um uns herum zerbrechlich ist […].Es geht in erster Linie um das Vertrauen in eine bewährte Tradition, um den Erhalt und das Wachstum der Bevölkerung, […] und um eine grundsätzliche Ablehnung vom Extremismus als Methode.“[54]

Ein ermutigendes Signal!? Ich würde einen großen Teil des Inhalts der Rede irgendwo ansiedeln bei Trump und der AFD. Fortschrittlich klingt anders.

Karaganow misst in seinem Aufsatz aber den Inhalten dieser Rede von Putin große Aufmerksamkeit zu und empfiehlt sie seinen Lesern. Und tatsächlich geht es ihm, wie oben in dem Eingangszitat zu diesem Unterkapitel gesagt, darum, dass ein Staat, insbesondere, wenn er große Aufgaben zu bewältigen hat, auch ein inneren Kitt braucht – einen nationalen Gedanken. Und wie kann er anders sein im Imperialismus als der Bezug auf traditionelle und angeblich eigene jahrhundertealte kulturelle Werte.

Karaganow sagt, ein Sieg im oben genannten Sinne, sei unmöglich ohne Überwindung eines „offensichtlich schädlichen ideologischen Fundamentes“ und der Erneuerung eines solchen. Jahrzehntelang habe man im „Dunkeln“ eines von „außen importierten Marxismus“ gelebt, den man aber kürzlich, wie er sagt, „genüsslich verdrängt“ habe. Danach, und darauf spielt Putin in seiner Rede an, sei man „unter einem neuen, von außen importiertem Dogma gefallen“, diese sei die „liberal-demokratische Ideologie“ und das habe u.a. dazu geführt, dass man „Territorien verloren“ habe. Um dann die Frage nach dem „Fundament des Staates“ aufzuwerfen und zu beantworten: dieses läge in der Liebe zur Familie und zur Heimat aber die Werte der Geschichte, der Heimat, des Glaubens und des Geschlechts seien bedroht von einem aggressiven LGBTismus und Ultrafeminismus.[55]

Abschließend geißelt er einen Konsumismus in der heutigen Welt, der zu einer „Sättigung“ des Menschen geführt habe.

„In der heutigen Welt haben die Entwicklung der Technologie und das Wachstum der Produktivität zu einer Sättigung der meisten Menschen geführt, gleichzeitig aber auch zu einem Zustand gewohnheitsmäßiger Anarchie und auf globaler Ebene zu einem Verlust der gewohnten Bezugspunkte für die meisten.“ Um sich anschließend wieder seinem eigentlichen Thema zu widmen, der Außenpolitik: „Vielleicht sind es nicht mehr die wirtschaftlichen, sondern die sicherheitspolitischen Interessen, die wieder in den Vordergrund rücken: die Instrumente der militärischen Gewalt und der politische Wille, die dies gewährleisten.“

Unnötig zu sagen, dass er sich gegen Rüstungskontrolle ausspricht, die er als „grobschlächtig erfundene Torheit“ bezeichnet, auf die „die sowjetische Führung hereinfiel“? Und unnötig zu sagen, dass er die bürgerlich parlamentarische Demokratie schlechthin anzweifelt, wenn er sich fragt, „ist die Demokratie wirklich die Krone der politischen Entwicklung?“.

Zwischenfazit

Ist anzunehmen, dass ein solcher Staat und ein Konzept eines Staates auf dieser Grundlage Hoffnung wecken kann, dass sein Streben, dem Westen bei seiner Talfahrt mit einem Tritt in den Allerwertesten behilflich zu sein und mittels „konstruktiver Zerstörung“ die „Eskalation beherrschen“ will, um eine neue Weltordnung zu etablieren, dass diese neue „Multipolarität“ Fortschritte für die Menschheit und die Arbeiterklassen der Länder beinhalte? Ist anzunehmen, dass die Arbeiterklasse in Russland und die Arbeiterklassen derjenigen Länder, die möglicherweise vor der „Landnahme“ durch Russland stehen, etwas an diesem Staatskonzept Positives zu gewinnen haben? Ich denke, das ist nicht so.

Die ganze Konzeption, wie sie hier zum Ausdruck gebracht wird, das Streben des russischen kapitalistisch-imperialistischen Staates, ist zutiefst reaktionär, gleicht einem autoritären Staatskonzept und ist darauf ausgerichtet seine Interessenssphären auch militärisch und aggressiv zu verteidigen und auszudehnen. Die Arbeiterklasse und die Völker Russlands sollen dabei unter einer ideologischen Haube genommen werden, die an der einer „Schicksalsgemeinschaft“ oder „Volksgemeinschaft“ erinnert. Mancher Opportunist und Sozialchauvinist versucht dem ganzen Gedanken der sogenannten „Russischen Welt“ einen fortschrittlichen Charakter anzudichten, vergleiche dazu Sjuganovs Elaborat „Der russische Kern der Macht – Manifest von Gennadi Sjuganow“[56]. Es würde jetzt zu weit gehen, auf diese Rechtfertigung einzugehen und es kann nur empfohlen werden, sich damit eingehender zu beschäftigen, und ist auch nicht unser Thema. Abschießend möchte ich dieses Kapitel trotzdem mit folgendem Zitat aus dem „Manifest“ Sjuganovs, das zeigt, mit welchen „Argumenten“ von sozialchauvinistischer Seite die angebliche „Fortschrittlichkeit“ gepriesen wird:

„Ohne die Würde und die Interessen anderer ethnischer Gruppen, die das multinationale russische Volk bilden, herabzusetzen, muss anerkannt werden, dass die russische Frage heute die akuteste und aktuellste ist. Das Schicksal Russlands und aller Völker, die sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR leben, hängt von seiner Entscheidung ab. […] für ein Land, in dem 80 % ethnische Russen sind, sollte das wichtigste Element der nationalen Politik das Programm zur Rettung der ursprünglichen russischen Zivilisation und der Wiederbelebung der Russen als Rückgrat des Vaterlandes sein.

In Rus entstand viel früher ein gemeinsames patriotisches Gefühl als die politische, wirtschaftliche oder kulturelle Einheit der Völker, die es bewohnten. […] es war dieses Volk, das es trotz der scheinbar unüberwindbaren Hindernisse schaffte, die größte Macht auf dem Planeten zu schaffen. Weil sein Wille von unbeugsamem Patriotismus zusammengehalten wurde […]. Die Einzigartigkeit und Stärke der russischen Welt liegt in der Tatsache, dass sie bestrebt war, die besten Eigenschaften von Ost und West zu kombinieren, aus einer Kombination von hoher Spiritualität, dem Festhalten an traditionellen Werten und Kollektivismus und innovativem Denken hervorgegangen ist, das nach Wissenschaft strebt und kulturelle Höhen. […]

Kollektivismus, Souveränität, Selbstversorgung des russischen Staates, der Wunsch, die höchsten Ideale von Gerechtigkeit und Brüderlichkeit zu verkörpern, sind die Grundwerte der russischen Zivilisation. […] Der russische Staat als einzigartige Zivilisation und als Großmacht ist das wichtigste historische Ergebnis der Aktivitäten des russischen Volkes. […]

Das von den Russen geschaffene Reich ist das einzige in der Weltgeschichte, dass sich nicht durch Eroberung, Raub und Vernichtung anderer Völker entwickelt hat, sondern durch verbündete Einheit mit ihnen, in der Regel auf freiwilliger Basis. Auf diesem Weg mussten die Russen nur dann zu den Waffen greifen, wenn sie die mit ihnen verbündeten Völker unter ihren Schutz nahmen und ihnen halfen, sich gegen die mit Vernichtung drohenden Eindringlinge zu verteidigen.“[57]

Noch Fragen?

China

Vorweg, ich bin weder China noch Russlandexperte. Erst in den letzten 4 Jahren habe ich mich wieder intensiver mit den beiden Ländern befasst. So habe ich mich erst mit der Auseinandersetzung in der DKP – in der ich 23 Jahre organisiert war – über die Rolle Russlands als vermeintlich „objektiv anti-imperialistisch“ und mit der jüngeren kapitalistischen Entwicklung Russlands eingehender auseinandergesetzt. Auch habe ich mich überhaupt intensiver mit der politischen Entwicklung in der VR China beschäftigt, nachdem in der DKP plötzlich ein Hype um den „chinesischen Weg zum Sozialismus“ gemacht wurde und dies offensichtlich zusammenhing mit der Propagierung der Seidenstraße durch die VR ab Mitte der 2010er Jahre.

Wenn wir uns Chinas gegenwärtige Außenpolitik anschauen und bewerten wollen, sollten wir uns einen Überblick auf Chinas Wirtschaftsbeziehungen verschaffen und ihre ökonomische und politische jüngere Geschichte studieren. Ich will mit letztem Beginnen, um nachzuzeichnen, wie die Außenpolitik der VR China mit ihrer Abwendung von der Sowjetunion in der DKP reflektiert wurde und was andere Kommunistische Parteien für Erfahrungen mit ihr gemacht haben. Vorweg aber eine Karte der Belt and Road Initiative (BRI), die einen kleinen Einblick vermittelt.

Es gibt unzählige Darstellungen der BRI, diese hat den Vorteil auch Amerika einzubeziehen.[58]

Zu sehen sind, blau dargestellt die Schifffahrtswege, gelb die Überlandrouten (Bahnrouten), einige Beteiligungen der VR an Häfen (rot dargestellt mit Mehrheitsbeteiligungen) und dunkelgrün wurden die Staaten eingefärbt, in welchen die VR Platz 1 als Handelspartner belegt, etwas heller eingefärbt die Staaten in denen China den 2. Platz und hellgrün den 3. Platz einnimmt.

Wir widmen uns gleich nochmal der BRI, um an Beispielen zu zeigen, wo die chinesischen Wirtschaftsinteressen liegen und was das mit ihrer Außenpolitik zu tun hat. Dies aber vorweg. Dies ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen, ob die gegenwärtige von China geschaffene Belt and Road fortschrittlich gemeint ist und gemeint sein kann.

Chinas Außenpolitik der 1960er Jahre bis zur Konterrevolution 1989/91: konterrevolutionär, antisowjetisch, nationalistisch

Unumstritten war in der DKP jahrzehntelang Chinas negative Rolle in der internationalen Politik, ihre Zusammenarbeit mit dem Imperialismus und ihre destruktive Rolle in der Internationalen Kommunistischen Bewegung. Für mich stand vor ein paar Jahren die Frage, was ist passiert, dass in der DKP plötzlich eine ganz andere Bewertung vorgenommen wurde. Obwohl ich mich vorher nie intensiv mit der Position der alten DKP beschäftigt habe, war das für mich trotzdem eine Überraschung. Aus dem wenigen, was ich über die Reformprozesse in China und ihrer kapitalistischen Entwicklung der 1990er Jahre und ihre Zusammenarbeit mit der SPD und der Hans-Böckler-Stiftung wusste, war für mich klar, dass wir es mit einem kapitalistischen China zu tun haben. Einem China, wo vielleicht noch nicht das letzte Wort gesprochen ist, da die KP die Macht hat und es vielleicht doch noch eine „Wende“ hin zu Wiederverstaatlichung und sozialistischer Planwirtschaft geben könnte. Wenngleich dies auch nicht ohne revolutionären Umbruch möglich sei, so war das plötzliche Schönreden der Privatisierung als vermeintliche chinesische Kopie der Neuen Ökonomischen Politik Anfang der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts in der Sowjetunion für mich an den Haaren herbeigezogen und hielt keiner Prüfung stand. Schließlich bestand dies Anfang und Mitte der 1920er Jahre darin, die Folgen des Bürgerkrieges und imperialistischer Intervention zu begegnen, in dem inländisches und ausländische Kapital ein gewissen Spielraum erhielten, um, und das ist entscheidend, den verstaatlichten Sektor auszubauen. Sowie sich die sozialistischen (staatlichen und genossenschaftlichen) Produktionsverhältnisse stabilisiert und die Hegemonie erlangten, wurde die NEP abgeschafft und die sich wieder entwickelten kapitalistischen Produktionsverhältnisse revolutionär überwunden. In der VR China wurden dagegen kapitalistischeProduktionsverhältnisse seit den späten 1970er Jahren mehr und mehr entwickelt, Produktionseinheiten mehr und mehr privatisiert und die gesamtgesellschaftliche Planung von Produktion und Distribution eingeschränkt.

Diese Wirtschaftspolitik der Öffnung der chinesischen Wirtschaft für ausländisches Kapital sowie die schrittweise Privatisierung der sozialistischen Produktionseinheiten[59] begann in den 1970er Jahren und steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der konterrevolutionären Rolle, die China einnahm. Man kann mit einigem Recht sagen, dass die VR eine enge Zusammenarbeit mit der USA einging und – in einem Spiel mit verteilten Rollen – eine wichtige Schachfigur im gemeinsamen Kampf der imperialistischen Staaten gegen die sozialistischen Staaten war. Dafür wurde sie reichlich belohnt, militärisch und finanziell und wurde wirtschaftlich in das kapitalistisch-imperialistische Weltsystem aufgenommen.

„Die rasante wirtschaftliche Entwicklung der VR China beruht auf der Politik der KPCh, die seit den Gesprächen zwischen Zhou und Kissinger während Kissingers Geheimbesuch in Peking im Juli 1971 darauf abzielte, sich der imperialistischen transnationalen Durchdringung zu öffnen und gleichzeitig die politische Zusammenarbeit mit dem Imperialismus auf einer wütenden antisowjetischen Plattform zu formalisieren“, schreibt die PKP-1930 in einer Vorlage für ihren letzten Parteitag.[60]

1971, das war noch zu Zeiten Mao-Tse-Tungs. In den 1960er Jahren, das setzte ich als allgemein bekannt voraus, kam es zum Bruch der VR China mit der Sowjetunion. Vordergründig und damit erklärt, ging es der VR um die Ablehnung des Kurses von Nikita Chruschtschow und der Verteidigung des Leninismus. Mit der so genannten „großen proletarischen Kulturrevolution“ sollte, wie behauptet wurde, der Chinesische Sozialismus gerettet werden vor denen – analog zu den Chruschtschowianern – die den „kapitalistischen Weg gehen wollen“. In Wirklichkeit war das eher eine Palastrevolution in der Mao Tse-Tung alle Widersacher hinwegputschen ließ und die Partei von Grund auf zerstörte. Auch ist es nicht wahr, dass damit der sozialistische Weg gesichert wurde, vielmehr wurde der anfängliche Weg zum Sozialismus abgebrochen und Maos Theorie der gemischten Wirtschaft gegen den Willen der Partei durchgedrückt.

Die Marxistischen Blätter (MBL) schrieben 1969:

„Im Oktober 1968 wurde, unter Mißachtung wesentlicher Bestimmungen des Parteistatuts, das XII. Plenum des ZK der KPCh abgehalten. Diese Versammlung ausgesuchter Maoisten hatte lediglich den Zweck, die Ergebnisse der `Kulturrevolution` zu billigen. […] Damit hat die Gruppe Mao Tse-tungs eine neue Stufe der Durchsetzung ihrer Politik erreicht. Nachdem die KPCh als führende Kraft ausgeschaltet, die Volkskongresse, die gewählten Organe der Staatsmacht auseinandergejagt, die Gewerkschaften, der Jugendverband und alle sonstigen gesellschaftlichen Organisationen offiziell und faktisch aufgelöst worden sind, […]. Das neue maoistische Regime ist damit eine militärbürokratische Diktatur, das die Teilnahme der werktätigen Bevölkerung an der Regierung und ihre Interessenvertretung in keiner Weise zuläßt, jede Opposition unterdrückt, das Gegenteil sozialistischer Demokratie.“ Und weiter: „Die einzige Klasse jedoch, die in ihren entscheidenden ökonomischen und sonstigen Rechten und Privilegien ungeschoren blieb, ist die nationale Bourgeoisie!“[61]

Acht Jahre später, zum XI. Parteitag der KPCh, schreiben die Marxistischen Blätter:

„Die neue Führung stützt sich noch mehr auf die Armee als ihre Vorgänger. Der Einfluß hoher Offiziere im Zentralkomitee, im Politbüro und in anderen parteilichen und staatlichen Schlüsselpositionen ist beträchtlich. […] Auch in der zukünftigen außenpolitischen Linie Chinas bekräftigte der Parteitag das Festhalten an den maoistischen Grundsätzen des Großmachtchauvinismus und Antisowjetismus, ja es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, er habe eine weitere Verschärfung dieses Kurses eingeleitet. Der X. Parteitag hatte 1973, wenn auch nur pro forma, noch beiden Supermächten den Kampf angesagt“, diesmal wurde behauptet: „Die Sowjetunion befinde sich weltweit in der `Offensive`, während die USA in die `Defensive` geraten seien, das bedeute, daß heute alle Kräfte und der Hauptstoß gegen die Sowjetunion gerichtet werden müßten, während die USA zur Zeit keine Gefahr darstellten! Zur Begründung dieser wahnwitzigen Behauptung berief sich Hua Kuo-Ieng auf die 1974 erstmals aufgestellte Theorie der „drei Welten“ von die Deng Hsiao-p’ing.“[62]

Diese „Drei-Welten-Theorie“ besagte, dass sich die 2te und 3te Welt gegen die Erste stellen solle. Mit der 2ten Welt sind alle kapitalistischen Staaten außer der USA, mit der 3ten die sogenannten Entwicklungsländer gemeint, in die sich die VR ebenfalls verortete. Wie die MBL hier darlegte, nahm die VR die USA aus dem Schussfeld, um schließlich zu einer Zusammenarbeit mit den USA überzugehen, gegen den „Hauptfeind“ Sowjetunion bzw. dem sozialistischen Block. So wurde Mitte der 1970er Jahre eine militärische Zusammenarbeit mit dem „Westen“ angestrebt und auch realisiert. Die MBL schreibt u.a. von gegenseitigen Besuchen französischer und chinesischer Generäle. Weiter das China „Waffenkäufe in der BRD, den USA, Frankreich und Großbritannien, mit Rüstungskonzernen wie Messerschmitt-Bölkow-Blohm und Rolls Royce“ tätigte und plane. „Es ging“ dabei „um französische Hubschrauber und Düsenflugzeuge, britische Triebwerke, amerikanische Rechentechnik, deutsch-französische Lenkwaffen, Panzer- und Luftabwehrraketen, schwere Hubschrauber und manches andere.“[63]

Diese „Theorie“ wurde später weiter entwickelt zur Theorie des Sozialimperialismus. (Siehe Spanidis 2018.[64])

Fidel Castro – der in seinen späteren Jahren offensichtlich seine Position zu China änderte und bspw. 2009 von China als einer Stütze für die Länder der Dritten Welt sprach[65] – sagte damals über diese Politik der VR „Es gibt keinen einzigen Aspekt der internationalen Lage, in dem sich die Politik der chinesischen Führung mit der Politik des Imperialismus nicht decken würde.“[66]

Gut, kommen wir zu den Beweisen:

Vietnam / Kambodscha

„Ein charakteristisches Beispiel ist die Haltung Chinas gegenüber dem kämpfenden Volk Vietnams während der Zeit seines nationalen Befreiungskampfes“, schreibt die KKE in ihrem 2010 veröffentlichten Aufsatz „The International role of China“, erschienen in der International Communist Review, Nr. 6.[67]

Was war damals geschehen? Während die SU das vietnamesische Volk gegen die USA-Aggression unterstützte, versuchte die VR China diese Hilfe zu blockieren und lehnte Ansuchen der Regierung der SU ab, Hilfs- und Waffenlieferungen über chinesisches Territorium zu führen. Stattdessen drangen mit dem Sieg 1975, unmittelbar nach der Befreiung Saigons, chinesische Streitkräfte in die von Vietnam verwalteten Paracelsus-Inseln ein und begannen, diese nach einem Massaker an ihren vietnamesischen Verteidigern zu besetzen. Inzwischen kam es in Kambodscha zu einem Putsch gegen den damaligen Präsidenten, unterstützt von den USA. Dieser Putsch wurden von den Roten Khmer ihrerseits unterstützt, in dessen Verlauf die Khmer die gesamte Macht übernahmen. Die Roten Khmer waren dabei Verbündete der VR China.

Die PKP-1930 schreibt hierüber, das „die KPCh […] die hegemoniale Macht hinter dem maoistischen Regime der Roten Khmer unter der Führung von Pol Pot“ war und bis zur Befreiung Kambodschas durch die militärische Hilfe des sozialistischen Vietnams „bis Januar 1979 […] indirekt das wahnsinnige maoistische Massaker an fast drei Millionen Kambodschanern“ unterstützte. Damit nicht genug, mit der Vertreibung der Roten Khmer durch einheimische Kräfte und vietnamesischer Streitkräfte – dem voraus gingen wiederholte Angriffe der Roten Khmer auf Vietnam  – beeilte sich die VR eine Strafexpedition gegen Vietnam durchzuführen und fielen vom 17. Februar bis 16. März 1979 mit 600.000 Soldaten in mehrere Städte im Norden Vietnams ein und plünderten diese, wobei Zehntausende von Zivilisten getötet wurden[68]. Wie KKE schreibt, ging dem „im Februar 1979 ein Besuch des chinesischen Vizepräsidenten Deng Xiaoping in Washington voraus, der von der Notwendigkeit sprach, `Vietnam eine blutige Lektion zu erteilen`, was von den amerikanischen Politikern begrüßt wurde, die die Lieferung von Waffen aus westlichen Ländern versprachen.“[69] Beim Rückzug aus Nordvietnam zerstörten dann die Truppen der VR China alle Infrastrukturen entlang des Weges und plünderten alle nützlichen Ausrüstungen und Ressourcen, einschließlich des Viehbestands.

Seit dieser Zeit gab „es viele Kontakte auf verschiedenen Ebenen zwischen China und den USA. Am 4. November 1979 wurde in der „New York Times“ ein offizielles „durchgesickertes“ Dokument veröffentlicht, in dem erwähnt wurde, dass die amerikanische Militärhilfe für die People‘s Liberation Army of China auf 50 Milliarden Dollar geschätzt wurde, um `ein Hindernis für die Rote Armee zu bilden`. Als der Minister für Forschung und Ingenieurwesen, William Perry, 1980 Peking besuchte, informierte er die Chinesen darüber, dass die Regierung der USA „die Ausfuhr von 400 Lizenzanträgen für verschiedene Arten von Zweizweckgütern und militärischen Geräten genehmigt habe.“[70]

Auch sollen die USA wie die VR China noch lange nach dem Sturz der Roten Khmer diese politisch und militärisch unterstützt haben, als diese sich in den Dschungeln Thailands versteckte; auch als legitime Vertreter Kambodschas in der UNO.[71]

Afghanistan

Die KKE schreibt, dass „China Teil eines `Blocks` der Kräfte war, die von den USA zusammen mit Saudi-Arabien, Pakistan und anderen gebildet wurden“[72], um die reaktionär-islamischen Kräfte gegen die demokratisch-sozialistische Umwälzung in Afghanistan zu unterstützen, auszubilden und zu finanzieren.

Während die sozialistisch orientierte Regierung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (PDPA) ab 1978 von der UdSSR und anderen Mitgliedern der sozialistischen Gemeinschaft unterstützt wurde, unterstützte die KP China andererseits die vom US-Imperialismus zusammengestellten antirevolutionären und ultrareaktionären „Mudschaheddin“-Kräfte, zu denen auch Al-Qaida gehörte. Über ihre schmale Grenze zu Afghanistan leistete die VR China den antikommunistischen dschihadistischen Kräften militärische Hilfe und schon bald gesellten sich in der VR China hergestellte Panzerabwehrraketen, Panzerfäuste und andere Waffen zu den US/NATO-Waffen, mit denen die afghanischen Regierungstruppen und die sowjetischen internationalistischen Kräfte getötet und verstümmelt wurden.[73]

Matin Baraki, selbst Afghane und bekannter deutscher Friedensaktivist, veröffentlichte 2007 einen längeren Aufsatz in der Zeitschrift Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung, in der er sehr akribisch die chinesische Unterstützung der reaktionären islamischen Terroristen beschrieb und ihre Zusammenarbeit mit den USA, um die volksdemokratische Entwicklung in Afghanistan rückgängig zu machen und der Sowjetunion eine Niederlage zu bereiten:

 „In einem Artikel des kanadischen Magazins McLeans vom 30. April 1979, so führt er auf, wurde auf die Beteiligung Chinas an der Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Modjahedin hingewiesen. US-amerikanische Agenten der Behörde für Rauschgiftbekämpfung in Pakistan hätten an der afghanisch-pakistanischen Grenze Chinesen entdeckt, die zunächst für Rauschgifthändler aus Hongkong gehalten, später als chinesische Offiziere und Instrukteure identifiziert worden seien. Die japanische Nachrichtenagentur Kyodo berichtete, dass `1.000 von Chinesen ausgebildete pakistanische Guerillaexperten für ultrasubversive Aktivitäten abkommandiert wurden, um Blitzaktionen gegen afghanische Truppen durchzuführen, welche die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan bewachen`. Kyodo stellte weiter fest, dass `die Guerillas von ihren Ausbildungsbasen bei Kashgar in der Provinz Xingjiang` (in China) in die durchdringbaren Grenzgebiete Afghanistans geschickt werden.

Mitte Januar 1980 berichtete die Neue Zürcher Zeitung über einen `großen Plan` zum Sturz der afghanischen Regierung sowie über Trainingslager und Finanz-, Ausbildungs- und Waffenhilfe unter Beteiligung der VR China. Waren die Modjahedin bis zur militärischen Intervention der SU noch versteckt unterstützt worden, so erhielten sie jetzt offen Unterstützung aus Peking. Für den Widerstand wurden aus 40 islamischen Staaten, aber auch aus Ländern mit islamischer Bevölkerung Kämpfer rekrutiert. Dazu gehörte auch China mit rund 20 Millionen Muslimen, darunter ca. 9 Millionen Hui und etwa 8 Millionen Uiguren aus der Provinz Xingjiang in Nord-West China. Dort wurden auch afghanische Modjahedin in fünf Lagern an chinesischen Waffen ausgebildet.

Infolge der sowjetischen Intervention in Afghanistan kam es zwischen den USA und China zur Vereinbarung einer engen militärischen Kooperation. Zu diesem Zweck war US-Verteidigungsminister Harold Brown am 8. Januar 1980 nach China gereist, wo er eine siebenstündige Unterredung mit dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Geng Giao und Außenminister Huang Hua geführt hatte. Beim Besuch der sechsten Panzerdivision der Volksbefreiungsarmee im Peking sagte er: `Ich freue mich auf verstärkte Zusammenarbeit des amerikanischen Militärs und des chinesischen Militärs`. Brown hatte dem starken Mann Chinas, Deng Hsiaoping, eine koordinierte Politik bezüglich Afghanistans vorgeschlagen.“ Soweit Baraki.[74]

Pakistan

Sind wir bei Afghanistan, so muss man Pakistan nennen. Wie Baraki erwähnt, erfolgte die Unterstützung der Mudschaheddin u.a. über die pakistanische Grenze. China unterhielt seit langen enge Beziehungen zu Pakistan und leistete dem Land großzügige Entwicklungs- und Militärhilfe. Man sollte wissen, dass zu diesem Zeitpunkt eine Militärjunta unter General Mohammed Zia-ul-Haq Pakistan regierte. Dieser rief 1977 das Kriegsrecht aus und begründete damit die dritte Militärdiktatur Pakistans. Auch leitete er die Islamisierung Pakistans ein, unter anderem, indem er die Scharia als Rechtsgrundlage einführte.[75] Infolge der sowjetischen Intervention im Dezember 1979 in Afghanistan wurde die Zusammenarbeit Chinas mit Pakistan intensiviert. Eine hochrangige chinesische Militärdelegation besuchte im März 1980 Pakistan und Anfang Mai 1980 reiste der pakistanische Präsident General Zia-ul Haq nach Peking, wo er sich mit Partei- und Regierungschef Hua Kuo-feng und weiteren führenden Politikern traf. Daraufhin verstärkte China die Lieferung von Infanteriewaffen und Artillerie an Pakistan. Anfang Juni 1981 besuchte der chinesische Ministerpräsident Zhao Ziyang Pakistan, wo er auch die Führer der afghanischen Mudschaheddin traf und weitere Waffenlieferungen zusagte.[76] Das ist auch zu erwähnen, weil seither der chinesische Einfluss in Pakistan erheblich gestiegen ist, so dass die pakistanische KP in einer ihrer jüngeren Veröffentlichungen zu den Ereignissen rund um den Abzug der US-Streitkräfte in Afghanistan u.a. betont, dass China inzwischen die Wirtschaft Pakistans dominiere.[77]

Afrika

Man könnte noch weiter ausholen. So das Engagement der VR China in Afrika. Auch hier wurden zutiefst reaktionäre Kräfte durch die KP China unterstützt. So unterhielt die VR China freundschaftliche Beziehungen zum südafrikanischen Apartheidsregime, boykottierte die Anti- Apartheidsbewegung und unterstützte die konterrevolutionären Kräfte in den Anrainerstaaten.

„Ein weiteres Beispiel“ so die KKE, aber auch die Philippinische KP, „ist die Haltung Chinas zum Bürgerkrieg in Angola, wo es die lokalen Reaktionskräfte (wirtschaftlich und militärisch) unterstützte, die gemeinsam mit den rassistischen Armeen Südafrikas, die in die Volksrepublik Angola eingedrungen waren, kämpften.“[78]

„Die Volksrepublik Angola wurde von Waffen- und Militärberatern aus der UdSSR und von Tausenden kubanischer Freiwilliger unterstützt, die freiwillig kämpften und entscheidend zur Zerstörung der südafrikanischen Streitkräfte und zur Niederlage der einheimischen reaktionären Kräfte beitrugen. Wie heute aus den deklassifizierten Dokumenten der CIA hervorgeht, gab es in diesem Zeitraum eine eigentümliche Form der `Koordination` zwischen den USA und China, einschließlich sogar der militärischen Operationen, die in Angola durchgeführt wurden“[79]

Dies als Beispiele, welche außenpolitische Rolle die VR China in der Zeit des Systemgegensatzes spielte.

Zwischenfazit

Auch wenn das weiter zu untersuchen ist, weitere Quellen herangezogen und eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Maoismus noch aussteht: In den 1950er/60er Jahren findet in der VR China ein Kampf in der KP statt, den Mao und seine Getreuen gewinnen. Die anfängliche an den Erfahrungen des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR orientierte Wirtschaftspolitik und Bevorzugung der Schwerindustrie wird abgebrochen[80], die sozialistischen Machtorgane wie Partei, Jugend und Gewerkschaften zerschlagen. Das Militär gewinnt massiv an Einfluss. Maos Theorie der „5-Säulen“[81] wird Doktrin, die nationale Bourgeoisie ist Teil des Konzepts des Aufbaues eines neuen Chinas. Antisowjetismus wird getarnt als Kampf gegen den Revisionismus, im Ergebnis wird die Internationale Kommunistische Bewegung gespalten.[82]

In den 1970er Jahren werden mit der Theorie der Drei-Welten der Kampf gegen die Sowjetunion als Hauptfeind begründet. Die USA unterstützen China militärisch, im Gegenzug öffnet China seine Wirtschaft, lässt ausländisches Kapital ins Land und fängt schrittweise an, die Staatsunternehmen zu privatisieren. Außenpolitisch stellt sie sich an die Seite der imperialistischen Länder, sabotiert den Befreiungskampf in Vietnam, schließlich greift sie Vietnam an und raubt ihr die Paracelsus-Inseln im südchinesischen Meer.

Ende der 1970er/Anfang der 80er Jahre ist sie Teil des großangelegten Kampfes gegen die Sowjetunion in Afghanistan, unterstützt die islamistische Militärdiktatur in Pakistan, bildet islamistisch radikale Kräfte aus und schickt auch eigene islamistische Kämpfer in den Krieg gegen die Volksrepublik in Afghanistan.[83] Ebenso engagiert sich China in Afrika bei der Bekämpfung des Einflusses des Sozialismus, indem sie gemeinsam mit den USA die von den sozialistischen Ländern unterstützten Befreiungsbewegungen bekämpft.

Im Gegenzug für all dies wird die chinesische Wirtschaft in das kapitalistische Wirtschaftssystem integriert und zur verlängerten Werkbank der transnationalen Konzerne. Die chinesische Arbeiterklasse dient dabei als internationaler Lohndrücker. In dem Zuge werden chinesische Staatsunternehmen umgestellt und schrittweise privatisiert, es entstehen eigene chinesische Monopolunternehmen, die heute, so muss man sagen, zu einem Konkurrenten der westlichen Monopole und zum Ärgernis für die USA werden. Mit dem Handelsexport steigt auch der Kapitalexport. Seit 2013 propagiert die neue chinesische Führung unter Xi Jinping die sogenannte Seidenstraße, auch Belt and Road Initiative genannt.[84]

Chinas imperialistische Außenpolitik heute

Eingangs schrieb ich – und illustrierte hierzu eine Karte der BRI – dass die Außenpolitik nicht von der Wirtschaftspolitik zu trennen ist. Genauer: die Ökonomie eines Staates, seine wirtschaftlichen Interessen, bestimmen die Außenpolitik.

Schauen wir uns eine andere Karte zur BRI nochmal genauer an.

Pakistan

Wir erwähnten Pakistan, zu der die VR schon lange Beziehungen hat und Einfluss ausübt. „Unwichtig“ zu erwähnen, dass China damit eine islamistisch-reaktionäre Militärjunta unterstützt?

Entlang der see-seitigen Initiative hat China Häfen aufgekauft, der pakistanische Hafen in Gwadar ist nur ein Mosaikstein in einer Reihe von chinesischen (privatkapitalistischen) Erwerbungen.

Im Rahmen der BRI findet ein Ausbau des China-Pakistan Ecomonic Corridor (CPEC) statt, ein Wirtschaftskorridor von Xingjang (Verbindung bis Usbekistan) über Wüstengebiete, den Afghanischen Bergen, durch Pakistan bis ans Meer nach Gwadar und von hier als Verbindung und Knotenpunkt zum Golf von Oman und dem Persischen Golf (VAS, Katar, Bahrein, Kuwait. Irak), zum Suezkanal als auch zur Afrikanischen Küste der BRI.

Gwadar liegt in Belutschistan. Nach Abzug der Briten 1947 aus Britisch-Indien annektierte Pakistan Teile Belutschistans (Belutschistan wurde aufgeteilt an Afghanistan, Iran und Pakistan) und gilt heute für viele als eine Kolonie Pakistans, die äußerst unentwickelt, in großer Armut und dem Fehlen jeglicher Grundversorgung gehalten wird.

In einem Umkreis von 70 km um Gwadar kaufte China alles Land auf, um einen Öl- und Containerhafen zu bauen. Errichtet wurden neben Hafenanlagen, Industrien und Wohnungen für chinesische Arbeiter – es arbeiten ausschließlich Chinesen auf den Anlagen! Darüber hinaus hat Pakistan den Hochseefischfang für (ausschließlich) chinesische Trawler legalisiert (und ruiniert damit die einheimischen Fischer). Die Hafenverwaltung wurde China für 35 Jahre übertragen.

In einem Interview mit der Roten Hilfe Zeitung[85], vom Januar diesen Jahres heißt es zur Situation der Belutschen und Chinas Einfluss auf die Region:

„Im Namen der `Entwicklung` einigten sich China und Pakistan auf ein milliardenschweres Projekt mit dem Namen China-Pakistan Economic Corridor (CPEC). Tausende von unschuldigen Menschen wurden gewaltsam vertrieben, weil China einen riesigen Hafen in Gwadar (Belutschistan) und Autobahnen, die durch Belutschistan führen, bauen will.

Das ganze Projekt wurde als Hoffnungsträger für die von Armut geplagten Menschen propagiert, aber in Wirklichkeit ist es nichts Anderes als Landraub und Ausbeutung von unschuldigen Menschen. Stattdessen wurde in den letzten Jahren die gesamte Stadt eingezäunt. Selbst die Menschen, die aus Gwadar kommen, brauchen eine Sondergenehmigung, um die Stadt zu betreten oder zu verlassen.“[86]

Es wird berichtet von Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen gegen Mitglieder und vermeintliche Sympathisanten der Belutschistanischen Unabhängigkeitsbewegung.

„Diese Präsenz des Militärs in jedem Winkel Belutschistans hat eine einschüchternde und beängstigende Wirkung auf die gesamte indigene Bevölkerung, insbesondere auf politische Aktivist*innen und ihre Familien, da jede*r ständig kontrolliert wird.

Neben der direkten Beteiligung des Militärs verfügt Pakistan über organisierte und geförderte nichtstaatliche Akteure, zu denen die belutschische Landmafia, die Drogenmafia, Kriminelle und religiöse Extremistengruppen gehören. Diese (belutschischen) nichtstaatlichen Akteure werden von der pakistanischen Armee vor allem dazu benutzt, Gebiete zu kontrollieren und Informationen über Aktivist*innen und ihre Familien zu erhalten.“[87]

Die Zustände und die brutale Unterdrückung der Bevölkerung wird auch von der Pakistanischen KP bestätigt. Der Bericht des Generalsekretärs der PKP auf dem 19. IMCWP von 2017 gibt Auskunft dazu:

„Liebe Genossen!

In Ländern wie Pakistan, in denen religiöser Terrorismus von staatlichen Organen offen unterstützt wird, dürfen religiöse Fanatiker und Reaktionäre frei agieren. Jede Person kann unter dem Vorwurf der Blasphemie entführt, gefoltert und getötet werden. […]

Ein aktuelles Beispiel ist das Lynchen eines Universitätsstudenten „Mashal Khan“ durch einen wütenden Mob in der KPK-Provinz[88]. Für die polizeiliche Registrierung des Falls braucht es einen Berg zu versetzen. Anwälte und Richter zögern, den Fall zu bearbeiten. Meistens lehnen sie es offen ab. […]

Religiöse Minderheiten stehen vor dem Schlimmsten. Ihre kleinen unschuldigen Mädchen werden entführt, vergewaltigt und gezwungen, ihre Religion zu ändern. Ihr Eigentum wird geplündert. Unter diesen schrecklichen Bedingungen wandern sie entweder massenhaft aus oder wechseln unfreiwillig ihre Religion. Die Bauern sind so verschuldet, dass sie wie Sklaven ohne Bezahlung für die Gutsbesitzer arbeiten müssen. Ihre Frauen sind sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Kleinbauern und Landwirte sind gezwungen, ihre Produkte auf dem Markt zu einem Preis zu verkaufen, der normalerweise unter den Produktionskosten liegt. Die Situation der Industriearbeiter ist nicht besser. Die Regierung hat 170 Dollar als Mindestlohn festgelegt, aber aufgrund des Vertragssystems werden ihnen monatlich 40 bis 70 Dollar gezahlt. Sie erhalten keinen Terminbrief, keine Sozialversicherung, keine Anmeldung bei der Arbeitnehmer-Altersvorsorgeeinrichtung. Ihnen wird das Vereinigungsrecht verweigert und Gewerkschaften gibt es in dieser Gruppe nicht. Echte Gewerkschafter müssen gegen Taschengewerkschaften, d.h. Hüter der Interessen des Arbeitgebers, kämpfen.“[89]

Zur Erinnerung: China duldet nicht nur diese Verhältnisse, sondern profitiert davon und stützt das Regime seit Jahrzehnten.

Über die Unterdrückung in Belutschistan/Pakistan heißt es weiter, dass Massengräber gefunden worden seien und dass es auch regelmäßig zu Entführung und Ermordung, auch von Familienangehörigen, von Aktivisten aus Belutschistan komme. Dass ihre Häuser verbrannt und bombardiert werden, auch, dass Exilanten, die über die Situation im Ausland aufklären, durch den pakistanischen Geheimdienst ermordet werden.[90]

„Wie präsentiert die offizielle Seite in China ihre Pakistan-Politik?“, fragt Anton Stengl in seinem Buch „Chinas neuer Imperialismus“, und gibt Auskunft:  

„Dazu gibt es eine Flut von Veröffentlichungen. China Social Sciences Press hat eine Reihe von Büchern des National Think Tank Report der Silk Road Academy zum Thema Belt  Road (OBOR) herausgebracht, darunter Band 9 The Development in the Four Economic Corridors of the Indien Ocean under the Cinese Belt and Road Perspective (2017).

Unter diesem neutralen Titel wird sehr anschaulich erklärt, dass es sich um die Schaffung einer weltweiten Herrschaftsstruktur (`new global governance framework`) unter der Führung Chinas handelt, von der aber die ganze Welt profitieren soll. In Belutschistan geht es konkret um die `unter der Leitung Chinas stehende Freihandelszone`, `den Transfer industrieller Technologie` und die `Bereitstellung von Ressourcen`. Der Hafen von Gwadar ist `China`s gateway to die Idian Ocean`.

Als Schwierigkeit in diesem Gebiet wird die `politische Unruhe, verursacht durch die Einführung ungeeigneter Wahlsysteme durch westliche Länder in Entwicklungsländern mit unreifen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen` genannt. […]

Wie sieht die chinesische Regierung die Unabhängigkeitsbewegung in Belutschistan? `As for the Baluch National Movement, we should strenghten cooperate with the Pakistani goverment in counter-terrorism.` […]

Im letzten, zusammenfassenden Kapitel des Bandes heißt es dann noch einmal, für `the protections oft he interests of China` sei ein `global anti-terrorism mechanism` nötig,  die Zusammenarbeit und Unterstützung der hiesigen Regierung bis hin zu `joint anti-terrorism operations`.“[91]

Eine klare Ansage, kommentiert Stengl und meint „Nicht nur die deutsche Demokratie wird `am Hindukusch verteidigt`, sondern auch die Interessen des chinesischen Kapitals am Indischen Ozean.“ Soweit zu Chinas Engagement in Pakistan.

Aber es ist kein Einzelfall, dass China ein doch sehr reaktionäres Regime unterstützt und wirtschaftlich davon profitiert:

Nach Süden zum nächsten Hafen haben wir Sri Lanka, wo gerade große Unruhen ausgebrochen waren und diese gewaltsam niedergeschossen wurden – der Gewerkschafter und Protestanführer Joseph Stalin von der Lehrergewerkschaft ist wieder auf freien Fuß und ruft auf mit den Aktionen nicht aufzuhören! – auch zu diesem Regime unterhält China gute und lange Beziehungen.

Oder nehmen wir Myanmar. Die dortige Militärregierung und China sind seit langer Zeit auf Du und Du. Auch Myanmar spielt in der BRI eine große Rolle. Auch da passt wohl die Aussage aus dem Buch, welches Stegel zitiert: Sie sei gegen die Einführung ungeeigneter Wahlsysteme …  in Entwicklungsländern mit unreifen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Zumindest erfreut sich China ungebrochener Freundschaft mit dem sich zurückgeputschten Militär.

Aber ich möchte mich einer anderen Region widmen, wo es immer heißt, China fördere dort die Entwicklung, nämlich Afrika.

Sudan

Ebenfalls eine islamistisch regierte Diktatur zu der die VR eine intensive Beziehung pflegt.[92] 2019 berichtet die Schwedische KP von einer Unterredung mit den sudanesischen Genossen am Rande des Internationalen Treffens der Kommunistischen und Arbeiterparteien.

„Die Geschichte des Sudan ist von Diktaturen geprägt. Die jüngste, 1989 gegründete, mit der Muslimbruderschaft als führende Kraft, begann damit, gegen die Kommunisten und die Gewerkschaften vorzugehen, die den Widerstand gegen sie anführten. Die gleiche Regierung, aber unter einem anderen Namen, ist immer noch an der Macht. Die National Congress Party (NCP) ist der Name der derzeitigen Regierungspartei des Landes, aber die Repression ist gleichgeblieben.

In den späten 1980er Jahren waren die Vereinigten Staaten mit der Ölförderung im Südsudan in vollem Gange, der um 1990 stillgelegt wurde. Als die Vereinigten Staaten abzogen, öffnete sich das Feld für China, das frühere US-Operationen übernahm. Die Routine, die die Chinesen im Sudan hatten, bestand darin, nur chinesische Arbeitskräfte einzusetzen. Sowohl Arbeiter als auch Beamte wurden aus China geholt und es wurden überhaupt keine Sudanesen angestellt.

In den großen Komplexen, in denen die Chinesen Öl förderten und Mineralien abbauten, brachten sie auch Sicherheitskräfte mit, die garantieren konnten, dass keine Außenstehenden hereinkamen. Wenn jemand zu nahe kommt, zögern die Wachen nicht, das Feuer zu eröffnen, sagen die sudanesischen Kommunisten.

Die Zusammenarbeit zwischen den Chinesen und der regierenden sudanesischen NCP war für die Chinesen fruchtbar, die bis 2011 mindestens 72 Milliarden Dollar aus dem Land holen konnten.

Gleichzeitig weigerten sich die Vertreter Chinas, Gespräche mit den sudanesischen Kommunisten zu führen und zogen stets Beziehungen zur Muslimbruderschaft / National Congress Party vor. Die sudanesischen Kommunisten sagen auch, dass die Chinesen sich geweigert haben, auf internationalen Konferenzen wie dem Weltkongress in Athen mit ihnen zu sprechen. Sie gehen früh, meiden sie oder machen Ausflüchte.

Vertreter der Kommunistischen Partei Sudans sprechen auch über etwas, das sie `die Taktik der verbrannten Erde` nennen und die China ihrer Meinung nach im Sudan anwendet.

Kurz gesagt, sie sagen, die Chinesen halfen bei der Zerstörung von mindestens 15.000 Dörfern und trugen zum Tod von 600.000 Menschen bei, indem sie Waffen, Munition und Militärhubschrauber lieferten, die gegen die Menschen eingesetzt wurden, um sie aus dem Land zu vertreiben. Inzwischen hat China das Land übernommen und betreibt neben der Förderung von Öl und Mineralien großflächige Landwirtschaft. Sie produzieren die landwirtschaftlichen Produkte im Sudan, exportieren dann aber – natürlich ohne dem sudanesischen Volk zu nützen“.[93]

Wenden wir uns dem Nordwesten Chinas zu. Die verschiedenen Routen der BRI (Eisenbahn, Gas und Erdöltrassen durchkreuzen die Länder Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan, Kasachstan auf den Weg nach Europa. Alle Wege gehen durch das autonome chinesische Xingjiang, eben welches, dass in der Zeit des Kampfes gegen die SU in Afghanistan Ausbildungslager und Rekrutierungsgebiet für islamische Kämpfer bildete.

Kasachstan

Die Ölpipeline Kasachstan–China ist Chinas erste direkte Ölimportpipeline, die den Ölimport aus Zentralasien ermöglicht. Eigentümer der Pipeline sind die China National Petroleum Corporation (CNPC) und die kasachische Ölgesellschaft KazMunayGas. Die 2.228 Kilometer lange Pipeline verläuft von Atyrau in Kasachstan nach Alashankou im chinesischen Xinjiang. Atyrau ist eines der Zentren der Arbeiterbewegung in Kasachstan und spielte im Generalstreik im Januar 2022, neben der Region Mangghystau, eine hervorgehobene Rolle. Die Sozialistische Bewegung Kasachstans (SMK) berichtete schon 2012/13, dass chinesische Eigentümer und kasachische Regierungsstellen bei der Unterdrückung berechtigter Forderungen der Arbeiter zusammenarbeiten, in dessen Zuge auch Gewerkschaftsführer verhaftet wurden. Sogar die chinesische KP mischte sich in den Konflikt zu Gunsten der chinesischen Eigentümer ein. Unter der Überschrift „Hände weg von Marat Karamanov und den Ölmännern von Aktobe!“ berichtete SMK am 10. Juni 2013, dass laut „des Genossen und Menschenrechtsaktivisten Alpamys Bekturganov Repressionen und Verfolgung von Arbeiteraktivisten durch chinesische Arbeitgeber der Great Wall Drilling Company LLP und Sonderdienste nicht aufhören“ und rief die IKB zu internationalen Solidarität auf.[94] Ein Konflikt, der sich in der ganzen Region ausbreitete und gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen in chinesischen Firmen anging. In der International Communist Review Nr. 9 kann man mehr darüber erfahren.[95]

Als im Januar 2022 die Regierung den aufstandsmäßigen Generalstreik, der seinen Ausgangspunkt am kaspischen Meer bei den Ölarbeitern nahm und in kurzer Zeit die Bergarbeiter Zentral-Kasachstans erreichte und schließlich das Land lahm legte, gewaltsam niederschlagen ließ, beeilte sich die Chinesische Staatsführung, wie auch die Biden-Regierung, sich an die Seite des Staatspräsidenten zu stellen. Die chinesische Global Times (GT) titelte am 07.01.2022: „Kasachstan stellt mit Hilfe des OVKS-Einsatzes und mit der festen Unterstützung Chinas die Ordnung wieder her. Der militärische Einsatz der OVKS ist legitim und notwendig, um Extremisten und externe Kräfte mit bösen Absichten abzuschrecken“. GT berichtete in dem Artikel von einem Telefonat Xi Jingpings mit dem Kasachischen Präsidenten Tokajew, und dass Xi diesem beglückwünsche „in einem entscheidenden Moment entschiedene und wirksame Maßnahmen ergriffen“ zu haben, „die Situation schnell unter Kontrolle gebracht und die Verantwortung eines Staatsmannes gegenüber dem Land und dem Volk gezeigt“ habe.[96]

Usbekistan

In Usbekistan gab es vor kurzem einen kleinen, aber heftigen Aufstand[97] im westlichen Teil des Landes. Auch hier unterstützte die VR China die offizielle Regierung. Hintergrund des Aufstands ist ein langfristiger Konflikt, der durch die Eingliederung einer ehemals Autonomen Sowjetrepublik in das konterrevolutionär gewendete Usbekistan, ausgelöst wurde. Die sich mehr der kasachischen Nationalität zugehörig fühlende und äußerst arme und industriell abgehängte Bevölkerung von Karakalpakstan sollte durch eine reaktionäre Verfassungsänderung in ihrem Autonomiestatus stark eingeengt werden und ihr Recht auf Loslösung aus dem Staat entzogen werden. Dies führte zu Ausschreitungen und wiederaufleben von Sezessionsbestrebungen. China, dass wirtschaftliche Interessen in Usbekistan hat, stützt die autokratische usbekische Führung und ist an geordneten friedlichen Verhältnissen interessiert. Als „freundlicher Nachbar Usbekistans und umfassender strategischer Partner unterstützt China die usbekische Regierung bei der Wahrung der nationalen Stabilität und glaubt, dass Usbekistan unter der Führung von Präsident Shavkat Mirziyoyev Ruhe und Einheit bewahren wird, kommentierte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Zhao Lijian, am Montag die jüngsten Vorfälle in Nukus, der Hauptstadt der autonomen Region Karakalpakstan in Usbekistan“, so die GT vom 04.07.2022.[98]

Dazu ist zu wissen, dass Usbekistan Teil der Konzeption der BRI ist und augenblicklich der Bau einer seit 1997 geplanten Eisenbahnverbindung China-Kirgisistan-Usbekistan beginnen soll. Die Eisenbahn soll die kürzeste Route für den Warentransport von China nach Europa und in den Nahen Osten sein, die Reise um 900 Kilometer verkürzen und sieben bis acht Tage Reisezeit einsparen.[99]

Die Politik Usbekistans wurde nach der Konterrevolution praktisch vollständig vom Präsidenten Karimovin in seiner 25-jährigen Regierungszeit bestimmt (1991–2016).    Nach seinem Tod hat die Präsidentschaft Shavkat Mirziyoyev übernommen.[100]

Turkmenistan

Nördlich angrenzend zu Usbekistan liegt Turkmenistan. Neben der genannten Eisenbahnlinie geht auch eine Gaspipeline von Xinjang durch Kasachstan und Usbekistan nach Turkmenistan. Hier wurde kürzlich durch das chinesische Unternehmen China National Petroleum Corp (CNPC) ein neues Gasfeld in Betreib genommen und soll dabei helfen, Chinas Gasversorgung zu decken. Chinas Botschafter in Turkmenistan spricht von einem goldenen Zeitalter der Zusammenarbeit, das für beide Staaten anbreche. Mit einer Gesamtlänge von 1.833 km und einer geplanten jährlichen Gastransportkapazität von 60 Milliarden Kubikmetern wurde die Pipeline im Dezember 2009 in Betrieb genommen. Inzwischen befindet man sich in der vierten Ausbauphase und erwartet das diese fast die Hälfte von Chinas Erdgasimporten ausmachen werden.[101]

Im deutschen Wikipedia Eintrag heißt es zum politischen Regime in Turkmenistan: „Die ehemalige Sowjetrepublik erlangte 1991 die Unabhängigkeit. In den Folgejahren wurde Turkmenistan vom ersten Präsidenten Saparmyrat Nyýazow in ein totalitäres System umgewandelt, das bis heute besteht. Turkmenistan gilt damit als einer der restriktivsten international anerkannten Staaten der Gegenwart. Die Menschenrechtslage ist äußerst kritisch, so ist zum Beispiel die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt.“[102]

Der Inhaber des Staatspräsidentenamtes ist zugleich Staats- sowie Regierungschef und ist mit weitgehend diktatorischen Vollmachten ausgestattet. Das Land hat ein präsidentielles Regierungssystem mit einer herrschenden Einheitspartei, der Demokratischen Partei Turkmenistans. Die neue Verfassung aus dem Jahr 2008 erlaubt nun auch Parteigründungen. Bis dato hat während der Präsidentschaft Nyýazows stets ein Einparteiensystem vorgeherrscht. Die einzig zugelassene neue Partei konnte bei der Parlamentswahl in Turkmenistan 2013 mit 14 Abgeordneten in das Parlament einziehen. Diese Entwicklung war allerdings nur möglich, da die „Partei der Industriellen und Unternehmer Turkmenistans“, so ihr Name, loyal gegenüber dem Präsidenten ist und keine politische Opposition darstellt. Die Registrierung oppositioneller Parteien ist in Turkmenistan weiterhin nicht möglich.

Die 9-Strich-Linie

Abschließend möchte ich mich zu Chinas Interessensphäre Südchinesisches Meer und dem Problem der so genannten 9-Strich-Linie widmen.

Wie auf den Karten der Belt and Road Initiative sichtbar ist, geht Chinas Außenhandel im Wesentlichen auch durchs Südchinesische Meer (SCS). Die Bedeutung dieser Seepassage ist nicht zu unterschätzen. Etwa 80 Prozent der Öl-Lieferungen in den Nordosten Asiens passieren das Südchinesische Meer und ca. ¾ des internationalen Handels.

Von den 3.685.000 km2, über die sich die Fläche des SCS erstreckt, beansprucht China 3 Millionen km2 als eigenes Gebiet. Um diesen Anspruch zu legitimieren, legte sie im Mai 2009 eine Karte mit „9-Strichen“ vor – 27 Jahre nach der Unterzeichnung des Seerechtsabkommens der VN, welche die Ansprüche der jeweiligen Anrainerstaaten am SCS regelt und welches China ebenfalls unterschrieben hat. Dabei geht diese 9-Strich-Karte auf eine Markierung des SCS durch die Kuomintang von 1947 zurück und soll auf die imaginäre Ausdehnung der sagenumwobenen Meereserkundungen der historischen Song-Dynastie (960-1279) beruhen.

Damit beansprucht China internationales Seegebiet und See- und Inselgebiete, die in „Ausschließlicher Wirtschaftszone“ (AWZ) der Anrainer liegen (Philippinen, Vietnam, Malaysia, Brunei und Indonesien).

Zwölf Jahre später, im Januar 2021 erließ China dann ein Gesetz, um seinen Besitzanspruch auf alle geologischen Merkmale und Ressourcen (Fisch, Öl, Gas und Mineralien) innerhalb der 9-Strich-Linie abzusichern. Dieses Gesetz erlaubt der chinesischen Küstenwache die Zerstörung von Bauwerken, die von anderen Staaten auf von China beanspruchten geologischen Merkmalen in der SCS errichtet wurden. Dass China sich nicht an internationale Vereinbarungen hält, die sie auch selbst unterschrieben hat, hat sie schon in der Vergangenheit bewiesen und sich illegal Gebiete anderer Staaten im SCS angeeignet. So hat sie den Philippinen 1988 das Subi-Riff, 1995 das Mischief-Riff, 2012 Scarborough Shoal und 2017 Sandy Cay geraubt. Schon 1974 „beschlagnahmte“ sie die zu Vietnam gehörende Crescent Group der Paracel-Inseln und verleibte sich 1988 das Johnson South Reef auf den Spratly-Inseln an. Vier Jahre nach der Veröffentlichung der ominösen 9-Striche-Karte, im Jahr 2013 beschlagnahmte China, wie kurz zuvor schon den Philippinen, die Inseln bzw. das Riff der Luconia Shoals von Malaysia.

Die philippinische Regierung hat am 22. Januar 2013 einen Antrag auf ein Schiedsverfahren beim Ständigen Schiedsgerichtshof der Vereinten Nationen gestellt. Diese entschied in einem Schiedsspruch vom 12. Juli 2016, dass Chinas „9-Strich-Linie“ ungültig ist.

Auch auf kommunistischer Seite ist das Vorgehen Chinas bemerkt und verurteilt worden. So schrieb die Philippinische Kommunistische Partei:

„Die Partido Komunista ng Pilipinas (PKP-1930, Kommunistische Partei der Philippinen) verurteilt die Verabschiedung eines neuen Gesetzes durch das chinesische Parlament am 22. Januar dieses Jahres, das am kommenden 1. Februar in Kraft treten soll und die chinesische Küstenwache ermächtigt, auf ausländische Schiffe zu schießen, die das von China unrechtmäßig beanspruchte Gebiet der „9-Strich-Linie“ durchfahren. Dieses Gesetz, das den Einsatz von Waffengewalt erlaubt, um seinen betrügerischen Anspruch auf fast das gesamte Südchinesische Meer (SCS) zu sichern, ist eine Kriegsdrohung gegen alle Länder, deren Schiffe diese Gewässer durchfahren, und insbesondere gegen einige seiner ASEAN-Nachbarn. […]

Die PKP-1930 [fordert] China auf, sein neues, kriegsbedrohendes Gesetz zurückzuziehen, die Bestimmungen über die Schiffssperrzone und die Luftverteidigungsidentifikationszone aufzuheben, die Freiheit der Schifffahrt und des Überflugs über die SCS zu respektieren, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und den Schiedsspruch vom 12. Juli 2016 zu respektieren. […]

Chinas absurde Behauptung von „historischen Rechten“ basiert auf einer „9-Strich-Linien“-Karte, die keine Koordinaten und keine exakten Entfernungen von chinesischen Basislinien aufweist und die China den Vereinten Nationen im Mai 2009 vorgelegt hat – also 27 Jahre nach der Unterzeichnung des UNCLOS, das auch China unterzeichnet hat. […]

Bisher hat sich China zu Recht auf das ´Jahrhundert der Demütigun` berufen, dass ihm durch den westlichen Kolonialismus zugefügt wurde. Aber durch die Inbesitznahme von Inseln und geologischen Besonderheiten und den Bau von künstlichen Inseln und Militärstützpunkten in den AWZ seiner drei Nachbarländer hat China begonnen, seinen drei Nachbarn, die ihm nichts getan haben, eine Zeit der Demütigung zuzufügen. Dies kann China nur Zorn und nicht Freundschaft einbringen. […]

Die Ausbeutung von Ressourcen kann nicht im Interesse eines echten sozialistischen Landes sein, sondern liegt nur im Interesse der gierigen Multimillionäre und Milliardäre, die einen imperialistischen Expansions- und Hegemonisierungskurs vorantreiben wollen. Leider ist es einer Reihe dieser Parasiten, die das wirtschaftliche Leben der Chinesen und anderer Völker in einem System namens `Sozialismus mit chinesischen Merkmalen` beherrschen, offenbar gelungen, sich in das Machtzentrum einzuschleichen, das man wohl als eine eigentümliche `kommunistische Partei mit chinesischen Merkmalen` bezeichnen könnte.“[103]

Damit möchte ich hier meine Ausführungen beenden. Vom SCS durch die Straße von Malakka (Meerenge zwischen Sumatra und Malaysia zum indischen Ozean) geht die Maritime Seidenstraße rund um den Erdball. Fast 2/3 der 50 größten Häfen der Welt an dieser Route sind im Besitz Chinas oder China hat Anteile daran – allein eine Passage an Taiwan in Richtung Osten vorbei nähert sie sich dem amerikanischen Kontinent von der anderen Seite. Und dies wäre dann auch nochmal ein Kapitel für sich: Taiwan.

Schlussbemerkungen

Eingangs schrieb ich, dass in unserer Diskussion um den Krieg in der Ukraine, auch wenn das nicht von allen Beteiligten offen ausgesprochen wird, die Frage, ob das Streben Russlands und Chinas nach einer „multipolaren Weltordnung“ als fortschrittlich und von den Kommunisten zu unterstützen sei. Ich denke, dass ich eine Reihe von Argumenten und Fakten zusammengetragen habe, die dies stark anzweifeln lassen.

Die Diskussion darum, ob das nach 1989/91 sich kapitalistisch gewendete Russland imperialistisch ist oder nur „kapitalistisch“, vielleicht sogar „objektiv anti-imperialistisch“, begleitet mich jetzt schon seit mindestens 2014 Die Frage, ob die VR China sozialistisch, oder „nur“ „sozialistisch-orientiert“ ist, fast ebenso lange. Die Antwort ist: keines von beiden, weder ist Russland anti-imperialistisch, noch China sozialistisch. Ein Blick in die Geschichte, ihre außenpolitischen ökonomischen Interessen, auch welche Freunde und Partner sie haben, kann zu weilen sehr hilfreich sein, wie ich versucht habe darzustellen. Damit habe ich freilich noch nichts gesagt über die Art der Verträge, wie sie China bspw. mit afrikanischen Ländern abschließt. Das ist eine Frage, die auf einem anderen Blatt zu beantworten wäre. Soviel sei nur angemerkt, dass China „bessere“ kapitalistische Verträge aushandelt, sagt erst einmal nicht mehr aus, als dass es kapitalistische sind und eben keine wie sie bspw. die Sowjetunion machte. Hier wird nichts geschenkt, es geht um Kapitalexport, Anlagemöglichkeiten, Ausbeutung von Rohstoffen und natürlich auch Warenexport.[104] Das sie „besser“ sind, als andere, sagt erstmal nicht mehr aus, als dass sie die Möglichkeit dazu haben und dass sie auch nötig sind, „bessere“ anzubieten, will man doch Märkte erobern, auf den andere schon sitzen.

Vielleicht meint aber auch jemand, dass bei der Beantwortung unseres ursprünglichen Dissens, die des Charakters des Krieges um die Ukraine, das dem dahinter liegenden Imperialismusverständnis und die Frage nach der „multipolaren Weltordnung“ erst einmal zurückgestellt und vorerst unbeantwortet bleiben sollte. Der hat, meiner Meinung nach, nicht aufgepasst und versucht sich dem Problem nicht marxistisch zu nähern und in seinem Gesamtzusammenhang zu begreifen. Ausgehen müssen wir von einem Verständnis über das Wesen des Kapitalismus-Imperialismus und seinen Weltzusammenhang. Die konkrete Welt  in ihren Einzelheiten, hier am Beispiel Russland und China sollen helfen dies alles noch besser zu greifen.

Die Welt ist durch eine immer schärfere Spaltung zwischen den imperialistischen Blöcken gekennzeichnet; die Teilung der Welt ist abgeschlossen und die Neuaufteilung wird zu einer konkreten Realität. Sich auf eine Seite der Konfliktparteien zu stellen, um eine vermeintlich fortschrittlichere „multipolare Weltordnung“ als Ausgangspunkt neuer, besserer Kampfbedingungen zu akzeptieren, heißt m.E. die bolschewistische Position in dieser Auseinandersetzung, nämlich den Standpunkt der Revolution, aufzugeben. Das Gegenteil geschieht, wenn man sich in einem imperialistischen Konflikt auf eine Seite stellt – auch wenn es die des anderen Kapitals ist – man stärkt die Front des Kapitals in dem Land, für das man sich einsetzt. Wir haben nur eine Aufgabe, den subjektiven Faktor in jedem einzelnen Land zu stärken, eine möglichst bewusste und revolutionäre Arbeiterbevölkerung zu organisieren und zu schaffen. Die Revolution und der subjektive Faktor müssen das Hauptaugenmerk der Kommunisten bleiben, nicht zuletzt, weil wir auch wissen, dass der einzige Weg nach vorne der Sozialismus ist und nicht die eine oder andere Richtung der kapitalistischen Entwicklung.

Ich habe mich in meinen Beitrag darauf beschränkt mich mit den beiden Playern Russland und China auseinander zu setzen. Es sollte aber kein Zweifel darin bestehen, dass in unserer Analyse des gegenwärtigen Weltsystems des Kapitalismus-Imperialismus alle Teile des Weltkapitals in ihrem Wechselverhältnis zu begreifen und anzugreifen sind, wie in der Agitation auf den selbstständigen Standpunkt der Arbeiterklasse zu orientieren ist. Nach wie vor gilt: Der Hauptfeind der Arbeiterklasse besteht in jedem Land in seiner eigenen Bourgeoisie oder wie Karl Liebknecht es in seinem berühmten Flugblatt vom Mai 1915 schrieb: „Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht.“[105]


[1] https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/

[2] Spanidis: „Das zwischenimperialistische Kräftemessen und der Angriff Russlands auf die Ukraine“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/das-zwischenimperialistische-kraeftemessen-und-der-angriff-russlands-auf-die-ukraine/

Spanidis: „Zur Verteidigung der Programmatischen Thesen der KO!“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/zur-verteidigung-der-programmatischen-thesen-der-ko/#Russland

Oskar: „Russlands imperialistischer Krieg“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/russlands-imperialistischer-krieg/

Spanidis/Vermelho: „Gründe und Folgen des Ukraine-Kriegs“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/gruende-und-folgen-des-ukraine-kriegs/

Spanidis: „Die Bourgeoisie im imperialistischen Weltsystem“; https://kommunistische.org/allgemein/die-bourgeoisie-im-imperialistischen-weltsystem/

Medina: „Unipolare Welt?“; https://kommunistische.org/diskussion-imperialismus/unipolare-welt/

Spanidis: „Die Diskussion um den Klassencharakter der VR China: Ausdruck der weltanschaulichen Krise der kommunistischen Weltbewegung“; https://kommunistische.org/diskussion/die-diskussion-um-den-klassencharakter-der-vr-china-ausdruck-der-weltanschaulichen-krise-der-kommunistischen-weltbewegung/

[3] https://kommunistische.org/interview/podcast-23-lucas-zeise-dkp-uber-den-ukraine-krieg-und-politokonomische-aspekte-des-kriegs/

[4] https://riktpunkt.nu/2020/09/kapitalexport-och-anti-imperialism/

[5] http://de.kke.gr/de/articles/Einfuehrender-Beitrag-des-Generalsekretaers-des-ZK-der-KKE-Dimitris-Koutsoumbas-auf-dem-Vier-Parteien-Treffen-im-Juli-2022/

[6] https://inter.kke.gr/en/articles/Theoretical-Issues-regarding-the-Programme-of-the-Communist-Party-of-Greece-KKE/

[7] https://inter.kke.gr/en/articles/THE-MILITARY-POLITICAL-EQUATION-IN-SYRIA/

[8] https://www.unsere-zeit.de/diskussionstribuene-teil-1-170643/

[9] Ebenda

[10] https://rkrp-rpk.ru/

[11] http://ucp.su/

[12]  Telegramkanal der Vereinigten Kommunistischen Partei (VKP) https://t.me/okprf, seit Oktober 2022 auch der Telegramkanal der Vereinigten Kommunistischen Partei – Internationalisten https://t.me/ucp_rf

[13] RKAP vom 06.01.2022: „Aktivisten der Kommunistischen Arbeiterpartei Russlands (RKAP), der Bewegung `Arbeitendes Russland` und anderer linker Organisationen wurden am 6. Januar in Moskau während einer nicht genehmigten Aktion zur Unterstützung der Arbeiter in Kasachstan festgenommen“; https://ркрп.рус/2022/01/06/активисты-ркрп-задержаны-недалеко-от/

[14] RKAP vom 29.03.2022: „FSB zerschlägt marxistischen Zirkel in Ufa und meldet Verhaftung von Terroristen“; https://ркрп.рус/2022/03/29/фсб-разгромила-в-уфе-марксистский-кру/

[15] RKAP vom 11.05.2022: „Organisierender Sekretär des `Kurier` über die Verhaftung von Kirill Ukraintsev“; https://ркрп.рус/2022/05/11/оргсекретарь-курьера-об-аресте-кир/

[16] PAME vom 25.05.2022 „Solidarity with the couriers Union “KURYER” of Russia”; https://pamehellas.gr/solidarity-with-the-couriers-union-quot-kuryer-quot-of-russia

[17] „Die Faschisierung der Europäischen Union (EU) im Allgemeinen und die des Frankreichs Macrons im Besonderen verschlimmert sich weiter vor dem Hintergrund der kapitalistischen Krise, des Aufmarschs zu imperialistischen Kriegen und der akuten Krise des europäischen `Gebäudes`.“ Gemeinsamer Aufruf von Pol der kommunistischen Erneuerung in Frankreich (PRCF), Kommunistische Sammlung (RC), Revolutionäre Kommunistische Partei Frankreichs (PCRF), Nationale Vereinigung der Kommunisten (NAC), Jugend für die kommunistische Erneuerung in Frankreich (JRCF), Internationalistisches Komitee für Klassensolidarität (ICSC) vom 20.11.2020, https://pcrf-ic.fr/IMG/pdf/2020-11-25-declaration-anticommunisme_14824_.pdf

[18] Vereinigte Kommunistische Partei [Russland] (VKP): „Typologie reaktionärer Regime und linke Taktiken“; https://vk.com/@okp_rf-tipologiya-reakcionnyh-rezhimov-i-taktika-levyh

[19] „Roskomnadzor“ steht für „Föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich der Informationstechnologie und Massenkommunikation“ und ist eine russische Regulierungs-, Aufsichts- und Zensurbehörde für Massenmedien, Telekommunikation und Datenschutz. Siehe Wikipedia

[20] Das Gesetz löste eine negative Reaktion in Wissenschaft und Wirtschaft aus. Der Astrophysiker Sergei Popov erstellte auf Change.org eine Petition gegen die Annahme des Gesetzentwurfs, die bis zum 28. Januar von mehr als 178.000 Menschen unterzeichnet wurde. 1600 Wissenschaftler unterzeichneten eine Petition, die in der Zeitung Trinity Variant – Science veröffentlicht wurde. Die Änderungen wurden von 18 Gründern und Leitern unabhängiger Bildungsprojekte abgelehnt, die sagten, dass der Gesetzentwurf Zensur einführt und die Meinungs- und Diskussionsfreiheit in der Gesellschaft direkt einschränkt. Laut der Studie des Levada-Zentrums haben 71 % der Russen noch nichts über das Gesetz gehört, 23 % haben etwas gehört und 6 % sind sich der Verabschiedung des Gesetzes sehr wohl bewusst. Auf die Frage nach der Einschätzung des Gesetzes gaben 36 % der Befragten an, dass das Gesetz darauf abzielt, die Zensur zu stärken, 30 %, dass das Gesetz zur Bekämpfung antirussischer Propaganda benötigt wird, weitere 34 % fanden es schwierig zu antworten. Siehe russische Wikipedia.

[21] Ebenda

[22] Dass Herr Nawalny in den Augen des „freien Westens“ als Galionsfigur und als Anführer der „liberalen Opposition“ in Russland gilt, spielt in dem hier gesteckten Rahmen keine Rolle. Es ist unbestritten, dass er eine reaktionäre, arbeiterfeindliche und pro-kapitalistische Agenda verfolgt. Es geht in den folgenden Ausführungen nicht um ihn und welchen Einfluss seine Enthüllungsplattform auf die Proteste hatte, sondern welche sozialen und politischen Gründe es gab, für große Massen der Bevölkerung gegen Korruption auf die Straße zu gehen.

[23] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/putin-palast-nawalny-oligarch-101.html; https://www.bbc.com/news/world-europe-55876033; https://www.euronews.com/2021/04/21/watch-live-navalny-supporters-hold-mass-protests-across-russia 

[24] Der Schreiber irrt sich im Jahr. Gemeint ist 1995. Die russische wie die englische Wikipediaseite berichtet, dass die Regierung von Boris Jelzin 1995 staatseigene Unternehmensanteile durch ein Sicherheits-Auktionen-Programm (loans for shares scheme) veräußerte. Dieses half bei der „Spendenbeschaffung “ für Jelzins Wiederwahlkampagne 1996 und gleichzeitig bei der Umstrukturierung frisch verkaufter Unternehmen. Die Umsetzung des Programms führte schließlich zur Entstehung einer einflussreichen Klasse von Unternehmenseigentümern, die als russische Oligarchen bekannt sind.

[25] https://rkrp-rpk.ru vom 16.02.2021

[26] https://rkrp-rpk.ru vom 30.01.2021

[27] Vereinigte Kommunistische Partei [Russland] (VKP): „Typologie reaktionärer Regime und linke Taktiken“; https://vk.com/@okp_rf-tipologiya-reakcionnyh-rezhimov-i-taktika-levyh

[28] Ebenda

[29] Ebenda

[30] Ebenda

[31] Ebenda

[32] „DER KRIEG IN DER UKRAINE UND UNSERE AUFGABEN – Manifest der Koalition der Kommunistischen Internationalisten, angenommen auf der Konferenz am 07.11.2022. […] Die Erklärung wird von folgenden Organisationen unterstützt: Die Neuen Roten, die Marxistische Tendenz, die Internationalistische Plattform der VKP und eine Gruppe ehemaliger Mitglieder der RKAP, die aus mehr als 14 Regionen der Russischen Föderation stammen“; https://telegra.ph/VOJNA-V-UKRAINE-I-NASHI-ZADACHI-11-13-3

[33] https://zeitungderarbeit.at/international/tochter-des-russischen-faschisten-alexander-dugin-ermordet/

[34] https://de.wikipedia.org/wiki/Iwan_Alexandrowitsch_Iljin

[35] https://rksmb.org/?s=солженицын

[36] https://telegra.ph/VOJNA-V-UKRAINE-I-NASHI-ZADACHI-11-13-3

[37] https://en.wikipedia.org/wiki/Pyotr_Stolypin

[38] Yunarmiya oder: Junarmija (deutsch Jugendarmee, Юнармия) ist die Kinder- und Jugend-Militär-Erziehungsorganisation Russlands. Am 29. Juli 2016 durch einen Präsidentenerlass gegründet, gehören ihr nach eigenen Angaben im Jahr 2022 rund eine Million Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren an. Der volle Titel lautet „Nationale militär-patriotische soziale Bewegungs-Organisation ‚Junarmija'“ (Всероссийское военно-патриотическое общественное движение «Юнармия»). Sie untersteht dem Verteidigungsministerium. Siehe Wikipedia

[39] Entnommen des Telegramkanals der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei (RKAP) https://t.me/rkrpcentral

[40] https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[41] https://ru.wikipedia.org/wiki/Высшая_школа_экономики

[42] https://valdaiclub.com/about/experts/338/

[43] https://ru.wikipedia.org/wiki/Совет_по_внешней_и_оборонной_политике

[44] https://valdaiclub.com/events/posts/articles/vladimir-putin-meets-with-members-of-the-valdai-club/?sphrase_id=1422595

[45] https://ru.wikipedia.org/wiki/Караганов,_Сергей_Александрович

[46] Nach Selbstauskunft handelt es sich bei Russia in Global Affairs (Россия в глобальной политике) um „eine gesellschaftspolitische Zeitschrift über internationale Beziehungen und Außenpolitik.“ Sie erscheint seit November 2002 in zweimonatlichen Abstand. Ihr Zweck sei „informativ und lehrreich: das Verständnis der Prozesse in der sich verändernden Welt von heute zu vertiefen. Unsere Leser sind diejenigen, die auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen tätig sind: Praktiker, internationale Theoretiker, Journalisten, Lehrer, Studenten und Doktoranden spezialisierter Universitäten sowie Laien, die sich für die internationale Situation interessieren.“

[47] Alle folgende Zitate, wenn nicht anders gekennzeichnet, sind aus dem Artikel von Sergej Karaganow „Von der konstruktiven Zerstörung zum Wiederaufstieg“; https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[48] Zum Krieg um Georgien siehe auch eine am 27.08.2008 von der RKAP veröffentlichten Stellungnahme. In ihrer damaligen Erklärung beziehen die russischen Kommunisten der RKAP, gleichlautend zur Jugendorganisation RKSMb, die Position, dass es sich um einen zwischenimperialistischen Krieg handelt. Zitat: „Es ist also klar, dass der Krieg in Südossetien im Interesse der Großbourgeoisie geführt wird. Sie kommt weder russischen noch georgischen Arbeitern zugute. Genauso wenig wird dieser Krieg für die Freiheit des Volkes von Südossetien geführt. Das ist nicht das, woran Russland wirklich interessiert ist. Folglich wurde der Krieg in Südossetien in der Erklärung des Präsidiums des Zentralkomitees des Komsomol (Bolschewiki) korrekt als imperialistischer Krieg bezeichnet. Deshalb müssen alle Anstrengungen der Kommunisten in Russland und Georgien gegen den Krieg gerichtet sein. Die einzige Möglichkeit, all diese Widersprüche vollständig zu lösen, ist die Übertragung der Macht an die Arbeiter in beiden Ländern. Das heißt, die Haupttätigkeit der Kommunisten in diesen Ländern muss der Kampf gegen „ihre“ Regierung sein, der Kampf gegen den grassierenden Nationalismus und Chauvinismus, die Untergrabung des Vertrauens der Arbeiter in „ihre“ Regierungen […]. Einmal mehr wurde der Krieg zum Prüfstein, an dem das tatsächliche Engagement für kommunistische Ideen getestet wird. Die linke Bewegung in Russland hat sich, wie während des Ersten Weltkriegs, in einen echten linken internationalistischen Teil und in Sozialchauvinisten gespalten, die die Bourgeoisie unterstützen und ihre Herrschaft festigen, anstatt den entfesselten Krieg zum Kampf gegen die Bourgeoisie zu nutzen, vor allem gegen „ihre“ Bourgeoisie und gegen „ihren“ bürgerlichen Staat.“ https://rkrp-rpk.ru/2008/08/27/война-в-южной-осетии-и-российские-левы/

[49] https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[50] Gemeint ist die militärische Kooperation mit Partnern: „Über die militärisch-technische Zusammenarbeit der Russischen Föderation mit ausländischen Staaten“. Verabschiedet von der Staatsduma am 3. Juli 1998, Artikel 3, „Die Hauptziele der militärisch-technischen Zusammenarbeit der Russischen Föderation mit ausländischen Staaten sind: Stärkung der militärpolitischen Positionen der Russischen Föderation in verschiedenen Regionen der Welt“

[51] https://globalaffairs.ru/articles/ot-razrusheniya-k-sobiraniyu/

[52] Mit dem Begriff „Somalisierung“ wird ein „Staatszerfall“ durch Fehlen einer „wirksam funktionierenden Zentralregierung“ verstanden (siehe auch Begriff „Failing State“), aufgrund eines Bürgerkrieges bei gleichzeitiger ausländischer Einmischung, auch militärischer. Der Begriff geht auf eine bürgerliche Darstellung des Somalischen Bürgerkriegs zurück (siehe auch Wikipedia) und wird für Konflikte in Staaten wie Syrien, Mali, Togo verwendet: „Syrien am Rande der Somalisierung“, Russia Beyond (RT Ableger), https://de.rbth.com/meinung/2013/11/12/syrien_am_rande_der_somalisierung_26803; „Mali -Eine Somalisierung hätte schlimme Auswirkungen auf die gesamte Region“, Deutsche Welle Akademie, https://akademie.dw.com/de/mali-eine-somalisierung-h%C3%A4tte-schlimme-auswirkungen-auf-die-gesamte-region/a-16149471;  „Togo zum Beispiel“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/staatszerfall-in-afrika-togo-zum-beispiel-1227977.html

[53] „In den 1920er und 1930er Jahren förderten die Bolschewiki aktiv die `Lokalisierungspolitik`, die in der Ukrainischen SSR die Form der Ukrainisierung annahm.(…) Diese sowjetische Nationalpolitik sicherte auf staatlicher Ebene die Versorgung mit drei getrennten slawischen Völkern: Russen, Ukrainern und Weißrussen, anstatt der großen russischen Nation ein dreieiniges Volk“, in Putin „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ vom 12.07.2021 , http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181;  „Die Sowjetukraine ist, wie gesagt, ein Ergebnis der bolschewistischen Politik und man kann sie heute mit Fug und Recht als Vladimir-Lenin-Ukraine bezeichnen. Er ist ihr Erfinder und ihr Architekt“, in Putin „Rede an die Nation“ vom 21.02.2022, https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/;  „Russen und Ukrainer sind im Grunde ein Volk, das ist eine historische Tatsache. Aber leider sind wir aus mehreren Gründen in verschiedenen Staaten gelandet, vor allem, weil die bolschewistische Führung nach dem Zusammenbruch des Imperiums die Sowjetunion geschaffen hat.“ Putin Rede auf dem Valdai-Club vom 27.10.2022 http://kremlin.ru/events/president/news/69695

[54] https://valdaiclub.com/events/posts/articles/vladimir-putin-meets-with-members-of-the-valdai-discussion-club-transcript-of-the-18th-plenary-session/

[55] Die von Karaganow wie Putin bekämpfte Ideologie des Liberalismus und Kosmopolitismus, wie er auch in neomarxistischen und neomaoistischen Ansätzen zu finden ist, hat auf die Arbeiterklasse einen negativen Einfluss, behindert ihre konsequente Interessenartikulation und soll der Integration mit der herrschenden Klasse, ihrer menschenrechts-imperialistischen Politik dienen. Der klassische Reaktionismus, wie in Karaganow und Putin vertreten, verfolgt dasselbe Ziel, die Verwischung von Klasseninteressen mittels „Nationalisierung“ der Arbeiterklasse.

[56] http://kprf121.ru/russkij-sterzhen-derzhavy-statya-manifest-predsedatelya-ck-kprf-g-a-zyuganova

[57] Ebenda

[58] www.clingendael.org

[59] https://zeitungderarbeit.at/international/ehemaliger-chinesischer-praesident-jiang-zemin-verstorben/

[60] Kommunistische Partei der Philippinen (PKP-1930): DIE KOMMUNISTISCHE PARTEI CHINAS ZUM 100: EINIGE LEKTIONEN AUS DER GESCHICHTE, AN DIE SICH UNSERE PARTEI ERINNERN SOLLTE; Veröffentlicht in der Ausgabe „Sulong“ (Vorwärts) vom 31.07.2021; http://solidnet.org/.galleries/documents/2021-07-31-July-2021-issue-of-SULONG-Forward.pdf

[61] Dieter Nix: „Zur gegenwärtigen Lage in China“, Marxistische Blätter, 7. Jahrgang, Mai/Juni 1969, Seite 54 ff

[62] Jürgen Reusch: „China nach dem XI. Parteitag“, Marxistische Blätter, 15. Jahrgang, Mai/Juni 1977, Seite 55 ff

[63] Ebenda

[64] https://kommunistische.org/diskussion/war-die-sowjetunion-staatskapitalistisch-und-sozialimperialistisch/

[65] http://www.fidelcastro.cu/de/articulos/nachrichten-uber-chavez-und-evo

[66] Zitiert nach Reusch, aaO.

[67] KKE: „Die Internationale Rolle Chinas“; https://inter.kke.gr/en/articles/The-International-role-of-China/

[68] Kommunistische Partei der Philippinen (PKP-1930): DIE KOMMUNISTISCHE PARTEI CHINAS ZUM 100: EINIGE LEKTIONEN AUS DER GESCHICHTE, AN DIE SICH UNSERE PARTEI ERINNERN SOLLTE; http://solidnet.org/.galleries/documents/2021-07-31-July-2021-issue-of-SULONG-Forward.pdf

[69] KKE: „Die Internationale Rolle Chinas“; https://inter.kke.gr/en/articles/The-International-role-of-China/

[70] Ebenda

[71] PKP-1930, aaO.

[72] KKE, aaO.

[73] Siehe auch PKP-1930, aaO.

[74] Matin Baraki: „Die Politik der VR China gegenüber Afghanistan“, in „Z – Zeitschrift für marxistische Erneuerung“, Nr. 70, Juni 2007; https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/666.die-politik-der-vr-china-gegenueber-afghanistan.html

[75] https://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed_Zia-ul-Haq

[76] Vergleiche Matin Baraki, aaO.

[77] KP Pakistans: „Erklärung des Zentralsekretariats nach der Sitzung des Zentralausschusses“, vom 26.07.2021; http://solidnet.org/article/CP-of-Pakistan-Statement-of-the-central-secretariat-after–central-committee-meeting/

[78] KKE, aaO.

[79] PKP-1930, aaO.

[80] Vergleiche hierzu: Gunnar Matthiessen: „Kritik der philosophischen Grundlagen und der gesellschaftspolitischen Entwicklung des Maoismus“, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1973

[81] Gemeint ist: Staat, Arbeiter, Bauern, Kleinbürger, „nationale“ Bourgeoisie. Vergleiche: Mao Tse-Tung, in „Die chinesische Revolution und die KPCh“, 1938, „Über die Diktatur der Volksdemokratie“, 1949; Mao Tse-Tung Ausgewählte Schriften, S. Fischer Verlag, ohne Jahr. Und Matthiesen, aaO.

[82] Uns interessiert hier das Ergebnis, nicht inwiefern auch die Chruschtschow-Führung ihren Anteil daran hatte, für die es auch einige Belege gibt.

[83] Lenin zum Panislamismus, siehe „Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage“, 1920, in LW Bd.31, S.132-139; Über den reaktionären Gehalt des Islamismus und seine Verbundenheit mit dem Imperialismus siehe TKP u.a. hier: www.tkp-deutschland.com/wp-content/uploads/2019/08/tkp_wo_stehen_wir_2017.pdf

[84] 2016 hat China erstmals mehr Kapital ins Ausland transferiert als es an Direktinvestitionen erhalten hat. Die Beijing Rundschau kommentierte das damals so: „Damit sind chinesische Unternehmen die weltweit zweitwichtigsten Kapitalgeber“. Während der Handel mit Afrika sich in den 2000ern bis 2019 verzwanzigfacht, verzehnfachen sich seine ausländischen Direktinvestitionen in Afrika. Von den 2017 in Afrika tätigen chinesischen Unternehmen sind 90% Privatunternehmen. Siehe Jörg Kronauer, Junge Welt vom 02.05.2019, https://www.jungewelt.de/artikel/353935.china-in-afrika-von-wegen-kolonialmacht.html?sstr=kronauer%7Ckolonialmacht; Fred Schmidt, ISW-München vom 27.09.2017, https://www.isw-muenchen.de/2017/09/grenzen-oder-neue-perspektiven-der-globalisierung-aus-chinesischer-sicht/; „China and Africa“, Worldbank 2017

[85] Die im Interview mit der Rote Hilfe Zeitung (RHZ) gemachten Aussagen decken sich auch mit anderen Quellen. Was nicht heißt,  dass die interviewten Aktivisten für uns als Kommunisten zu unterstützen und unbedingt als fortschrittlich anzusehen sind. Die gemachten Aussagen scheinen sich aber mit den Erfahrungen der KP Pakistans zu decken und sind ein Verweis auf den reaktionären Charakter des Regimes. Siehe auch: https://www.akweb.de/gesellschaft/ungehoerter-widerstand/; http://www.schattenblick.de/infopool/politik/ausland/paasi926.html; https://www.marxists.org/history/etol/newspape/atc/3725.html; http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Pakistan/belutschistan.html   

[86] „Widerstand in Belutschistan. Ein Interview mit Aktivist*innen“, in Rote Hilfe Zeitung (RHZ), Nr. 1/2022, S. 26 ff; https://www.rote-hilfe.de/rhz-neue-ausgabe/1183-rote-hilfe-zeitung-1-2022

[87] Ebenda

[88] KPK = Khyber Pakhtunkhwa, eine Provinz Pakistans im Nordwesten, überwiegende Bevölkerung sind Paschtunen. https://de.wikipedia.org/wiki/Khyber_Pakhtunkhwa

[89] Rede von Imdad Qazi, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Pakistans auf dem 19. IMCWP in Leningrad Russland, 10.11.2017; http://solidnet.org/article/1b421d6a-e2d1-11e8-a7f8-42723ed76c54 /

[90] RHZ, Januar 2022

[91] Anton Stengl: „Chinas neuer Imperialismus. Ein ehemals sozialistisches Land rettet das kapitalistische Weltsystem“, Promedia Druck und Verlagsgesellschaft, Wien, 2021; S. 58/59

[92] Siehe auch einen ausführlichen Bericht zu den Beziehungen Chinas und Sudan hier: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Sudan/china.html

[93] „China und der Sudan“, veröffentlich in: „Riktpunkt“ (Zeitung der Kommunistischen Partei Schwedens) vom 08.02.2019; https://riktpunkt.nu/2019/02/kina-och-sudan/

[94] Sozialistische Bewegung Kasachstan: „Hände weg von Marat Karamanov und den Ölmännern von Aktobe!“, vom 10.06.2022; http://socialismkz.info/?p=8327

[95] https://www.iccr.gr/en/issue_article/Working-movement-of-Kazakhstan-in-the-period-of-restoration-of-capitalism-and-in-the-conditions-of-bourgeois-dictatorship/

[96] GLOBAL TIMES: „Kasachstan stellt mit Hilfe des OVKS-Einsatzes und mit der festen Unterstützung Chinas die Ordnung wieder her. Der militärische Einsatz der OVKS ist legitim und notwendig, um Extremisten und externe Kräfte mit bösen Absichten abzuschrecken“, vom 07.01.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202201/1245361.shtml

[97] Hintergründe zu den Ursachen des Aufstandes und des Versuchs der Kasachischen Regierung Separationsbewegungen zu unterstützen, finden sich hier: „Auf Befehl Nur-Sultans schüren Nationalisten und Liberale den Separatismus in Karakalpakstan“, vom 26.07.2022, http://socialismkz.info/?p=28021, „Meinung zu Ereignissen im benachbarten Karakalpakstan“, vom 07.07.2022, http://socialismkz.info/?p=27992 

[98] GLOBAL TIMES: „China unterstützt die usbekische Regierung bei der Wahrung der nationalen Stabilität“, vom 04.07.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202207/1269725.shtml

[99] GLOBAL TIMES: „Der Bau der China-Kirgisistan-Usbekistan-Eisenbahn wird bald beginnen“, vom 07.06.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202206/1267513.shtml?id=11

[100] Vergleiche Wikipedia

[101] GLOBAL TIMES: „Neues Erdgasfeld zwischen China und Turkmenistan in Betrieb“, vom 20.06.2022; https://www.globaltimes.cn/page/202206/1268601.shtml

[102] https://de.wikipedia.org/wiki/Turkmenistan

[103] Kommunistische Partei der Philippinen (PKP-1930): „PKP-1930 verurteilt Chinas Kriegsdrohungen in dem „9-Striche“-Gebiet, das es in betrügerischer Absicht beansprucht“, Aus: „Sulong” – Zeitung der PKP-1930, Ausgabe Januar 2021; https://www.pkp-1930.com/january-2021

[104] Vergleiche auch Anton Stengl „Chinas neuer Imperialismus“. Stengl führt hierzu einige Beispiele aus verschiedenen Ländern an.

[105] Karl Liebknecht „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“; https://www.marxists.org/deutsch/archiv/liebknechtk/1915/05/feind.htm

Worum geht es der „Minderheit“?

Die Absage an den Demokratischen Zentralismus und der Liberalismus in den Organisationsvorstellungen

Von Nasrin D.

Hier als PDF.

Es wurden bereits viele treffende und zurecht scharfe Beiträge von Genossen zur Lage der Organisation, in welche uns der Antrag zum aKo hineinmanövriert hat und deren Ausdruck er zugleich ist, geschrieben. Ich kann mich all dem nur anschließen und sehe einen fatalen Rückschritt im Klärungsverständnis, offener Bruch mit unserer Disziplin und generell politische Unverantwortlichkeit durch die Minderheitler, die es insbesondere bei Leitungsmitgliedern nicht geben darf. Mein Beitrag versucht die Vorgänge in unserer Organisation zu interpretieren und ihre Ursachen zu verstehen. Meine These ist, dass sie Ausdruck des Einflusses des (Links-)Liberalismus in der Kommunistischen Bewegung im Allgemeinen und der KO im Besonderen sind. Sicher liege ich nicht mit allem richtig, möchte aber der Organisation meine momentane politische Einschätzung transparent machen.

Einige Dokumente, Bekundungen und Anträge später bleibt man ratlos zurück. Was will die „Minderheit“ denn nun? Klärung oder Beschluss? Wissenschaftliche Sorgfalt oder schnelle Antworten? Anpassen der Massenarbeit auf unsere prekäre Kapazitätenlage oder Entfaltung neuer Tätigkeitsfelder? Beschlussdisziplin oder „politische“ Flexibilität in Organisationsfragen?

Alle Fragen, die an die Minderheit in den bisherigen Diskussionsbeiträgen gestellt wurden sind keine rhetorischen Fragen; die taktischen Manöver der aKo-Antragsteller lassen uns mit vielen Fragezeichen zurück. Unverständlich, warum man nicht bis zum regulären Kongress im Sommer warten konnte, nicht verständlich, warum so viel Lügen und Schmutz produziert werden mussten?  Warum die Vehemenz mit der an den „Pappkameraden“ festgehalten wurde, wofür die wilden Verschwörungszenarien? Unklar auch, wie der KO eine Perspektive geboten werden soll in Form einer dürren und derartig uninspirierten „Handlungsorientierung“, die weder Realitäten noch Perspektiven bietet. So deutlich klafft die Selbstinszenierung als Retter der KO und ihr reales Angebot auseinander, welches nun auch schriftlich allen als Selbstoffenbarung vorliegt.[1] Insbesondere die Handlungen der „Leitungs-Minderheit“ haben in ihrer politischen Verantwortungslosigkeit bewiesen, dass sie eben keine Führung übernehmen (können).

Um was geht es der Minderheit nicht?

Wenn es wirklich um „zielgerichtete Klärung“, „Kampf gegen Revisionismus“, „Parteiaufbau“ gehen würde, dann würden nicht die Grundlagen unserer Organisation – unser Klärungsvorhaben, unsere Disziplin, unsere Kollektivität – derart mit Füßen getreten werden. Dann wäre kein Prozess eingeleitet worden, bei dem wir den Eindruck bekommen, die ehemaligen Genossen können sich gar nicht schnell genug weit fort von verbindlicher Organisierung entfernen und in dem jeder neue Text einen anderen Ton anschlägt, und sich je nach geschätzter Stimmungslage mal mehr zur einen oder anderen Seite neigt. Weiter: denjenigen, die das Statut mit Füßen treten, kann es nicht um das Statut gehen; denjenigen, die den Thesencharakter der Programmatischen Thesen negieren, kann es nicht um deren Schutz gehen; diejenigen, die die Aktionsorientierung von Beginn an kalt gestellt haben, wollen auch jetzt nicht wirklich zurück auf die Straße. Klärung ist zum Witz der Stunde geworden, wenn erst mit dem aKo-Antrag, die laufende Klärung abgebrochen wurde, um dann einen neuen Klärungsplan zu beschließen, der einerseits bereits Beschlossenes wiederholt, andrerseits mal schnell die Versäumnisse der AGen seit ihrer Aufstellung innerhalb einer Legislatur nachholen möchte. Durch ein Nebeneinanderlegen der Resolution „Nicht unser Krieg“ und den „Antrag zur Klärung der Imperialismusfrage (…)“ wird die Verwirrung vollendet: fast alle Fragen in Bezug auf den Krieg sollen schon beschlossen werden, wofür dann noch Klärung, wenn wir die Grundlage dafür schon zu haben scheinen? Einerseits sich unangreifbar machen zu wollen, – auf der anderen Seite inhaltliche Fakten schaffen und die Klärung de facto beenden. Die maßlose Ambition war schon immer eine gute Ausrede, um am Ende nichts zu schaffen, außer einen neuen Plan vorzuschlagen. Ein weiteres durchschaubares Zeugnis dieser Profilierungs- und Verschleierungsabsichten ist es, wenn Genossen ein 60-seitiges Papier[2] schreiben, in denen sie meinen, ihre ausführlichen Exzerpthefte zum Anti-Dühring, dem Philosophischen Wörterbuch usw. würden ihren besonders wissenschaftlichen Standpunkt untermauern. Dies mutet selten bizarr an vor dem Hintergrund, dass eben dieselben Autoren gerade das Begehren vorangetrieben haben, mit dem aKo die Umsetzung des Beschlusses zur wissenschaftlichen Bearbeitung der Kriegs- und Imperialismusfrage abzubrechen. Diese Zusammenstellung bringt uns in der Debatte keinen Schritt weiter und „beweist“ lediglich die Weigerung der Autoren anzuerkennen, dass sich alle Positionen im bestehenden politischen Dissens auf der wissenschaftlichen Grundlage des ML wähnen. Jedoch sind Wiedergabe auf der einen – Durchdringung und Anwendung auf der anderen Seite sehr unterschiedliche Dinge. 

Nun zur Antwort auf unsere Eingangsfrage: Um was geht es der Minderheit denn dann?

Antwort: Es geht den ehemaligen Genossen politisch um nichts, ihre Handlungen folgen keiner kohärenten und schon gar nicht revolutionären Agenda. Der politische „rote“ Faden, welcher sich durch ihre Handlungen hindurch verwirklicht, ist der Einfluss des (Links-)Liberalismus.

Wenn ich behaupte, der „Minderheit“ geht es politisch um nichts, dann meine ich damit, dass sie ihre proklamierten Ziele zwar ggf. selbst glauben, diese aber weder mit ihren politischen Positionen noch ihren Handlungen und deren Auswirkungen übereinstimmen. Wohl geht es politisch um sehr viel, nur eben nicht um die Ziele, die die Minderheitler für sich in Anspruch nehmen wollen. Vielmehr wirken durch sie Kräfte in Form der bürgerlichen Ideologie in unsere Organisation hinein.

Ich möchte es noch ein wenig genauer machen und die These aufstellen, dass der rote Faden der sich durch die Handlungen und Positionen der Minderheit zieht, der Einfluss des, bzw. die Kapitulation vor dem (Links)Liberalismus ist. Dieser fällt auf einen fruchtbaren Nährboden aus unterschiedlichen individuellen Motiven, von diffuser Unzufriedenheit, politischer Unsicherheit, Abgrenzungsbedürfnissen und Profilierungsabsichten, über die hier nicht weiter spekuliert werden soll.

Es geht mir in diesem Beitrag nicht darum Leute zu beschimpfen oder aber die „Minderheit“ zu bekehren. Der Beitrag richtet sich an diejenigen, die weiterhin an den Klärungsvorhaben der VV4 und damit dem Auftrag der KO festhalten und in diesem Sinne nach dem aKo weiter arbeiten werden. Wir müssen unsere Versäumnisse in Hinblick auf die schon lange sichtbare Zersetzungstätigkeit und die mangelnden Konsequenzen verstehen und selbstkritisch fragen, warum wir selbst zu unreif waren, um unsere statutarische Verfasstheit gegen Verstöße zu verteidigen.

Ich möchte kurz versuchen die verschiedenen Phänomene, die als Unreife bezeichnet wurden und die im letzten Jahr und in den letzten Wochen kondensiert zum Vorschein gekommen sind auf einen politischen Nenner zu bringen – und so aufzuzeigen, warum auch sie notwendige Erscheinungsformen der Krise der kommunistischen Bewegung sind, des Eindringen bürgerlicher Ideologie, vor der wir, wiederum notwendigerweise nicht weglaufen können, oder sie einfach per Abstimmung eliminieren können. Diese Vorstellung herrscht(e) m.E. lange in der gesamten Organisation vor und ist einer unserer Gründungsfehler (und -mythos). Hier müssen wir eine Selbstkritik üben, die wirklich schonungslos unsere falschen Vorstellungen von uns selbst und damit auch einen zu kurz gegriffenen Begriff von der Krise aufdeckt. An die Selbstkritik des Selbstverständnisses (SV)[3] muss also angeknüpft und diese vertieft werden.

Wenn ich von „Liberalismus“ in unseren Reihen spreche, meine ich damit zum Einen das Einwirken inhaltlicher Positionen der westlichen (links-)liberalen Bourgeoisie in die kommunistische Bewegung hinein, und zum anderen das was u.a. Mao Tse-Tung in seinem 1937 erschienen Aufsatz „Gegen den Liberalismus“ als Erscheinungsformen des individualistischen Kleinbürgertums innerhalb revolutionärer Kollektive begreift. Beide „Liberalismus“-Begriffe hängen eng zusammen, wobei Mao selbst diesen Zusammenhang nicht herstellt. Das Einsickern des Liberalismus braucht keinen bewussten oder direkten Bezug auf liberale Denkschulen, sondern ist Ergebnis des Wirkens der Ideologie eines Teils der Bourgeoisie in den westlichen imperialistischen Zentren auf die politische Linke und Arbeiterbewegung im Allgemeinen und die Kommunisten in unserem Fall. Dieses Wirken muss nicht immer als offenes Übernehmen der Parolen dieser Bourgeoisie zutage treten, kann es aber auch zuweilen („Kampf dem russischen Imperialismus“, „Sturz des iranischen Mullah-Regime“). Viel wichtiger aber ist, dass die bürgerliche ideologische Hegemonie in den zugespitzten Klassenkampfsituationen einen immensen gesellschaftlichen Druck aufbaut und gleichzeitig das Feld des Sagbaren absteckt und großzügig eine scheinbar oppositionelle Diskurs- und Handlungsoption setzt. Das regelmäßige „Umkippen“ von Linken im Rahmen gesellschaftlicher Krisensituationen ist genau eine Folge dieses gesellschaftlichen Drucks, welcher meistens seine Wirkung bereits erfolgreich mit Repressionsandrohung und sozialem Stigmata entfaltet. Das Ergebnis ist, gleich welcher „revolutionären“ Losung, dass gegenwirkende gesellschaftliche Kräfte nicht formiert oder eben neutralisiert werden.

Gerade in Kriegszeiten tritt dies besonders deutlich zutage, wie die „Resolution“ der Minderheitler in unbeabsichtigter Selbsterkenntnis formuliert: „Der imperialistische Krieg stellt die Arbeiterklasse aller beteiligten Länder vor sehr schwere Herausforderungen. Es ist alles andere als leicht, der reaktionären Kriegspropaganda des bürgerlichen Staates zu widerstehen und in jeder Situation konsequent den Standpunkt des proletarischen Internationalismus zu beziehen.“[4]

Es liegt auf der Hand, dass für die meisten Linken, die Diskurs- und Handlungsoptionen des Linksliberalismus annehmbarer sind, als die konservativer oder gar faschistischer Kräfte.

Der Liberalismus, der sich momentan am deutlichsten in den Organisationsvorstellungen und Handlungen der „Minderheit“ zeigt, hat sich politisch bereits länger angedeutet. Vorboten waren die Auseinandersetzung um den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan, Argumente im Rahmen der Positionserfassung der kommunistischen Parteien, in welchen der KPRF explizit ihr Anti-Liberalismus zum Vorwurf gemacht wurde, das Narrativ eines russischen oder gar putinschen  „Autoritarismus“, Haltungen zum antikolonialen und nationalen Befreiungskampf, aber auch schon viel früher in der sogenannten Klima-Diskussion.

Exemplarisch möchte ich den Diskussionsbeitrag von Th. Spanidis „Imperialismus, ‚multipolare Weltordnung‘ und nationale Befreiung“ (Dezember 2021) anführen, in welchem er davor warnte, die „Sektkorken“ anlässlich des US-Truppenabzugs in Afghanistan knallen zu lassen und von einem „objektiven Sieg für das afghanische Volk“ zu sprechen. Als Begründung wurden sowohl das Argument der Gefahr einer Aufgabe des „strategischen“ Ziels Sozialismus im Rahmen eines Kampfes um nationale Souveränität, wie auch die „Gefahr“ einer „multipolaren“ internationalen Kräfteverschrieben genannt, welche die Gefahr eines Weltkriegs erhöhe, angeführt.

Auf die inhaltlichen Probleme[5] dieses Beitrags geht es an dieser Stelle nicht, jedoch haben die hier noch zurückhaltend formulierten Vorstellungen von Imperialismus und revolutionärer Strategie und Taktik ihre vulgäre Zuspitzung in unserer mündlichen Debatte im letzten halben Jahr gefunden. Wer den Kampf um nationale Befreiung generell als „Etappismus“ abtut, diesen historisch, bis auf für eine Handvoll Beispiele für überholt hält, und den Kampf für Eigenständigkeit, Hebung des Lebensstandards durch wirtschaftliche eigenständige Entwicklung, also Nationalisierung der Produktion etc., den Kampf gegen Zerstörung der Länder, Militärputsche nur im Rahmen eines direkten Plans zur sozialistischen Machterlangung anerkennt oder generell für opportunistisch befindet; befindet sich auf direktem Weg zu dem, was Domenico Losurdo als einen der ideologischen Kernbestandteile des „westlichen Marxismus“ zusammenfasst, nämlich ein Verharren in einer utopischen Sozialismusvorstellung.[6] So verhält es sich auch mit ähnlichen Fantasiegebilden, wie der realitätsspottenden Aufforderung an die russische Arbeiterklasse, jetzt doch bitte ihre Waffen gegen die eigene Bourgeoisie zu richten und die Macht zu übernehmen. So „einfach“ ist diese Losung, dass sie meint keine Analyse der politischen Situation der RF und der russischen Arbeiterklasse vorlegen zu müssen.

Meines Erachtens kommt in dem Afghanistan-Beispiel sehr anschaulich dieser utopische Charakter des „sozialistischen“ Liberalismus zum Ausdruck: er führt den (wissenschaftlichen) Sozialismus im Mund, vertritt aber eigentlich die sozialistische Utopie, die im Klassenkampf des spezifischen historischen Moments sich in eine Waffe der Imperialisten gegen die unterdrückten Völker wandeln kann, indem die Kämpfe neutralisiert oder Etappensiege nicht als solche anerkennt werden. Dies entspricht der historischen Stellung des utopischen Sozialismus im entwickelten imperialistischen Kapitalismus. Die Utopie, die nicht mehr den Kämpfen vorauseilt, sondern diese zu bändigen sucht, bekommt die Gestalt des fahlen Dogmatismus, der sich nur äußerlich radikal gebärt. Wir meinen hier nicht den wütenden, unbändigen Linksradikalismus, der es nicht erwarten kann, sein Leben in (aussichtslosen) Kämpfen für die richtige Sache zu geben, sondern denjenigen, der es vorzieht im trauten Politsalon seine radikalen Ratschläge zum Besten zu geben, ohne sich auch nur eine Schramme einzufahren. Wir meinen den verschämten Pazifismus, der Alles oder nichts! krakeelt, um sich ja nicht die Hände schmutzig zu machen.

Diesem sozialistischen Utopismus fallen immer Dinge ein, die das Projekt des reinen Sozialismus beschmuddeln: Religion, Bündnispolitik, unschöne Gewalt (z.B. individueller Terror), Nationalismus usw. Diese möglichen Probleme und Erscheinungen in jeder Bewegung mit einer Volksbasis führen aber bei dem Sozialisten der westlichen Länder statt einer Unterstützung und Vorantreiben der fortschrittlichen und gerechten Seite der Kämpfe, zu Distanzierung vom Kampf, vom realen Klassenkampf. 

Elemente des Utopismus in der Arbeiterbewegung fallen in den imperialistischen Zentren allzu oft zusammen mit einer „linken“ Ausprägung des Liberalismus, da beide auf den bürgerlichen Freiheitsbegriff, den Individualismus und Antiautoritarismus rekurrieren können.

Zufall, dass viele Themen, die der „Minderheit“ besonders auf dem Herzen liegen, die Herzensangelegenheiten des linksliberalen (Klein)bürgertums sind, Stichwort Mitmischen in der „Umweltbewegung“, „strukturelle Benachteiligung“? Gerade die „Umweltbewegung“ besteht bekanntlich aus einer Melange aus bürgerlichen Kids, Lobbyismus und reaktionärem Getümmel und die meisten Proletarier halten meilenweiten Abstand. Die Notwendigkeit einer Klärung in dieser Frage und insbesondere der Einschätzung der „Klimabewegten“ aller Couleur, ist in der Handlungsorientierung der Minderheitler nicht mehr vorgesehen. Weiter braucht man keine hellseherischen Fähigkeiten, um die Slogans herbei zu ahnen, die nach dem Januar auf den Stellungnahmen der Minderheit stehen werden:

„Solidarität mit den Kämpfenden Frauen im Iran! Sturz des Mullah-Regime!

Gegen den imperialistischen Krieg Russlands!

Sturz des „Autoritarismus“ der RF!

Gegen die imperialistische Invasion Chinas in Taiwan!“

Teilweise bisher „nur“ in Gesprächen und „Aktuellen Stunden“ vertretene Losungen (und das ist nicht polemisch gemeint) sind wortgleich auch in der Grünen Jugend etc. zu vernehmen. Die Unterscheidung zu bürgerlichen Kräften wird dabei stets mit dem Parolenzusatz „Nur im/mit Sozialismus“ hergestellt.

Nun ist es auch nicht mehr verwunderlich, dass sich die Minderheits-Fraktion schamlos dem begrifflichen Instrumentarium des liberalen Antikommunismus bedient: „Zensur“, „Autoritärer Zentralismus“, „Sprechverbot“, und „Kadavergehorsam“. Der Antikommunismus als Kernelement des Liberalismus, zielt notwendigerweise auf die Organisationsprinzipien der Kommunisten.

Gegen den Liberalismus in den revolutionären Kollektiven

In Mao Aufsatz „Gegen den Liberalismus“ (1937)[7] fasst dieser unter dem „Liberalismus“ elf Erscheinungsformen von Verhaltensweisen von Mitgliedern revolutionärer Organisationen und der Partei zusammen, die sich zwar einen marxistischen Anstrich geben, in Wirklichkeit aber kleinbürgerliche Gepflogenheit in die Organisation hineintragen:

„Andere hinter ihrem Rücken verantwortungslos kritisieren, statt sich mit positiven Vorschlägen an die Organisation zu wenden; jemandem seine Meinung nicht offen ins Gesicht sagen, sondern hinter seinem Rücken klatschen oder statt in der Versammlung das Wort zu ergreifen, dafür hinterher schwatzen; keine Grundsätze des Gemeinschaftslebens achten und sich völlig frei gehen lassen – das ist eine zweite Erscheinungsform. (…)
Weisungen nicht befolgen und die eigene Meinung allem voranstellen; an die Organisation nur Ansprüche stellen, von ihrer Disziplin aber nichts wissen wollen – das ist eine vierte Erscheinungsform.

Anstatt um der Einheit, um des Fortschritts, um der guten Erledigung einer Sache willen eine falsche Auffassung zu bekämpfen oder sich mit ihr auseinanderzusetzen, andere persönlich angreifen, einen Streit vom Zaun brechen, seinem Groll Luft machen oder Rache nehmen – das ist eine fünfte Erscheinungsform. (…)“

Mao geht es hier nicht nur um das Verhältnis einzelner Genossen zueinander, sondern das Verhältnis jedes einzelnen Genossen zur Organisation und „zur Sache“. Der „Liberalismus“, der sich in den Verhaltensweisen und der Missachtung der Disziplin äußert, fördert auch die Entstehung von „Liberalismus auf ideologischem, politischem und organisatorischem Gebiet“[8]. Der Hauptausdruck des „Liberalismus“ im revolutionären Kollektiv, ist das Doppelspiel mit dem Marxismus: 

„Liberale betrachten die Grundsätze des Marxismus als abstrakte Dogmen. Sie erklären sich zwar für den Marxismus, sind aber nicht bereit, ihn in die Praxis umzusetzen oder dies in vollem Maße zu tun; sie sind nicht bereit, anstelle ihres Liberalismus den Marxismus zu setzen. Diese Leute haben einiges sowohl vom Marxismus als auch vom Liberalismus: Sie führen den Marxismus im Mund, handeln aber im Sinne des Liberalismus; anderen gegenüber sind sie marxistisch, sich selbst gegenüber aber liberal.“[9]

Den Liberalismus macht also zentral aus, dass sich Individuen über die Organisation stellen, in dem sie selbst entscheiden, ob sie Entscheidungen für legitim und damit für sie gültig erachten oder nicht. Diese Erscheinungsform konnten wir direkt in dem Handeln der Leitungs-Minderheit ausmachen, die einerseits auf die Gültigkeit der Organisationsdisziplin pocht, wenn es um ihre Rechte geht (Einberufung eines außerordentlichen Kongresses, Anhörungsrecht, Beibehaltung ihrer Ämter), ihre Pflichten (Unterordnung der Minderheit, Beschlussdisziplin, Fraktionsverbot usw) aber nicht anerkennt mit dem Verweis auf eine angeblich illegitime Führung, wobei die Feststellung dieser „Illegitimität“ [10] lediglich von ihnen selbst getätigt wurde, während der Beschluss des höchsten Gremiums der Organisation, dem Kongress, welches eben jene Führung gewählt hat, abgetan wird. Die Minderheitler stellen also ihre eigene Einschätzung über die Strukturen und Beschlüsse der Organisation, was nicht nur zutiefst antidemokratisch ist, sondern eben auch dem Paradigma des bürgerlich-liberalen Individualismus folgt. So wird die Leitung als solche adressiert, wenn es opportun scheint, und als „sogenannte“ Leitung abqualifiziert, wenn man seiner Rechenschaftspflicht entkommen will. Der Ausbruch von „Wilder-Westen-Verhalten“ ist ein weiterer Ausdruck dieses Versuchs, alle kollektiven Übereinkommen über Bord zu werfen und Unsicherheit in der Organisation zu schüren. Hier wird vieles deutlich, aber v.a., dass man die Vorstellung der persönlichen Unterordnung in einer demokratisch-zentralistisch organisierten Kaderorganisation zutiefst ablehnt. Die Folgen solcher Erscheinungen, wenn sie ungeahndet bleiben, sind fatal. Hören wir noch einmal Mao:

„In revolutionären Kollektiven ist der Liberalismus äußerst schädlich. Er ist ein Ätzmittel, das die Einheit anfrißt, den Zusammenhalt lockert, Passivität in der Arbeit sowie Zwistigkeiten hervorruft. Er raubt den revolutionären Reihen die straffe Organisation und Disziplin, verhindert die gründliche Durchführung der politischen Richtlinien und führt eine Entfremdung zwischen der Parteiorganisation und den von ihr geführten Massen herbei. (…)“

Selbst die formale Anerkennung von Beschlüssen der Organisation bei gleichzeitigem „quiet quitting“, wie es viele Genossen der Minderheit mit der Aktionsorientierung praktiziert haben, ist eben eine „stille“ Form der Verletzung der Organisationsdisziplin. Innerhalb kürzester Zeit wurden fast alle Bestandteile des Demokratischen Zentralismus offen abgelehnt und/oder praktisch außer Kraft gesetzt.

Der organisationspolitische Liberalismus der Minderheitler hat sich in unserer Auseinandersetzung um die Frage der Kaderpartei angedeutet. Es ist nicht lange her, da hatten gewisse Genossen laute Bauchschmerzen mit der Vorstellung von Kadern als Berufsrevolutionäre und der KP als Kaderpartei, was sich u.a. auch in ihrer individuellen Bereitschaft sich zu Kadern zu entwickeln, ausdrückte. Leider wurden bei der Diskussion um das SV diese Widersprüche um das Kaderverständnis weniger deutlich formuliert, als z.B. auf dem letzten Sommercamp. Nur in bestimmten Beiträgen und Anträgen schien hindurch, dass wir vielleicht gar nicht so große Einigkeit in der Partei- und Organisationsfrage haben. Jetzt sehen wir, wie groß dieser Dissens eigentlich ist. Er kommt erst in der zugespitzten Situation zum vollen Ausdruck, wenn angesichts der Krise, die Disziplin einzuhalten, tatsächlich auch etwas von einem abverlangt und ganz praktische Konsequenzen für das Leben von jedem von uns haben kann.

Es gibt kein einfaches Rezept gegen den Revisionismus

Die Art und Weise, wie die „Minderheit“ sich des Revisionismus und damit der (Ursache der) Krise der Bewegung entledigen will, widerspricht ihrer Selbstdarstellung. Denn es ist kein ernsthafter ideologischer Kampf, der im Ringen um die Wahrheit geführt wird, der, in Selbsterkenntnis seiner selbst als Teil und Ausdruck der Krise der KB, auch mit sich selbst notwendig geführt werden muss. Der Kampf kann nur in der Anhebung unseres Bewusstseins auf Grundlage eines kollektiven Prozesses geschehen, nicht durch eine destruktiven zermürbenden Fraktionskampf, der einzig darauf abzielt, sich bestimmter Personen zu entledigen.

Überwindung der Krise durch Proklamation wird nicht funktionieren, sondern den Revisionismus zu bekämpfen erfordert ernsthafte wissenschaftliche Arbeit, die bürgerliche Ideologie, welche ihren Weg in den Marxismus gefunden hat, auf der Höhe der Zeit identifizieren und mit allen Mitteln des wissenschaftlichen Kommunismus auseinandernehmen muss. Der Revisionismus kann nicht identifiziert werden mit einzelnen „Agenten“ wie Parteien, oder Einzelpersonen, sondern ein ständiger notwendiger Begleiter der kommunistischen Bewegung unter den Bedingungen der Vorherrschaft des Imperialismus und der bürgerlichen Ideologie.

Eine Vorstellung, die den Kampf gegen den Revisionismus externalisieren möchte, hat schon verloren. Ebenso wie unmaterialistische Wunschvorstellungen, die denken, die KO existiere neben oder gar über der Krise der Bewegung und könne von dort „oben“ auf diese herabschauen und ihre Fehler aufzeigen, ohne selbst von diesen betroffen zu sein. Die Arroganz der Minderheit ist so besonders augenscheinlich in ihrem Scheitern, auf sich selbst zu blicken, ihr Bewusstsein, ihre Handlungen zu den gesellschaftlichen Kräften in ein Verhältnis zu setzen, die auf uns alle wirken. Und so sehen sie auch nicht, dass ihre Handlungen gerade den Revisionismus in den Organisationsvorstellungen, nämlich die Aufweichung des Demokratischen Zentralismus reproduzieren und damit einen der zentralen augenscheinlichen Fehler der Kommunistischen Bewegung in der BRD der letzten Jahrzehnte wiederholen, nur vollkommen unbewusst. Es ist dieser Fehler, der wohl eine verbindliche und disziplinierte Aufarbeitung unserer historischen Niederlage ungemein erschwert hat. Und auch dieser „Fehler“ hat seine subjektiven und objektiven Ursachen, die wir verstehen müssen, um ihn eben nicht nur proklamatorisch zu „beheben“.

Der Liberalismus ist also nicht ein Makel, das einzelnen Personen anhängt und es ist sehr wichtig, diese Erscheinungen als Erscheinungen der Krise der kommunistischen Bewegung und gleichzeitig des unvermeidlichen Einsickerns bürgerlicher Ideologie in die Kommunistische Bewegung, deren Teil wir sind, zu begreifen. Keine Spaltung, kein Ausschluss, so notwendig diese auch jetzt sind, kann die politische Bewegung/Druck/Einwirken auflösen, mit der wir unvermeidlich weiter konfrontiert sein werden.

Und so kommen wir zu der letzten Form des Liberalismus, die nun uns selbst betrifft.

„Wenn man genau weiß, daß jemand im Unrecht ist, und sich doch mit ihm nicht prinzipiell auseinandersetzt, sondern um des lieben Friedens und der Freundschaft willen darüber hinwegsieht, weil es sich um einen Bekannten, einen Landsmann, einen Schulkameraden, einen intimen Freund, einen, den man liebhat, einen alten Arbeitskollegen oder einen alten Untergebenen handelt, oder wenn man, um das gute Einvernehmen mit ihm zu wahren, die Frage nur flüchtig streift, ohne ihre gründliche Lösung anzustreben(…)“.[11]

Die Frage an uns ist also, ob wir unser eigenes Organisationsverständnis seit der VV4 immer ernst genommen haben. Waren die Zeichen der Fraktionierung nicht schon viel früher sichtbar? Haben Genossen nicht schon lange offen organisationsschädliches Verhalten gezeigt? Warum kommen jetzt erst die statuarischen zögerlichen (!) Maßnahmen? Hierfür kann nicht nur alleine ein Leitungsgremium verantwortlich gemacht werden. Es hat ja auch niemand sonst aus der Organisation eingefordert. Warum nicht? Um des „lieben Frieden“ willens? Hielten wir statuarische Maßnahmen für überzogen, oder war eigentlich schon vor einem halben Jahr klar, dass bestimmte Maßnahmen, wie der Entzug von Funktionen schon damals nicht umsetzbar gewesen wären? Damit würden wir uns aber eingestehen, dass bereits lange vor dem aKo-Antrag Fraktionierung Realität war und wir dieser nicht entschlossen entgegengetreten sind.

Aufbau = Anstrengung

Weil eben die vorgebrachten inhaltlichen Positionen nicht das treibende Motiv hinter dem Himmelfahrtskommando der „Minderheit“ ist, können wir die aufgezwungene Spaltung hinnehmen und müssen sie sogar wollen, wenn wir nicht unser Werkzeug, die KO als Verbindung von Aufbau und Klärung, der Anarchie preisgeben wollen. So wird ironischerweise gerade eine Spaltung letztendlich ermöglichen, die inhaltlichen Positionen der „Minderheit“ in Bezug auf den Krieg und die Imperialismusfrage mit aller Ernsthaftigkeit zu prüfen.

Es wird nicht die letzte derartige Auseinandersetzung sein. Genossen müssen sich jetzt entscheiden, welchen Weg sie politisch verantworten können und gehen wollen. Auch wenn sich die Mehrheit der Organisation gegen Überheblichkeit und Dogmatismus entscheiden sollte, sind wir nicht davor gefeit immer wieder unser Klärungsvorhaben infrage gestellt zu sehen. Und wie bereits richtig festgestellt wurde, führt das Fehlen von „wissenschaftlich-theoretischer Klarheit (…) zwangsläufig zu Fraktionierung und Spaltung“.  Hier haben wir also einen klaren Arbeitsauftrag.

Der Aufbauprozess hält in vieler Hinsicht die Anforderung an uns, die Spannung zu halten.

Aufbau, das heißt für uns auch ständiges Austarieren, Wachsein, die Angst vor dem Scheitern und das Gefühl unglaublicher gesellschaftlicher Isolation aushalten zu können.

Das Nicht-Aushalten des Aufbaustadiums, die Ungeduld, die Überschätzung, das Ausblenden gesellschaftlicher Realitäten, die falsche Selbstvergewisserung – all diese Probleme haben wir im SV bereits adressiert; verinnerlichen und bekämpfen wir sie. Kaderbildung ist genau das – Spannung und Haltung bewahren, trotz gesellschaftlichen Drucks. Organisierte Selbstkritik, Offenheit bei gleichzeitiger revolutionärer Disziplin, Wissenschaftlichkeit, Ernsthaftigkeit und v.a. Kollektivität sind die Mittel der Stunde, um uns weiterzuentwickeln.


[1] Auch der Antrag zur Klärung enthält eine Reihe an bereits auf der VV4 beschlossenen Vorhaben zur Klärung, die durch die Antragsteller in ihrer Umsetzung vereitelt wurden, sie enthält sonst ein wahnwitziges Programm zur Klärung, welches in keiner Weise den Fähigkeiten der Organisation wie sie jetzt besteht und erst recht nicht dem Rest entspricht, mit dem die „Minderheit“ verbleiben wird; schließlich offenbart der Antrag zur Klärung ein fatales Verständnis von Klärung, welches schnelle Ergebnisse offensichtlich wissenschaftlicher Sorgfalt vorzieht.

[2] Müller/Groos/Textor, „Klarheit durch Wissenschaft“

[3] Das SV ist ein Dokument, in dem die KO ihre Überlegungen zur Parteifrage und zu ihrer eigenen Rolle und Möglichkeiten zusammen gefasst hat, nach einjähriger gemeinsamer Diskussion. Es wurde auf der VV4 beschlossen, aber nicht veröffentlicht, da wir es zunächst weiter prüfen und bearbeiten wollten.

[4] Resolution „Nicht unser Krieg“, S. 4.

[5] Herrschen denn nicht in großen Teilen der Welt regelmäßig Kriege? Würden die Ausrufung eines sozialistischen Afghanistans nicht auch zu einem erneuten Krieg führen? Haben wir uns die sozialen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen und Probleme in Afghanistan vergegenwärtigt, bevor wir einfach so die nationale Souveränität geringschätzen und die sozialistische Machterringung als unmittelbare Pauschallösung empfehlen? Inwiefern eine „unipolare“ Welt bessere Ausgangsbedingungen für den Kampf um den Sozialismus schaffen soll, bleibt auch völlig unklar.

[6] Losurdo, Domenico (2021), Der westliche Marxismus.

[7] https://www.marxists.org/deutsch/referenz/mao/1937/09/gegenlib.html. Entstanden ist der Text im Rahmen der Auseinandersetzung über Fragen des Parteilebens und innerparteilichen Kämpfe in der KP China in den 1930er und frühen 1940ern.

[8] Ibid.

[9] Ibid.

[10] Die Grenzen zwischen „Illegitimität“, also etwas was u.a. politisch nicht zu rechtfertigen sei und „Illegalität“, also was „rechtmäßig“ verboten ist, scheinen auch fluide für die Minderheit verschiebbar zu sein und je nach Gemütslage wird der formale Status der Leitung ab- oder anerkannt.

[11] https://www.marxists.org/deutsch/referenz/mao/1937/09/gegenlib.html

Ignoranz von 100 Jahren unserer Geschichte

Von Noel Bamen

Hier als PDF

1. KKE (und TKP und SKP) = Lenin? 

2. 100 Jahre Imperialismus-Debatte auf den Müll? 

a) Debatten in der Komintern

b) Diskurse im Realsozialismus

c) Diskurse nach 1990 

3. Alles Revisionismus? 

4. Links(radikal) blinken, rechts(opportunistisch) abbiegen 

Die Auseinandersetzung in der KO verläuft, wie ich schon an anderer Stelle geschrieben habe,[1] nicht zwischen einem „revolutionären“ und einem „revisionistischen“ Lager, sondern zwischen jenen, die klären wollen, und denen, die es nicht wollen. Mir und anderen Genossen, die die Lage so sehen, wurde sowohl vom Anti-Klärungs-Lager als auch von Genossen, die ich als unsicher einschätze, vorgehalten, wir würden es uns mit diesen Zuschreibungen zu leicht machen: Selbst wenn es so sei, wurde mir in einer Diskussion gesagt, dass die selbsternannten „Revolutionäre“ in der Imperialismusfrage objektiv oder vielleicht sogar subjektiv kein Interesse an Klärung hätten, so erstrecke sich dieser Unwille ja nicht auf sämtliche andere Fragen, etwa die Parteifrage oder die Strategiefrage. Letzteres mag zwar so sein. Allerdings lässt diese Sicht die Tatsache außer Acht, dass wir aktuell erstmals einen Dissens unter uns haben, d.h. die aktuelle Auseinandersetzung ist ein Lackmustest, wer wirklich selbstkritisch, ergebnisoffen, wissenschaftlich und umfassend klären möchte, und wer nur seine bereits zum Dogma erhobene Sicht durchsetzen und alle anderen – innerhalb wie außerhalb der KO – als Abweichler und Revisionisten brandmarken will. Wer es sich also in Wahrheit zu einfach macht, ist das Anti-Klärungs-Lager. Und das gilt nicht nur für ihr Nein zur Klärung – indem sie die Klärung zu einer reinen Unterfütterung ihrer bereits festgelegten Positionen degradieren –, das die Existenzberechtigung der KO völlig infrage stellt, sondern mindestens ebenso sehr für jene Annahme, die sie so völlig von sich selbst überzeugt zur Ausgangslage ihres Opponierens gegen die Klärung und ihrer Zersetzungsarbeit in den letzten Monaten gemacht haben.

1. KKE (und TKP und SKP) = Lenin?

Was sie nämlich tun, ist, dass sie Lenins Imperialismusschrift nehmen, sie auf das reduzieren, was ihnen in den Kram passt, und anschließend die Analyse der KP Griechenlands (KKE) (bzw. ihre eigene Interpretation von dieser) daneben legen und behaupten, beides sei (mehr oder weniger) identisch. Diese Aussage habe ich in den letzten Wochen und Monaten immer wieder in Diskussionen gehört bzw. in unseren internen individuellen Positionierungs-Aufschlägen, die alle KO-Genossen verfassen sollten, gelesen: „Mein Imperialismusverständnis ist das von Lenin und der KKE“, als sei das dasselbe.

Dieses Imperialismus-Bild der KKE bzw. die Interpretation dessen, die bei uns verbreitet ist, sieht grob beschrieben wie folgt aus: Ausgehend von der (natürlich grundsätzlich richtigen Annahme), wonach das Monopol den ökonomischen Kern des Imperialismus ausmacht, meint man, es reiche aus, dass mittlerweile (mit absoluter Wahrscheinlichkeit) in jedem Land der Welt Monopole (ob nationale oder ausländische) existieren, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, jedes Land sei monopolkapitalistisch und damit imperialistisch. Und so gelten sämtliche Staaten der Welt als mehr oder weniger starke imperialistische Mächte innerhalb einer hierarchisch gegliederten „imperialistischen Pyramide“. Kolonien, besetzte Länder oder „failed States“ wie Palästina, die Westsahara oder der Jemen „fallen“ aus dieser Pyramide und damit aus dem Weltsystem einfach „heraus“; davon abgesehen besteht zwischen allen anderen Staaten (z.B. Bangladesh und den USA) nur ein quantitativer, nicht aber mehr ein qualitativer Unterschied (Bangladesh könne also realistisch irgendwann die USA ablösen und an die Spitze der Pyramide treten). Analysen, die davon ausgehen, dass nach wie vor nur eine kleine Anzahl von Staaten imperialistisch ist, während Neokolonialismus bzw. halbkoloniale, unterdrückte, abhängige, rückständige usw. Länder, die nur formal eigenständig sind, weiterhin verbreitet sind, gelten entsprechend nicht nur als nicht (mehr) gültig, sondern vielmehr als Indiz für „(Rechts-)Opportunismus“ und „Revisionismus“.

Bei der Gleichsetzung von dieser Imperialismus-Auffassung und der Analyse Lenins wird nun gerne dessen Imperialismusschrift auf eine verfälschende Kurzdefinition zusammengestaucht: „Imperialismus [ist] das monopolistische Stadium des Kapitalismus“. Leider geht Lenins Satz aber anders:

„Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. (…) Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichen Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen.“[2]

Anschließend listet er seine fünf Merkmale auf. Auch diese werden vom selbsternannten „KKE-Lager“ gerne angeführt, häufig mit dem Hinweis, dass zumindest die letzten zwei gar nicht auf einzelne Länder anzuwenden seien. Schlussfolgerung: Der Begriff „Imperialismus“ bezieht sich auf einen globalen Zustand, auf die Epoche des Kapitalismus nach der freien Konkurrenz und auf das herrschende Weltsystem. Beides ist richtig, aber offenbar eben nur ein Teil der Wahrheit. Denn zumindest diejenigen selbsternannten „KKE-Anhänger“, die der Argumentation der Genossen von der Schwedischen Kommunistischen Partei (SKP) folgen und behaupten, das Adjektiv „imperialistisch“ könne sich gar nicht auf einzelne Länder beziehen, werden schon von Lenin selbst in derselben Schrift widerlegt, denn dort spricht auch er wiederholt von „imperialistischen Ländern“, „Staaten“, „Nationen“ und „Mächten“. Nicht alle aus dem „KKE-Lager“ mögen dieser Behauptung der SKP folgen. (Schließlich gibt es ganz offensichtlich eklatante Unterschiede zwischen den Thesen der Türkischen Kommunistischen Partei (TKP) zum Imperialismus und jenen totalen Relativierungen, die der Genosse Sörensen in unserem Podcast und auf dem Kommunismus-Kongress von sich gegeben hat, auch wenn das „revolutionäre Lager“ in der KO diese Widersprüche klein redet.) Es ist aber interessant, dass diese Vorstellung so unwidersprochen toleriert wird, während die Behauptung, Imperialismus bedeutete auch heute noch, dass es eine „Handvoll besonders reicher und mächtiger Staaten“ gebe, die „die ganze Welt ausplündern“,[3] in der KO so vehement als absurd, „rechtsopportunistisch“ und „revisionistisch“ zurückgewiesen wird.

Das Problem ist, dass insbesondere unsere jüngeren Genossen, die vor der KO kaum oder gar keine politische Erfahrung gemacht und ML-Bildung erhalten haben, selbstverständlich von der bei uns vorherrschenden Vorstellung geprägt sind: KKE-Analyse, „imperialistische Pyramide“, kein „Etappismus“, verschiedene imperialistische Pole etc. Dass all dies in der KO sehr unterschiedlich verstanden, vermittelt und für bare Münze genommen wurde, wissen wir heute. (Ich z.B. fand die Pyramiden-Vorstellung von Anfang an falsch, weil ich die Vorstellung, dass alle Länder mehr oder weniger imperialistisch seien und es nur noch quantitative Unterschiede zwischen den Staaten gäbe, für absurd hielt; dass es Neokolonialismus, Kämpfe um nationale Befreiung und Souveränität noch heute gibt, war für mich selbstverständlich; die These, dass der Imperialismus nicht mit dem Westen gleichzusetzen sei, habe ich so verstanden, dass dies nicht an sich und für immer gültig sei, dass aber der Westen trotzdem nach wie vor die dominierende Macht in der Welt war, war für mich selbstverständlich – hätte mir je jemand das Gefühl gegeben, dass dies anders gemeint sei, hätte ich den Thesen nie zugestimmt, obwohl ich sie immer als Arbeitsthesen, nie als Light-Version eines Programms verstanden habe.) Gerade für die jüngeren Genossen hat das extrem schematische Imperialismus-Bild, das bei uns verbreitet wurde, den vermeintlichen Vorteil, dass es sehr einfach und daher eingängig ist; wer es sich angeeignet hat, konnte sich in trügerischer Selbstsicherheit wiegen, die Welt verstanden zu haben, ohne sich je mit irgendeiner konkreten Frage in Bezug auf einzelne Länder oder Konflikte tatsächlich beschäftigt zu haben. Und mit dieser Schablone im Kopf meint man dann nicht nur, die vermeintlich richtige Strategie für jedes Land benennen zu können, ohne sich mit den dortigen Klassenverhältnissen und Kampfbedingungen konkret auseinandersetzen zu müssen, sondern auch alle anderen als „Revisionisten“ abwatschen zu können.

2. 100 Jahre Imperialismus-Debatte auf den Müll?

Seit Lenins Imperialismusschrift ist vieles geschehen, gerade auch mit Blick auf die Imperialismus-Diskurse in der kommunistischen Bewegung: Für die Jahre zwischen 1916 und 1945 sind insbesondere die Debatten in der Komintern um die Imperialismus- und Kolonialismusfrage zu nennen. Ganze Bücher wurden über diese Diskussionen geschrieben, und trotzdem kann dieses (vergleichsweise eng gefasste) Kapitel nicht als ausführlich erforscht gelten, erst recht nicht aus ML-Perspektive.[4] Als in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Drittel der Weltbevölkerung unter sozialistische Herrschaft geriet, bedeutete das auch, dass in der Phase bis 1990 systematisch nie dagewesene gigantische Ressourcen in die politische wie akademische marxistisch-leninistische Forschung und Debatte investiert werden konnten. Allein eine Auflistung aller Schriften, die in der DDR zum Thema Imperialismus, (Neo-)Kolonialismus und nationale Befreiung verfasst wurden, würde Bände füllen. Sich über die Diskussionen und Erkenntnisse dieser Zeit hinwegzusetzen, wäre absolut ignorant gegenüber unserer eigenen Geschichte und unserer Weltanschauung. Im Folgenden möchte ich hier nur ein paar wenige Schlaglichter auf die Debatten und Positionen in der internationalen kommunistischen Bewegung (IKB) zwischen 1916 und 1990 werfen.

a) Debatten in der Komintern

Die Komintern hat sich, wie gesagt, ausführlich der kolonialen Frage und der antikolonialen Strategie gewidmet und darüber auf jedem Kongress kontrovers diskutiert. Auf dem II. Weltkongress (1920) wurde u.a. beschlossen, dass man sich „nicht auf die bloße Anerkennung oder Proklamierung der Annäherung der Werktätigen verschiedener Nationen beschränken“ dürfe, sondern „eine Politik der Verwirklichung des engsten Bündnisses aller nationalen und kolonialen Freiheitsbewegungen mit Sowjetrussland“ verfolgen müsse, „wobei die Formen dieses Bündnisses von der Entwicklungsstufe der kommunistischen Bewegung unter dem Proletariat jedes Landes oder der revolutionären Freiheitsbewegung in den zurückgebliebenen Ländern und unter den rückständigen Nationalitäten bestimmt werden.“ Weiter unten heißt es: „Die Kommunistische Internationale soll ein zeitweiliges Zusammengehen, ja selbst ein Bündnis mit der [auch bürgerliche Kräfte umfassenden] revolutionären Bewegung der Kolonien und der rückständigen Länder herstellen“, wobei es allerdings „den selbständigen Charakter der proletarischen Bewegung“ aufrecht zu erhalten gelte.[5]

Übrigens wurde damals auch sehr weit- und einsichtig Verständnis für die Ressentiments der unterdrückten Nationen gegenüber den imperialistischen Ländern beschworen:

„Die jahrhundertelang andauernde Knechtung der kolonialen und schwachen Völkerschaften durch die imperialistischen Großmächte hinterließ in den werktätigen Massen der geknechteten Länder nicht nur Gefühle der Erbitterung, sondern auch Gefühle des Misstrauens gegen die unterdrückenden Nationen im allgemeinen, darunter auch gegen das Proletariat dieser Nationen. Der niederträchtige Verrat (…) durch die Mehrheit der offiziellen Führer dieses Proletariats in den Jahren 1914-19 (…) konnte dieses vollständig gerechte Misstrauen nur bestärken. Da dieses Misstrauen und die nationalen Vorurteile erst nach der Vernichtung des Imperialismus in den vorgeschrittenen Ländern und nach der radikalen Umformung der gesamten Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens der rückständigen Länder ausgerottet werden können, so kann die Beseitigung dieser Vorurteile nur sehr langsam vor sich gehen. Daraus ergibt sich für das klassenbewusste kommunistische Proletariat aller Länder die Verpflichtung zu besonderer Vorsicht und besonderer Aufmerksamkeit gegenüber den an sich überlebten nationalen Gefühlen in den lange Zeit geknechteten Ländern und Völkerschaften und zugleich die Verpflichtung, Zugeständnisse zu machen, um dieses Misstrauen und diese Vorurteile desto rascher zu beseitigen.“[6]

Wenn ich in einem internen Diskussionsbeitrag der Fraktion der sog. Minderheit in der KO von „Antiamerikanismus“ und „Salafismus“ lese, habe ich das Gefühl, dass einige Genossen klar hinter diese Erkenntnisse von vor 100 Jahren zurückgefallen sind.

Auf dem IV. Weltkongress (1922) wurde – quasi als Pendant zur proletarischen Einheitsfront in den imperialistischen Metropolen – die „anti-imperialistische Einheitsfront“ als Taktik für die „kolonialen und halbkolonialen Länder“ ausgegeben, die eine „zeitweilige Verständigungen mit der bürgerlichen Demokratie“ mit einschloss.[7] Hierbei wird offensichtlich, dass die Komintern den Begriff des Antiimperialismus nicht einfach als Synonym für Antikapitalismus oder gar Sozialismus/Kommunismus benutzte, sondern den konkreten Kampf gegen die konkrete Herrschaft durch konkrete Imperialisten in Form der konkreten Unterwerfung konkreter Länder meinte.

Auch hier gab die KI einen – für uns noch heute – sehr spannenden Hinweis:

Die Gefahr einer Verständigung zwischen dem bürgerlichen Nationalismus und einer oder mehreren sich einander befehlenden imperialistischen Mächten ist in den halbkolonialen Ländern (China, Persien) oder in den Ländern, die um ihre staatliche Selbständigkeit ringen, infolge der Rivalität der Imperialisten untereinander (Türkei) weitaus größer als in den Kolonien. Ein jedes derartiges Abkommen bedeutet eine recht ungleiche Teilung der Macht zwischen den einheimischen herrschenden Klassen und dem Imperialismus und belässt unter dem Deckmantel einer formalen Selbständigkeit das Land in seiner früheren Lage eines halbkolonialen Pufferstaates im Dienste des Weltimperialismus. Die Arbeiterklasse kann die Zulässigkeit und die Notwendigkeit von teilweisen und zeitweiligen Kompromissen zur Herstellung einer Atempause in dem revolutionären Befreiungskampf für den Imperialismus anerkennen, muss aber mit absoluter Unversöhnlichkeit gegen jeden Versuch einer offenen oder versteckten Teilung der Macht zwischen dem Imperialismus und den einheimischen herrschenden Klassen zur Aufrechterhaltung der Klassenprivilegien der letzteren auftreten.“[8]

In den Debatten der Komintern um die Frage des Imperialismus, Kolonialismus und der nationalen Befreiungsbewegung standen damals besonders Indien und China – ihr Charakter, die dortigen Unabhängigkeitsbewegungen und die Aufgaben der dortigen Kommunisten – im Mittelpunkt, ähnlich wie es bei uns heute Russland und China sind.[9] Auf dem II. KI-Kongress stritt Lenin mit dem indischen KI-Abgeordneten M.N. Roy über die Frage, inwiefern Indien und China als unterdrückt und abhängig bzw. als Kolonie und Halbkolonie zu betrachten seien, und ob die dortigen bürgerlichen Kräfte, die für die nationale Selbständigkeit kämpften, von den Kommunisten unterstützt werden müssten: Roy sprach sich gegen eine Unterstützung aus, weil er die nationalen Bourgeoisien in erster Linie als Feinde betrachtete, Lenin jedoch war dafür und setzte sich damit durch.[10] In Bezug auf China kam es ebenfalls zu vielseitigen Kontroversen: Sie betrafen die Fragen, inwiefern China eine Halbkolonie sei oder nicht, halb-feudal oder nicht, ob die KP ein Bündnis mit der bürgerlichen Guomindang eingehen solle oder nicht und ob die KPCh sich hauptsächlich auf die Arbeiter stützen solle oder nicht. Das folgende Zitat Stalins, das aus dieser Auseinandersetzung stammt, soll nur einmal dazu anregen, sich mit Fragen der Übergangsetappen im Generellen auseinanderzusetzen, da dieses Konzept bei uns in der KO mit der Antimonopolistischen Strategie der DKP (die ich in der Form, wie ich sie bislang verstanden habe, und erst recht in Bezug auf die BRD, tatsächlich für absoluten Quatsch halte) offenbar gänzlich entsorgt wurde:

„Ich glaube, daß die zukünftige revolutionäre Macht in China ihrem Charakter nach im allgemeinen der Macht ähneln wird, von der bei uns [in Russland] im Jahre 1905 die Rede war, das heißt, sie wird eine Art demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft sein, mit dem Unterschied jedoch, daß sie eine vorwiegend antiimperialistische Macht sein wird. Sie wird eine Übergangsmacht sein, die zur nichtkapitalistischen, oder genauer gesagt, zur sozialistischen Entwicklung Chinas hinüberleitet.“[11]

Der VI. Weltkongress der KI (1928) schließlich, (den die Trotzkisten bereits als „außerhalb der wirklich revolutionären kommunistischen Bewegung stehend“ und als „Schauplatz der stalinistischen Konterrevolution“ sehen,) gilt als Höhepunkt der Kolonialdebatte in der Komintern. Die dort verabschiedeten Thesen über die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und Halbkolonien ist das umfassendste Dokument der KI zur Kolonialen Frage. Sie bestätigten eingangs zunächst die Thesen des II. Weltkongresses bestätigt.[12] Weiter hieß es, dass sich bei den revolutionären Bewegung in den kolonialen und halbkolonialen Ländern „um die bürgerlich-demokratische Revolution, d.h. um die Etappe der Vorbereitung der Voraussetzungen für die proletarische Diktatur und die sozialistische Revolution“ handle.[13] Zu den „Grundaufgaben“ gehöre in diesen Ländern an erster Stelle die

„Umgestaltung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Proletariats; Befreiung des Landes vom Joche des Imperialismus (Nationalisierung der ausländischen Konzessionen, Eisenbahnen, Banken und dergI.) und Herstellung der nationalen Einheit des Landes dort, wo diese Einheit noch nicht erreicht worden ist“.[14]

An anderer Stelle heißt es:

„Die internationale Revolution des Proletariats besteht aus einer Reihe ungleichzeitiger Prozesse: rein proletarische Revolutionen; Revolutionen von bürgerlich-demokratischem Typus, die in proletarische Revolutionen umschlagen; nationale Befreiungskriege; koloniale Revolutionen. Erst am Ende seiner Entwicklung führt dieser revolutionäre Prozeß zur Weltdiktatur des Proletariats.
Die in der Epoche des Imperialismus gesteigerte Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus hat eine größere Verschiedenartigkeit seiner Typen, hat Unterschiede im Reifegrad und mannigfaltige, besondere Bedingungen des revolutionären Prozesses in den einzelnen Ländern erzeugt. Eine historisch unbedingt notwendige Folge dieser Umstände sind die Mannigfaltigkeit der Wege und die Unterschiede im Tempo der Machtergreifung des Proletariats wie die Unvermeidlichkeit gewisser Übergangsstadien zur proletarischen Diktatur in einer Reihe von Ländern. Infolgedessen nimmt auch der Aufbau des Sozialismus in einzelnen Ländern verschiedene Formen an.“[15]

Im Folgenden teilt die KI – explizit vereinfacht-schematisch – verschiedene Ländergruppen ein: hochentwickelte kapitalistische Länder (USA, Deutschland, England usw.), „Länder auf mittlerer kapitalistischer Entwicklungsstufe“ (Spanien, Portugal, Polen, Balkan usw.) sowie „koloniale und halbkoloniale Länder (China, Indien usw.) und abhängige Länder (Argentinien, Brasilien usw.)“. Besonders spannend für unsere Debatte heute ist die Tatsache, dass die Komintern nicht nur für die drei letztgenannten Ländertypen (Kolonien, Halbkolonien und abhängige Länder), sondern auch für die „Länder auf mittlerer kapitalistischer Entwicklungsstufe“ die mögliche Notwendigkeit von Übergangsetappen betont.[16]

Wichtig ist hier hervorzuheben, dass einerseits diese Aufgabenstellung und auch der hier von der KI formulierte „Etappismus“ – ein (abwertender) Begriff, den ich übrigens erst in der KO kennengelernt habe – nicht dogmatisch oder schematisch anzuwenden ist – denn bis „zu welchem Grade die bürgerlich-demokratische Revolution praktisch imstande sein wird, alle ihre Grundaufgaben durchzuführen, und welcher Teil dieser Aufgaben erst von der sozialistischen Revolution verwirklicht werden wird“ werde vom konkreten Verlauf der Kämpfe und der Kräfteverhältnisse, die sich in ihnen entwickelten, abhängen[17] –, sie andererseits aber eben doch genauso charakterisiert und benannt werden, und dabei nicht beliebig sind, sondern der damals gängigen Analyse der IKB entsprangen. Also auch hier noch einmal der dringende Appell, Etappen-Konzepte nicht einfach als „revisionistisch“ zu verwerfen, wie es viel zu lange viel zu leichtfertig bei uns praktiziert oder zumindest toleriert wurde.

b) Diskurse im Realsozialismus

Werfen wir nun einen Blick auf die Imperialismus-Diskurse in der DDR: In Grundlagen des Marxismus-Leninismus wird zunächst Lenins Imperialismusschrift zitiert: „Einzig und allein der Kolonialbesitz bietet volle Gewähr für den Erfolg der Monopole“, um dann zu ergänzen:

„Für den Imperialismus sind nicht nur die beiden Hauptgruppen von Ländern, die Kolonialmächte und die Kolonien, typisch, sondern auch die abhängigen Länder, die formal politisch selbstständig, im Grunde genommen jedoch in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeiten verstrickt sind. Ohne formal-juristisch auch nur eine einzige bedeutende Kolonie zu besitzen, sind heute die USA faktisch die größte Kolonialmacht.“[18]

Denn anders als in Teilen der KO ging man in den sozialistischen Ländern und der IKB in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht davon aus, dass unterdrückte und abhängige Länder mit dem Zerfall des klassischen Kolonialsystems einfach verschwänden. Vielmehr war das Konzept des Neokolonialismus ganz selbstverständlich anerkannt. So heißt es unter eben diesem Stichwort im Wörterbuch der Geschichte, er sei ein „internationales imperialistisches System der kolonialen Ausbeutung und politischen Bevormundung der Entwicklungsländer Asiens Afrikas und Lateinamerikas.“ Der Kapitalismus setze „den Kolonialismus mit veränderten ökonomischen, politischen, ideologischen und militärischen Methoden und Formen (…) fort.“ Er bilde eine „ständige Gefahrenquelle sowohl für die Souveränität und den gesellschaftlichen Fortschritt in den jungen Nationalstaaten als auch für die Erhaltung des Weltfriedens.“[19]

Dass der Imperialismus eben nicht einfach nur als Epoche oder als allumfassendes Wirtschaftssystem verstanden wurde, sondern vor allem (auch) als ein globales System der (Vor-)Herrschaft, der man quantitativ politische und ökonomische Souveränität entgegensetzen konnte, machen folgende Zitate deutlich:

„Im Ergebnis des zweiten Weltkrieges und des nationalen Befreiungskampfes der Völker bildete sich eine ausgedehnte Zone national befreiter Staaten, junger sich entwickelnder Länder heraus, die sich aus der politischen Abhängigkeit befreit haben. Infolge des Zusammenbruchs des Kolonialsystems konnten 1,6 Milliarden Menschen (…) der Sphäre der ungeteilten Herrschaft des Imperialismus entkommen.“[20]

Und:

„Aus dem zerfallenden Kolonialsystem bildeten sich bisher folgende hauptsächlichen Ländergruppen:

1. Länder, die das Joch des Imperialismus abgeschüttelt haben und zum sozialistischen Aufbau übergegangen sind. (…)
2. Länder, die ihre politische Unabhängigkeit erkämpft haben und eine selbstständige Außenpolitik betreiben. Diese Länder haben sich von der imperialistischen Unterdrückung befreit, sie sind aber innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems verblieben (…)“.[21]

Und:

„Selbst die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in den befreiten Ländern, solange sie nicht das monopolistische Stadium erreicht haben, … dient nicht zwangsläufig der Sicherung der Positionen des ImperialismusAuf jeden Fall (…) sind die vom Kolonialismus befreiten Länder ein realer Herd des Kampfes gegen den Imperialismus, auch wenn sie durch tausende Fäden – wirtschaftliche, politische, finanzielle und kommerzielle – an die kapitalistische Welt gebunden sind und von ihr abhängen.“[22]

Der Verweis auf das monopolistische Stadium im letzten Zitat zeigt einerseits, dass damals durchaus mit demselben Rüstzeug marxistisch-leninistischer Grundlagen an die Analyse herangegangen wurde, wie bei uns heute (hier konkret: das Monopol als Kern des Imperialismus); andererseits zeigt es doch, dass die Realität konkret offenbar sehr anders bewertet wurde, denn auch in den 1980er Jahren existierten sicherlich bereits indische, ägyptische, südkoreanische oder brasilianische Monopole und von einem dominierenden „freien Markt“ war auch in diesen Ländern wohl nicht mehr viel übrig. Trotzdem wurden sie nicht als imperialistische Mächte betrachtet. Auch eindeutig kapitalistische und pro-westliche Staaten wurden nicht als imperialistisch bezeichnet: die Golfmonarchien etwa galten als „pro-imperialistisch“, beispielsweise das Sadat-Regime in Ägypten wurde auch als „neokompradorisch“[23] bezeichnet; ebenso wenig sprach man in Bezug auf Territorialkonflikte zwischen Entwicklungsländern wie Marokko (mit Blick auf die Westsahara), Pakistan (mit Blick auf Bangladesh) oder dem Irak (bezüglich Iran) von imperialistischen Kriegen oder Aggressionen. Im Gegenteil: Die seit 1961 bestehende und insgesamt über 100 Staaten umfassende Bewegung der Blockfreien[24] galten als

„ein wesentlicher außenpolitischer Ausdruck der nationalen Befreiungsbewegung und die entscheidende außenpolitische Plattform einer Vielzahl von Entwicklungsländern; sie ist in ihrer Grundrichtung objektiv antiimperialistisch orientiert und verfolgt allgemeindemokratische Aufgaben. (…) Die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft gehen davon aus, daß die Festigung der nationalen Souveränität der nichtpaktgebundenen Länder im untrennbaren Zusammenhang mit der Sicherung des Weltfriedens steht.“[25]

Es geht hier weder um sozialistische, noch um in ihrer Gesamtheit anti-westliche, geschweige denn pro-sowjetische Staaten, auch wenn die Blockfreien in ihrer Gesamtheit dem sozialistischen Lager tendenziell sehr viel näher standen, als dem imperialistischen Lager. Nicht nur weil einige dieser Staaten damals bei den Blockfreien mit dabei waren, sondern auch weil sie mehr oder weniger als Nachfolge-Bündnisse gelten, drängt sich ein Vergleich etwa mit dem ALBA-Bündnis oder den BRICS-Staaten auf, die beide von der KKE in der Vergangenheit als „imperialistische Pole“ bezeichnet wurden.[26] Während also die UdSSR, die DDR und Co. die Blockfreien als in der Tendenz „objektiv antiimperialistisch orientiert“ betrachtet hat, hat die KKE – zumindest in der Vergangenheit – ein vom sozialistischen Kuba gemeinsam mit dem links regierten Venezuela zwecks stärkerer ökonomischer Unabhängigkeit vom US-Imperialismus ins Leben gerufenes Kooperationsbündnis zwischen lateinamerikanischen Ländern als imperialistisch bezeichnet. Mittlerweile mag sie von dieser Position abgegangen sein – zumindest wurde mir das berichtet –, doch liegt darin eine gewisse Stringenz, wenn man konsequent die Welt schwarz-weiß in sozialistisch und imperialistisch einteilt.

Der antiimperialistische Kampf, wie er – anders als in Teilen der KO und möglicherweise auch von der KKE – traditionell in der IKB verstanden wurde, bezog sich, wie wir weiter oben in Bezug auf die Komintern schon gesehen haben, in erster Linie auf den Kampf der nationalen Befreiungsbewegungen. Darunter wurden jene Kräfte verstanden, die „für staatliche Selbstständigkeit, politische und ökonomische Unabhängigkeit vom Imperialismus und [für die] Überwindung der gesellschaftlichen Rückständigkeit“ kämpfen, was explizit auch bürgerliche Kräfte mit einbezog und sich nicht nur auf die Zeit vor der politischen Unabhängigkeit bezog, sondern – im Kampf gegen den Imperialismus und Neokolonialismus – auch darüber hinaus.[27] Neben dem Realsozialismus und der IKB wurde die nationale Befreiungsbewegung zudem zu den „revolutionären Hauptströmungen der Gegenwart“ gezählt.[28] Diese Bezeichnung mag erst in den 1960er oder 70er Jahren aufgekommen sein, sie ist jedoch keineswegs eine Erfindung der Breschnew- oder Chruschtschow-Zeit, sondern beruft sich zumindest auf Gedanken Lenins aus dem Jahr 1916[29] sowie auf die Komintern.[30]

Abschließend will ich noch einmal auf die Etappen-Strategien zurückkommen: Ein zentrales Konzept der sozialistischen Staaten für die sog. Entwicklungsländer war der sog. Nichtkapitalistische Entwicklungsweg.[31] Nach meinem Eindruck haben selbst belesenere Genossen bei uns bislang kaum je davon gehört, geschweige denn sich damit auseinandergesetzt. Dabei gibt es allein aus der DDR zahllose Bücher und Aufsätze zu diesem Thema und das Konzept ist zentral für die Debatten der 1960er bis 80er Jahre um Antiimperialismus, nationale Befreiung und den Übergang zum Sozialismus in unterentwickelten und abhängigen Ländern. Zwar hat Thanasis mal in einem öffentlichen Diskussionsbeitrag mit Blick auf die sog. Volksdemokratien in Europa festgestellt, dass diese nur unter der Bedingung der Besetzung durch die Rote Armee erfolgreich zum Sozialismus voranschreiten konnten.[32] Allerdings könnte doch gerade das Beispiel Kuba – das vielleicht letzte noch sozialistische Land auf Erden – ein Beispiel dafür sein, wie eine national-demokratische und antiimperialistische Volksrevolution in einem halbkolonialen Land, die (anders als in China oder Vietnam) nicht unter Führung einer KP stand, einen erfolgreichen Übergang zum Sozialismus erreicht hat.

c) Diskurse nach 1990

Die oben skizzierten Vorstellungen gingen weder mit dem Realsozialismus unter, noch verblieben sie nur innerhalb der Köpfe und Reihen von ehemals „moskau-treuen“ Parteien, die dem Verdacht des „Rechtsopportunismus“ unterliegen. Um das zu unterstreichen, ziehe ich im Folgenden als Beispiele bewusst keine Schriften aus der DKP heran, sondern drei Bücher von offen-siv sowie ein Artikel des Vorsitzenden der Partei der Arbeit (PdA) Österreichs.

Harpal Brar spricht in seinem von offen-siv mitherausgegebenen Werk Imperialismus im 21. Jahrhundert (1999) eindeutig von „imperialistischen Ländern“ (USA, Kanada, BRD, Großbritannien, Frankreich Japan, aber auch Schweden) auf der einen und „unterdrückten Ländern“ bzw. der Dritten Welt (wozu er sowohl Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa im Allgemeinen zählt, als auch etwa Indien ganz konkret[33]) auf der anderen Seite. Irland, Spanien, Portugal, Griechenland und die Türkei werden als kapitalistische, nicht aber als imperialistische Länder bezeichnet und in die Nähe von Brasilien, Venezuela und Chile gerückt; Russland wird für die Zeit der 1990er mit Blick auf die durchschnittliche Lebenserwartung mit Ägypten und Bangladesh verglichen.[34] Brar betont, dass die Spaltung in „ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten“, wie Lenin es ausdrückte, weiter zunehme: „Die Kluft, die die Reichen von den Armen sowohl innerhalb eines Landes als auch zwischen verschiedenen Ländern trennt, wird mit jedem Jahr größer.“[35]

In dem Protokollband Imperialismus und anti-imperialistische Kämpfe im 21. Jahrhundert (2000), der noch auf dem Kommunismus-Kongress verkauft wurde, können wir u.a. die folgende, unwidersprochen gebliebene Aussage lesen: „Polen ist in einen halbkolonialen, abhängigen Staat verwandelt worden“.[36]

Eine Vertreterin der KKE berichtet in diesem Band über den Aufbau einer „antiimperialistischen, antimonopolistischen und demokratischen Front in Griechenland“: Dort heißt es u.a.:

„Griechenland hat immer noch die Voraussetzungen dafür, eine eigenständige Volkswirtschaft zu bilden und zu entwicklen, obwohl das Großkapital und die internationalen Konzerne es jahrelang beraubt haben. (…) [Die Front] fordert internationale ökonomische Beziehungen, bilateral, multilateral, regional mit europäischen Ländern, mit mediterranen Ländern, aber auch weiteren auf der Welt, auf der Basis des gegenteiligen Vorteils.“[37]

Wohlgemerkt: Wenn ich sie richtig verstehe, redet sie hier nicht über die Zeit nach der sozialistischen Revolution, sondern davor. In Bezug auf die bürgerlichen Parteien heißt es: „Die KKE schätzt ein, dass es also noch keine Möglichkeit gibt zu einer politischen Übereinstimmung für den Aufbau der Front mit den anderen Parteien.“[38] Ein breites antiimperialistisches Bündnis unter Einbeziehung bürgerlicher Parteien wird also für ein Land wie Griechenland nicht prinzipiell ausgeschlossen. Das liegt offenbar nicht daran, dass die KKE zu dem Zeitpunkt an einem reformistischen Kurs festhielt, denn abschließend wird festgehalten:

„Es gibt einen internen ideologische Streit in der [kommunistischen] Bewegung zwischen opportunistisch-reformistischen und revolutionär-kommunistischen Kräften. (…) Bewiesen ist, dass die Theorien des sogenannten demokratischen Weges zum Sozialismus (…) schädlich gewesen sind“.[39]

In dem Sonderheft von offen-siv und der Kommunistischen Initiative zum Thema Antiimperialistischer Widerstand (2012) wird u.a. folgendes festgestellt:

„Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus zeichnet sich auch und vor allem dadurch aus, dass er alle nichtkapitalistischen und vorbürgerlichen, wie nicht gänzlich durchkapitalisierten Länder und Staaten unter seine allseitige politische, ökonomische und ideologische Herrschaft zu zwingen versucht, die alten ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, sozialen und religiösen Strukturen dabei zerstören und durch die Hegemonie des imperialistischen und bürgerlichen Überbaus ersetzen muss. (…)

Der Antagonismus zwischen Imperialismus und jenen Länder und Staaten, deren Strukturen und Lebensweisen mit Gewalt zerstört werden soll, ist also ein quasi automatisch sich vollziehender Prozess überall dort in der Welt, wo der Imperialismus tätig ist und mit extremistischer Energie die „alte Welt“ zerstört.

Die Frage des Bündnisses der anti-imperialistischen Kräfte der Metropolen, wie der Linken mit allen Kräften, die sich gegen die Angriffe die imperialistischen Mächte wehren, stellt sich also sozusagen automatisch, die Bündnispartner, die sich den Anti-Imperialisten in den imperialistischen Metropolen anbieten sind zu einem objektiven Faktor geworden“.[40]

Hier wird also 1. die Position vertreten, dass offenbar noch immer eine signifikante Zahl von Ländern nicht vollständig „durchkapitalisiert“ ist und 2., dass es Subjekte gibt, die objektiv antiimperialistisch sind, und dies – noch heute, nicht nur im vergangenen Zeitalter des Kolonialismus – nicht ausschließlich die Arbeiter eines jeden Landes seien, sondern alle Klassen, inklusive der Bourgeoisie, die dem Imperialismus zum Opfer fallen. Daraus werden „strategische und taktische Schlussfolgerungen“ für den antiimperialistischen Kampf gezogen:

„Weltweite anti-imperialistische Bündnispolitik kann nicht auf Basis ideologischer, politischer und klassenmäßiger Vereinheitlichung betrieben werden, ansonsten ist es keine Bündnispolitik: Bündnisse schließt man bekanntlich nicht mit sich selbst, sondern auch, wenn es notwendig ist, mit dem Klassenfeind: zum Beispiel im antifaschistischen Kampf. Wie unehrlich manche Linke sind in der Frage der anti-imperialistischen Bündnisse, zeigt sich auffallend stringent in der Frage des anti-faschistischen Kampfes: welcher Linke würde es wagen, ein anti-faschistisches Bündnis mit dem Klassengegner auszuschließen, (außer Trotzkisten, was tief blicken lässt hinsichtlich des konterrevolutionären Charakters dieser scheinbaren Linksradikalen), im anti-imperialistischen Kampf aber ist man nur mit einem „politisch korrekten“ Partner einverstanden.“[41]

Die KKE kommt auch in diesem Buch zu Wort, und zwar in Form der Thesen des ZK zum 17. Parteitag von 2005. Zwar bleibt die KKE leider auch hier schon allgemeiner in ihre Formulierungen, als es der oben zitierte Autor tut, insbesondere was den antiimperialistischen Kampf angeht; außerdem spricht sie bereits von einer „imperialistischen Pyramide“ und sieht Russland offenbar schon als einen imperialistischen Konkurrenten des Westens. Trotzdem zeichnen folgende Passagen weder das Bild einer multipolaren Welt verschiedenster imperialistischer Player, noch das eines „Kochtopfs“, in dem lauter verschiedengroßer imperialistischer „Kartoffeln“[42] schwimmen:

„Über eine Milliarde Menschen, das sind 21% der Weltbevölkerung, hatten im Jahre 2001 zum Leben weniger als 1 Dollar pro Tag. Über 50% der Weltbevölkerung hatten weniger als 2 Dollar pro Tag. Das Einkommen der 20% reichsten Geschäftsleute der Welt wuchs mit Rekordgeschwindigkeit, während das Einkommen von 50% der Weltbevölkerung zurückging. Das Einkommen von 1% der Weltbevölkerung oder 50 Millionen Menschen ist gleich groß wie das Einkommen von 2,7 Milliarden der ärmsten Menschen auf dem Planeten. Die Weltbank veröffentlichte Schätzungen, dass „sich selbst in Regionen, die sich in schnellem Tempo entwickeln, die Lebensqualität für die Armen nicht verändert hat, und zwar infolge des Mangels an ausreichenden sozialen Aufwendungen.

Das Umweltproblem, eine weitere schwerwiegende Folge der Politik des Monopolprofits und der imperialistischen Aggression im allgemeinen, hat sich erheblich verschlimmert. (…) Die Verlagerung vieler Umwelt verschmutzender Industrien in die Länder Süd- und Ostasiens und die Schaffung neuer Industrien in diesen Gebieten haben eine gewaltige braune Wolke von Kohlendioxyd, Ozon, Stickoxyden etc. erzeugt. Jedes Jahr werden weltweit 500 Millionen Tonnen Giftmüll produziert, während 500.000 Tonnen als gefährlich zurückgerufene Pestizide in Ländern der so genannten Dritten Welt abgesetzt wurden.“[43]

Angesichts der Diskussionen der letzten Monate bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob manche Genossen in der KO überhaupt noch von einer „Dritten Welt“ sprechen würden.

Wie gesagt bleibt der KKE-Text unkonkret, was den antiimperialistischen Kampf angeht. Allerdings fällt folgende Aussage:

„Objektiv ist der anti-imperialistische und anti-monopolistische Kampf zu einem festen Bestandteil des Kampfes für die Überwindung des Kapitalismus geworden. Dieser Kampf bringt schon aufgrund seiner Natur Brüche mit sich, welche die Grundlagen der kapitalistischen Herrschaft untergraben. Er schafft die Voraussetzungen für die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten.“[44]

Das liest sich für mich überhaupt nicht so, dass der antiimperialistische nur der Kampf gegen den Imperialismus „an sich“, also zugleich immer auch bzw. nur gegen den Kapitalismus sein könne, wie es manche Genossen bei uns behaupten und wie sie die entsprechende Aussage in unseren Programmatischen Thesen verstehen – im Gegenteil: Ich lese diese Aussage so, dass der konkrete Kampf gegen imperialistische Vorherrschaft zugleich objektiv ein Teil des Kampfes zur Überwindung des Kapitalismus ist, so wie es auch oben in den Zitaten der Komintern zu lesen ist, und was auch der Formel entspricht, wonach die nationalen Befreiungsbewegungen eine der Hauptströme des revolutionären Weltprozesses geworden seien.

Insgesamt wirkt der KKE-Text recht widersprüchlich auf mich: Möglicherweise lese ich auch mehr hinein, als da ist, aber mir scheint er als das Produkt einer Art „Übergangsetappe“, in der sich das Imperialismus-Konzept der KKE damals befand, auf halben Weg zwischen der „klassischen“ Imperialismus-Analyse der IKB und der KKE-Vorstellung, die wir heute kennen bzw. zu kennen meinen. Interessanter Weise arbeitet die KKE sich in dem Text aber überhaupt nicht an Vorstellungen über „objektiv antiimperialistische“ Kräfte o.ä. ab. Ihre Kritik bezieht sich stattdessen auf Konzepte, die in den frühen 2000er Jahren neu und angesagt waren, wie der „Globalisierung“ einerseits und dem „Empire“ andererseits.

Im vierten und letzten Beispiel hält der PdA-Vorsitzende in einem Artikel von 2015 anlässlich der damals vom IS in Paris verübten Anschläge folgendes fest: »Wer den IS effektiv bekämpfen (…) will, der wird das – ob es einem nun gefällt oder nicht – gemeinsam mit Russland, dem Iran und der Assad-Regierung tun müssen.« Und weiter:

»Es sind der nordamerikanische und europäische Imperialismus und Neokolonialismus gegenüber den Ländern in Asien und Afrika sowie ihre verheerenden gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kriegerischen Folgen, die es radikalen islamistischen Gruppierungen erleichtern, dort eine fehlgeleitete Anhängerschaft zu rekrutieren.«[45]

Der PdA-Vorsitzende spricht hier nicht nur eindeutig von (westlichem) Neokolonialismus, er begibt sich auch auf das »schmutzige« Feld der geostrategischen sowie den Frieden und die nationale Souveränität sichernden Realpolitik, auf das sich das »revolutionäre Lager« in der KO nicht einlassen will, indem er von der Notwendigkeit spricht, auf die bürgerlichen Regime Russlands, Irans und Syriens zu bauen, um den IS in der Region zu besiegen. Kein Wort fällt dabei über einen (vermeintlichen) „russischen“ oder gar „iranischen Imperialismus“.

3. Alles Revisionismus?

Ich habe genau diesen Vorwurf, dass das selbsternannte „revolutionäre“ Lager 100 Jahre Imperialisanalyse, -forschung und -debatte ignorieren würde – natürlich sehr viel weniger ausführlich – auch bei unserem letzten KO-Regionaltreffen erhoben. Besonders kritisiert habe ich dabei den Genossen Thanasis Spanidis, weil ich davon ausgehe, dass er sich bei seinem breiten Wissen um die Geschichte der kommunistische Bewegung selbstverständlich darüber im Klaren ist, dass die KKE eine sehr abseitige Position und eine „Weiterentwicklung“ der Leninschen Imperialismustheorie vertritt, und dass es absolut notwendig ist, sich darüber im Klaren zu sein, wenn man eine (in der eigenen (Ideologie-)Geschichte) fundierte Debatte um das Thema Imperialismus führen will. Dass er und andere, die es ebenso gut wissen dürften, es aber ebenfalls verschweigen, darüber kein Wort verlieren, kann meiner Ansicht nach nur daran liegen, dass sie die (vor allem unerfahreneren) Anhänger ihres Lagers in der KO nicht verunsichern wollen – denn Verunsicherung könnte zu Selbstkritik und Selbstkritik zur Einsicht in die Notwendigkeit der Klärung führen.

Thanasis hat meinen Vorwurf (selbstverständlich) zurückgewiesen, allerdings mit einem – je nach Interpretation – sehr schwachen oder aber sehr krassen Argument: Man dürfe schließlich nicht vergessen, dass der Revisionismus in der Sowjetunion (und der DDR und dem gesamten sozialistischen Lager) ein enormes Problem gewesen sei. Diese Aussage ist natürlich so wahr, wie sie allgemein ist. Was meint der Genosse aber damit? Entweder er will sagen, dass in diesem 100-jährigen Diskurs um den Imperialismus auch revisionistische Elemente enthalten waren. Dann müsste man diese aber konkret herausarbeiten und belegen, und dafür braucht es zunächst einmal überhaupt eine tiefergehende Beschäftigung mit den konkreten Analyse- und Strategie-Konzepten. Ein allgemeiner Hinweis auf das (vermutete) Vorhandensein revisionistischer Auffassungen in den „traditionellen“ Imperialismusanalysen ist jedenfalls ein extrem schlechtes Argument. Oder aber – und das will ich ihm nicht unterstellen, aber seine Argumentation lässt auch diese Interpretation zu – er hält die Politik, die gesamte ideologische Entwicklung und die gesamte Forschung ab 1956 für mehr oder weniger vom Revisionismus verdorben und daher unbrauchbar. Dabei ist doch aber ein wesentlicher Unterschied zwischen den Maoisten/Hoxhaisten und uns als Marxisten-Leninisten der, dass wir die Zeit des Realsozialismus nicht in die perfekte Zeit vor ’56 und die durch und durch „revisionistische Ära“ nach ’56 einteilen. Im Gegenteil: Wir haben uns doch gerade auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der UdSSR und der DDR zur Aufgabe gemacht, die die widersprüchlichen, umkämpften und keineswegs linearen Entwicklungen in den Ländern des Sozialismus nach und nach herausarbeitet. Das ist bisher nicht passiert. Die Disqualifizierung der gesamten Imperialismus-Debatte nach 1956 als unbrauchbar oder „verdächtig“ ist bzw. wäre das genaue Gegenteil von dieser Beschäftigung – und damit das Abschließen mit einem weiteren zentralen Kapitel unseres Klärungsvorhabens, noch bevor es überhaupt wirklich begonnen wurde. Hinzu kommt, dass, wie oben dargelegt, gerade auch die Analyse und Strategie der Komintern, also vor 1956, eine wesentlich andere war, als die, die Thanasis und Co. vertreten. Auch diese wird ausgeblendet. Mit anderen Worten: der gesamte Diskurs der IKB seit 1916 (darunter 75 Jahre Realsozialismus) werden ignoriert.

Übrigens zeigt auch ein Blick auf den maoistischen/hoxhaistischen Teil der IKB, dass die Auffassungen, wonach ein Großteil der im Zuge des Zerfalls des Kolonialsystems formal unabhängig gewordenen Länder in Wahrheit Neo- und Halbkolonien bzw. unterdrückte Länder seien, nicht einfach auf den Chruschtschowschen Revisionismus in der UdSSR nach 1956 zurückgeführt werden kann. Als jemand, der während seiner Politisierung von der MLKP geprägt war, möchte ich hierzu einmal folgende Aussage aus ihrem 2019 beschlossenen Programm zitieren:

„20. Im Zeitalter des Imperialismus verschärften sich die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten und den Gruppen des Finanzkapitals, die Widersprüche zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen den Imperialisten und den unterdrückten Völkern und Nationen der kolonialen und abhängigen Länder weltweit, in erster Linie aber in den entwickelten kapitalistischen Ländern. (…)
21. Heute, da die vollständige Kontrolle über Produktion, Handel und Kapitalexport der internationalen Monopole und der Größten unter diesen, also der Weltmonopole, auf dem integrierten Weltmarkt charakteristisch geworden ist, da auch der Produktionsprozess globalisiert ist, da das spekulative Kapital die Vormachtstellung innerhalb der gesamten Kapitalbewegung gewonnen hat, da die internationalen Monopole und die imperialistischen Staaten in einen gewalttätigen Konkurrenzkampf um den Weltmarkt eingetreten sind und auf Grundlage dieser Konkurrenz einen Kampf um die Neuaufteilung der Welt begonnen haben, da der Neokolonialismus in eine noch unterdrückendere Form der Knechtschaft, den finanz-ökonomischen Kolonialismus, umgewandelt worden ist, ist der Weltkapitalismus mit seinen spezifischen Besonderheiten in das Stadium der Imperialistischen Globalisierung, ein Stadium innerhalb des Imperialismus, eingetreten.“[46]

Zwar spricht die MLKP in ihrem Programm von China und Russland als imperialistischen Mächten, trotzdem ist die Existenz von Halb- und Neokolonien sowie die Notwendigkeit von antiimperialistischen und demokratischen Revolutionen zentral für ihre Analyse der Welt an der Schwelle zum dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Die Türkei, die in unseren Reihen von einigen als mittlere imperialistische Macht eingeschätzt werden dürfte, ist für die MLKP, wie auch für meines Wissens nach die allermeisten anderen maoistischen bzw. hoxhaistischen türkischen Parteien, eine Halbkolonie bzw. eine „finanz-ökonomische Kolonie des Imperialismus“ und „ein kapitalistisches Land mittlerer Entwicklung, in dem die Oligarchie des Kapitals regiert“.[47] Dass die MLKP von der „imperialistischen Globalisierung“ als einem neuen „Stadium innerhalb des Imperialismus“ spricht, war dagegen auch für mich neu (bzw. habe ich das früher eventuell einfach überlesen). Ich nehme das als einen Hinweis darauf, dass das Konzept des „Globalismus“, von dem wir vor allem bei der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) gelesen haben, eben nicht nur unter Parteien verbreitet ist, die des „Rechtsopportunismus“ bezichtigt werden, sondern offenbar auch auf der „linksradikalen“ Seite – für manche mag das noch abschreckender wirken, für mich ist es ein Ansporn, mich mit diesem Konzept mehr zu beschäftigen.

4. Links(radikal) blinken, rechts(opportunistisch) abbiegen

Abschließend möchte ich einmal dazu auffordern, sich konkret mit linksradikalen und linksopportunistische Fallstricken auf Seiten des „revolutionären Lagers“ auseinanderzusetzen: Das Anti-Klärungs-Lager hat in seinem Kampfmodus harte verbale und metaphorische Bandagen ausgepackt: neben dem Gerede über „Liquidatoren“, „Kadavergehorsam“ und „kastrierte Klärung“ wurden besonders gerne die Label „Rechtsopportunismus“ und „Revisionismus“ verteilt. Die Gefahr, dass diejenigen Teile der KO, die das russische Vorgehen in der Ukraine für richtig halten oder zumindest offen für dahingehende Argumente sind, über den rechtsopportunistischen Fallstrick in den Revisionismus hinein stolpern, ist also seit längerem – wenn auch auf sehr unsachliche, unsolidarische Art – in unsere Diskussion eingebracht worden und sehr präsent. Abgesehen von einzelnen Verweisen, dass das „revolutionäre Lager“ in der Beurteilung Russlands und des Ukraine-Kriegs seinerseits zahlreiche inhaltliche Schnittmengen mit Trotzkisten und Maoisten aufweist, wurde die Gefahr umgekehrt bislang kaum aufgemacht.

Ich habe in der Tat den Eindruck, dass sich manche Genossen angesichts der Tatsache, dass so lauthals von einem „rechten“ Lager einerseits und einem „revolutionären“ oder „linken“ Lager andererseits die Rede ist, auf der scheinbar sicheren Seite wähnen, solange sie nicht Gefahr laufen, in die „rechte Falle“ zu tappen, nach dem Motto: lieber ein bisschen zu links als ein bisschen zu rechts. Ganz abgesehen davon, dass ich grundsätzlich die Gefahr auf der linken Seite deshalb höher einschätze, weil der Fallstrick des linksradikalen oder linksopportunistischen Revisionismus offenbar überhaupt nicht gesehen wird, ist dieses ganze Links-Rechts-Gerede grundsätzlich ziemlicher Quatsch, und das nicht nur, weil diese Einteilung in der aktuellen Debatte in der KO nichts anderes als billige Polemik ist. Sondern auch deshalb, weil falsch immer falsch ist, egal ob man nun „links-falsch“ oder „rechts-falsch“ liegt. Überhaupt macht die Übernahme des bürgerlichen (und ziemlich eurozentrischen[48]) Links-Rechts-Schemas grundsätzlich nur sehr bedingt Sinn. Das merkt man schon allein daran, dass historisch gesehen Linksabweichler am Ende fast immer im bürgerlichen Lager landeten, also rechts von den Kommunisten (wobei sich natürlich auch immer die Frage stellt, was man überhaupt konkret unter dem Etikett „links“ versteht): Anarchisten, Trotzkisten, Maoisten gerieten alle über den linksradikalen Kurs objektiv ins opportunistische, konterrevolutionäre und pro-imperialistische Lager. Nicht umsonst schätzten die Kommunisten den Linksradikalismus stets als „kleinbürgerliche Strömung“ ein.

Ich will aber nicht bei diesen allgemeinen Verweisen stehen bleiben; und auch nicht bei dem Hinweis, dass das „revolutionäre Lager“ in der KO in der Tat nicht den Positionen bezüglich Russland und der Ukraine nach derzeit den allermeisten Trotzkisten und Maoisten näher steht als z.B. der DKP (was ja für sich genommen noch kein Argument für gar nichts ist). Vielmehr sollen drei konkrete Beispiele zeigen, wie gerade mit Blick auf die Kolonialismus- und Imperialismusfrage (scheinbar) von „Links“ chauvinistische Positionen bezogen werden.

1. Zwischen 1903 und 1918 fand eine Debatte zwischen Lenin und Luxemburg über die nationale Frage statt.[49] Lenin vertrat das unveräußerliche Recht der Nationen auf Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung und Unabhängigkeit – Luxemburg hielt das dagegen für eine „metaphysische Phrase“.[50] Für sie war die Zeit der nationalen Befreiungskämpfe abgeschlossen; die sozialistischen Arbeiterrevolutionen standen auf der Tagesordnung und nichts durfte von ihnen ablenken. Was Luxemburg da tat, war, wie Lenin ganz richtig kritisierte, mit linken Phrasen dem Chauvinismus und letztlich dem Kolonialismus und Imperialismus den Rücken freihalten. Für diesen „Antinationalismus“ wird sie noch heute von entsprechenden Kreisen gefeiert.[51] Und doch sollte jedem, der davon liest, die Parallele zu Positionen, die in der KO verbreitet sind, sofort ins Auge springen. Man mag nun einwenden, dass sie damals konkret Unrecht hatte, jetzt, 100 Jahre später aber alles anders sei, weil wirklich überall auf der Welt politisch unabhängige Nationalstaaten existieren. Aber genau über die Frage des Neokolonialismus, der nationalen Unterdrückung und der Abhängigkeit besteht ja ganz offensichtlich Unklarheit bei uns.

2. In einer – durchaus sehr lesenswerten – Arbeit über die sudanesische Arbeiterbewegung argumentiert Thomas Schmidinger, dass die KP des Sudan in ihrer Geschichte deshalb vergleichsweise erfolgreich gewesen sei, weil sie im Gegensatz zu den Kommunisten etwa im Irak, in Syrien und im Jemen den Klassenkampf im Sinne des Kampfes gegen die eigene sudanesische Bourgeoisie an die Spitze gestellt habe, während die Geschichte der anderen Parteien zeige, dass „die einseitige Fokussierung auf „nationale Befreiung“ und die in diesem Zusammenhang eingegangenen Bündnisse mit Strömungen der „nationalen Bourgeoisie““ zu deren Scheitern beigetragen habe.[52] Als ich das Buch vor einem Jahr gelesen habe, hatte ich in gewisser Weise eine „KO-Brille“ auf und habe es sehr positiv aufgenommen. Mehr irritiert als gestört hat mich dabei die Aussage des Autors, dass seine Arbeit „u.a. auch als Kritik [der] leninschen Imperialismustheorie zu verstehen“ sei.[53] Heute gibt mir die Parallele zwischen dem bisherigen (Anti-)Imperialismus-Diskurs innerhalb der KO und der Position des Soft-Antideutschen und Jungle World-Autors Schmidinger durchaus mehr zu denken, auch wenn sie vielleicht nur oberflächlich sein mag.

3. Ein letztes Beispiel ist mir in einem – gerade vor dem Hintergrund unserer derzeitigen Diskussionen ebenfalls sehr spannenden – Buch von Domenico Losurdo begegnet. Zur Einordnung: Losurdo war ein italienischer kommunistischer Philosoph, den das „revolutionäre Lager“ in der KO mit ziemlicher Sicherheit als „Rechtsopportunisten“ abstempeln würde. In der Tat vertrat er einige Positionen, die ich nicht teilen würde (etwa in Bezug auf die VR China), und sein Werk auf Fallstricke des Revisionismus zu untersuchen, wäre sicherlich sehr interessant und fruchtbar. Zugleich sind alle seine Bücher, die ich bisher gelesen habe, äußerst spannende Impulsgeber für Denk- und Reflexionsprozesse. In seinem hier angeführten Buch geht es um den sog. „westlichen Marxismus“ (westliche Sozialdemokratie, neomarxistische Strömungen, Kritische Theorie etc.), dessen Differenz zum revolutionären (ab dem Moment östlichen/leninistischen) Marxismus er nicht primär in der Frage der Revolution und der Utopie von der klassenlosen Gesellschaft als Ziel festmacht, sondern an der Frage, wie er sich zum Imperialismus und Kolonialismus, und damit verbunden zum Aufbau des Realsozialismus, verhielt.

Nachdem er zuvor dargelegt hat, wie u.a. Bloch, Adorno, Horkheimer und Althusser in Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und mit der kolonialen Frage von links nach rechts marschiert sind und sich imperialismus- und kolonialismus-apologetische, mitunter auch offen rassistische Positionen zu eigen gemacht haben, geht Losurdo auf den sog. Operaismus ein, eine „neomarxistische“ Strömung, die in Italien in den 1960er Jahren aufkam, sich auf Arbeitskämpfe konzentrierte und sich deren Radikalisierung zur Aufgabe machte:

„Das Desinteresse an der kolonialen (und neokolonialen) Frage kann auch im Namen eines revolutionären Rigorismus eingefordert und praktiziert werden, der sich auf das kapitalistische Mutterland und die Kämpfe der antagonistischen Klasse schlechthin, der Arbeiterklasse, konzentriert, ohne sich von den Ländern und Klassen der Peripherie (…) stören zu lassen.“[54]

Losurdo zitiert im Weiteren Mario Tronti, einen der bedeutendsten Köpfe dieser Bewegung: Dieser warnte damals: „Es muss hier darauf geachtet werden, dass wir niemals in die Falle der Dritte-Welt-Bewegung (terzomondismo) tappen“.[55] Losurdo kritisiert, dass Tronti einen „Klassenkampf im Reinzustand“ propagierte und darüber die realen Kämpfe der unterdrückten Völker (damals akut Algerien, Kuba und Vietnam) völlig übersehe. Mit Blick auf Trontis Polemik gegen den nationalen Befreiungskrieg in China unter Mao schreibt Losurdo:

„Es wird hier zum Beispiel nicht erklärt, was die chinesischen Arbeiter hätten tun sollen, als ihr Land besetzt war: Weitermachen mit der Forderung nach Lohnerhöhungen, ohne sich um die Versklavung zu kümmern, die über sie und ihre Mitbürger kam? Die dualistische Lesart des gesellschaftlichen Konflikts, die nur einen einzigen Widerspruch sieht (den zwischen Arbeit und Kapital), verwandelt diesen Widerspruch selbst in ein Gefängnis im Zeichen des absolut kleinkarierten Korporatismus (…) In diesem Rahmen wird die weltweite antikoloniale Revolution zum Verschwinden gebracht.“[56]

Für sämtliche hier angeführten Beispiele – von der Komintern über die Debatten nach 1945 und nach 1990 – gilt, dass ich nur unvollständige Einblicke gewährt habe, die aber dennoch nicht einseitig waren, sondern (hoffentlich) einen realistischen Eindruck der vorherrschenden Meinungen und Debatten in der IKB gewähren konnten. Selbstverständlich ist es möglich, dass alle diese Ansichten gänzlich oder größten Teils falsch waren. Genauso ist es möglich, dass sie bis 1990 weitgehend richtig waren, aber sich die Weltlage aufgrund der Konterrevolution und des (weitgehenden) Verschwindens des Realsozialismus derart verändert hat, dass eine grundlegende Revision dieser Analysen und Strategien notwendig war bzw. ist; ob die KKE die richtigen Antworten darauf geliefert hat, steht dann aber nochmal auf einem anderen Blatt. Eine solche Revision ist allerdings in jedem Fall nur möglich anzustellen oder zu bewerten, wenn man die Ausgangslage kennt. Das gilt meinem Eindruck nach für weite Teile der KO überhaupt nicht.

Und auch für mein letztes Kapitel gilt: Weder ist ausgemacht, dass Schmidingers Beurteilung der KP des Sudan völlig falsch ist (nur weil er ein Antinationaler ist), noch will ich die KKE oder das „revolutionäre Lager“ einfach mit Trotzkisten, Maoisten, Neomarxisten oder Antideutschen gleichsetzen. Selbstverständlich können Parallelen zwischen Positionen nur oberflächlich sein und natürlich können auch Personen, Organisationen oder politische Strömungen konkret richtig liegen, und in (allen) anderen Punkten zugleich falsch. Das gilt aber eben auch für (vermeintliche) inhaltliche Überschneidungen auf Seiten der Militäroperations-Befürworter: weder sind sie „Putin-Fans“, noch rechts, noch „Knechte der Bourgeoisie“. Letzterer Vorwurf ist schon deshalb schräg, weil die Gefahr, dass Kommunisten oder allgemein Linke in das Lager einer Bourgeoisie wechseln, die nicht ihre eigene ist, wenige bis gar keine historischen Vorbilder kennt. In jedem Fall wäre der Schaden, den eine unkritische Unterstützung einer fremden Bourgeoisie gesellschaftlich-politisch, und damit auch politisch mit Blick auf das Standing der Kommunisten, anrichten würde, weitaus geringer, als wenn man „aus Versehen“ der eigenen herrschenden Klasse während eines Krieges in die Hände spielte.[57] Insofern mag es sein, dass KPRF und Russische Kommunistische Arbeiterpartei (RKAP) derzeit tatsächlich schlimme Fehler begehen, wenn sie die russische Militärintervention unterstützen; für Kommunisten in Deutschland gilt das aber nicht. Die Gefahr, hierzulande über einen vermeintlich revolutionären, in der Realität aber möglicherweise linksradikalen oder linksopportunistischen Kurs objektiv ins Lager des eigenen Imperialismus zu wechseln bzw. den eigenen Herrschenden de facto den Rücken zu stärken, ist dagegen sehr viel realer. Und diese Gefahr ist nicht abstrakt, sondern konkret: Wer gegen „Salafisten“ und „Dschihadisten“ wettert und den antimuslimischen Rassismus relativiert,[58] in Palästina „gemeinsame Aktionen“ der israelischen und palästinensischen Arbeiter fordert, statt nationale Befreiung,[59] wer den Fortschritt, den der Sieg der Taliban über die westliche Besatzungsmächte objektiv darstellt, in Abrede stellt[60] oder aber so tut, als sei es egal, ob in einem Land Besatzung und Krieg herrschen,[61] der hat meines Erachtens bereits erste Schritte auf dem Pfad gemacht, den Losurdo mit Blick auf den Westlichen Marxismus so eindrücklich beschreibt.


[1] Dieser Beitrag wurde intern veröffentlicht.

[2] Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/imp/kapitel7.htm.

[3] Ebd., https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/imp/vorwort2.htm.

[4] Mir sind dazu folgende Schriften v.a. aus der DDR sowie von trotzkistischen und gewendeten DDR-Historikern bekannt: Arbeitsgruppe Marxismus: Koloniale Frage und Arbeiter/innen/bewegung (2003); Die Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit 1927-1937. Zur Geschichte und Aktualität einer wenig bekannten antikolonialen Weltorganisation, Karl-Marx-Uni Leipzig 1987; Sobhanlal Datta Gupta: Komintern und Kommunismus in Indien 1919-1943, Dietz 2013; Mario Keßler: Die Kommunistische Internationale und der arabische Osten 1919-1929, Diss. Karl-Marx-Uni Leipzig 1982; Jürgen Mothes: Lateinamerika und der „Generalstab der Weltrevolution“. Zur Lateinamerika-Politik der Komintern, Dietz 2010; Hans Piazza: Die Kommunistische Internationale und die nationale Befreiungsbewegung, in: Studien zur Geschichte der Kommunistischen Internationale, Dietz 1974, S. 181-230; Uwe Rüdiger: Rolle und Inhalt der Dekolonisierungsdebatte in der Kommunistischen Internationale, in: Bergmann/Keßler (Hg.): Aufstieg und Zerfall der Komintern. Studien zur Geschichte ihrer Transformation (1919-1943), Podium Progressiv 1992, S. 226-29; Rudolf Schlesinger: Die Kolonialfrage in der Kommunistischen Internationale, Europäische Verlagsanstalt 1970; Kai Schmidt-Soltau: Eine Welt zu gewinnen! Die antikoloniale Strategie-Debatte der Kommunistischen Internationale zwischen 1917 und 1929 unter besonderer Berücksichtigung der Theorien von Manabendra Nath Roy (1994), http://www.schmidt-soltau.de/PDF/German/1994_Eine_Welt_zu_gewinnen.pdf.

[5] Komintern: 2. Weltkongress: Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage, https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/komintern-1/2-weltkongress/3-leitsaetze-ueber-die-nationalitaeten–und-kolonialfrage.

[6] Ebd.

[7] Komintern: 4. Weltkongress: Leitsätze zur Orientfrage, https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/komintern-1/weltkongress-4/5-leitsaetze-zur-orientfrage.

[8] Ebd. Hervorhebung von mir.

[9] Dabei ist mir natürlich klar, dass weder Russland heute eine Kolonie, noch dass China noch eine Halbkolonie ist.

[10] Uwe Rüdiger: Rolle und Inhalt der Dekolonisierungsdebatte in der Kommunistischen Internationale, in: Bergmann/Keßler (Hg.): Aufstieg und Zerfall der Komintern. Studien zur Geschichte ihrer Transformation (1919-1943), Podium Progressiv 1992, S. 226-29.

[11] Stalin: Über die Perspektiven der Revolution in China. Rede in der chinesischen Kommission des EKKI 30. November 1926, in: Stalin Werke S. 326 f.

[12] Thesen über die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und Halbkolonien, in: Die Kommunistische Internationale in Resolutionen und Beschlüssen Band 2 (1925-43), https://www.verlag-benario-baum.de/WebRoot/HostEurope/Shops/es151175/MediaGallery/PDF-Dateien/Die_Kommunistische_Internationale_in_Resolutionen_und_Beschluessen_Band_2b.pdf, S. 253.

[13] Ebd. S. 260. Hervorhebung von mir.

[14] Ebd.

[15] Ebd. S. 317. Hervorhebung von mir.

[16] Ebd.

[17] Ebd. S. 261.

[18] Autorenkollektiv: Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Lehrbuch, Dietz 1960, S. 291.

[19] Neokolonialismus, in: Wörterbuch der Geschichte, Dietz 1984, S. 748 f.

[20] I. J. Schawrow: Lokale Kriege. Geschichte und Gegenwart, Militärverlag der DDR 1983, S. 80. Hervorhebung von mir.

[21] Grundlagen des Marxismus-Leninismus, S. 473. Hervorhebung von mir.

[22] K. Brutene: Osovobodivšiesja Strany v načale 80ch godov, in: Kommunist 3/1984, S. 109 f. zitiert nach Autorenkollektiv: Arabische Staaten. Bilanz, Probleme, Entwicklungstendenzen, Akademie-Verlag 1988, S. 12. Hervorhebung von mir.

[23] Arabische Staaten, S. 11. Der Begriff dürfte daher rühren, dass unter as-Sadat das bis dahin als antiimperialistisch-kleinbürgerlich eingeschätzte „arabisch-sozialistische“ Regime, das unter Abdel Nasser in Ägypten errichtet wurde, einen pro-westlichen Kurs und eine Politik der „wirtschaftlichen Öffnung“ einschlug.

[24] Führend war u.a. Indien, dabei waren aber auch sozialistische Länder wie Kuba und die VR Jemen, sich als „sozialistisch“ verstehende Länder wie Jugoslawien, Algerien und Libyen sowie eindeutig pro-westliche Staaten wie die arabischen Monarchien Saudi Arabien, Marokko und Jordanien; Ägypten war sowohl unter dem Linksnationalisten Abdel Nasser, als auch unter den pro-westlichen Präsidenten as-Sadat und Mubarak und Indonesien sowohl unter dem mit den Kommunisten kooperierenden Präsidenten Sukarno als auch unter dem US-hörigen Diktator Suharto Mitglieder, genauso wie Afghanistan und Äthiopien sowohl unter monarchistischer als auch unter sozialistischer/pro-sowjetischer Herrschaft Teil der Blockfreien waren; der Iran dagegen trat den Blockfreien erst nach der Volksrevolution von 1979 bei, in der der pro-westliche Schah gestürzt wurde.

[25] Nichtpaktgebundene. Bewegung für Frieden, Abrüstung und Entwicklung, Staatsverlag der DDR 1989, S. 149 f. Hervorhebung von mir.

[26] A. Papariga: On Imperialism. The Imperialist Pyramid, https://inter.kke.gr/de/articles/On-Imperialism-The-Imperialist-Pyramid/.

[27] Nationale Befreiungsbewegung, in: Wörterbuch der Geschichte, S. 728.

[28] Ebd.

[29] Lenin: Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“, in: Lenin Werke 23, S. 53.

[30] So hielt der IV. Kongress fest, dass nationale Befreiungskriege und antikoloniale Aufstände „objektiv zu einem Bestandteil der proletarischen Weltrevolution“ geworden seien, „soweit sie die Herrschaft des Imperialismus erschüttern“. (Thesen über die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und Halbkolonien, S. 305.)

[31] Es gibt aus der DDR unzählige Aufsätze und Bücher zum „Nichtkapitalistischen Entwicklungsweg“ und zur „Sozialistischen Orientierung“. Als Einführung eignet sich: Salim Ibrahim / Verena Metze-Mangold: Nichtkapitalistischer Entwicklungsweg. Ideengeschichte und Theorie-Konzept, Kiepenheuer & Wirtsch 1976.

[32] Thanasis Spanidis: Trotzki und der Trotzkismus, https://kommunistische-organisation.de/diskussion/trotzki-und-der-trotzkismus/.

[33] Harpal Brar: Imperialismus im 21. Jahrhundert. Sozialismus oder Barbarei, Pahl Rugenstein 1999, S. 121.

[34] Ebd. S. 193 f.

[35] Ebd. S. 117.

[36] Zbigniew Wiktor: Polen ist in einen halbkolonialen, abhängigen Staat verwandelt worden, in: Imperialismus und anti-imperialistische Kämpfe im 21. Jahrhundert. Protokollband der gleichnamigen Konferenz von RotFuchs und Offensiv (2000), S. 201.

[37] Anneke Ioannatou: Theorie und Praxis des Aufbaus einer antiimperialistischen, antimonopolistischen, demokratischen Front in Griechenland, in: Imperialismus und anti-imperialistische Kämpfe im 21. Jahrhundert, S. 243 f. Hervorhebung von mir.

[38] Ebd. S. 246. Hervorhebung von mir.

[39] Ebd. S. 247 f.

[40] Robert Medernach: Strategische und taktische Schlussfolgerungen aus der Beiruter Konferenz, in: Antiimperialistischer Widerstand (2012), https://www.offen-siv.net/2012/12-01_Anti-Imperialismus.pdf, S. 132 f.

[41] Ebd. S. 133 f.

[42] Diese Metapher kam auf dem Podium „Der gegenwärtige Imperialismus und die Kommunistische Bewegung“ auf dem Kommunismus-Kongress mit Blick auf die Imperialismus-Vorstellung des Genossen Sörensen von der SKP auf.

[43] ZK der Kommunistischen Partei Griechenlands: Entwicklungen im imperialistischen Weltsystem – der Kampf der Völker, in: Antiimperialistischer Widerstand, S. 53 f.

[44] Ebd. S. 54. Hervorhebung von mir.

[45] Tibor Zenker: Chaque jour à Paris, https://parteiderarbeit.at/themen/stellungnahmen/chaque-jour-a-paris/.

[46] Ergebnisse des 6. MLKP-Kongresses: PROGRAM der MLKP, https://icor.info/2019/ergebnisse-des-6-mlkp-kongresses-program-der-mlkp.

[47] Ebd.

[48] Die politische Bezeichnung „links“ und „rechts“ stammt aus der Verfassunggebenden Nationalversammlung der Französischen Revolution: links saßen die Progressiven (damals die demokratischen und sozial-liberalen Kräfte), rechts die Reaktionären (Konservative und Aristokraten). Dieses Konzept wurde in vielen bürgerlichen Parlamenten übernommen. Besonders außerhalb Europas wird diese Einteilung allerdings z.T. ad absurdum geführt bzw. trifft den Kern der politischer Konfliktlinien nicht: Wie würde man beispielsweise religiös-konservative und zugleich antiimperialistische Kräfte wie die Hamas oder die Hizbullah auf der Links-Rechts-Skala einordnen?

[49] Ulla Plener: Die Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Lenin über die nationale Frage 1903 – 1918, http://zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/3144.die-debatte-zwischen-rosa-luxemburg-und-lenin-ueber-die-nationale-frage-1903-1918.html.

[50] Interessanterweise hat der Genosse Tom Hensgen, dem ich, als er seinen letzten Diskussionsbeitrag zur Kurdischen Frage verfasst hat, dringend ans Herz gelegt habe, sich mit der Auseinandersetzung zwischen Luxemburg und Lenin zu beschäftigen, offenbar Lenins Position nicht nur schlechter verstanden als YoungStruggle; er benutzt bei seiner Negierung des bedingungslosen Rechts auf Selbstbestimmung interessanterweise fast dieselben Worte wie seinerzeit Luxemburg. (Tom Hensgen: Erwiderung an Young Struggle: Wer von der PKK und Rojava redet, darf nicht vom US-Imperialismus schweigen!, https://kommunistische-organisation.de/allgemein/erwiderung-an-young-struggle-wer-von-der-pkk-und-rojava-redet-darf-nicht-vom-us-imperialismus-schweigen/.)

[51] Olaf Kistenmacher: Selbstbestimmung als Phrase, https://jungle.world/artikel/2014/01/selbstbestimmung-als-phrase.

[52] Thomas Schmidinger: ArbeiterInnenbewegung im Sudan. Geschichte und Analyse der ArbeiterInnenbewegung des Sudan im Vergleich mit den ArbeiterInnenbewegungen Ägyptens, Syriens, des Südjemen und des Iraq, Peter Lang 2004, S. 16.

[53] Ebd.

[54] Domenico Losurdo: Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, PapyRossa 2021, S. 87.

[55] Ebd.

[56] Ebd. S. 91.

[57] Das wurde auch bereits in der Einleitung zum Leitantrag der ZL der KO argumentiert.

[58] So geschehen in einem internen Diskussionsbeitrag der Fraktionierer der sog. Minderheit.

[59] In Jona Textor: Eine marxistische Kritik der „postmodernen Identitätslinken“ und des identitätspolitischen Antirassismus, https://kommunistische-organisation.de/diskussion/eine-marxistische-kritik-der-postmodernen-identitaetslinken-und-des-identitaetspolitischen-antirassismus/.

[60] Wie es nach der Veröffentlichung unserer Afghanistan-Stellungnahme im September 2021 auch innerhalb der KO zuhauf geschehen ist.

[61] So der Genosse Sörensen von der SKP auf dem Podium des Kommunismus-Kongresses mit Blick konkret auf Syrien.

KO als (Anti-)Klärungsprozess

Von Paul Oswald

Einleitung

In unserer Auseinandersetzung wird das Bild geschürt, dass sich nun jeder entscheiden müsse, was er unter Klärung versteht. Es wird also argumentiert, dass sich zwei unterschiedliche Vorstellungen gleichberechtigt gegenüberstünden, und es wird versichert, dass natürlich beide Seiten Klärung wollen.

Im Antrag zur Klärung der Imperialismus-Frage im Zusammenhang mit der Kriegsfrage[1] wirkt es so, als ob auf der einen Seite, die Klärung als eine reine Forschungsarbeit verstanden werden würde. Die Antragssteller stellen der Forschung den Parteiaufbau gegenüber, denn wir „haben uns nicht als reine Forscher zusammengefunden, sondern als Kommunisten, die die kommunistische Partei in Deutschland aufbauen wollen (S.3).“[i] Man kann den Antragsstellern fast dankbar sein, dass sie einem dies noch einmal in Erinnerung rufen. Klärung und Positionierung ist für sie kein Widerspruch, denn wer „glaubt, die Klärung müsse zeitlich zuerst kommen und die Praxis auf Grundlage einer Positionierung zum Krieg könne erst irgendwann in der Zukunft kommen, wenn die Klärung einigermaßen abgeschlossen ist, liegt völlig falsch (Resolution Nicht unser Krieg!, S.6).“[ii] Ein Argument, welches diese Behauptung belegt, sucht man vergebens. Die sogenannte Klärung erhält in dieser Vorstellung einen neuen Inhalt: es geht um die „Vertiefung“.

Mit ihren Anträgen will die Minderheit den Eindruck erweckt, dass verschiedene Dinge zu Wahl ständen. Es soll kaschiert werden, dass es ihnen um einen einzigen großen Antrag geht, der den künftigen Weg der KO bestimmen soll. Dies zeigt eindeutig die inhaltliche Verknüpfung der Anträge miteinander, wie folgendes Beispiel aus dem Klärungsantrag, in dem es heißt: „Mit der Resolution [zum Krieg] wollen wir außerdem als Ausgangspunkt für die Klärung dieser Legislatur diese Grundlage als Grundlage bestätigen und ihre Anwendung auf den Krieg formulieren (Antrag zur Klärung, S.5).“ Man geht also von dieser Resolution aus, weil die Positionierung kein Widerspruch zur Klärung sei, und die Klärung selbst heißt hier künftig nur noch „bestätigen“ durch eine inhaltliche „Vertiefung“.

Jeder Genosse muss sich auf dem außerordentlichen Kongress (AKo) dafür entscheiden, welchen Weg die KO in der Zukunft einschlagen soll. Dabei muss jedem klar sein, dass die eine Seite der KO ein eindeutiges Verständnis des Imperialismus sowie eine klare Position zum Krieg auferlegen will und das obwohl es gerade in der gesamten Bewegung einen Mangel an einem klaren und eindeutigem Imperialismusverständnis gibt. Inhaltlich werden hier Nägel mit Köpfen gemacht. Von dem bunten Strauß an Vorhaben und den rosigen Worten zur Klärung und zum Parteiaufbau sollte man sich nicht beeindrucken lassen. Es geht darum, ob man einen unkollektiven Weg der Selbstüberhöhung einschlagen will und sich einen Prozess anschließt, der vollkommen nach innen gerichtet ist, weil es nur noch um Vertiefen und nicht mehr um Dissense in der Bewegung geht.

Die scheinbare Offenheit der Klärung

Die Antragssteller möchten nicht nur die Resolution durch die weitere Klärungsarbeit bestätigen, sondern auch das „kollektive Imperialismusverständnis“ vertiefen. Die Resolution ist eindeutig, was durch die Arbeit bestätigt werden soll. Einerseits ist der „Krieg in der Ukraine […] ein imperialistischer Krieg zwischen der Ukraine, hinter der die NATO steht, und der Russischen Föderation. Dieser Krieg ist nicht unser Krieg und die internationale Arbeiterklasse darf sich auf keine der beiden Seite stellen (Resolution, S.1).“ Die Antragssteller haben somit alle Fragen der VV4 eindeutig beantwortet. Dies hatten sie im Übrigen schon auf der VV4, als sie ebenfalls versuchten, eine inhaltlich im Wenstnlich identische Resolution zu verabschieden. Die VV entschied sich dagegen und für die kollektive Arbeit. Damit soll nun aber endlich Schluss sein. Das auch in der gesamten internationale kommunistische Bewegung (IKB) die Fragen zum Imperialismus und auch zur Einschätzung des Kriegs sehr unterschiedlich diskutiert werden, braucht die KO künftig nicht mehr zu interessieren: Die Sache sei ja klar. Andererseits hält die Resolution auch ein eindeutiges Imperialismusverständnis fest (S.2f.):

  • Der monopolistische Kapitalismus hat sich fast überall auf der Welt durchgesetzt.
  • Die großen Unterschiede zwischen Ländern drückt sich in qualitativ verschiedenen Möglichkeiten der Einflussnahme aus.
  • Die Unterschiede zwischen den stärkeren und schwächeren Ländern bedeutet nicht, dass sich der gesellschaftliche Charakter zwischen ihnen unterscheidet – denn es herrsche überall Monopolkapitalismus vor.
  • Aus diesem Grund kommt es immer zu einem Kampf um die Neuaufteilung. Was dementsprechend im Antrag zur Klärung formuliert wird: „Kriege […] in der heutigen Phase des Imperialismus in der Regel imperialistisch und damit nicht gerecht (Antrag Klärung, S.7).“

Bei der Beantwortung dieser Fragen, sind uns die Autoren in ihrer Analyse natürlich weit voraus, denn sie sind der „Auffassung, dass das Verständnis ungleicher gegenseitiger Abhängigkeiten der KKE den Imperialismus auf seiner heutigen Entwicklungsstufe im Wesentlichen richtig beschreibt und konsequent an Lenins Analyse von 1916 anknüpft (Klarheit durch Wissenschaft, S.8).“[iii] Und die KKE verfügt „aus unserer Sicht über den besten Ansatz“ (ebd). Ihr schweres Analysewerkzeug der „Meinung“, „Auffassung“ (oder einfach der Empfindung), legen die Autoren dann auch für ihre Position zum Krieg an (fettgedrucktes von mir):

Wir sind der Meinung, dass die ökonomische zwischenimperialistische Konkurrenz, die sich aktuell in der Ukraine kriegerisch entlädt, ein Ausdruck des Kampfes um die Kontrolle kritischer Infrastruktur wie Kommunikation, Strom, die Verteilung von Pipelines, die Zugänge zu Häfen etc. und damit Ausdruck des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung ist. Dies gilt es aber für uns in der kommenden Legislatur nachzuweisen bzw. grundlegender zu erforschen, indem wir die Mittelglieder und die Erscheinungsformen, die für den heutigen Imperialismus relevant sind, aufdecken (Klarheit durch Wissenschaft, S.36).“

Sie sind also der MEINUNG und wollen diese erst nachweisen/wissenschaftlich begründen. Für die Antragssteller stellt es natürlich keinen Widerspruch dar, das man selbst noch nicht weiß, ob man richtig liegt, aber dennoch mit Sicherheit sagen könne, dass andere falsch liegen.  Natürlich ist es vollkommen richtig Thesen aufzustellen, die man dann durch die weitere Arbeit beweisen möchte. In unserer aktuellen Lage verhält es sich aber ganz anders: es wird mit einer der arten Sicherheit eine bestimmte Meinung geglaubt und vertreten, dass dies für manche ausreichend ist, noch vor der Forschung, die KO zu zersetzen und zu zerstören, anstatt die zu leistende Forschungsarbeit gemeinsam zu bewältigen.

Jedem Leser sollte sofort ins Auge springen, dass all das im letzten Jahr noch Fragen waren, die wir heiß diskutiert haben. Nun sollen es klare Aussagen werden, von denen die KO nicht mehr abrücken soll. Denn es findet sich im Antrag keine einzige Frage, die darauf abzielt, diese Position kritisch zu hinterfragen. Bspw. die Frage, ob es zulässig ist, davon auszugehen, dass sich überall der Monopolkapitalismus herausgebildet hat. Oder ob die Annahme, welche Lenins Aussage der Handvoll Räuber die er als Wesensmerkmal des Imperialismus bestimmte revidiert, zulässig ist. Auch wenn im Antrag natürlich davon gesprochen wird, dass „[d]as Ergebnis der Klärung [folglich] deren [gemeint sind die Ausgangsthesen] Bestätigung Vertiefung oder Korrektur und Neuformulierung (Antrag Klärung, S.3)“ bedeutet. Interessant ist es alle Mal, dass dies so formuliert wird, sich aber die gesamten Anträge lediglich um die Bestätigung und Vertiefung drehen.

Warum es genau diese Fragen sein sollen, erläutern uns die Autoren des Textes Klarheit durch Wissenschaft. Dort wird uns erklärt, dass wir vor jeder empirischen Forschungsarbeit klären müssen, „was unser Gegenstandsbereich ist und welche Fragen wir an die Empirie stellen. Nur so lässt sich das richtige empirische Material identifizieren und ein repräsentativer Ausschnitt der zu analysierenden Wirklichkeit definieren. Orientierung bieten uns erstmal unsere Klassiker und Schritt 4 […] (Klarheit durch Wissenschaft, S.22).“ Unter Schritt 4 auf Seite 36 werden dem Leser dann noch eine Palette an Fragen präsentiert, die sich alle mit dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung auseinandersetzten. Die Autoren der Anträge sowie des Textes zur Wissenschaft möchten uns also in ihrer Bescheidenheit verdeutlichen, dass sich ihre Fragen alleine aus den Klassikern ergeben, und dass alle anderen Fragen stellen würden, die nichts mit dem Marxismus-Leninismus gemein hätten.

Mit ihren drei Anträgen soll neu bestimmt werden, was Klärung für das Verhältnis zur IKB bedeutet. Im Antrag zur Klärung heißt es zum Klärungsprozess, in Bezug auf unsere Programatischen Thesen, dass der Klärungsprozess „von verbindlichen marxistisch-leninistischen Grundpositionen und einer klaren, unseren damaligen Diskussionsstand entsprechenden Abgrenzung gegen opportunistische und revisionistische Strömungen aus[gehe] (Antrag Klärung, S.3).“ Es ist natürlich vollkommen richtig, dass wir uns in den Thesen von der maoistischen, trotzkistischen sowie der eurokommunistischen Strömung abgegrenzt haben. Die Antragssteller wollen aber nun noch eine weitere Abgrenzung innerhalb unserer Strömung von den „Opportunisten“ und „Revisionisten“ herbeiführen. So wird von ihnen an anderer Stelle davon gesprochen, dass man künftig den Fokus bei den internationalen Kontrakten auf den „revolutionären Teil“ der IKB legen will (KKE, PCTE, SKP, PdA, TKP, PCM, NCPN, PCRF). D.h. auch, dass unser bisheriger Beschluss in der Resolution zum proletarischen Internationalismus nun über Bord geschmissen werden soll. In derselben Resolution sprachen wir nicht von einem „revolutionären Teil“ gesprochen und verorteten uns in jener Strömung in der IKB um das Internationale Treffen der Kommunistischen und Arbeiterparteien (IMCWP), dem Treffen der Europäischen Kommunistischen Jugendorganisationen (MECYO), der Internationalen Kommunistischen Rundschau (International Communist Review) und der Initiative der Kommunistischen und Arbeiterparteien. Unser festgehaltenes Ziel war es mit der internationale Resolution, sich „systematisch mit den Analysen und Positionen der anderen kommunistischen Parteien beschäftigen und unsere eigenen Standpunkte und Erfahrungen im Dialog mit den Analysen der internationalen kommunistischen Bewegung weiter[zu]entwickeln“ (Resolution zum proletarischen Internationalismus, S.5)[iv] – also genau das, was wir in der letzten Legislatur begonnen haben. Dabei sollte jedem aufgefallen sein, dass durch diese Zusammenhänge der Dissens zur Imperialismus- und der Kriegsfrage läuft. Die KO soll also diesem Dissens künftig damit begegnen, dass man einen Teil der Zusammenhänge in der weiteren Arbeit ignoriert.

Die KO als Prozess der Selbstbeschäftigung

Das gesetzte Ziel der Bestätigung der Resolution zum Krieg, der Fokus durch die aufgestellten Fragen, aber auch die internationalen Beziehungen zeigen deutlich, dass sich die KO nur noch mit den eigenen Fragen und Themen beschäftigen soll. Die tatsächlichen Kontroversen innerhalb der IKB spielen künftig faktisch keine Rolle mehr, denn man ist ja auf der „revolutionären“ Seite. D.h. bspw. auch, dass Dissense gar nicht mehr das objektive Problem der Bewegung darstellen, sondern nur als ein Problem der anderen gelten – also jener die dem „revolutionären Teil“ nicht (mehr) angehören.

Von unserer Verortung in der Krise der Bewegung in unserem Selbstverständnis (SV)[v], möchte man nichts mehr wissen. Im SV haben wir unter These 21 festgehalten:

„Wir stehen nicht außerhalb der KB [kommunistischen Bewegung]  und damit auch nicht außerhalb ihrer Krise. Wir sind ebenfalls davon betroffen und erkennen sie an unserer Unerfahrenheit und unseren Mängeln. Wir überschätzen unsere politischen Handlungen nicht, da wir nicht annehmen, dass wir durch sie die Krise der KB einfach beenden können. Aber wir wollen mit dem planmäßigen Aufbau der KP und dem Kampf gegen den Revisionismus einen Weg vorschlagen und umsetzen, um die Krise der KB überwinden zu können (Selbstverständnis, S.14).“

Kampf gegen den Revisionismus soll also künftig Zuordnung zum „revolutionären Teil“ bedeuten.

Die Klärung soll keine kollektive Aufgabe mehr sein

Die Antragssteller eröffnen der KO eine Perspektive, in der nicht mehr alle an der Klärung arbeiten sollen: „Kollektive Forschung soll nicht bedeuten, dass alle Genossen an der Forschung beteiligt sein müssen. Vielmehr müssen alle in die Lage versetzt werden, kollektive Forschungsergebnisse nachvollziehen, überprüfen und kritisieren zu können (Antrag Klärung, S.3).“ Kollektiv soll künftig heißen, dass alle die Ergebnisse nachvollziehen können. Diese zu erarbeiten, soll aber nur einigen wenigen obliegen. Es lässt sich nur erahnen, dass es sich dabei um unsere großen revolutionären Köpfe wie z.B.  Thanasis Spanidis, Marla Müller, Rike Groos oder Jona Textor handeln soll. Begründet wird diese Annahme eines unkollektiven Klärungsprozess in den Dokumenten nicht. Die Autoren verschweigen dabei, dass sie sich damit auch von dem Teil des SV verabschieden wollen, in dem wir festgehalten haben, dass wir „den Klärungsprozess planmäßig und abrechenbar durch[führen] und […]  kollektiv [bestimmen], für welche Fragen bezüglich des Aufbaus der KP eine Klärung notwendig ist. Wir diskutieren diese Fragen in der gesamten Organisation [!] und einigen uns schließlich auf Antworten (Selbstverständnis, These 23, S.15).“

Die letzte Legislatur hat gezeigt, wie gewinnbringend es war, dass wir kollektiv an den Fragen zum Imperialismus und Krieg gearbeitet haben und uns durch Kritik und Selbstkritik auf unsere bestehenden Lücken hingewiesen haben. Dadurch konnten wir sehr viele offene Fragen bzw. Unklarheiten in unserer Organisation zu Tage fördern. Diese Arbeit hat Potenziale in der Gesamtorganisation freigesetzt (wie die Arbeit an Veröffentlichungen, dem Kommunismus-Kongrss oder zuletzt die internen Positionierungs-Aufschläge aller Genossen gezeigt haben) die durch ein anderes Vorgehen vermutlich nicht zum Vorschein gekommen wären. Diese Arbeit hat gezeigt, wie viel Entwicklungspotenzial sie für jeden einzelnen bürgt, der sich in ein aktives Verhältnis zu den Aufgaben gestellt hat. Somit sollte diese Arbeit auch eher als ein Bestandteil der Kaderentwicklung begriffen werden, anstatt sie künstlich davon abzutrennen.

Bye Bye Klassiker

Von Beginn an, war ein wichtiger Bestandteil unserer Debatte über die Einschätzung des Krieges die Frage, wie wir unsere Klassiker verstehen. Würde man beliebig einige Beiträge unserer Diskussionstribüne herausgreifen oder einen Blick in unsere Diskussionstabellen der ortübergreifenden Treffen  werfen, fiele sofort auf, dass sich auf die gleichen Aussagen unserer Klassiker in unterschiedlicher Weise bezogen wurde und wird. Die Frage wie wir unsere Klassiker verstehen war auch in den AGs hinsichtlich des Verständnisses der Grundannahmen immer so und muss auch so sein. Es wäre auch komisch, wenn dem nicht so wäre und wir auf anhieb Texte und Aussagen gleichermaßen lesen. Die Auseinandersetzung die wir schon immer um die Auslegung hatten war und ist eine produktive, die unseren Blick schärft und uns kollektiv schult. D.h. wir waren schon immer damit konfrontiert, dass wir unserer Klassiker nicht gleich lesen. Oder anders formuliert: man kann sehen, dass die Beschäftigung mit den Klassikern ebenfalls ein kollektiver und produktiver Prozess sein muss.

Zusätzlich muss zu unseren „verbindlichen marxistisch-leninistischen Grundpositionen“ gesagt werden, dass genau diese selbstverständlich Teil der Diskussion und Auseinandersetzung sein müssen. Wie kann es auch anders gehen, wenn es einen Streit unter Kommunisten gibt (sofern die eine Seite überhaupt noch als solche akzeptiert wird), dass die bisherigen Positionen auch zur Diskussion stehen, unterschiedlich verstanden und erfasst werden. Zu Fragen ist auch, was wir alles zu unseren Grundlagen zählen. An dieser Stelle kann man bescheiden festhalten, dass wir kollektiv bestimmt noch nicht ausreichend vorangekommen sind und es noch viele Texte und Arbeiten unserer Klassiker gibt, die wir noch überhaupt nicht erfasst oder geschweige denn verstanden haben. Während der gesamten Existenz der KO gab es sehr kontroverse Diskussion bzw. unterschiedliche Sichtweisen auf Grundlagen/“Grundpositionen“. Blick man z.B. auf die Imperialismusdiskussion die wir in der letzten Legislatur geführt haben, waren doch gerade die Punkte, die sich auf die Grundlagen bezogen, diejenigen die am kontroversesten diskutiert wurden. Klara Bina[vi] und ich[vii] haben in unseren Beiträgen gezielt die Frage unserer Grundlagen aufgemacht und haben uns anders auf Lenin bezogen und auch kritisch auf den Leninbezug der KKE, im Gegensatz zu Thanasis und anderen. Es bleibt zu Fragen, wer in dem vorgeschlagenen Weg die „verbindlichen Grundlagen“ festlegt? Etwa Thanasis?

Ein weiterer Grund, weshalb die Grundlagen Teil unserer Diskussion sein müssen ist, dass unserer Klassiker selbst immer aktiver Teil der Bewegung und ihrer Auseinandersetzung waren. Sie waren keine Glaubenssatzschreiber und wollten dies auch nie sein. Sie haben in der aktiven (klassenkämpferischen) Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und ihrer Entwicklung gearbeitet. Genau aus diesem Grund müssen wir sie als lebendige Werke begreifen, ihren historischen Kontext sowie ihre wissenschaftliche Herangehensweise verstehen um sie anwenden zu lernen. Mit den Klassikern zu arbeiten heißt, dass sie Teil der Diskussion und der kritischen Auseinandersetzung sind und nicht als feste Spruchweisheiten verkommen.

Im Antrag zur Klärung springt ins Auge, dass die Bildungsarbeit – die hier richtiger Weise als sehr zentral für den Klärungsprozess benannt wird – sich überhaupt nicht auf die Klassiker beziehen soll. Vielmehr soll ein entscheidender Baustein der Entwurf eines internen Schulungsheftes darstellen, der aus der selben Feder wie die Anträge stammen. Das dieser gerade nicht als kollektives Schulungsmaterial der KO genommen wurde, weil dieser als mangelhaft bewertet wurde, wird ausgespart. Zusätzlich sollen Workshops und Grundnahahmen der AGs als Bildungsmaterial dienen. Der Organisation sollen also individuelle Lesarten der Klassiker übergestülpt werden. Für die Zukunft spielt es dabei keine Rolle mehr, dass genau in der AG um der sich der Antrag zur Klärung sehr viel dreht (der AG PolÖk) die beiden Leitungen, die Klassiker vollkommen unterschiedlich lesen. Dieser Situation wird damit begegnet, dass man nun einfach die eine Lesart als die richtige Ausgibt. Dabei ist es natürlich nur reiner Zufall, dass es sich genau um jene Lesart handelt, die von unseren „Revolutionären“ praktiziert wird.   

Dass es nur noch bestimmte Lesarten von den Klassikern geben soll, schreiben die Antragssteller selbst auch ganz offen. So heißt es:

„Um künftig Konflikte noch besser einschätzen zu können, sollten wir untersuchen, wie Lenin einen gerechten Krieg in Abgrenzung zu einem imperialistischen Krieg charakterisiert. Dabei müssen die Ausarbeitungen zum Imperialismus als Weltsystem heute und zur Bourgeoise im imperialistischen Staat einbezogen werden (Antrag Klärung, S.7f.).“

Oder anders ausgedrückt: Mit den Klassikertexten können wir uns nur mit einer Lesehilfe durch den „revolutionären Teil“ der IKB beschäftigen. Die formulierte Kritik, wonach die KKE in ihren Texten Lenin falsch wiedergibt, sind für diese Lesehilfe unbedeutend.

Überambitioniert oder doch voluntaristisch? 

Beim Lesen des Kapitels zur Konkretisierung des Antrags, welches einen groben Zeitplan enthält, wird einem beinah schwindelig durch die Höhenflüge, die einem hier präsentiert werden.

In gerade einmal 2 Monaten möchte man Bildungsarbeit zur wissenschaftlichen Methode, zum Imperialismus und zum Staat bei Lenin und zum Staat heute durchführen. Der letzte Punkt soll in dieser Zeit auch noch „geklärt“ werden. 2,5 Wochen pro Thema sind dabei natürlich ein realistischer und ausreichender Zeitraum (Achtung Ironie).

Der Ambitionismus setzt sich fort. In zwei Monaten will man den Charakter von Kriegen im imperialistischen Weltsystems klären – also nicht nur von dem der Ukraine, sondern von allen in der Epoche des Imperialismus! Kompliziert wird dies mit Sicherheit nicht, da man ja lediglich bestätigen (gemeint ist natürlich „klären“) muss, dass Kriege „in der heutigen Phase des Imperialismus in der Regel imperialistisch und damit nicht gerecht (Antrag Klärung, S7)“ sind.

In weiteren drei Monaten soll dann die Herleitung zum „imperialistischen Weltsystem“ wissenschaftlich überprüft werden (man hat sich ja schließlich im Vorhinein 2,5 Wochen mit der wissenschaftlichen Methode beschäftig). Im selben Zeitraum soll zusätzlich noch die Frage „geklärt“ werden, wie das Verhältnis von Staat und Monopolen aussieht usw. usf.

Jeder Person mit etwas gesunden Menschenverstand sollte klar sein, mit was für großen und auch komplexen Fragen und Aufgaben wir es hier zu tun haben. Das bedeutet nicht, dass es unmöglich ist, eine Antwort auf sie zu finden. Dennoch sollte es doch zumindest zu bedenken geben, wie sich die Antragssteller vorstellen in einer Organisation, die vermutlich weniger als halb so groß sein wird wie die jetzige KO und durch ein Forschungsprozess, in dem dann auch nur wenige Genossen eingebunden werden, diese großen Themenfelder auch nur in Ansätzen zufriedenstellend bearbeiten werden sollen.

Fazit

Mit großen Plänen und der häufigen Verwendung des Wortes Klärung soll hier unkenntlich gemacht werden, dass dies überhaupt nicht das Anliegen dieser Leute ist. Positionen sollen her. Diese sollen vertieft werden, um die Positionierung irgendwie noch als einen Anschluss an die Auseinandersetzung in der KO verkaufen zu können – aber eigentlich ist man sich ja der Sache sicher, weshalb man sie auch nur noch bestätigen braucht. Man könnte es auch so verstehen, dass Klärung künftig heißen soll, dass ein Großteil der Organisation die vorgekauten Positionen nur noch verstehen braucht und dafür mit den richtigen Texten nur noch etwas Bildungsarbeit betreiben muss.

Als KO haben wir im Laufe unserer Entwicklung einige Zickzack-Kurse eingeschlagen. Wir haben Annahmen getroffen – wie beispielsweise mit dem Beschluss zur Massenarbeit[2] – von deren Richtigkeit wir ausgegangen sind, die wir durch unsere weitere Entwicklung wieder gerade rücken mussten, oder anders gesagt: korrigieren mussten. Mit dem Selbstverständnis haben wir eine wichtige Selbstverständigung über unser Vorhaben begonnen. Direkt im finalen Prozess, in dem wir die Wahl des Selbstverständnisses vorbereitet haben, wurden wir mit dem Krieg von der harten Realität eingeholt, die uns und unsere Annahmen einer Prüfung unterwarfen.  Für mich haben die letzten Monate mehr als deutlich unsere Aussagen über die Kaderentwicklung als Voraussetzung des Parteiaufbaus bestätigt. Sie haben aber auch gezeigt, dass wir noch einige Arbeit vor uns haben.

Selbstüberhöhung, revolutionär klingende Worte und Sektierertum innerhalb der IKB werden uns nicht weiterbringen. Im Ergebnis führen sie nur dazu, vor der Realität und ihrer Widersprüchlichkeit die Augen zu verschließen. All das, was der eigenen Annahme widerspricht, behandelt man einfach nicht mehr. Der feste Glaube an die eigene Richtigkeit der eigenen Position schafft es, auch noch die letzte Unklarheit zu überleuchten.  So schön leicht erstrahlt dieser Weg der reinen Lehre zur Partei.

Von diesem Schein sollte sich niemand blenden lassen. Für mich ist klar, dass ich an die gemachten Erfahrungen, wie etwa die des Selbstvreständnisses anschließen und die Selbstkritikfähigkeit beibehalten will. Ich will die im letzten Jahr gemachten Erfahrungen unserer Organisation auswerten, um aus ihnen zu lernen, und den Dissens in der IKB ernstnehmen, um weiter an ihm arbeiten zu können.


[1]https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2022/04/Beschluss-zur-Klaerung-der-Imperialismusfrage.pdf

[2]https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2019/08/KO-2VV-Beschluss-Arbeit-in-den-Massen_public.pdf


[i] https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2022/12/Antrag_Klaerung.pdf

[ii]https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2022/12/Antrag_Minderheit_Resolution-nicht-unser-Krieg.pdf

[iii] https://kommunistische-organisation.de/allgemein/klarheit-durch-wissenschaft/

[iv]https://kommunistische-organisation.de/wp-content/uploads/2019/08/KO-2VV-Inter_Resolution_public_fin.pdf

[v] Das Selbstverständnis ist das Ergebnis einer kollektiven Reflexionsphase, welche wir als KO zwischen der dritten und vierten Vollversammlung bestritten haben. Eine weitere Einrodnung des Dokuments kann in dem Berichten von der dritten und vierten Vollversammlung nachgelesen werden:

[vi]https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/

[vii]https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/die-wissenschaftliche-analyse-nicht-ueber-bord-werfen/

Die Pyramide der bürgerlichen Ideologie

Von John Stiehler

Der Beitrag „Klarheit durch Wissenschaft“ der Genossen Müller, Groos und Textor trägt durch den Zeitpunkt seiner Veröffentlichung unvermeidlich alle Züge des aktuellen Kampfs in unserer Organisation an sich. Er soll, wie sie selbst schreiben, ein Beitrag zum besseren Verständnis der marxistischen Methode sein. Er soll aber explizit auch ihren besonderen Begriff von Klärung hervorheben, also vorrangig das Verständnis von Klärung all der Genossen in unserer Organisation, die sie im aktuellen Kampf mit ihrem Beitrag vertreten.

Gerade darum ist eine Stelle in ihrem Beitrag von besonderem Interesse für uns. Es ist die Stelle, in der sie auf den Seiten 42 und 43 darlegen, dass es eine „gültige Theorie“ gibt und sie andere Genossen dazu auffordern, entweder ihre Behauptungen mit dieser Theorie in Einklang zu bringen oder die Revision ihrer Theorie anzustreben.

Uns interessiert diese Stelle deswegen, weil die Genossen Müller, Groos und Textor darin klar zum Ausdruck bringen, dass ihr Verständnis der marxistischen Methode bereits derart ausgereift sei, solch eine Forderung aufzustellen. Ebenso bringen sie darin klar zum Ausdruck, dass sie ihre Theorie als eine marxistische Theorie ansehen – denn auf welcher anderen theoretischen Grundlage sollten bekennende Kommunisten von anderen Genossen sonst einfordern dürfen, Behauptungen mit ihrer Theorie in Einklang zu bringen?

Darum interessiert es uns festzustellen, inwiefern und auf welcher Grundlage die Genossen Müller, Groos und Textor überhaupt berechtigt sind, solch eine Forderung aufzustellen? Diese Frage ist deswegen für uns von Interesse, weil ihre Theorie teils in wesentlichen Punkten den Aussagen widerspricht, die Lenin über den Imperialismus als das höchste Stadium des Kapitalismus getroffen hat.

Eine dieser wesentlichen und bekannten Aussagen Lenins lautet: Wie in der vorliegenden Schrift nachgewiesen ist, hat der Kapitalismus jetzt eine Handvoll (weniger als ein Zehntel der Erdbevölkerung, ganz »freigebig« und übertrieben gerechnet, weniger als ein Fünftel) besonders reicher und mächtiger Staaten hervorgebracht, die durch einfaches »Kuponschneiden« die ganze Welt ausplündern.“[i]

Die Genossen Müller, Groos und Textor hingegen beziehen sich auf die Theorie der KKE, in der dieser Gegensatz von einer Handvoll reicher und mächtiger Staaten nicht mehr in der selben Schärfe hervorgehoben und stattdessen von gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen allen Ländern der Welt gesprochen wird. Die Genossen schreiben dazu auf Seite 8: „Wir sind dagegen der Auffassung, dass das Verständnis ungleicher gegenseitiger Abhängigkeiten der KKE den Imperialismus auf seiner heutigen Entwicklungsstufe im Wesentlichen richtig beschreibt und konsequent an Lenins Analyse von 1916 anknüpft. Dieses Verständnis kann im Bild der imperialistischen Pyramide veranschaulicht werden, wie es Patrick Honer am 18.04.22 in ‘Von Bildern, imperialistischen Ländern und Schiedsrichtern’ auf der Diskussionstribüne zur Imperialismusfrage beschreibt. … Sicher ist auch die KKE nicht im Besitz der absoluten Wahrheit. Aber sie verfügt aus unserer Sicht über den besten Ansatz, den wir bisher haben. Selbstverständlich ist mit Blick auf die ungleichen, aber wechselseitigen Abhängigkeiten – nicht zuletzt für unsere Kampffähigkeit gegen den deutschen Imperialismus – noch viel Vertiefung und konkrete Klärung nötig, in einigen Aspekten vielleicht sogar Korrektur und Neuformulierung. Trotzdem gehen wir davon aus, dass sie den richtigen Ausgangspunkt und das richtige theoretische Fundament liefert, um zu einer wirklichen Klärung der Imperialismusfrage zu kommen.“

In diesem Absatz werden deutliche Einschränkungen bezüglich der möglichen Aussagekraft der Theorie der KKE in Bezug auf die ungleichen, aber wechselseitigen Abhängigkeiten getroffen. Die Genossen räumen ein, dass noch viele Vertiefungen nötig seien und „vielleicht sogar“ hier und da eine Korrektur. Dennoch scheint diese Theorie der KKE bereits so weit ausgearbeitet worden zu sein, um an „Lenins Analyse von 1916“ konsequent anknüpfen zu können. Genau deswegen ist es für uns von besonderem Interesse herauszufinden, auf welcher Grundlage die Genossen Müller, Groos und Textor zu der Auffassung gelangt sind, eine Theorie, die sie selbst noch als mangelhaft ansehen, könne dennoch konsequent an Lenins Ausarbeitungen als ein neuer Ausgangspunkt anknüpfen? Und das, gleichwohl diese Theorie in wesentlichen Teilen Lenins Verständnis vom Imperialismus widerspricht?

Wir sagen es ganz offen, uns kommt dieser nonchalante Umgang mit Lenins Theorie verdächtig vor.

Dürfen wir so einen Verdacht in unserer Organisation derart offen aussprechen? Wir sind der Überzeugung, das dürfen und müssen wir sogar unbedingt.

Erstens weil es nur ein Verdacht ist. Ein berechtigter Zweifel, dem immer nachgegangen werden sollte, sobald einer wesentlichen Aussage unserer Klassiker widersprochen wird, weil unsere Erfahrungen gezeigt haben, dass es das erklärte Ziel der feindlichen Klassen ist, den Marxismus auf seiner theoretischen Basis unschädlich zu machen. Dieser Verdacht kann sich bestätigen oder nicht. Er ist daher nicht ansatzweise mit einer Anklage zu verwechseln.

Zweitens weil die Berechtigung dieses Verdachts dadurch verstärkt wird, dass mit dem Sieg der Konterrevolution über die Sowjetunion vorläufig auch die reaktionäre Ideologie der Bourgeoisie über den revolutionären Marxismus gesiegt hat. Als eine Folge von diesem Prozess ist nunmehr auch jeder Kommunist in der Hauptsache zuallererst ein geistiges Kind dieser Ideologie, weil es nur diese Ideologie sein kann, die selbst bekennende Kommunisten seit über 30 Jahren in ihrem Sinn zu erziehen versucht. Sie ist das Alte, das vorläufig gesiegt hat, unabhängig davon, ob Kommunisten das entsprechend anerkennen oder nicht, sich dessen bewusst sind oder nicht.

Eine Sache hat sich aber trotz der Niederlage der Sowjetunion nicht geändert: ohne revolutionäre Theorie, keine revolutionäre Praxis. Solange es der bürgerlichen Ideologie daher gelingt, die theoretische Basis des Marxismus durch ihren Einfluss zu zersetzen, ist die Herrschaft der Bourgeoisie und die ihrer Handlanger bestmöglich abgesichert. Darum muss die Frage für alle Kommunisten stets lauten, inwiefern neue Theorien, die im Namen des Marxismus auftreten, wirklich frei von dieser bürgerlichen Ideologie sind?

Auf diese Frage kann und darf es zugleich nur eine Antwort geben, um eine wirklich revolutionäre Theorie auszuzeichnen: Kein einziger Anteil bürgerlicher Ideologie darf sich in ihrer Ausarbeitung finden, weil einzig die Strenge des dialektischen und historischen Materialismus in der Untersuchung zu einer wirklich revolutionären Theorie führen kann. In diesem grundlegenden Widerstreit zwischen Idealismus und Materialismus gibt es kein sowohl als auch. Es gehört zu einer der vielen großen Leistungen von Lenin, das in seiner Arbeit „Materialismus und Empiriokritizismus“ im Konkreten nachgewiesen zu haben.

Die „gewaltige Bedeutung von Lenins Buch“ wird in dem kurzen Lehrgang zur „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“ wie folgt beschrieben: „Verfallstendenzen und Unglaube erfaßten auch einen Teil der zur Partei gehören Intellektuellen. … Sie richteten ihre „Kritik“ gleichzeitig gegen die philosophisch-theoretischen Grundlagen des Marxismus, das heißt gegen den dialektischen Materialismus, und gegen seine wissenschaftlich-historischen Grundlagen, das heißt gegen den historischen Materialismus. Diese Kritik unterschied sich von der gewöhnlichen Kritik dadurch, daß sie nicht offen und ehrlich, sondern versteckt und heuchlerisch unter der Flagge der „Verteidigung“ der wichtigsten Positionen des Marxismus betrieben wurde. Wir sind im wesentlichen Marxisten, sagten sie, aber wir möchten den Marxismus „verbessern“, ihn von einigen seiner Grundsätze entlasten.“

„Vor den Marxisten“, heißt es kurz darauf weiter, „stand die unaufschiebbare Aufgabe, diesen in Fragen der Theorie des Marxismus entarteten Intellektuellen die gebührende Abfuhr zu erteilen, ihnen die Maske herunterzureißen, sie bis zu Ende zu entlarven und auf diese Weise die theoretischen Grundlagen der marxistischen Partei zu verteidigen. … Die erwähnte Aufgabe erfüllte Lenin in seinem berühmten Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“, das im Jahre 1909 erschien.“[ii]

Als Kernaussagen von Lenins Buch werden in dem Lehrgang sechs Punkte dargelegt:

„Nach einer gehörigen Kritik an den russischen Empiriokritizisten und ihren ausländischen Lehrern gelangt Lenin in seinem Buche zu folgenden Schlußfolgerungen gegen den philosophisch-theoretischen Revisionismus:

  1. „Eine immer raffiniertere Verfälschung des Marxismus, immer raffiniertere Unterschiebungen von antimaterialistischen Lehren unter den Marxismus – das kennzeichnet den modernen Revisionismus sowohl in der politischen Ökonomie als auch in den Fragen der Taktik und in der Philosophie überhaupt.“ (Ebenda S. 345.)
  2. „Die ganze Schule von Mach und Avenarius marschiert zum Idealismus.“ (Ebenda S. 375.)
  3. „Unsere Machisten stecken alle tief im Idealismus.“ (Ebenda S. 376)
  4. „Man kann nicht umhin, hinter der erkenntnistheoretischen Scholastik des Empiriokritizismus den Parteikampf in der Philosophie zu sehen, einen Kampf, der in letzter Instanz die Tendenzen und die Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck bringt.“ (Ebenda, S. 376)
  5. „Die objektive, die Klassenrolle des Empiriokritizismus läuft ganz und har hinaus auf Handlangerdienste für die Fideisten (Reaktionäre, die dem Glauben vor der Wissenschaft den Vorzug geben. – D. Red.) in deren Kampf gegen den Materialismus überhaupt und gegen den historischen Materialismus insbesondere.“ (Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 376)
  6. Der philosophische Idealismus ist … ein Weg zum Pfaffentum“ (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 11, S. 84)[iii]

Deswegen ist es für uns von Interesse, zwei Sachen zu prüfen. Inwiefern ist das Verständnis der theoretischen Grundlagen des Marxismus der Genossen Müller, Groos und Textor bereits frei von der idealistischen Philosophie. Anderweitig könnte eine Theorie, selbst wenn sie dem Namen des Marxismus alle Ehre macht, durch die Interpretation der drei Genossen trotzdem falsch wiedergegeben werden. Und natürlich gilt es zu prüfen, inwiefern sich in der von ihnen vertretenen Theorie idealistische Einflüsse niederschlagen oder nicht. Finden sich solche Einflüsse, dann kann eine solche Theorie ein Weg zum Pfaffentum sein und die Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck bringen.    

Die Genossen Müller, Groos und Textor scheinen allerdings unsere Bedenken über den möglichen und sehr wahrscheinlichen Einfluss der bürgerlichen Ideologie nicht im gleichen Umfang zu teilen. Zwar schreiben sie in der Einleitung zu ihrem Beitrag: „Wir sind als Kommunisten davon überzeugt, dass unsere Weltanschauung das wissenschaftliche Rüstzeug zur Veränderung der Welt ist. Umso erstaunlicher, dass wir jetzt merken, wie groß die Lücken hinsichtlich eines wissenschaftlich methodischen Herangehens in unserer Organisation sind. In diesem Beitrag legen wir die wissenschaftliche Methodik des Marxismus-Leninismus für alle Genossinnen und Genossen verständlich dar. Dadurch wollen wir möglichst viele von uns dazu befähigen, die Grundlagen und Methoden des Wissenschaftlichen Kommunismus nachvollziehen und selbst anwenden zu können.“ Und am Ende der Einleitung heißt es: In Teil 3 gehen wir auf gängige Fehler in der Anwendung der Methode und Einfallstore des Revisionismus ein. Abschließend ziehen wir ein Fazit, in dem wir versuchen, der weiteren Klärung ein wissenschaftliches Fundament zu geben. Mit diesem Beitrag legen wir unsere sicher noch lücken- und mangelhaften Ausführungen der Organisation zur Debatte vor, in der Absicht, diese weiter zu qualifizieren.“

All das klingt in Worten im ersten Moment offen und selbstkritisch. Doch obwohl sie feststellen, dass es große Lücken „hinsichtlich eines wissenschaftlichen methodischen Herangehens in unserer Organisation“ gibt – was ohne Frage richtig ist –, sagen sie zugleich aus, dass sie diese Lücken bereits soweit geschlossen haben, um „die wissenschaftliche Methodik des Marxismus-Leninismus für alle“ verständlich darlegen zu können, so dass die Genossen diese „Methoden“ sogar „selbst anwenden“ können. Außerdem weisen die drei Genossen auf ihre „sicher noch lücken- und mangelhaften Ausführungen“ hin, dennoch versprechen sie bereits im Satz zuvor, „gängige Fehler in der Anwendung der Methode“ erkennen zu können.

Demnach können die Genosse Müller, Groos und Textor laut ihrer eigenen Worte die Methode bereits in Teilen lehren und über gängige Fehler in ihrer Anwendung richten. Ihnen ist es demnach gelungen, von einer Einsicht, die sie „jetzt“ bezüglich der großen vorhandenen Lücken im methodischen Vorgehen in unserer Organisation hatten, direkt weiter zu einer ausreichenden Kenntnis der gängigen Grundlagen des Marxismus zu schreiten, um die Lücken aufzufüllen, die sie selbst bis vor Kurzem gar nicht als solche vorhandenen Mängel erkannt hatten.

Das ist keineswegs ein Aspekt, der zwangsläufig für unseren Verdacht spricht. Insbesondere wenn ihnen das gelungen sein sollte, was sie in ihrer Einleitung zum Ausdruck bringen. Was aber wiederum für unseren Verdacht spricht, ist der Trotzkist Ernest Mandel, den sie in ihrem Beitrag auf Seite 17 zu Rate ziehen. Die Genossen Müller, Groos und Textor nehmen an, Mandel könne „eines der komplexesten Probleme der marx’schen Theorie“ korrekt darlegen. Es ist unzweifelhaft, dass gerade Lenin ihrer Annahme vehement widersprechen würde. Für ihn war Trotzki vieles, aber ganz sicher kein Marxist. Lenin traf unter anderem diese Aussagen über Trotzki:

  1. „Der dienstfertige Trotzki ist gefährlicher als ein Feind! … Noch niemals, in keiner einzigen ernsthaften Frage des Marxismus, hatte Trotzki feste Meinungen, immer ,kroch er in die Risse und Spalteʻ dieser oder jener Meinungsdifferenzen und sprang dabei von einer Seite auf die andere …“[iv]
  2. „Trotzki … repräsentiert lediglich seine persönlichen Schwankungen und sonst nichts. 1903 war er Menschewik; 1904 rückte er vom Menschewismus ab und kehrte 1905 zu den Menschewiki zurück, nur mit ultrarevolutionären Phrasen prunkend; 1906 wandte er sich abermals vom Menschewismus ab; Ende 1906 verfocht er Wahlabmachungen mit den konstitutionellen Demokraten (d. h. er war faktisch wieder mit den Menschewiki) …“[v]
  3. „Es sei eine ,Illusionʻ, zu glauben, erklärte Trotzki, der Menschewismus und der Bolschewismus hätten ,in den Tiefen des Proletariats feste Wurzeln gefaßtʻ. Dies ist ein Muster jener klingenden, aber hohlen Phrasen, in denen unser Trotzki Meister ist. Nicht in den ,Tiefen des Proletariatsʻ, sondern in dem ökonomischen Inhalt der russischen Revolution liegen die Wurzeln der Differenzen zwischen Menschewiki und Bolschewiki … Trotzki entstellt den Bolschewismus, denn niemals vermochte Trotzki, sich einigermaßen bestimmte Ansichten über die Rolle des Proletariats in der russischen bürgerlichen Revolution zu machen …“[vi]
  4. „Hieraus ergibt sich klar“, schrieb Lenin 1911, daß Trotzki und die ihm Geistesverwandten ,Trotzkisten und Kompromißlerʻ schädlicher als der ärgste Lidquidator sind, denn überzeugte Liquidatoren legen ihre Ansicht offen dar, und die Arbeiter können ihre Fehlerhaftigkeit leicht erkennen; die Herren Trotzki aber betrügen die Arbeiter, verschleiern das Übel, machen es unmöglich, es aufzudecken und zu heilen. Jeder, der das Grüppchen Trotzki unterstützt, unterstützt die Politik der Verschleierung des Liquidatorentums. Volle Handlungsfreiheit für die Herren Potressow und Co. In Rußland, Verschleierung ihrer Taten durch ,revolutionäreʻ Phrasen im Ausland – das ist das Wesen der Politik des Trotzkismus.“[vii]

Die Genossen Müller, Groos und Textor dürfen nun ruhig selbst darauf schließen, inwiefern einer dieser Herren Trotzki eines der komplexesten Probleme des Marxismus korrekt darzustellen vermag. Sie dürfen ferner selbst darauf schließen, inwieweit das dem Kreis ihrer sicher noch lücken- und mangelhaften Ausführungen“ hinzugefügt werden muss oder nicht.

Trotzdem bedeutet das noch lange nicht, dass ihr Verständnis der Grundlagen des Marxismus-Leninismus falsch sein muss und sich der Einfluss der idealistischen Philosophie darin widerspiegelt. Das können wir nur daran beurteilen, wie sie tatsächlich ihre Auffassungen auf der Basis ihrer erarbeiteten Grundlagen konkret formulieren. Genau darum ist die Stelle von besonderem Interesse für uns, in der sie die Anerkennung oder die Revision ihrer Theorie einfordern. Denn dies ist die Stelle, in der klar zum Ausdruck kommt, dass die Genossen Müller, Groos und Textor diese Theorie als eine „gültige Theorie“ des Marxismus-Leninismus anerkennen. Eine Theorie, die laut ihren Worten „an Lenins Analyse von 1916“ konsequent anzuknüpfen vermag.     

Sie schreiben: „Wenn heute also auf einmal Genossen behaupten, das gesamte imperialistische Weltsystem werde von einer einzigen Supermacht und deren “Vasallen” beherrscht, es gebe auch im heutigen Monopolkapitalismus noch eine “Kompradorenbourgeoisie” oder der Charakter der russischen Monopole unterscheide sich von denen im Westen, weil sie aus der Konterrevolution gegen den Sozialismus hervorgegangen sind etc., so wären diese Genossen aufgefordert, ihre Behauptungen nicht nur mit der gültigen Theorie in Einklang zu bringen (oder deren Revision zu fordern), sondern auch ihre Behauptungen durch neues empirisches Material zu untermauern. Dasselbe gilt, wenn Genossen behaupten, unsere Programmatischen Thesen wären unzureichend, um den Krieg in der Ukraine fassen zu können.

Für uns bedeutet dies außerdem, dass wir nicht einfach bei der Beschreibung der Welt, wie Marx, Engels und Lenin sie uns hinterlassen haben, stehen bleiben können. Wir müssen beobachten, zu welchen neuen Resultaten das Wirken der uns bekannten Gesetzmäßigkeiten in den letzten Jahrzehnten geführt hat. Wie kann zum Beispiel das Kolonialsystem auch heute noch zum Wesenskern des Imperialismus gehören – wie einige Genossen behaupten – wo doch Kolonien heute offensichtlich nur noch als historische Ausnahme existieren, der Imperialismus deshalb aber nicht seine Existenz aufgegeben hat? Wir müssen also fragen, ob neue Phänomene und Entwicklungstendenzen entstanden sind, welche Gegentendenzen aufgekommen sein mögen und ob es Verschiebungen in der Wechselwirkung der Bewegungsgesetze gegeben hat.

Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass wir verstehen müssen, welche Wirkung die Existenz der Sowjetunion auf die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems hatte und welche Dynamiken durch deren Verschwinden ausgelöst wurden. Wir müssen auch verstehen, was es bedeutet, dass es heute keine Kolonien mehr gibt und fast alle Länder der Welt im Stadium des Monopolkapitalismus angekommen sind. Wir werden sehr konkret und empirisch analysieren müssen, wie das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung wirkt und langfristig zum Abstieg alter Großmächte und zum Aufstieg neuer imperialistischer Pole im Weltsystem führt etc.

Wir sehen unseren anfänglichen Verdacht durch ihre Ausführungen nunmehr hinreichend bestätigt: Denn wir können nur annehmen, dass den Genossen Müller, Groos und Textor nicht bewusst war, dass sie in ihren Ausführungen gleich mehrere gängige Fehler auf einmal machen. Wir müssen das annehmen, da wir anderweitig nicht nachvollziehen könnten, warum sie diese Fehler sonst gänzlich unkommentiert hier begehen würden.  

Wir sagen damit im Übrigen nicht, dass es grundsätzlich falsch sein muss, was sie geschrieben haben. Wir sagen nur, dass sie gängige Fehler in der Anwendung der Methode in ihren Ausführungen begehen, die dafür sprechen, dass ihr Verständnis von den Grundlagen des Marxismus-Leninismus nicht frei von den Einflüssen der idealistischen Philosophie ist. Das ist wichtig zu betonen, und zwar allein schon aufgrund der Aussage, die die Genossen zuvor auf Seite 20 selbst getroffen haben. Dort sagten sie: „Ein chemischer oder physikalischer Prozess muss nicht in der chaotisch-komplexen Außenwelt mit all ihren Zufälligkeiten und Wechselwirkungen, sondern kann im Labor sozusagen in Reinform beobachtet und beliebig oft wiederholt werden. Das ist bei der Erforschung der Gesellschaft kaum möglich. Hier dienen als Material einerseits die Geschichte und andererseits die unmittelbare Empirie, die nie unter Laborbedingungen stattfindet.“  

Diese Aussage der Genossen ist vollkommen richtig: wir können die Gesellschaft nicht mittels eigener Experimente erforschen. Wir können im übertragenen Sinn sogar sagen, in dieser Hinsicht befinden wir uns alle unablässig in dem großen Experiment der Geschichte, die in letzter Instanz den Bewegungsgesetzen des historischen Materialismus folgt. Doch die entscheidende Frage ist, wie wir dieses große Experiment überhaupt methodisch richtig erfassen können?

Dafür gibt es nur ein erkenntnistheoretisches Mittel im Marxismus: die Sprache, die sich durch die lebendige Arbeit gleichsam mit dem Menschen entwickelt hat und mit der wir in unserem Kopf versuchen, Ordnung in dieses objektive Chaos da draußen und der geradezu erschlagenden Vielzahl von empirischen Details zu bringen, die sich darin befinden, um unser Leben in der Natur zu meistern[1]. Und sobald Unschärfen in diesem Instrumentarium unserer Wissenschaftssprache vorhanden sind, öffnet sich unvermeidlich der Weg zum Pfaffentum. Wie gesagt, es gibt kein sowohl als auch in diesem Kampf zwischen dem Materialismus und Idealismus. Es gibt nur ein ganz oder gar nicht.[2] Darum gilt es gerade in diesem Punkt, unerbittlich streng und genau zu sein.             

Aber genau in dieser Hinsicht öffnen sich durch verwendeten wissenschaftlichen Sprachschatz der Genossen Müller, Groos und Textor viele Wege für den Idealismus. Dieser gängigste aller Fehler im Allgemeinen in der Anwendung der Methode – nicht streng und genau genug in der Verwendung von Wörtern und Begriffen zu sein –, wollen wir kurz anhand einiger ihrer ausgewählten Formulierungen für die Genossen darlegen.

So sprechen die Genossen nicht nur an dieser Stelle in ihrem Beitrag von „Entwicklungstendenzen“ oder der „Wechselwirkung“. Dadurch können sie im Verständnis der dialektischen Methodik unvermeidlich keine validen Aussagen mehr treffen, da in diesen beiden Wörtern jeweils zwei äußerst wichtige Kategorien miteinander vermengt werden. Die Rede ist zum einen von der notwendigen Unterscheidung einer Bewegung von ihrer Wahrscheinlichkeit und zum anderen der Trennung einer Ursache von ihrer Wirkung.  

Dieser Fehler einer sprachlichen Ungenauigkeit, der im ersten Moment sehr klein wirkt, entfaltet dennoch große Wirkung. Denn wer ihn begeht, der geht nicht all die notwendigen Wege, die sich aus einer Teilung dieser beiden Wörter in ihre vier Begriffe bei der Untersuchung des historischen Materials von selbst ergeben. Wer ihn begeht, der bleibt damit unvermeidlich an der Oberfläche stehen und kann nicht entsprechend scharf in die Tiefe des Abstrakten eindringen.

Das zeigt sich dann deutlich in dieser Frage, die die Genossen Müller, Groos und Textor stellen: „Wie kann zum Beispiel das Kolonialsystem auch heute noch zum Wesenskern des Imperialismus gehören – wie einige Genossen behaupten – wo doch Kolonien heute offensichtlich nur noch als historische Ausnahme existieren, der Imperialismus deshalb aber nicht seine Existenz aufgegeben hat?“ Gleichwohl sie hier selbst eine Offensichtlichkeit benennen, verleitet sie das im Weiteren nicht, entsprechend zwischen Schein und Wesen zu unterscheiden, um dadurch nicht an der offensichtlichen Oberfläche stehenzubleiben. Stattdessen präsentieren sie ohne Umwege kurz darauf bereits den Schein als das Wesentliche an sich: „Wir müssen auch verstehen, was es bedeutet, dass es heute keine Kolonien mehr gibt …“

Es sei also „offensichtlich“, dass Kolonien heute „nur noch als historische Ausnahme existieren“ und deswegen muss es auch so sein, „dass es heute keine Kolonien mehr gibt“ lautet damit die ganze profunde Schlussfolgerung der Genossen.

Und obwohl es noch weitere Fehler in ihren Ausführungen gibt, sind diese für uns an diesem Punkt nicht länger von Interesse. Vielmehr interessiert uns die Konsequenz, die sich aus ihren Ausführungen und ihrer Theorie ergibt: nämlich dass sie auf der Grundlage von gängigen Fehlern in der Anwendung der Methodik teils wesentlichen Aussagen von Lenin widersprechen. Für uns stellt sich daher die Frage, wer widerspricht hier wirklich Lenin? Für wen ist das zuallererst immer von Interesse? Wir sagten bereits, grundsätzlich ist das immer zuerst im Interesse der Bourgeoisie, ganz unabhängig davon, wer im Besonderen dafür sorgt, dass Lenins Aussagen in Zweifel gezogen werden.

Damit ist noch lange nicht gesagt, dass es falsch und im Interesse der Bourgeoisie sein muss, wenn die Genossen die Auffassung vertreten, es gäbe heute keine Kolonien mehr und trotzdem könne der Imperialismus weiterhin existieren. Es wird nur dann zu einer Auffassung, die die Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck bringen kann, wenn sie tatsächlich falsch ist, so dass diese Aufassung helfen kann, das wahre Übel vor der Arbeiterklasse zu verbergen.

Vielleicht war den Genossen Müller, Groos und Textor nicht einmal bewusst, in welch wesentlichen Punkten ihre Aussagen Lenin wirklich widersprechen. Es mag ihnen daher vielleicht bewusst werden, wenn wir die Aussagen zitieren, die Stalin in seinen Vorlesungen „Über die Grundlagen des Leninismus“ 1924 über den Imperialismus in Bezug auf die Kolonien und abhängigen Ländern getroffen hat.

Er sagte: „Bei der Lösung der nationalen Frage geht der Leninismus von folgenden Sätzen aus:

  • a) Die Welt ist in zwei Lager geteilt: in das Lager einer Handvoll zivilisierter Nationen, die über das Finanzkapital verfügen und die die gewaltige Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs ausbeuten, und in das Lager der unterdrückten und ausgebeuteten Kolonien und der abhängigen Länder, die diese Mehrheit bilden;
  • b) die Kolonien und die abhängigen Länder, die vom Finanzkapital unterdrückt und ausgebeutet werden, bilden eine gewaltige Reserve und eine überaus wichtige Kraftquelle des Imperialismus;
  • c) der revolutionäre Kampf der unterdrückten Völker in den abhängigen und kolonialen Ländern gegen den Imperialismus ist der einzige Weg zu ihrer Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung;
  • d) die wichtigsten abhängigen und kolonialen Länder haben bereits den Weg der nationalen Befreiungsbewegung beschritten, die zur Krise des Weltkapitalismus führen muß;    
  • e) die Interessen der proletarischen Bewegung in den entwickelten Ländern und der nationalen Befreiungsbewegung in den Kolonien erheischen die Vereinigung dieser beiden Arten der revolutionären Bewegung zu einer gemeinsamen Front gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Imperialismus;
  • f) der Sieg der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern und die Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus sind unmöglich ohne die Bildung und Festigung einer gemeinsamen revolutionären Front;
  • g) die Bildung einer gemeinsamen revolutionären Front ist unmöglich ohne direkte und entschiedene Unterstützung der Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker durch das Proletariat der unterdrückenden Nationen gegen den „vaterländischen“ Imperialismus, denn „ein Volk, das andere Völker unterdrückt, kann nicht frei sein“ (Engels)      
  • h) diese Unterstützung bedeutet die Verfechtung, Verteidigung und Verwirklichung der Losung: Recht der Nationen auf Lostrennung, auf selbstständige staatliche Existenz;

[…] Hieraus ergeben sich zwei Seiten, zwei Tendenzen in der nationalen Frage: die Tendenz zur politischen Befreiung von den imperialistischen Fesseln und zur Bildung eines selbstständigen Nationalstaates, eine Tendenz, die auf der Grundlage der imperialistischen Unterdrückung und kolonialen Ausbeutung entstanden ist, und die Tendenz zur wirtschaftlichen Annäherung der Nationen, die sich aus der Bildung des Weltmarkts und der Weltwirtschaft ergeben hat.

„Der in Entwicklung begriffene Kapitalismus“, sagt Lenin, „kennt in der nationalen Frage zwei historische Tendenzen. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Schaffung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Schaffung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw.

Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus.“ (Siehe 4. Ausgabe, Bd. 20, S. II, russ.)

Für den Imperialismus sind diese beiden Tendenzen unversöhnliche Widersprüche, denn der Imperialismus kann nicht leben, ohne Kolonien auszubeuten und sie gewaltsam im Rahmen des „einheitlichen Ganzen“ festzuhalten, denn der Imperialismus kann nur durch Annexionen und koloniale Eroberungen, ohne die er, allgemein gesprochen, undenkbar ist, die Nationen einander näherbringen.“[viii]

Wir halten fest: Was für Stalin allgemein gesprochen im Jahr 1924 undenkbar war, ist für die Genossen Müller, Groos und Textor im Jahr 2022 einfach deswegen denkbar geworden, weil es auf der Grundlage ihrer „Entwicklungstendenzen“ und „Gegentendenzen“ der „letzten Jahrzehnte“ offensichtlich sei, dass der Imperialismus existieren kann, ohne Kolonien auszubeuten. Wie gesagt, ein Schelm, der dabei Böses denkt, wenn er bedenkt, welche Klasse ein unvermindertes Interesse daran zeigt, insbesondere Stalin mit allen Mitteln seit über sechs Jahrzehnten grundsätzlich und in allen Punkten zu widersprechen.

Aber auch das bedeutet noch lange nicht, dass die Aussagen der Genossen grundsätzlich falsch sein müssen. Die Frage, die sich lediglich mit aller Gewalt aufdrängt, ist, inwiefern die Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft in ihren Aussagen sich zum Ausdruck bringt oder nicht? Und diese Frage lässt sich am besten nicht durch den Beitrag der Genossen Müller, Groos und Textor beantworten, sondern durch die Beiträge des Genossen Spanidis: Er ist es, der in unserer Organisation am deutlichsten für die Auffassungen eintritt, die auch die Genossen Müller, Groos und Textor in ihrem Beitrag „Klarheit durch Wissenschaft“ vertreten.

So ist es Genosse Spanidis, der unter anderem bestreitet, dass es nur eine Handvoll Länder seien, deren Finanzkapital die gewaltige Mehrheit der Bevölkerung der Welt ausbeutet.

Es ist Genosse Spanidis, der stattdessen behauptet, dass es überhaupt keine unterdrückten, kolonialen und reinen abhängigen Länder mehr geben würde.

Es ist Genosse Spanidis, in dessen Überlegungen es keine Rolle spielt, inwiefern diese Länder eine gewaltige Reserve und überaus wichtige Kraftquelle des Imperialismus bilden könnten.

Es ist Genosse Spanidis, für den es ebenso keine Notwendigkeit mehr ist, dass der revolutionäre Kampf gegen den Imperialismus der einzige Weg zur Befreiung für die unterdrückten Völker sein kann.

Es ist Genosse Spanidis, der sich vielmehr direkt gegen die Notwendigkeit einer gemeinsamen revolutionären Front zwischen unterdrückten und unterdrückenden Völkern ausspricht und die primäre Notwendigkeit im lokalen Klassenkampf für die jeweilige Arbeiterklasse eines Landes verortet.

Es ist Genosse Spanidis, der uns daher frei nach Engels Worten zu dem Schluss zwingt, dass laut seiner Auffassung längst alle Völker frei im Imperialismus sein könnten, weil in seiner Weltanschauung die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Völkern durch die Entwicklungen des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten hinfällig geworden ist.

Und wir sagen deswegen: Es ist schon erstaunlich, in wie vielen Teilen Genosse Spanidis der „Beschreibung der Welt“ von Stalin und Lenin widerspricht und dabei indirekt noch gleich die von Stalin zitierte Aussage von Engels erledigt. Darum lassen wir den Genossen Spanidis jetzt am besten selbst zu Wort kommen, um zu sehen, wie in seiner Weltanschauung das einst Undenkbare nunmehr denkbar wird, und um zu prüfen, welche Philosophie sich in seinen Worten zum Ausdruck bringt – der Idealismus der herrschenden Klasse oder der revolutionäre Marxismus, den er propagiert?

Schauen wir uns zuerst den Beitrag „Imperialismus, „multipolare Weltordnung“ und nationale Befreiung“ an, den Genosse Spanidis in der Januar-Februar Ausgabe von offen-siv in diesem Jahr veröffentliche. Darin schreibt er in dem Kapitel „1b. „Unterdrückte“ und „unterdrückende“ Nationen“ (die Anführungszeichen entstammen seiner Federführung): „Mit dem vorangegangenen Thema hängt auch oft die implizit mitschwingende Frage zusammen, ob es heute weiterhin richtig ist, die Welt in „unterdrückende und unterdrückte Nationen“ zu unterteilen. Eine solche Unterscheidung findet sich bei Lenin (z. B. „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, Lenin Werke 22, S. 144-159). Dass Lenin diese Begriffe benutzte,“, und Engels und Stalin, wie wir gerade sahen, „sollte allerdings alleine kein Grund sein, daran festzuhalten. Ist es also sinnvoll, an dieser Unterscheidung festzuhalten?“

Bevor wir weiter der Genese der Gedanken des Genossen Spanidis folgen, warum es allein kein Grund sein kann, an Begriffen festzuhalten, nur weil sie Lenin, Stalin und Engels benutzen, werfen wir einen Blick in die Arbeit von Lenin, die Genosse Spanidis hier bezeichnet hat. In dieser Arbeit sagte Lenin über die Unterscheidung von unterdrückten und unterdrückenden Nationen unter anderem: „Als Gegengewicht zu dieser spießbürgerlichen opportunistischen Utopie muß das Programm der Sozialdemokratie als das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende hervorheben.“

Und wir halten fest: Für Lenin war die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen offenbar keine Kleinigkeit, sondern etwas Grundlegendes, Wesentliches und Unvermeidliches beim Imperialismus. Dennoch scheint das kein Anlass für den Genossen Spanidis zu sein, an dieser Begrifflichkeit im Imperialismus weiterhin festzuhalten.

Seine Erklärung dafür lautet: „In einem gewissen Sinne sollte klar sein, dass es natürlich weiterhin ganze Völker gibt, die summarisch einer brutalen, barbarischen Unterdrückung unterworfen werden: Die Palästinenser, die Sahrawis … Sicherlich ist es nicht falsch, hier den Begriff „unterdrückte Völker“ anzuwenden.

Wie weit taugt aber diese Unterscheidung zur Analyse des Imperialismus insgesamt? Ich denke, nicht sehr viel, und das aus ähnlichen Gründen wie denen, die gegen die Dependenztheorie sprechen. In den meisten Ländern der Welt ist keineswegs die gesamte Nation unterdrückt, sondern lediglich die Arbeiterklasse und andere arme Klassen und Schichten, z. B. Kleinbauern oder ein „Lumpen-Kleinbürgertum“ (z. B. Straßenhändler etc.). Die Bourgeoisie der „abhängigen“ Länder ist in der Regel nicht unterdrückt, sondern nimmt in der internationalen Arbeitsteilung lediglich eine untergeordnete bzw. Zwischenstellung ein. Auch sie ist eine Ausbeuterklasse, hat parasitären Charakter und häuft teilweise enorme Reichtümer auf Kosten der im Elend lebenden Arbeiter und Bauern an. Einige dieser Kapitalisten schaffen es immer wieder in die Liste der absolut reichsten Individuen der Erde: … Es ist sehr irreführend, die Bevölkerung dieser Länder kollektiv als unterdrückte Nation zu bezeichnen, auch wenn es unbestreitbar ist, dass große Teile der Massen bspw. in Indien oder Mexiko nach wie vor in absolutem Elend leben müssen.“ Und eigentlich sollte es nicht unser Problem sein, wie etwas, das unbestreitbar ist, den Genossen Spanidis in die Irre führen kann, aber er machte nun mal sein persönliches Problem in der Zeitschrift offen-siv öffentlich.

Er schreibt weiter: „Umgekehrt gilt aber auch: Dass die Mehrheit des Volkes bzw. der Nation unterdrückt wird, gilt ebenfalls für alle Länder, auch die führenden imperialistischen Mächte. Die strategischen Aufgaben der Arbeiterklasse sind in Mexiko nicht prinzipiell anders als in Deutschland. In beiden Ländern besteht die Herausforderung darin, unter der Führung einer KP ein gesellschaftliches Bündnis aufzubauen, um die Macht zu übernehmen.

All das bedeutet keineswegs, dass es keine Unterschiede zwischen Mexiko und Indien einerseits und den USA oder Deutschland andrerseits gäbe oder dass diese irrelevant seien. Es bedeutet nur, dass diese Unterschiede mit dem Konzept der gegenseitigen asymmetrischen/hierarchischen Abhängigkeiten sehr viel besser zu erfassen sind als mit einer starren Unterteilung in „unterdrückte“ und „unterdrückende“ Nationen.“

Und damit hat sich Genosse Spanidis innerhalb von nur einer Seite etwas Grundlegendem, Wesentlichen und Unvermeidlichen entledigt – und zwar einfach, weil er gedacht hat („Ich denke“ sic!)!!

Darum wollen wir seine Gedanken nur kurz mit der Wirklichkeit konfrontieren, auch auf die Gefahr hin, das könne ihn in die Irre führen. Dennoch sehen wir es als unsere Pflicht an, dem Genossen Spanidis zu sagen, dass es niemals ganze Völker gab, die „kollektiv“ oder „summarisch einer brutalen, barbarischen Unterdrückung unterworfen“ waren. Seien es die lokalen Günstlinge der Satrapen im Großreich der Perser, die vielen einzelnen einheimischen Könige im westlichen Afrika zur Hochzeit der offenen Form der Sklaverei, die Nizam in Indien unter der kolonialen Herrschaft Englands, immer waren Teile des unterdrückten Volkes an der Unterdrückung beteiligt, die ein anderes Volk ausübte.

Natürlich ist es das gute Recht des Genossen Spanidis zu glauben, dass England sein Monopol auf dem Weltmarkt über 200 Jahre lang alleine durch die Summe des englischen Volks „kollektiv“ behaupten konnte. Er kann sich dennoch bestimmt selbst die Frage beantworten, wie wahrscheinlich es ist, dass die Engländer dabei keine fremde Hilfe aus der lokalen Bevölkerung hatten, die sie jeweils unterdrückten? Wir würden zudem den Genossen Spanidis zum Beispiel gerne auf die revolutionäre Geschichte Haitis und insbesondere der Rolle von Toussaint-Louverture darin verweisen, der ein Kollaborateur der französischen Unterdrücker war, bis er sich durch seinen ausgebildeten Klassenhintergrund gegen seine alten Herren wandte[3].

So oder so spricht die Wirklichkeit nicht für seine Gedanken, sondern argumentiert direkt gegen sie. Da es niemals ganze Völker gab, die „summarisch“ und „kollektiv“ unterworfen waren und das heute demnach ebenso kein Novum ist, spricht sein eigener Gedankengang vielmehr direkt dafür, dass es weiterhin unterdrückte und unterdrückenden Völker/Nationen geben kann.

Wir wollen den Genossen Spanidis zudem fragen, an welcher Stelle Lenin oder Stalin jemals behauptet hätten, die Unterteilung von unterdrückten und unterdrückenden Völkern sei „starr“ aufzufassen? Sie sprechen von einem Gegensatz, das ja, aber dieser ist in der dialektischen Betrachtung niemals starr, sondern immer hochgradig in Bewegung, solange er besteht.  

Doch vor allem müssen wir den Genossen Spanidis fragen, ob ihm aufgefallen ist, dass ihm vor lauter Gedanken das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche des Marxismus selbst entfallen ist? Wir reden von nichts Geringerem als – dem Klassenkampf.

Darum möchten wir ihn an einige der ersten Sätze aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ erinnern, die Marx und Engels gemeinsam schrieben:

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.

Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“[ix]

Damit ist klar, dass die These von Genosse Spanidis, dass das „Konzept der gegenseitigen asymmetrischen/hierarchischen Abhängigkeiten sehr viel besser“ sei, statt „einer starren Unterteilung in „unterdrückte“ und „unterdrückende“ Nationen“ nicht nur Lenin und Stalin widerspricht, sondern auch noch gleich Marx und Engels mit. Doch damit ist ebenso klar, dass Genosse Spanidis, wenn er nicht mehr von diesem steten Gegensatz zwischen Unterdrückern und Unterdrückten sprechen will, er somit aufgehört hat, vom Klassenkampf zu sprechen.

Für uns wird so zumindest nachvollziehbar, warum ein Genosse es tatsächlich wagt, davon zu sprechen, dass „lediglich“ (sic!) die Arbeiterklasse und andere Kleinigkeiten „wie andere arme Klassen und Schichten“ wie das frei vom Genossen Spanidis heraus assoziierte „Lumpen-Kleinbürgertum“ unterdrückt werden.

Doch wer vom Wesentlichen des Klassenkampfs nicht mehr spricht, weil er den bestimmenden Gegensatz in diesem Kampf aus den Augen verloren hat, bei dem verlieren unvermeidlich die „strategischen Aufgaben“ ihre notwendige Beweglichkeit und werden starr. Weil „ebenfalls für alle Länder“ gälte, „dass die Mehrheit des Volkes bzw. der Nation unterdrückt wird, seien „die strategischen Aufgaben der Arbeiterklasse [..] in Mexiko nicht prinzipiell anders als in Deutschland“. Es gälte laut Genosse Spanidis, „unter der Führung einer KP ein gesellschaftliches Bündnis aufzubauen, um die Macht zu übernehmen.“ Wir fragen den Genossen Spanidis daher, wenn das so einfach wäre (KP → Bündnis → Macht), warum gelingt das dann heute einfach nicht?

Es könnte daran liegen, dass, selbst wenn Genosse Spanidis ihn ignoriert, trotzdem immer noch dieser erste Widerspruch für den Imperialismus gilt, den Stalin ebenso in den „Grundlagen des Leninismus“ aufstellte:

Der erste Widerspruch ist der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Der Imperialismus ist die Allmacht der monopolistischen Truste und Syndikate, der Banken und der Finanzoligarchie in den Industrieländern. Im Kampf gegen diese Allmacht erwiesen sich sich die üblichen Methoden der Arbeiterklasse – Gewerkschaften und Genossenschaften, parlamentarische Parteien und parlamentarischer Kampf – als völlig unzureichend. Entweder du ergibst dich dem Kapital auf Gnade und Ungnade, vegetierst in alter Weise weiter und sinkst immer tiefer, oder du greifst zu einer neuen Waffe – so stellt der Imperialismus die Frage vor den Millionenmassen des Proletariats. Der Imperialismus führt die Arbeiterklasse an die Revolution heran.“[x]

Genosse Spanidis hingegen spricht nicht mehr von der Allmacht des Kapitals in den Industrieländern. Er spricht nur noch im Allgemeinen von Monopolen und präsentiert dabei nicht neue, sondern alte Waffen: Ein „breites gesellschaftliches Bündnis“ unter der Führung einer KP aufzubauen, „um die Macht zu übernehmen“ – und wir fragen uns, was an dieser Aussage nach revolutionärem Kampf klingt und nicht einzig nach „parlamentarischem Kampf“? Und all den Leuten, die von breiten gesellschaftlichen Bündnissen träumen, entgegnete schon Lenin am 27. November 1917 laut dem Bericht von John Reed: „Wenn in der Tat die Verwirklichung des Sozialismus erst mögliche wäre, wenn die intellektuelle Entwicklung des ganzen Volkes es gestattet, dann würden wir ihn auch in fünfhundert Jahren nicht erleben.“[xi]

Doch wir wissen, es hat seinen Grund, warum Genosse Spanidis in derart vielen Punkten in einen Widerspruch zu Lenin und Stalin sowie zu Marx und Engels tritt. Es ist aufgrund der Theorie, die er vertritt und die auch die Genossen Müller, Groos und Textor in ihrem Beitrag vertreten, wie durch die eindeutige sprachliche Identität zwischen den Beiträgen der vier Genossen deutlich wird.

So schreibt Genosse Spanidis in dem Kapitel „Multipolare Weltordnung“ zum Beispiel: „Im Zusammenhang mit der Stellungnahme zu Afghanistan hat sich ein weiterer Diskussionspunkt herauskristallisiert, nämlich die Frage, wie die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems (sic!) hin zu einer neuen Multipolarität in diesem Kontext einzuschätzen ist. Denn so richtig es ist, dass das Ende der Besatzung die Voraussetzung für Fortschritt jeglicher Art ist, so offen bleibt die Frage, welche Verschiebungen (sic!) im imperialistischen Weltsystem (sic!) daraus folgen werden. […] Für das afghanische Volk ist es unabhängig davon erfreulich, dass die Besatzung endet, denn eine imperialistische Politik mit diplomatischen und ökonomischen Mitteln ist für die Bevölkerung natürlich nicht dasselbe wie Krieg und Besatzung.“

Wir möchten aber dem Genossen Spanidis zugute halten, dass er gerade seine Sympathie für den Kampf des afghanischen Volks bekundet hat. Leider hält diese Sympathie seiner Assoziationskette nicht allzu lange stand, denn eine Seite weiter heißt es in seinem Beitrag aus offen-siv: „Unabhängig davon, ob es für das afghanische Volk ein Fortschritt ist, wenn die Besatzungstruppen verschwinden, sollten wir also in einer umfassenderen Perspektive auch berücksichtigen, welche allgemeinen Entwicklungstendenzen (sic!) sich in der Niederlage der USA ausdrücken. Afghanistan ist jetzt keine US-Marionette mehr“, da war zwar die Kleinigkeit, dass auch Deutschland seine „Freiheit am Hindukusch“ verteidigte, aber gut, wir wollen ihn nicht unnötig in seinem Gedankengang unterbrechen, „und sicherlich politisch unabhängiger als zuvor, allerdings werden Pakistan und China nun vermutlich mehr zu sagen haben.“

An dieser Stelle müssen wir den Genossen Spanidis allerdings mit Entschiedenheit unterbrechen. Denn wir fragen uns gerade, wen Genosse Spanidis mit diesen Aussagen eigentlich gerade verteidigt? Das afghanische Volk oder unabhängig davon die USA (oder Deutschland, dessen Kriegsbeteiligung ihm anscheinend entfallen ist)? Wir sind uns da gerade nicht sicher, weil in diesen Zeilen alles im Vagen bleibt. Wir sind uns zumindest gerade nicht sicher, ob ein Fortschritt für das afghanische Volk ein Problem für den Genossen Spanidis darstellen könnte, wenn dadurch China und Pakistan „vermutlich mehr zu sagen“ haben könnten.

Um aber vorsichtshalber alle Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen, entgegnen wir ihm: kein Gedanke kann den Fortschritt eines ganzen unterdrückten Volkes im Imperialismus relativieren! Denn keine Ursache wird jemals ohne Wirkung bleiben, egal ob das dem Genossen Spanidis in seinem „imperialistischen Weltsystem“ behagt oder nicht. Die einzig entscheidende Frage dabei ist stets, ob eine nationale Bewegung einen revolutionären oder reaktionären Charakter trägt? Und je nachdem geht es tatsächlich darum, die Folgen dieser Bewegung zu analysieren, aber sie nicht „unabhängig davon“ zu relativieren.

Doch wir wissen, es hat seinen Grund, dass in den Konzeptionen vom Imperialismus des Genossen Spanidis alles relativ wird: die Theorie, die er in dem Beitrag unter dem Kapitel „Imperialismus als System wechselseitiger, hierarchischer Abhängigkeiten“ ausführt.

„Plausibler ist dagegen eine Konzeption des Imperialismus“, schreibt er, „die diesen als ein System wechselseitiger (sic!), aber hierarchischer Abhängigkeitsbeziehungen versteht, also als eine Art „Pyramide“ mit einer Spitze und einer nach unten breiter werdenden Basis“, und wir danken dem Genossen Spanidis, dass er uns erklärt, wie eine Pyramide aussieht, damit wir sie nicht aus Versehen mit einem Kubus verwechseln, „Weil der Kapitalismus sich weltweit ungleichmäßig (sic!) entwickelt und insbesondere durch Krisen die Hierarchie zwischen den Staaten sich ständig verändert, sollte das Bild (sic)! der „Pyramide“ dabei natürlich nicht statisch verstanden werden“, anders als die unterstellte starre Unterteilung in unterdrückte und unterdrückende Nationen, „Wichtig ist an dieser Konzeption allerdings, dass sie:                 

  1. a- Den Imperialismus als ein Weltsystem versteht, das auch die weniger entwickelten, selbst die ärmsten und/oder völlig abhängigen Länder mit einbezieht. Imperialismus ist damit also keine bloße „Eigenschaft“, die nur einer Handvoll Länder zukommt, sondern ein Gesamtsystem.    
  2. b- Die Wechselseitigkeit der Abhängigkeiten mit einbezieht, woraus folgt, dass die Dominanz eines Landes nie absolut ist und auch ständig infrage gestellt werden kann.“

Was an diesen beiden Aspekten der Konzeption wichtig und demnach derart neu sein soll, so dass sie „an Lenins Analysen von 1916“ konsequent anzuknüpfen vermag, bleibt uns schleierhaft. Zum einen hatte Lenin bereits eindeutig den Imperialismus nicht als eine Eigenschaft, sondern als „das höchste Stadium des Kapitalismus“ und damit als seine voll entwickelte Qualität definiert, die ausnahmslos alle kapitalistischen Ländern erfasst, von denen lediglich eine Handvoll für sich imperialistisch, aber eben nicht der Imperialismus an sich sind. Und zum anderen hatte Lenin in seiner Untersuchung bereits umfassend die Auswirkungen des Konkurrenzkampf berücksichtigt und war nicht zu der gleichen, sondern einer wesentlich genaueren Beschreibung über die Auswirkungen dieses Kampfes für die einzelnen Länder gelangt, deren „Dominanz“ laut Genosse Spanidis „nie absolut ist“.

Eine Stelle, in der Lenin bereits alles Notwendige über die „Dominanz eines Landes“ sagte, die auch schon damals „nie absolut sicher“ war, lautet: „Der Imperialismus hat sich aus Ansätzen zum herrschenden System entwickelt; die kapitalistischen Monopole haben in der Volkswirtschaft und in der Politik den ersten Platz eingenommen; die Aufteilung der Welt ist vollendet; und anderseits sehen wir an Stelle des unbestrittenen englischen Monopols den Kampf einer kleinen Anzahl imperialistischer Mächte um die Beteiligung am Monopol, einen Kampf, der den ganzen Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnet.“[xii]

Doch tatsächlich sind diese beiden Punkte offenbar wirklich das einzig Wichtige an der „Konzeption“ der „Pyramide“. Denn es folgen keine weiteren Spezifikationen, sondern vielmehr erläutert Genosse Spanidis nun, wie der Leser dieses angeblich Wichtige und Neue zu verstehen hat: „Das bedeutet wiederum nicht, dass der hierarchische Charakter dieser gegenseitigen Abhängigkeiten vergessen werden sollte. Man ist gut beraten, Analysen zu vermeiden, die zwar die Charakteristika des Imperialismus als ein die ganze Welt durchdringendes System und die von jedem Land in einer bestimmten Phase des Kapitalismus übernommenen imperialistischen Rollen betonen, aber die imperialistische Hierarchie selbst trivialisieren.“, schreibt die Kommunistische Partei der Türkei dazu.“

Uns hingegen interessiert aber weiterhin primär die „Konzeption“ der „Pyramide“, da sie offenbar die ideologische Grundlage für den Genossen Spanidis bildet, um in wesentlichen Punkten Lenin und Stalin sowie Marx und Engels zu widersprechen. In einem anderen Beitrag von ihm, der im August in einer Sonderausgabe der Zeitschrift offen-siv veröffentlicht wurde, kommt er erneut auf dieses „Bild“ zu sprechen. Wie schon die Genossen Müller, Groos und Textor bezieht er sich dabei auf die KKE:

„Aufgrund der Schwäche der kommunistischen Weltbewegung fiel es der KKE zu, als erste auf die Veränderungen in der Konstellation des Imperialismus aufmerksam zu machen. Sie hat dafür das Bild der „imperialistischen Pyramide“ geprägt. Dieses Bild (sic!) soll dem erleichterten Verständnis dessen dienen, worum es dabei geht: Nämlich darum, dass es im imperialistischen System (sic!) nicht nur „oben“ und „unten“ gibt, sondern vielmehr verschiedene Positionen auf einer Stufenleiter, in einer Rangordnung, wobei es falsch ist, den Imperialismus nur in der obersten Stufe der Leiter zu suchen. Dass es die Leiter gibt, dass es sogar zum Wesen des Imperialismus gehört, dass er sich als strenge Hierarchie darstellt, wird durch das Bild (sic!) der Pyramide keineswegs bestritten, sondern sogar unterstrichen.

Nun sollte dieses Bild, weil es eben ein Bild (sic!), eine Metapher ist, und keine detailgenaue Abbildung der Realität, aber auch nicht überstrapaziert werden. Anders als die Steine der Pyramiden von Gizeh befinden sich die Elemente der imperialistischen Pyramide im ständigen Fluss – die gesetzmäßig ungleichmäßige Entwicklung und die ständigen Kämpfe um Neuaufteilung drücken sich in relativen Auf- und Abstiegsprozessen aus.“

In den nächsten Sätzen erklärt Genosse Spanidis noch, warum die „Pyramide“ nichts mit „den Stufenpyramiden in Mexiko“ zu tun hätte, aber wir sehen davon ab, diese Albernheit erneut zu zitieren. Denn das gehört bereits wieder zu den sekundären Erläuterungen und nicht zu der primären Darstellung der „Konzeption“ der „Pyramide“. Stattdessen finden wir in diesem zweiten Beitrag vom Genossen Spanidis als einzigen und wahrscheinlich für ihn ebenso wichtigen neuen Aspekt zu der „Konzeption“, dass die „Pyramide“ verdeutlichen soll, „dass es im imperialistischen System nicht nur „oben“ und „unten“ gibt, sondern vielmehr verschiedene Positionen auf einer Stufenleiter.“ Warum die KKE dieses Konzept dann überhaupt „imperialistische Pyramide“ nennt und nicht gleich die „imperialistische Leiter“, bleibt wohl ihr Geheimnis.

Aber nach all dem, was wir bisher bei den Genossen Müller, Groos und Textor sowie beim Genossen Spanidis zu ihrer „Konzeption“ lesen konnten, fasst damit diese Aussage den Inhalt der „Pyramide“ wohl recht treffend zusammen: In ihr befinden sich alle „Elemente“ in „relativen Auf- und Abstiegsprozessen“ und im „ständigen Fluss“ zwischen den „verschiedenen Positionen“ „einer Stufenleiter“.

Es ist ebenso deutlich geworden, dass die Genossen Müller, Groos und Textor inhaltlich sowie sprachlich die gleiche Theorie vertreten wie der Genosse Spanidis. Alle vier widersprechen damit auf der gleichen Grundlage – in Form und Inhalt – teils wesentlichen Aussagen von Marx, Engels, Lenin und Stalin. Für alle vier Genossen steht daher jetzt die gleiche Frage im Raum: Welche Ideologie sie in der Form ihrer gewählten Sprach inhaltlich wirklich vertreten?

Und da unser Verdacht ist, dass es die bürgerliche Ideologie sein könnte, deren geistige Kinder die Genossen durch den Sieg der Konterrevolution über die Sowjetunion unweigerlich sind, wollen wir überprüfen, inwiefern in Form und Inhalt die Theorie der Genossen der bürgerlichen Philosophie ebenso vehement und in derart wesentlichen Punkten widerspricht, wie es den vier Genossen aufgrund von Offensichtlichkeiten bei Marx, Engels, Lenin und Stalin beliebt.

Wir halten daher erneut fest: Der Kern ihrer Theorie über den Imperialismus besagt, alles befindet sich im „ständigen Fluss“, weil es letztlich laut der „Auffassung“ der vier Genossen in diesem „imperialistischen System“ nicht nur „oben“ und „unten“ in der „Hierarchie“ zwischen den Ländern gibt, sondern ebenso „verschiedene Positionen auf einer Stufenleiter“.

Im Jahr 2020 erschien bei Suhrkamp das Buch „Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politische Gegenwart“ von Isabell Lorey. Sie ist Professorin für Queer Studies in Köln und stellt in diesem Buch das Konzept der „Multitude“ vor.

In dem Kapitel „Demokratie und konstituierende Macht“ schreibt sie dazu in der typisch gespreizten Sprache einer kleinbürgerlichen Gelehrten:

„Diese neuen demokratischen Formen der Instituierung und Konstituierung sind nicht mittels der Dichotomisierung von ineffizienter Horizontalität auf der einen Seite und effizient-hierarchischer (sic!) Vertikalität auf der anderen zu verstehen. Horizontal und vertikal sind nicht zwei im rechten Winkel zueinander stehende Achsen, die nur einen einzigen Kreuzungspunkt haben und bei denen man sich für eine Richtung entscheiden muss. Im Gegenteil: Es geht nicht um Achsen, sondern um transversale Vektoren, die in einem konstituierenden Prozess permanent entstehen, in einem Prozess, der von mikropolitischen sozialen Bewegungen ausgeht, und in dem diese nicht an die zweite Stelle hinter der Partei treten. Das Vertikale ist also nicht als senkrechte Achse der Organisation, der Partei, der Regierung zu verstehen, sondern im Wortsinn des lateinischen vertere als jene »wendende« Dynamik (sic!), die die Horizontalität der sozialen Bewegung zur Neuerfindung der Regierungsform bringt.“[xiii]

Trotz ihrer Wortakrobatik dürfte deutlich geworden sein, was Lorey versucht zu sagen: Dass es angeblich nicht nur die „Dichotomisierung“ von zwei Seiten gibt, sondern sich alles in einem „konstituierenden Prozess“ befindet, der durch die „neuen demokratischen Formen“ „permanent“ entsteht, „transversal“ und als »wendende« Dynamik – die, wie man es auch schlichter übersetzen könnte: zu „relativen Auf- und Abstiegsprozessen“ von „Regierungsformen“ führen, die in „ständigem Fluss“ sind.

Was diese ominöse „Multitude“ nun genau sein soll, versucht Lorey wiederum in diesem Absatz nicht minder kunstvoll zu erklären.

Es bedarf einer Form der Organisierung als Multitude,“, schreibt sie, „die nicht zum Einen führt, von einem geführt wird, nicht zentralistisch, nicht vereinheitlichend ist; einer Form der Organisierung, die die breite und anhaltende Involvierung der Vielen durch radikale Inklusion“, vielleicht durch die radikale Inklusion der Vielen in einer Pyramide?, „ermöglicht. Diese Involvierung ist nicht einfach eine zählbare Partizipation an einzelnen Veranstaltungen oder Ereignissen, sondern wiederkehrende Affizierung und Involvierung im Ereignisgewimmel, ohne Formierung eines revolutionären Subjekts. Die transversale Wiederkehr der radikalen Inklusion wird nicht auf einer einzigen Ebene“, oder nicht nur auf einer einzigen Stufenleiter, „nicht einfach horizontal, nicht über nebeneinander stattfindende offene Versammlungen praktiziert, sondern auf mehreren zeitlichen und räumlichen Ebenen gleichzeitig, transversal und translokal“, um so gemeinsam „transversal“ und „translokal“ zur Weltrevolution von Trotzki zu schreiten.

Weiter schreibt Lorey: „Ausgehend von drei Denkern, die ihn (Antonio Negri) in der Konzeption (sic!) einer nicht juridisch ausgerichteten konstituierenden Macht inspiriert haben – Machiavelli, Spinoza und Marx – sowie den genealogischen Linien, die sie durch die moderne politische Theorie ziehen, zeigt Negri im abschließenden Kapitel seines Buches, dass auch sie noch immer drei zentralen Komponenten europäischen Denkens verhaftet bleiben: der Ideologie des Schöpfertums“, denn nichts ist verwerflicher für die Bürgerlichen als die Schöpferkraft der Arbeiterklasse, „dem Naturrecht als Grundlage des Sozialen“, weil anderweitig die Arbeiterklasse als Mehrheit ihr Recht einfordern dürfte, „sowie der Transzendentalphilosophie“[xiv], die hier kurzerhand zu einem Schmähbegriff für die wahre Dialektik wird, die bekanntermaßen in Marx ihre Vollendung fand.[4]

Bisher widerspricht die Theorie des Genossen Spanidis, für deren „Plausibilität“ er plädiert, nicht wirklich dieser kleinen Auswahl an Aussagen einer bürgerlichen Professorin. Stattdessen weist die „Konzeption“ der Multitude“ von Lorey im „bestehenden politischen System“[xv] teils inhaltlich und in Worten unverkennbare Ähnlichkeiten mit der „Konzeption“ des Genossen Spanidis von einer multipolaren Weltordnung“ im „imperialistischen System“ auf.

Wir fragen uns darum, inwiefern das bereits ein erstes relevantes Indiz für ein harmonisches Multikulti verschiedener „Konzeptionen“ aufgrund multilateraler Beziehungen im Vorstellungsraum der bürgerlichen Ideologie sein könnte? Das Substantiv Multi ist zumindest in der bürgerlichen Welt in aller Munde, wie nicht zuletzt die furchtbar gelehrte Konzeption vom Multiversum beweist, die unter anderem vom Physiker David Deutsch Anfang der 2000er geprägt wurde[xvi].   

Da uns aber die Tragweite vollkommen bewusst ist, die sich hier lediglich durch Ähnlichkeiten in Form und Inhalt zweier Theorien andeutet, ziehen wir das Buch einer weiteren bürgerlichen Professorin heran. 2021 erschien „Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation“ von Sabine Hark, die an der TU Berlin Gender Studies lehrt.

Gleich in der Einleitung zu ihrem Buch horchen wir auf.

„Ein weiterer theoretischer Begriff,“, schreibt Hark dort, „der, wie bereits in „Unterscheiden und herrschen“, auch in diesem Buch von Gewicht ist, ist der in sozialwissenschaftlichen Debatten (sic!) zu Fremdheit, Migration und Einwanderung sowie zu Rassismus, Sexismus und anderen Diskriminierungsverhältnissen einflussreich gewordene Begriff der »Dominanz(sic!)kultur« der Psychologin und Rassismusforscherin Birgit Rommelspacher. Rommelspacher versteht darunter eine komplexe, durch ein intersektionales Geflecht verschiedener Machtdimensionen (sic!)[5] strukturierte gesellschaftliche Formation. Diese Formation prägt und organisiert unsere gesamte Lebensweise, unsere Selbstinterpretation sowie die Bilder (sic!), die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung. Dominanz(sic!)kultur organisiert das Verhalten, die Einstellungen und Gefühle aller, die in einer Gesellschaft leben.“[xvii]

Offenbar hat Hark genauso wie der Genosse Spanidis eine Sache vergessen: Dominanz setzt immer die Möglichkeit voraus, Länder oder Menschen überhaupt konkret unterdrücken zu können[6]. Wir landen damit direkt wieder bei der einzigen Bedingung dieser Möglichkeit – dem steten Gegensatz aus Unterdrückern und Unterdrückten im Klassenkampf. Daran wird keine gelehrte Wortakrobatik jemals etwas ändern können, egal wie sehr sie sich auch bemüht, diesen Gegensatz im Geiste zu den Akkorden von der Dominante und ihrer Subdominante auf einer Tonleiter zu verformen.

„Methodologischer Knotenpunkt“, versucht eine Seite darauf Hark dennoch in dieser Hinsicht ihr Glück, „des Essay ist die Figur der Ungewählten. Ich verstehe sie als theoretische Suchfigur. Eine Schwellenfigur“, die also quasi auf einer Zwischenstufe steht, „liminal auf der Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, transversal (sic!) an der hierarchisch (sic!) organisierten Trennung von (mannmenschlichem) und (nicht-mannmenschlichem) Objekt. Schwellenfiguren“, die auf Zwischenstufen stehen, „ermöglichen Bewegungen in alle Richtungen“, ob nun rauf oder runter die verschiedenen Positionen einer Stufenleiter, „und erweitern so unseren Blickwinkel.“

Unsere Perspektive zumindest weitet sich tatsächlich langsam immer weiter, wenn wir an die „Plausibilität“ der Theorie des Genossen Spanidis denken.

Doch vorerst übt Professorin Hark einen weiteren rhetorischen Salto-Mortale aufgrund der vielen „Blickwinkel“, die sich in ihrer „nicht-mannmenschlichen“ Vorstellungswelt ergeben. 

„Überleben werden wir nur gemeinsam,“, setzt sie zum Sprung an, „dazu brauchen wir die Hilfe anderer. Wir sind, ob gewollt oder nicht, auf andere angewiesen, ihnen immer schon überantwortet. Nach solchen Formen der Relationalität, Interdependenz und Reziprozität müssen wir suchen und Institutionen und Infrastrukturen schaffen, die Interdependenz auf demokratische Weise, wie einem breiten gesellschaftlichen Bündnis, gewährleisten, so kompliziert und herausfordernd das auch sein mag. […] Undoing dominance (sic!) vor allem – also die Dezentrierung und Demontage von imperialer Dominanz(sic!) kultur, einschließlich der Privilegien, die aus unserer jeweiligen Positionierung (sic!)[7] in solch herrschaftliche Verhältnisse resultieren, etwa derjenigen, die mit dem Pass einhergehen, den zu tragen ich berechtigt bin.[xviii]

Und es ist vollbracht! Hark ist wieder auf ihrem Kopf gelandet und präsentiert uns als die Lösung für unsere „komplizierten“ Probleme: die Demontage des Sinnbilds „imperialer Dominanzkultur“ durch Dezentrierung, um stattdessen einen Fokus zu setzen auf die „jeweilige Positionierung in solch herrschaftlichen Verhältnissen“.

Wir lassen damit Hark ihre Positionsübungen wieder alleine in ihren „herrschaftlichen Verhältnissen“ fortführen, weil ein ganz anderes Wort in diesem Absatz sofort unser Interesse weckte: „Interdependenz“ – denn die Bedeutung von „Interdependenz“, wie sie auch der Duden definiert, ist schlicht und ergreifend: „gegenseitige Abhängigkeit“ (sic!).

Ein Wort, das uns darum jetzt direkt zu Judith Butler führt, die Komparatistik und Kritische Theorie in Berkley lehrt.

Denn es ist kein Geheimnis, dass es insbesondere Judith Butler ist, die für die Konzeption der „Interdependenz“ eintritt. Und es ist kein Geheimnis, dass sie durch ihr Buch „Gender Trouble“ von 1990 zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten in der bürgerlichen Geisteswelt geworden ist. Eine Kapazität, auf deren Arbeiten sich nicht nur Lorey und Hark oft und gerne beziehen.

Umso mehr interessiert uns jetzt die Frage: inwiefern die Theorie des Genossen Spanidis von einem System wechselseitiger, aber hierarchischer Abhängigkeitsbeziehungen“ in Form und Inhalt der Konzeption, die eine der bekanntesten bürgerlichen Ideologinnen der Welt vertritt, ähnelt oder nicht?

Darum werfen wir einen Blick in das jüngste Buch von Judith Butler: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“, das 2020 erschienen ist.

Doch bevor wir hören, was uns Judith Butler in Punkto „Interdependenz“ zu sagen hat, stellen wir eine andere Aussage von ihr aus diesem Buch voran, die klar macht, wo die Reise bei ihr am Ende tatsächlich für Kommunisten hingeht: „Marx wollte die Fiktion zugunsten der Betrachtung der faktischen Gegenwart hinter sich lassen, aber das hielt ihn nicht davon ab, sich ebendieser Fiktionen zu bedienen, um seine Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln.“[xix]

Kurzum, für Butler ist die Politische Ökonomie von Marx Fiktion und mehr gibt es zu den Grundlagen ihrer Ideologie im Wesentlichen nicht zu sagen. Es ist klar, dass Butlers Ideen daher sicherlich vieles für Kommunisten sind, aber sie sind ganz sicher weder marxistisch noch irgendwie revolutionär.[8]

Nachdem wir das klargestellt haben, hören wir uns an, wie Butler die „Interdependenz“ Schritt für Schritt entwickelt und in was für einen sprachlichen Rahmen sie ihre Theorie einbettet.

Gleich in der Einleitung zu ihrem Buch finden wir einen eigentlich recht eindeutigen Begriff im Marxismus-Leninismus. Zumindest nahmen wir das an, bis Judith Butler kam …

Sie schreibt: „Argumente für Gewaltlosigkeit setzen Klarheit darüber voraus, wie Gewalt vorgestellt und in einem Feld diskursiver gesellschaftlicher und staatlicher Macht zugeschrieben wird; man muss hier die taktischen Umkehrungen und den phantasmatischen Charakter der Zuschreibung selbst verstehen. Darüber hinaus müssen wir die Muster zu kritisieren versuchen, nach denen staatliche Gewalt sich selbst rechtfertigt, und ebenso die Beziehung zwischen diesen Rechtfertigungsmustern und der Bemühung um den Erhalt des Gewaltmonopols. Dieses Monopol hängt von einer Benennungspraxis ab, in der Gewalt oft als rechtliche Zwangsmaßnahme verschleiert oder in ihr Zielobjekt verlagert und dann als vom anderen ausgehende Gewalt wiedergefunden wird.“[xx]

Wir müssen darum unsere erste Feststellung über Butler noch um folgenden Punkt ergänzen: Nicht nur die Ökonomie von Marx ist für Butler zu einer Fiktion geworden, auch das Monopol von Lenin wird in ihren Händen klammheimlich zu einem Synonym für staatliche Gewalt umgemünzt. Sie hat damit klammheimlich eine Wirkung von ihrer Ursache getrennt.

Aber wir sind erst am Anfang ihrer Gedankenwelt.

Sie schreibt weiter: „Das heißt nicht, dass Gewalt“, (der Monopole), „bloß eine Frage der Interpretation ist, wobei Interpretation als subjektive und willkürliche Art der Bezeichnung aufgefasst wird. Gewalt“, (der Monopole), „unterliegt vielmehr in dem Sinne der Interpretation, dass sie innerhalb manchmal unvereinbarer oder gegensätzlicher Rahmensetzungen erscheint; daher erscheint sie ganz unterschiedlich – oder auch gar nicht –, je nachdem, wie der jeweils gesetzte Rahmen sie erscheinen lässt. … Die Konstruktion eines neuen Rahmens zu ebendiesem Zweck ist denn auch eines der Anliegen dieses Projekts.“[xxi] 

Butler hat also erkannt, dass Gewalt auf „ganz unterschiedliche“ Art und Weise erscheinen kann – „oder auch gar nicht“ – und macht sich nun daran, diese äußerst profunde und tiefsinnige, aber alles andere als neue Einsicht in einem „neuen Rahmen“ zu erklären. Und so gerne wir dem Leser jetzt lieber Auszüge von Engels Gewalt-Theorie vorstellen würden, wir müssen ihn dennoch bitten, weiter Butler zuzuhören. Denn wir haben immer noch einen sehr konkreten und zunehmend begründeten Verdacht.

„Die Beschreibung (sic!) der sozialen Bindungen,“, setzt Butler zur versprochenen Erklärung an, „ohne die das Leben gefährdet ist, ist auf der Ebene einer Sozialontologie angesiedelt, die eher als ein gesellschaftliches Imaginäres denn als eine Metaphysik des Sozialen zu begreifen ist“, – die Erklärung wiederum, warum etwas Imaginäres kein Teil der Metaphysik sein soll, bleibt sie uns leider schuldig – „Anders gesagt lässt sich ganz allgemein davon ausgehen, dass Leben durch soziale Interdependenz gekennzeichnet ist und Gewalt einen Angriff auf diese Interdependenz darstellt, einen Angriff auf Personen, ja, aber noch grundlegender einen Angriff auf «Bindungen». Obgleich Interdependenz Differenzierungen von Unabhängigkeit und Abhängigkeit begründet, impliziert sie auch soziale Gleichheit: Jeder ist abhängig oder durch Abhängigkeitsbeziehungen (sic! sic! sic!) geformt und durch sie am Leben erhalten, und von jedem wiederum sind auf diese Weise andere abhängig.“[xxii]

Wir können demnach festhalten, dass laut ihrer eigenen Worte Butlers „neuer Rahmen“ auf der tiefsinnigen Erkenntnis beruht, dass Menschen nicht im luftleeren Raum leben. Und wir müssen leider ebenso festhalten, dass niemand in Berkley auf die Idee kam, ihr nach dieser profunden Entdeckung von „Abhängigkeitsbeziehungen“ die Stelle als Professorin zu streichen.

„Damit werden neue Überlegungen zu einer sozialen Freiheit ermöglicht,“, schreibt sie stattdessen weiter, „die nicht zuletzt durch unsere konstitutive wechselseitige Abhängigkeit (sic! sic! sic!) definiert ist.“[xxiii]

„Ich bin auch der Auffassung (sic!),“, fährt sie fort, „dass eine neue Idee der Gleichheit genauere Vorstellungen unserer Interdependenz benötigt, Vorstellungen, die sich in Praktiken und Institutionen sowie in neuen Formen des gesellschaftlichen und politischen Lebens entfalten. […] Gleichheit ist also ein Merkmal sozialer Beziehungen und ihre Artikulation basiert auf der zunehmend anerkannten Interdependenz.“[xxiv]

Wir fassen zusammen: Die neue „Gleichheit“ der „sozialen Beziehungen“ als ein Merkmal der „zunehmend anerkannten Interdependenz“, also „alle“ und „jeder“, oder genauso gut die „radikale Inklusion“ der Vielen, statt Differenzierung in Klassen, das Zusammenfassen der Masse, weil alle „abhängig oder durch Abhängigkeitsbeziehungen geformt“ sind und zugleich durch „wechselseitige Abhängigkeit“ konstituiert werden.

Und wir sind zunehmend der „Auffassung“, dass, wenn wir uns statt „jeder“ Mensch „alle“ Länder in dieser „Beschreibung“ denken, vor uns immer klarer die Schemen einer „imaginären“ „Pyramide“ am Horizont aufragen.

Darum schauen wir jetzt ganz genau, ob wir doch noch Gründe finden, die dafür sprechen, dass Genosse Spanidis nicht in Wahrheit die Theorie von Judith Butler vertritt. Wir schauen also weiterhin ganz genau, wie ähnlich seine Theorie mit ihrer Konzeption wirklich ist.

Sie schreibt: „Wie dargelegt, besteht die Aufgabe meines Erachtens nicht darin, Selbstgenügsamkeit durch die Überwindung von Abhängigkeiten zu erlangen, sondern darin, Abhängigkeit als Voraussetzung für Gleichheit zu akzeptieren. […] Folgt diese Unabhängigkeit aber dem Modell der Dominanz (sic!) und bricht sie mit jenen Formen der Interdependenz, die wir für wichtig erachten, was dann? … Erst vor dem Hintergrund eines erneuerten und neu wertgeschätzten Begriffs der Interdependenz zwischen Regionen und Weltgegenden,“, oder schlicht der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Ländern, „können wir überhaupt einen Begriff von der Bedrohung der Umwelt, dem Problem des globalen Slums, von systematischem Rassismus, der Lage von Staatenlosen, für die die Weltgemeinschaft als ganze verantwortlich ist …“, also auch die Armen und Hungernden  in ihren Elendsquartieren höchstselbst in diesem Weltganzen, „Ich bewege mich in diesem Buch zwischen einer psychoanalytischen und einer gesellschaftstheoretischen Auffassung (sic!) von Interdependenz und will damit den Grundstein für eine Praxis der Gewaltlosigkeit im Rahmen eines neuen egalitären Imaginären.“[xxv]

Kurzum, in einer gleichmachenden Fiktion.

„Ich möchte hier die Auffassung (sic!) vertreten,“, denkt Butler unvermindert tiefsinnig weiter, „dass ein durch und durch egalitärer Ansatz zum Schutz des Lebens eine Perspektive (sic!) radikaler (sic!) Demokratie in die ethischen Überlegungen zur besten praktischen Umsetzung von Gewaltlosigkeit einbringt. Innerhalb eines solchen Imaginären, in einer solchen versuchsweisen Weltbetrachtung gäbe es keinen Unterschied zwischen schutzwürdigen und potenziell betrauerbaren Leben. Betrauerbarkeit bestimmt ganz wesentlich über den Umgang mit lebendigen Geschöpfen“, hier bricht sich das Pfaffentum in ihr Bahn, „und erweist sich als integrale Dimension (sic!) der Biopolitik“, auch Foucault sagt wieder kurz Hallo, „und des Nachdenkens über die Gleichheit alles Lebenden.“[xxvi]

„Ich gehe davon aus, dass sämtliche Interdependenzbeziehungen“, oder schlicht alle gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehungen, „mit Gewalt einhergehen können und dass Konzeptionen (sic!) sozialer Bindungen auf der Basis der Interdependenz mit Ambivalenz rechnen müssen, und damit erkenne ich auch an, dass Konflikte potenziell immer möglich sind und nie ein für alle Mal zu überwinden sind.“

Auch der Klassenkampf wird demnach laut der Auffassung Butlers endlos weitergehen.

„Anders gesagt brauchen wir wirklich keine neue Theorie des Naturzustands (sic!); was wir brauchen, ist eine veränderte Wahrnehmung, ein anderes Imaginäres,“ wie zum Beispiel die Konzeption von einer Pyramide, „das uns aus den Gegebenheiten der politischen Gegenwart löst.“[xxvii]

Und wir für unseren Teil fühlen uns frei nach dem Refrain des Pop-Barden Peter Schillings inzwischen völlig losgelöst von der Erde, wenn wir an die angeblich gültige Theorie des Genossen Spanidis denken.

Deswegen, um auch wirklich die letzten Zweifel auszuräumen, stoßen wir weiter in die Sphären der „Dimensionen“ des Denkens von Judith Butler vor, obwohl wir sie schon vor langer Zeit am liebsten selbst ins All geschossen hätten.

„Natürlich kann man behaupten, dass diese Unterscheidung deskriptiv ist; wird sie aber zur Basis moralischer Reflexion, wird damit eine soziale Hierarchie (sic!) moralisch rationalisiert und moralische Überlegungen geraten in Gegensatz zur Zielnorm geteilter und wechselseitiger (sic!) Gleichheit. Es wäre heikel, wenn nicht offen paradox, würde eine Politik auf der Basis von Gefährdung in die Stärkung von Hierarchien (sic!) münden, die doch so dringend abgebaut werden müssen“[xxviii], wie zum Beispiel durch die „Bilder“ von „Pyramiden“, in denen die „Hierarchien“ „in ständigem Fluss“ sind.

„Keine Position (sic!) gegen Gewalt kann sich Naivität leisten“, argumentiert Butler, „Sie muss das destruktive Potenzial ernst nehmen, das konstitutiver Bestandteil sozialer Bindungen oder, wie manche sagen, des «sozialen Bandes» ist“[xxix]

Und damit liefert Butler den Genossen der Minderheit auch galant die Erklärung frei Haus, warum sie sich als der revolutionäre „Pol“ in unserer Organisation keine Naivität leisten können und deswegen auf eine „Position“ angesichts der „Gewalt“ in der Ukraine beharren. Die Notwendigkeit einer solchen „Positionierung“ ergibt sich anscheinend aus ihren „wechselseitigen Abhängigkeiten“ unvermeidlich von ganz alleine.

Ob Butler stolz wäre auf unsere wackeren Kämpfer, deren „Flamme“ aufgrund der Verteidigung ihrer Thesen im Regen steht?

Das Verhalten unserer Genossen in den letzten Wochen und Monaten weiß sie zumindest bestens zu erklären.

„«Die Angst,“, zitiert Butler Melanie Klein, eine Begründerin der Psychoanalyse,  „dass die geliebte Person – allen voran die Mutter – an den Verletzungen, die wir ihr in unserer Phantasie zugefügt haben, sterben könnte, macht es uns unerträglich, von ihr abhängig zu sein.» Diese zugemutete Abhängigkeit dauert aber an und prägt ein soziales Band, das so unerträglich sein mag, erhalten werden muss: So groß ist diese Zumutung, dass sie zu mörderischer Wut“, auf die Liquidatoren!, Revisionisten!, Rechtsopportunisten!, „führen kann, die aber, wenn ausgelebt, angesichts der wechselseitigen Abhängigkeit (sic! sic! sic!) beide gleichermaßen zu Fall bringen würde.“[xxx]  

„Das ist vielleicht eine beharrliche Dynamik (sic!), in der Polaritäten (sic!) wie Geben und Nehmen oder Schutz und Wiedergutmachung nicht immer klar voneinander zu trennen sind“[xxxi], oder in der nicht immer klar zu trennen ist, „welche Dynamiken“ zum „Aufstieg neuer imperialistischer Pole“ führen.

Denn für Butler, wie wir gleich sehen werden, gilt diese Auffassung einer „beharrlichen Dynamik“ nicht nur fürs „intime Leben“, sondern auch für „Institutionen und Ökonomien“.

Sie schreibt: „Ist uns diese Abhängigkeit im persönlichen und intimen Leben aber vorstellbar, muss uns dann nicht ebenso begreiflich sein, dass wir von Institutionen und Ökonomien abhängen, ohne die wir als die Geschöpfe,“, (Gottes,) „die wir sind, nicht weiterexistieren können? Und welche Auswirkungen hat diese Perspektive (sic!) auf unser Nachdenken über Krieg, politische Gewalt oder die Preisgabe von Populationen an Krankheit oder Tod? … Im nächsten Kapitel hoffe ich zeigen zu können, inwieweit eine konsistente und umfassende Konzeption (sic!) des betrauerbaren Lebens unsere Gleichheitsvorstellungen in Biopolitik und Kriegslogik revidieren kann.“[xxxii] 

Butler Versuch der Revision klingt dann so: „Wie gelangen solche ausdifferenzierenden Wahrnehmungen in militärische und politische Debatten (sic!) über Zielpopulationen und ganze eingesperrte Völker?“, gut für diese Völker, dass sie laut Butler nur „eingesperrt“ werden und dass sie laut Genosse Spanidis nicht auch noch zusätzlich unterdrückt werden, „Und wie wirken sie als unkritisch angenommene Voraussetzungen, als «rassische» Schemata, in unsere eigenen Debatten (sic!) über Gewalt und Gewaltlosigkeit hinein? … Damit eröffnen sich Perspektiven (sic!) für neue Überlegungen sowohl zum staatlichen Rassismus wie zu den Aktions- und Widerstandsformen“, oder „Kampfformen“, wie es in den Programmatischen Thesen heißt, „von Populationen, die sich weder als individuelle noch als kollektive Subjekte beschreiben lassen.“[xxxiii]

„Ich weiß, dass diese Argumentation viele Fragen offen lässt,“, schreibt Butler herzerfrischend ehrlich unter der Überschrift „Relationalität im Leben“, „ … Es ginge darum, noch einmal über die Relationalität (sic!) des Lebens nachzudenken, die in der Regel durch Typologien verdeckt wird, die zwischen Lebensformen unterscheiden. … In eine solche Relationalität würde ich Konzepte der Interdependenz“, also Konzeptionen der wechselseitigen oder gegenseitigen Abhängigkeit, „einschließen, und zwar nicht nur zwischen lebendigen, menschlichen Geschöpfen,“, (Gottes), „denn Menschen, die für ihr Leben Boden und Wasser brauchen,“, Butler ist wirklich großzügig mit ihren Gaben an die Menschen, „leben zugleich in einer Welt, in der sich die Lebensansprüche anderer Geschöpfe“, (Gottes), „deutlich mit denen des Menschen überschneiden und in der nicht-menschliche und menschliche Wesen auch wechselseitig (sic!) zur Erhaltung ihres Lebens aufeinander angewiesen sind. Diese sich überschneidenden Lebenszonen“, oder die verschiedenen Positionen auf einer Stufenleiter, „müssen sowohl als relational wie als prozessual“, oder als relative Auf- und Abstiegsprozesse, „gedacht werden,“ so wie es auch Genosse Spanidis machte, als er in seinem Beitrag in offen-siv laut nachdachte, „aber jede von ihnen muss auch,“, und zwar ganz unabhängig davon, „auf die zum Lebenserhalt erforderlichen Bedingungen hin betrachtet werden.“[xxxiv]

Wir schneiden an dieser Stelle Judith Butler und damit der „Beschreibung der Welt“ laut ihrer Auffassungsgabe das Wort ab. Denn für uns besteht kein Zweifel mehr.

Die Konzeption der „imperialistischen Pyramide“ der Genossen Müller, Grooß, Textor und insbesondere des Genossen Spanidis und damit implizit auch die „hierarchischen“, „wechselseitigen“ Beschreibungen des „Weltsystems“ von der KKE und der TKP widersprechen an keiner Stelle in wesentlichen Punkten nur einem einzigen der Zitate der drei hier angeführten bürgerlichen Professorinnen[9]. Im Gegenteil: Sie sind sich nicht nur ähnlich in Form und Inhalt, sondern in großen Teilen absolut identisch.

Mehr noch, auf dieser Grundlage laufen die Aussagen der bürgerlichen Philosophinnen und die der vier Genossen in letzter Konsequenz auf das exakt gleiche Ziel hinaus: sie widersprechen direkt unseren Klassikern und versuchen, sie angeblich zu „verbessern“.

Damit hat sich unser Verdacht bestätigt: die „gültige Theorie“ des Genossen Spanidis, die auch die Genossen Müller, Groos und Textor vertreten, ist durchdrungen vom Idealismus und bringt die Ideologie der feindlichen Klassen zum Ausdruck. Kurzum, ihre Theorie ist ein Weg zum Pfaffentum.

Doch wir klagen die Genossen deswegen noch lange nicht an. Vielmehr sehen wir unsere These voll und ganz bestätigt, dass die Konterrevolution seit ihrem Sieg über die Sowjetunion unvermindert vorwärtsschreitet und keinen Tag ruht. Sie ist das Alte, das vorläufig gesiegt hat und ihr Ziel ist es unverändert, mit allen Mitteln die kommunistische Bewegung am Boden zu halten.

Deswegen werden wir die Genossen erst anklagen, wenn sie sich weiterhin aufgrund einer derartigen theoretischen Basis ernsthaft als Retter der Revolution ausgeben. Wir werden sie also erst anklagen, wenn ihnen bezüglich ihrer opportunistischen Prinzipien nicht endlich Zweifel kommen. Wir werden sie darum erst anklagen, wenn sie sich nunmehr bewusst dazu entscheiden, die geistigen Kinder der Ideologie der feindlichen Klassen zu bleiben, deren einfacher Trick es ist, das Geheimnis über die Prinzipien zu verbergen, die nicht nur die vier hier genannten Genossen in Wahrheit beseelen.

Genau deswegen zeigt sich eine gänzlich andere Pyramide am Werk, als die Genossen vermuteten: Es ist die Pyramide der bürgerlichen Ideologie, die uns versucht zu unterdrücken. Diese Pyramide ist dabei kein Bild oder eine Metapher, sondern der ideologische Mechanismus, wie sich die reaktionäre Philosophie der herrschenden Klassen vermittelt.

Ihre entscheidenden Grundlagen wurden bereits 1928 von Edward Bernays in seinem Werk „Propaganda“ dargelegt[10]. Bernays war bis zu seinem Tod Berater mehrerer US-Präsidenten und er gilt als Vater der Public Relations, der sogenannten Unternehmens- und Regierungskommunikation. Die Süddeutsche Zeitung schrieb über ihn: „Außerhalb der PR-Szene ist Bernays kaum bekannt, doch sein Einfluss auf das 20. Jahrhundert hätte größer nicht sein können.“ Für die Rolle einer einzelnen Persönlichkeit in der Geschichte trifft das tatsächlich auf Bernays zu. Nicht nur Goebbels studierte ihn eifrig und nicht nur die US-amerikanischen Arbeiter haben ihm solche PR-Geschenke wie das ungesunde American Breakfast zu verdanken.

Bernays schrieb in seinem Buch: „Systematische Erforschung der Psychologie der Massen hat gezeigt, wie wirkungsvoll die Gesellschaft regiert werden kann, wenn es den verborgenen Herrschern gelingt, den Einzelnen in seiner Gruppenzugehörigkeit zu erreichen und seine Motive zu manipulieren. Trotter und Le Bon haben dafür die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt.[11] Graham Wallas, Walter Lippmann und andere haben bei weiteren Untersuchungen herausgefunden, dass sich das Gruppenbewusstsein in der psychischen Charakteristik wesentlich von dem des Individuums unterscheidet. Das Handeln des Menschen in der Gruppe wird bestimmt von Gefühlen und Beweggründen, die mit den Ansätzen der Individualpsychologie nicht erklärt werden können. Wenn wir aber wissen, wovon und wie die Massenpsyche bewegt wird – sollte es dann nicht möglich sein, sie unbemerkt nach unserem Willen zu lenken und zu kontrollieren?

Wie der Einsatz von Propaganda in jüngster Zeit bewiesen hat, ist dies bis zu einem gewissen Grad und innerhalb gewisser Grenzen tatsächlich möglich. […]

Wenn man die Anführer beeinflussen kann, ob mit oder ohne ihr Einverständnis und Wissen, kann man das automatisch auch mit der von ihnen gelenkten Gruppe tun.“[xxxv] 

Wie genau das möglich sein soll, lassen wir uns von Bernays am besten selbst erklären.

„Trotter und Le Bon kamen zu dem Ergebnis,“, schreibt er, „dass eine Gruppe nicht im eigentlichen Sinne des Wortes «denkt». Anstelle von Gedanken stehen bei der Gruppe Impulse, Gewohnheiten und Gefühle. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, neigt sie gewöhnlich als Erstes dazu, dem Vorbild eines Führers zu folgen, dem sie vertraut. Das ist eine der am besten abgesicherten Erkenntnisse der Massenpsychologie. So ist zu erklären, dass ein Urlaubsort an Ansehen gewinnt oder verliert, dass ein Ansturm auf eine bestimmte Bank einsetzt oder ein Börsenkrach ausbricht, dass ein Buch zum Bestseller oder ein Film zum Kassenschlager wird.“[xxxvi]

Selbstverständlich lassen wir uns von dem in diese Aufzählung von Bernays klammheimlich eingeschmuggeltem Beispiel – Vater und Profi der Kommunikation der verborgenen Herrscher, der er war – bezüglich der Erklärung eines Börsenkrachs nicht ins Bockshorn jagen. Trotzdem zollen wir ihm bis zu einem gewissen Grad Anerkennung für seine subtile Raffinesse.

„Ein Verkäufer der neuen Schule,“, fährt er fort, „der die Gruppenstrukturen der Gesellschaft und die Prinzipien der Massenpsychologie versteht, würde sich als Erstes fragen: »Wer beeinflusst die Essgewohnheiten der Menschen am meisten?« Die Antwort liegt auf der Hand: »Die Ärzte.« Der neue Verkäufer wird also Ärzte dazu anhalten, öffentlich zu verkünden, wie nahrhaft und gesund Speck sei. Weil er die seelische Abhängigkeit vieler Menschen von ihrem Arzt kennt, kann er mit der Gewissheit eines Naturgesetzes vorhersagen, dass sehr viele Menschen dem Rat ihres Arztes folgen werden.“[xxxvii]

Wieder eine Seite weiter bei einem anderen Beispiel, das den gleichen Inhalt verdeutlichen soll, schreibt Bernays: „Durch den Einfluss dieser Schlüsselpersonen auf andere Gruppen erhält die Idee eines Musikzimmers im öffentlichen Bewusstsein einen Stellenwert wie nie zuvor. Sowohl das Auftreten der meinungsbildenden Persönlichkeiten als auch der der von ihnen repräsentierte Gedanke werden anschließend über verschiedene Kommunikationskanäle auf das breite Publikum projiziert. Unterdessen wurden berühmte Architekten davon überzeugt, dass ein Haus von heute ein Musikzimmer braucht und deshalb integraler Bestandteil ihrer Entwürfe sein sollte, vielleicht mit einer speziell dafür vorgesehenen Raumecke für das Klavier. Was die Meister der Zunft vormachen, werden weniger einflussreiche Architekten natürlich nachahmen.

„Der Wert einer solchen Assoziationskette in der Propaganda“, macht Bernays an einem weiteren Beispiel deutlich, „zeigte sich bei einem großen Immobilien-Entwicklungsprojekt. Als betont werden sollte, wie gesellschaftlich begehrenswert die Gartensiedlung Jackson Heights im New Yorker Stadtteil Queens war, wurde alles getan, um diesen assoziativen Prozess in Gang zu setzen. Man organisierte einen Wohltätigkeitsauftritt der Jitney Players für die Erdbebenopfer in Japan, unter Schirmherrschaft von Mrs. Astor, Erbin der Hoteldynastie, und der Teilnahme anderer Prominenter. … Um der Öffentlichkeit zu zeigen, wie schön die Wohnungen waren, wurde ein Wettbewerb für Innenarchitekten um das schönste möblierte Appartment in Jackson Heights organisiert; eine hochrangige Jury bestimmte den Sieger. Der Wettbewerb zog das Interesse wichtiger Persönlichkeiten auf sich, aber auch das von Millionen Menschen im Lande, die über Zeitungen, Zeitschriften und andere Kommunikationswege darüber erfuhren …

Die Nutzung der gesellschaftlichen Gruppenstrukturen ist eine der effektivsten Methoden zur Verbreitung neuer Ideen […]

All diese bekannten psychologischen Motive wurden durch die simple Maschinerie von Gruppenführung und Autorität harmonisch stimuliert.“[xxxviii]

Und all das dient letztlich nur einem Ziel, das Bernays zuvor in seinem Buch als den grundlegenden Zweck von Propaganda aus einer historischen, aber gleichwohl bürgerlichen Sicht heraus wie folgt definiert:

„Die Dampfmaschine, die Druckerpresse und die staatlichen Schulen, die drei wichtigsten Errungenschaften der industriellen Revolution, haben den Königen die Macht entrissen und sie dem Volk gegeben. Dabei hat das Volk genau das Maß an Macht gewonnen, das die Könige verloren haben. Denn wirtschaftliche Macht hat die Tendenz, politische Macht nach sich zu ziehen, und die Geschichte der industriellen Revolution zeigt, wie diese Macht von den Königen und dem Adel zuerst auf das Bürgertum übergegangen ist. Das allgemeine Wahlrecht und Schulbildung für alle haben diese Entwicklung noch verstärkt, und am Ende fürchtete sich die Bourgeoisie sogar vor dem einfachen Mann. Es schien, als würden nun die Massen die Macht übernehmen.

Mittlerweile hat allerdings eine Gegenreaktion eingesetzt. Die herrschende Minderheit hat ein mächtiges Instrument entdeckt, mit dem sie die Mehrheit beeinflussen kann. […]

Propaganda ist der Mechanismus, mit dem Ideen im großen Stil gestreut werden, hier im weiteren Sinne verstanden als der wohlorganisierte Versuch einen bestimmten Glauben oder eine Doktrin zu verbreiten. […]

Moderne Propaganda ist das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Öffentlichkeit zu einem Unternehmen, einer Idee oder einer Gruppe zu beeinflussen.

Die Praxis bestimmte Assoziationen und Bilder in den Köpfen der Massen zu erzeugen, ist sehr weit verbreitet. Praktisch kein wichtiges Vorhaben wird heute mehr ohne diese Technik ausgeführt, … entscheidend ist, dass die Maßnahmen übergreifend und kontinuierlich stattfinden. In der Summe steuern sie den Geist der Massen auf ähnliche Weise, wie die Befehlsgewalt beim Militär die Soldaten physisch unterwirft.“[xxxix]

„Kleine Gruppen können dafür sorgen, dass wir ihren Standpunkt zu jedem beliebigen Thema übernehmen.“[xl]

Bernays legt damit in seinem Buch „Propaganda“ in Gesamtheit nichts Geringeres als die Strategie und Taktik der Bourgeoisie im ideologischen Klassenkampf dar. Er beschreibt, wie sie als Minderheit über die Mehrheit zu herrschen vermag – und das ohne jede Ausübung von direkter und offener Gewalt –, indem sie den Geist der Mehrheit manipuliert, um sie unbemerkt zu lenken und zu kontrollieren.

Die verborgenen Herrscher der Bourgeoisie streuen dabei ihre Ideen stetig und kontinuierlich in die Millionenmassen der sogenannten einfachen Menschen und das mit möglichst minimalem Aufwand. Die Bourgeoisie bedient sich dabei kleiner Gruppen – Anführer, Meister ihres Fachs und meinungsbildende Persönlichkeiten -, die ihre Ideen entweder bewusst oder unbewusst vertreten, um so wiederum die von diesen Persönlichkeiten gelenkten größeren Gruppen zu beeinflussen. Die Doktrin und der Glauben der Bourgeoisie wird dabei über die Ausnutzung der gesellschaftlichen Gruppenstrukturen und allen zur Verfügung stehenden Kommunikationskanälen verbreitet. Das Mittel, das dabei in der Praxis zur Anwendung kommt, um diesen Zweck für die Bourgeoisie zu erreichen, ist die Technik, „Assoziationsketten“ und „Bilder“ in den Köpfen der Mehrheit zu erzeugen. So lässt sich in Summe der Geist der Massen den Ideen der Minderheit unterwerfen.

Das ist der Mechanismus der Pyramide der bürgerlichen Ideologie – durch kleine Gruppen und tatsächlich über verschiedene „Zwischenstufen“ die Millionenmassen der Arbeiter, Bauern, Soldaten und Kleinbürger unbemerkt zu steuern und schlussendlich zu beherrschen.

Das ist die Charakteristik der ideologischen „Gegenreaktion“ der Konterrevolution, deren Stoßrichtung schließlich ebenso die Sowjetunion niederwarf.

Und das ist unverändert der Charakter, der derzeit allgegenwärtigen kapitalistischen Umwelt, die uns als Kommunisten unvermeidlich mit einschließt: eine kontinuierliche und stetige Manipulation durch die Gedanken, Ideen und „Bilder“ der Bourgeoisie, der wir durch die uns umgebenden Strukturen der Gesellschaft jeden einzelnen Tag ausgeliefert sind.

Wie bewusst oder unbewusst daher Judith Butler vor dem Hintergrund des aufgezeigten Mechanismus folgende Aussage im Jahr 2009 traf, ist dabei unwesentlich: „Assoziation ist kein Luxus, sondern gehört zu den ureigensten Bedingungen und Vorrechten der Freiheit.“[xli]

Wie bewusst oder unbewusst daher Sabine Hark als eine weniger einflussreiche Professorin diese Zeilen in ihrem letzten Buch von 2021 schrieb, ist ebenso unwesentlich: „Die Verknüpfung mit den Narrativen der Befestigung und Abschottung muss gelöst werden. Und das gilt erst recht für die Formen des Zusammenlebens. Beides zusammen bildet das Ethos der Kohabitation: wie wir in der Welt sind und in welchen Formen wir uns assoziieren.“[xlii]    

Und deswegen ist es genauso unwesentlich, wie bewusst oder unbewusst wiederum Maggie Nelson, eine einflussreiche Persönlichkeit in der Frauenbewegung, die an der University of Southern California lehrt, die Bedeutung der Gedanken in ihrem jüngsten Buch „Freiheit“ darstellt: „Es gibt Tausende Faktoren, durch die sich der Geist meines Denkens bestimmt anfühlt, manchmal überbestimmt … Aber man sollte aus der Tatsache, dass sich ein großer Teil unseres Denkens und Fühlens spontan, gewohnheitsmäßig und abhängig von Kräften ereignet, die größer sind als wir selbst, seien es unsere Traditionen, unsere Zeit oder unser Temperament, keineswegs folgern, dass es darum vollkommen determiniert ist. Uns der Wahlmöglichkeiten bewusst zu werden, die wir in diesen Belangen haben, ist eine Praxis der Freiheit, die all unsere Zeit wert ist.“[xliii] 

Absolut wesentlich ist im Mechanismus der bürgerlichen Ideologie nur eine einzige Sache: die Illusion der Praktikabilität des freien und assoziativen Denkens zu erzeugen, um spontane Ideen und Bilder vor die Wirklichkeit der konkreten Erscheinungen der Herrschaft der Bourgeoisie zu stellen. Seien es Bilder, die Begehren wecken sollen, oder Ideen und „Auffassungen“, um die Welt zu erklären, der Zweck der Bourgeoisie ist und bleibt dabei derselbe – die gewaltige Mehrheit der Unterdrückten zu lenken, weil sie durch diese Technik glauben, es reiche aus und entspräche der Wahrheit, wenn sie so bedeutungsvoll wie Genosse Spanidis sagen … Ich denke“

Mit dieser Technik kommt der Ausdruck der Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck. Mit dieser Technik hält der Idealismus im Denken Einzug. Mit dieser Technik trennt die Bourgeoisie Kommunisten vom Marxismus und raubt den Marxisten die richtige Sprache.

Das ist das Wesen der Konterrevolution und ihrer besonderen Waffe des Revisionismus, mit dem sie auch 30 Jahre nach der Niederlage der Sowjetunion unvermindert vorwärtsschreitet – den Idealismus in unseren Köpfen unbemerkt zu erzeugen, um uns von dem strengen, disziplinierten Weg des dialektischen und historischen Materialismus wegzuführen und uns stattdessen hin zu der wohlfeilen Leichtigkeit der Entwicklung von opportunistischen Ideen des Pfaffentums zu lenken.

Es ist darum ein wesentlicher, notwendiger und unvermeidlicher Teil des unmittelbaren Kampfs von jedem Kommunisten, ebenso den Kampf gegen den Idealismus in seinem Kopf aufzunehmen. Nur so kann die Kommunistische Bewegung den Weg zum dialektischen und historischen Materialismus wiederfinden. Nur so kann in letzter Konsequenz die revolutionäre Kraft des Marxismus wieder voll entfaltet werden. Weil der Marxismus in dieser Hinsicht kein sowohl als auch im Denken kennt – er kennt nur die materialistische Weltanschauung ohne Wenn und Aber.

In diesem Sinn denkt der wahre Marxismus nicht selbst: Er betrachtet vielmehr methodisch das Denken in seiner gesetzmäßigen Entwicklung anhand der lebendigen Arbeitskraft als ein Produkt der Natur, das sich in einen stetem Gegensatz zu ihr innerhalb der historischen Bewegung des Klassenkampfs befindet.

Das zu begreifen – wie wichtig es ist, die bürgerlichen Ideen aus dem Marxismus wieder streng zu scheiden – ist die Aufgabe, die vor unserer Organisation liegt. Eine Aufgabe, die vor uns steht, lange bevor es wirklich darum gehen kann, einzelne Begriffe richtig zu begreifen, wie es die opportunistischen Kämpfer der Minderheit bereits versuchen und die dabei unvermittelt bei der vermeintlichen Wahrheit der Aussagekraft von einer Metapher landeten: dem Bild der „imperialistischen Pyramide“. Ein Bild, dessen grundlegende Theorie in Form und Inhalt mit anerkannten Auffassungen innerhalb der bürgerlichen Philosophie exakt identisch ist – in Worten mit der Kritischen Theorie im Besonderen und im Inhalt mit dem philosophischen Relativismus im Allgemeinen.

Wir sagen darum: Nicht die Genossen der Minderheit, sondern die Genossen der Mehrheit haben allen Grund dazu, zuallererst die Revision der angeblich gültigen Theorie durch die Genossen der Minderheit selbst einzufordern. 

Berlin, 21.12.22


[1]   Diesen grundlegenden Zusammenhang hat Engels in seinem Aufsatz „Vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ allemal besser und verständlicher herausgearbeitet, als es hier in der Kürze von nur einem Satz gelingen kann.

[2]   Wir rechnen es den Genossen hoch an, dass sie die Bedeutung von Begriffen in ihrem Beitrag hervorheben. Dennoch ist die von ihnen gewählte Überschrift für das Kapitel „Begriffe nicht Begreifen“ unfreiwillig komisch durch ihr erstes Beispiel, wenn sie Begriffe, „die wir umgangssprachlich verwenden, wie die Begriffe “Baum” oder “Mensch”“ von der „Ware“ unterscheiden und damit zeigen, dass sie ihr eigenes Beispiel an Begriffen nicht begriffen haben. Zwar sind ohne Frage Mensch oder Baum umgangssprachlich sehr geläufige Wörter, aber sie sind als Begriffe genauso spezifische Erscheinungen eines bestimmten Wesens. Insbesondere den Begriff Mensch hat als erster Aristoteles in seiner „Topik“ mittels eines dialektischen Verfahrens umfassend herausgearbeitet: „Wenn zum Beispiel der Mensch ein Lebewesen ist, dann ist das Nicht-Lebewesen kein Mensch. Ähnlich verhält es sich aber auch bei den anderen. Denn hier ist die Folgebeziehung umgekehrt: Zwar folgt auf Mensch Lebewesen, auf Nicht-Mensch folgt aber nicht Nicht-Lebewesen, sondern es folgt umgekehrt auf Nicht-Lebewesen Nicht-Mensch. Bei allen (Kontradiktionen) muss es in dieser Art gefordert werden.“ (S. 90 f., Reclam, 2004) usw. usf. 

[3]   Rainer Roth stellt diesen Zusammenhang in seiner wertvollen Ausarbeitung „Sklaverei als Menschenrecht“ in dem Unterkapitel „Eigentumsverhältnisse in Haiti“ anhand der langjährigen Geschichte der Insel von Unterdrückung und blutiger Ausbeutung so dar: „Farbige Grundbesitzer kämpften zusammen mit den schwarzen Plantagenarbeitern, wenn sie gemeinsame Feinde hatten, die sowohl die Gleichberechtigung der Mulatten verhindern als auch die Sklaverei fortsetzen wollten. So schlossen sich viele dem Sklavenaufstand ab 1791 an und kämpften gemeinsam gegen die Royalisten und die Engländer, die ihnen die Gleichberechtigung mit den Weißen verweigerten. Ihre Repräsentanten schlugen sich auch auf die Seite der schwarzen Aufständischen, als Napoleon den Mulatten die bis dahin anerkannte Rechtsgleichheit mit den Weißen wieder aberkannte.“ (S. 463 f., DVS Frankfurt am Main, 2015)  

[4]   Spinoza und Machiavelli trugen ebenso einen Teil zu der Entwicklung und Anwendung der Dialektik bei. So wird zum Beispiel bei Machiavelli häufig angenommen, er habe in „Der Fürst“ eine Art gebrauchsfertige Anleitung für die feudale Klasse geschrieben. Tatsächlich aber untersuchte er aufgrund historischer Begebenheiten die möglichen positiven und negativen Wirkungen, die sich aus einer besonderen Art zu herrschen ergeben – er legte also lediglich die Wahrscheinlichkeiten von bestimmten Vor- und Nachteilen dar, mit denen ein feudaler Herrscher rechnen musste, wenn er zum Beispiel die Milde über die Grausamkeit stellte oder andersherum. Spinoza wiederum befasste sich in seinen Betrachtungen intensiv mit dem Gegensatz vom Sein und Nichts und gelangte so zu seinem Begriff von Substanz. Im Philosophenlexikon von Dietz aus dem Jahr 1986 steht zu ihm u. a.: „Der materialistische Gehalt der spinozistischen Substanzauffassung zeigt sich weiter darin, daß das Naturganze von objektiver Gesetzmäßigkeit durchwaltet aufgefaßt wird.“ (S. 862)  

[5]   Siehe die 8. These der TKP, auf die sich auch Genosse Spanidis in offen-siv im August bezog: „Der Imperialismus ist keine Tatsache, die nur auf der wirtschaftlichen Ebene beobachtet wird, sondern ein mehrdimensionales (sic!) Weltsystem (sic!), das politische, ideologische, militärische und kulturelle Aspekte hat. Daher sollte die imperialistische Vorherrschaft und Dominanz (sic!) nicht nur auf der ökonomischen Ebene analysiert werden, sondern auch unter Berücksichtigung ihrer politischen, ideologischen, militärischen und kulturellen Dimensionen (sic!)“ (S. 87 ebd.)

[6]   Die Bedeutungen des lateinischen Wortursprung lassen schwerlich andere Möglichkeiten zu: dominus = [1.] Herr (eines Sklaven), [2.] Hausherr, Gastgeber, [3.] Eigentümer, Besitzer … (wiktionary.org)

[7]   Wie hellhörig Kommunisten schon in der Vergangenheit wurden, als dieses Wort innerhalb ihrer Reihen fiel, mag dieser Auszug aus dem Moskauer Prozess von 1937 verdeutlichen. Er stammt aus dem Verhör des Zeugen Loginow durch den Staatlichen Ankläger A. J. Wyschinski.

      „Loginow: Ich habe Pjatakow ausführlich darüber befragt, was das bedeuten und wozu diese ganze Politik, bei der wir faktisch aufhören werden, als Staat zu existieren, führen wird. … Er antwortete mir, daß es sich nicht darum handle, sondern um große territoriale Zugeständnisse sowohl im Osten als auch in der Ukraine, und daß Trotzki eine solche Verabredung getroffen habe. Und dann sprach Pjatakow noch über die Position, die wir im Falle eines bewaffneten Konflikts zwischen der Sowjetunion und den faschistischen Ländern Deutschland und Japan einnehmen müssen.

      Wyschinski: Sie sagen Position?

      Loginow: Ja, Position. Ich würde sagen, eine Position, die an die Position unserer Partei, an die Position während des imperialistischen Krieges erinnert, eine Politik des Defaitismus, obzwar, das nicht ganz genau sein wird.

      Wyschinski: Diese Parallele zu ziehen ist absolut nicht am Platze; es gibt hier überhaupt keine Analogie.“ (S. 201 f., Prozessbericht über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums, Volkskommissariat für Justizwesen der UdSSR, Moskau 1937)

[8]   Niemand kann Butler vorwerfen, sie sei sich als Antimarxistin nicht treu geblieben: „Ende der 1990er Jahre entzündet sich zwischen Judith Butler (1997) und Nancy Fraser (1997) eine Kontroverse über die Frage, ob die Disziplinierung und Normierung von Sexualität und Gender notwendig mit der Reproduktion des Kapitalismus verknüpft ist oder nicht. Butler bejaht diese Frage, Fraser vertritt die gegenteilige Position (sic!) […] Butler kritisiert Frasers Position (sic!) systematisch: Die Unterscheidung von Anerkennung und Ausbeutung zeuge von Überresten einer marxistischen Sphärentrennung, »die bestimmte Unterdrückungsformen als Teil der politischen Ökonomie verortet, andere der ausschließlich kulturellen Sphäre zuweist« (Butler 1997: 270f.)“ (S. 191, Mike Laufenberg, Queere Theorien, Junius, 2022)

[9]   Für die bessere Lesbarkeit von diesem Text haben wir die Auswahl der bürgerlichen Quellen, die unsere Beweisführung untermauern, stark eingeschränkt und reduziert. Wir nehmen aber an, dass das dargelegte Material bereits eindeutig genug sein sollte. Sollten wir uns diesbezüglich täuschen, liefern wir gerne nach.

[10] Seitdem wurden die Grundlagen dieses Mechanismus beständig weiter ausgearbeitet. Zum Beispiel durch die sogenannte Spiel-Theorie, die erstmals in den 60er-Jahren formuliert wurde und nach deren Prinzip u. a. Tech-Konzerne wie Google und Facebook ihre Algorithmen ausrichten, um angeblich benutzerfreundlicher zu sein. In dem letzten Buch des FAZ-Mitherausgebers Frank Schirrmacher „Ego. Das Spiel des Lebens“ (Karl Blessing Verlag, 2013) – Schirrmacher verstarb im Alter von 54 Jahren im Jahr 2014 – gewährt er wertvolle Einblicke in die subtilen Techniken und manipulativen Möglichkeiten dieser Theorie. Das Wesentliche daraus ist in seinem Beitrag in der FAZ vom 27.03.2013 „Versprechen oder Bluff?“ zusammengefasst. Der Artikel beginnt mit dem Satz: „Menschliches Handeln wird von digitalen System vermehrt spieltheoretisch modelliert.“ 

[11] Gustave Le Bon verfasste das Buch „Psychologie der Massen“, das 1895 erschienen ist. Wilfred Trotter schrieb das Buch „Herdeninstinkt und sein Einfluss auf die Psychologie des zivilisierten Menschen“, das wiederum 1908 erstmals veröffentlich wurde.


[i]    S. 12, Lenin, Der Imperialismus als das höchste Stadium des Kapitalismus, Dietz, 1951, Hervorhebung von Lenin

[ii]   S. 122 f., Verlag der sowjetischen Militärverwaltung Deutschland, 1946

[iii]   S. 125 ebd., Hervorhebung von Lenin

[iv]   S. 59 f., M. Seydewitz, Stalin oder Trotzki, Malik, 1936, die Zitate entnahm Seydewitz: Lenin, Ausgewählte Werke

[v]   S. 57 ebd.

[vi]   S. 85 f. ebd.

[vii]  S. 88 ebd.

[viii] S. 84 f., Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking, 1969

[ix]   S. 42, Dietz, 1966, eigene Hervorhebung

[x]   S. 5 ebd., Hervorhebung J. S.

[xi]   S. 378, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Dietz, 1958

[xii]  S. 117 ebd., L., Der Imperialismus als …

[xiii] S. 157 ebd.

[xiv] S. 139 ebd.

[xv]  „In der Rasterung komplementärer Pole (sic!) – wie Spontaneität und Organisation, Bewegung und Partei, Horizontalität und Vertikalität, Repräsentationskritik und Notwendigkeit von Repräsentation im bestehenden politischen System – ist es nicht vorgesehen, dass in den Praxen der sozialen und politischen Bewegungen zugleich neue Weisen der Instituierung und Organisierung entstehen können, Praxen, die vertraute chrono-politische Logiken mitsamt dem damit einhergehenden Zwang zur Repräsentation durchbrechen.“ (S. 133 ebd.)

[xvi] „Die Physik der Welterkenntnis“, David Deutsch, 2000, dtv; Er verfasste das Buch, während er zugleich im Auftrag von IBM an Quantencomputern forschte.

[xvii] S. 20 ebd., Suhrkamp

[xviii] S. 177 ff. ebd., Hervorhebungen von Hark

[xix] S. 46 ebd., Suhrkamp

[xx]  S. 16 ebd.

[xxi] S. 27 f. ebd.

[xxii] S. 29 ebd.

[xxiii] S. 40 ebd.

[xxiv] S. 62 f. ebd.

[xxv] S. 65 ff. ebd.

[xxvi] S. 76 f. ebd.

[xxvii] S. 86 ebd.

[xxviii]      S. 94 ebd.

[xxix] S. 111 ebd.

[xxx] S. 121 f. ebd.

[xxxi] S. 125 f. ebd.

[xxxii] S. 128 f. ebd.

[xxxiii]      S. 144 ff. ebd.

[xxxiv]      S. 178 f. ebd.

[xxxv] S. 49 f., orange press, 2009, eigene Hervorhebungen

[xxxvi]      S. 51 ebd.

[xxxvii]     S. 53 ebd.

[xxxviii]    S. 55 ff. ebd., eigene Hervorhebungen

[xxxix]      S. 27 ff. ebd., eigene Hervorhebungen

[xl]   S. 36 ebd.

[xli]  zifg.tu-berlin.de/fileadmin/i44/Flyer/RV_politiken_der_zugehörigkeit.pdf

[xlii] S. 163 ebd., Hervorhebungen von Hark

[xliii] S. 326, Hanser Berlin, 2022; Nelson greift in ihrem Buch bereits Butlers Arbeit „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ auf und erwähnt Butler auch in ihrer Danksagung.

Diskussionstribüne Außerordentlicher Kongress eröffnet

Wir eröffnen an dieser Stelle die Diskussionstribüne im Vorfeld des außerordentlichen Kongresses der KO, der Anfang Januar 2023 stattfinden wird.
Die Diskussionstribüne beginnt mit der Veröffentlichung der zur Abstimmung stehenden Anträge. Wir veröffentlichen laufend Beiträge, die sich auf diese Anträge, die Situation und die Perspektive der KO beziehen. Die interne Debatte begann bereits vorher. Wir werden einzelne Beiträge dieser internen Debatte ebenfalls veröffentlichen.
Die Fragen, mit denen wir uns hier befassen, sind auch Fragen der kommunistischen Bewegung. Sie berühren aktuelle und grundsätzliche Aspekte.

Es steht eine Entscheidung über den Charakter der KO, ihre Zielsetzung und ihr Verhältnis zur Bewegung an. Dazu interessiert uns auch die Einschätzung von Anderen. 

Wir freuen uns über Zusendungen von Beiträgen. Bitte schickt diese als word-Datei an info@kommunistische-organisation.de

Hier gehts zur Tribüne

Klarheit durch Wissenschaft

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Zur marxistischen Methode und unserem Begriff der „Klärung“

Marla Müller, Rike Groos, Jona Textor

hier als PDF

Wir sind als Kommunisten davon überzeugt, dass unsere Weltanschauung das wissenschaftliche Rüstzeug zur Veränderung der Welt ist. Umso erstaunlicher, dass wir jetzt merken, wie groß die Lücken hinsichtlich eines wissenschaftlich methodischen Herangehens in unserer Organisation sind. In diesem Beitrag legen wir die wissenschaftliche Methodik des Marxismus-Leninismus für alle Genossinnen und Genossen verständlich dar. Dadurch wollen wir möglichst viele von uns dazu befähigen, die Grundlagen und Methoden des Wissenschaftlichen Kommunismus nachvollziehen und selbst anwenden zu können. Die aktuelle Krise unserer Organisation und der kommunistischen Bewegung hat ein schonungsloses Schlaglicht auf unsere Schwächen geworfen. Die KO hat sich bei ihrer Gründung “Klärung” als kollektives Ziel gesetzt. Über ein gemeinsames Verständnis davon, was wissenschaftliche Klärung bedeutet und wie sie zu erreichen wäre, verfügen wir derzeit allerdings nicht. Ohne ein solches Verständnis ist unser Vorhaben aber zum Scheitern verurteilt. Entsprechend legen wir in Teil 1 dieses Textes zunächst unsere Sicht auf die Dissense hinsichtlich der Klärung dar. In Teil 2 wenden wir uns dann der wissenschaftlichen Methode des Marxismus zu. Wir stellen diese Schritt für Schritt dar und gehen darauf ein, wie Marx, Engels und Lenin sie anwendeten. Bei jedem einzelnen Schritt versuchen wir dabei die Frage zu beantworten, was das aus unserer Sicht jeweils für den Klärungsprozess bedeutet. In Teil 3 gehen wir auf gängige Fehler in der Anwendung der Methode und Einfallstore des Revisionismus ein. Abschließend ziehen wir ein Fazit, in dem wir versuchen, der weiteren Klärung ein wissenschaftliches Fundament zu geben. Mit diesem Beitrag legen wir unsere sicher noch lücken- und mangelhaften Ausführungen der Organisation zur Debatte vor, in der Absicht, diese weiter zu qualifizieren.

“Es setzt sich nur soviel Wahrheit durch, wie wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.” (Brecht, Leben des Galilei)

Inhalt

Wo stehen wir?. 3

Dissense in der Klärungsfrage. 4

(I) “Klärung” vs. “Positionierung” 5

(II) Trennung von Wesen und Erscheinung vs. marxistische Wissenschaft. 6

(III) “Wir wissen noch nicht genug” vs. Imperialismusverständnis der Programmatischen Thesen  8

Die Welt erkennen, um sie zu verändern: Marxistische Theorie und Methode. 9

(IV) Wozu brauchen wir Wissenschaft?. 9

(V) Ausgangspunkt: Unsere kollektive Basis. 11

(VI) Marx’ Methode im Überblick. 15

Marx’ Methode Schritt für Schritt 19

Erster Weg: Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten. 19

(1) Aneignung des empirischen Stoffes (Erscheinungsebene). 19

(2)  Analytische Aufgliederung des Stoffs. 24

(3) Das „innere Band“: Erforschung der Bewegungsgesetze in ihrem Gesamtzusammenhang (Wesen der Erscheinungen)  27

Zweiter Weg: Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten. 31

(4) Die “wirkliche Bewegung” über das Aufdecken der Mittelglieder darstellen. 31

(5) Praktisch empirische Verifizierung an der Wirklichkeit 36

(6) „Der Marxismus ist kein Dogma“: Weiterentwicklung der Theorie entsprechend der wirklichen Entwicklung  40

Was zeichnet die marxistische Theorie aus?. 43

Wie kommen wir vom Weg ab? Revisionismus in der Methode – eine unvollständige Aufzählung…   45

(a) Begriffe nicht Begreifen. 46

(b) Verwechslung und Trennung von Ökonomischem und Politischem.. 48

(c) Trennung von Logischer und Historischer Entwicklung. 50

(d) Wesen und Erscheinung; Notwendiges und Zufälliges verwechseln. 52

(e) Das Empirische vom Theoretischen trennen: Die Mär der neutralen Empirie. 55

(f) Metaphysisch-dogmatische Betrachtung der Welt: Gesamtzusammenhang ignorieren  56

Was heißt das jetzt für unsere Klärung?. 59

Literaturverzeichnis. 60

Wo stehen wir?

Wir haben den Klärungsprozess mit einer Positionierung begonnen. Die Programmatischen Thesen (PT), die wir bei unserer Konstituierung im vollen Bewusstsein ihres provisorischen und mangelhaften Charakters beschlossen haben, sollten uns als “Richtschnur” für die Praxis und als “Arbeitsgrundlage für die Analyse der historischen Periode, in der wir uns befinden” (S. 4) dienen. Sie waren die inhaltliche Grundlage, die uns überhaupt erst zu einem Kollektiv machte, das sich eine gemeinsame Orientierung gab und gemeinsame Ziele steckte. In den Thesen fand auch eine bestimmte Vorstellung unseres Klärungsprozesses ihren konkreten Ausdruck. Dieser sollte nicht völlig offen und beliebig sein, sondern von verbindlichen marxistisch-leninistischen Grundpositionen und einer klaren, unserem damaligen Diskussionsstand entsprechenden Abgrenzung gegen opportunistische und revisionistische Strömungen ausgehen. In einem weiteren Grundlagendokument formulierten wir, dass durch eine systematische, kollektive, auf den Grundlagen des wissenschaftlichen Kommunismus, des Marxismus-Leninismus, basierende Analysearbeit in den zentralen Fragen der kommunistischen Bewegung und der Gesellschaft ideologische Klarheit geschaffen werden soll.

Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 und dem Beginn unserer Imperialismusdiskussion stellen viele Genossen nicht nur dieses Klärungsverständnis, sondern die Verbindlichkeit unserer PT überhaupt in Frage. All jenen, die auf der Vollversammlung (VV) im April 2022 eine Positionierung zum Krieg auf Grundlage unserer bisherigen Imperialismusanalyse verlangten und diese zum Ausgangspunkt der Diskussion machen wollten, sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien “gegen Klärung” und wollten diese im Keim ersticken. Die Verteidigung der Thesen zeuge von “Formalismus” und “Dogmatismus”, dabei hätten wir den Dissens selbst noch nicht genug “durchdrungen” und würden “noch gar nicht genug wissen”.

Die VV hat sich letztlich mit knapper Mehrheit dagegen entschieden, in der Klärung der Imperialismusfrage zunächst von der Position auszugehen, die wir bei unserer Konstituierung kollektiv beschlossen und seither für die Richtige gehalten haben. Die PT wurden de facto außer Kraft gesetzt. Wir sind also nicht so vorgegangen, zunächst diese weiterhin für alle Genossen verbindliche Position in einer kollektiven Anstrengung anhand der konkreten Wirklichkeit zu überprüfen, um sie zu bestätigen, zu vertiefen oder gegebenenfalls auch durch eine Mehrheitsentscheidung kollektiv zu verwerfen. Die Ablehnung des Revisionismus und die Einsicht in die Notwendigkeit, ihm organisiert etwas entgegenzusetzen, gehörte einmal zum Gründungskonsens der KO. Hinter diese Position sind wir praktisch wieder zurückgefallen. Anstatt vom anti-revisionistischen Standpunkt der Programmatischen Thesen auszugehen, haben wir das gesamte Spektrum an Positionen innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung – auch solche, die wir bis vor kurzem noch für falsch gehalten und explizit als revisionistisch abgelehnt hatten – gleichberechtigt nebeneinandergestellt und mit erheblichem Ressourcenaufwand in der Gesamtorganisation diskutiert. Dadurch sollte in einem ersten Schritt der Dissens in seiner ganzen Breite klarer herausgearbeitet werden. Diesem Ziel sind wir sicher einen Schritt nähergekommen und teilweise waren die Diskussionen durchaus gewinnbringend. Zu mehr Klarheit und Einheit hat das allerdings nicht beigetragen. Im Gegenteil, je mehr wir uns mit den Positionen z.B. der KPRF und RKAP beschäftigten, desto mehr entwickelten wir uns auseinander. Es gab Genossen, die diese Position klar als rechtsopportunistisch erkannten und ablehnten, andere, die diese Positionen nicht nur “interessant” fanden und sie “besser durchdringen” wollten, sondern auch immer offener befürworteten. Eine gemeinsame inhaltliche “Richtschnur” mit Blick auf Imperialismus und Krieg hatte die KO jedenfalls spätestens seit der VV nicht mehr. Diese Polarisierung in unserer Organisation wurde auf dem Kommunismus Kongress (KoKo) im September 2022 sehr deutlich. Stimmen, die darin ein Eindringen des Revisionismus und Opportunismus in die Reihen der KO sahen und dies offen kritisierten, sollten dadurch diskreditiert werden, dass ihnen vorgeworfen wurde, keine “Klärung”, sondern nur einen “ideologischen Linienkampf” zu wollen. Wir vertreten dagegen die Auffassung, dass das keine Gegensätze sind, sondern dass sich beide gegenseitig bedingen. Ohne offenen Kampf um die richtigen Positionen kann es auch keine Klarheit geben. Eine Position zu vertreten, heißt nicht, dass diese ein für alle Mal in Stein gemeißelt ist und man sich nicht mehr vom Gegenteil überzeugen lassen könnte.

Die marxistische Wissenschaft ist kein Wundermittel, das alle Widersprüche in Luft auflösen wird und, sofern nur richtig angewendet, am Ende quasi automatisch Konsens über die objektive Wahrheit herstellt. So sehr wir uns das auch wünschen mögen, unsere Klärung findet nicht auf neutralem Boden statt, sondern sie wird sich in der konkreten Wirklichkeit als ideologischer Kampf zwischen realen Menschen und deren Positionen vollziehen. Menschliche Handlungen sind nunmal nicht ausschließlich von rationalen Argumenten und sachlichem Kalkül, sondern auch von Emotionen, Loyalitäten, Zugehörigkeitsgefühlen, bewussten oder unbewussten Klasseninteressen usw. bestimmt. Was wir damit sagen wollen: die Wissenschaft ist nicht allmächtig. Auch eine gewissenhaft und diszipliniert geführte Diskussion um die Wahrheit muss am Ende nicht zwangsläufig zu einer Einigung führen. Wir werden niemals an einen “Endpunkt” kommen, an dem wir alle alles wissen. Darum verhalten wir uns immer relativ zu unserem aktuellen Wissensstand und nehmen auf dessen Basis Position ein. Die Frage, wer am Ende Recht behält und wessen Position näher an der objektiven Wahrheit liegt, ist dann keine Frage der wissenschaftlichen Debatte mehr, sondern muss sich in der Praxis erweisen. Am Ende kann die Geschichte als unbestechliche Richterin nur einer Seite Recht geben. Führen wir den Kampf um die Klärung also mit offenem Visier, ohne uns hinter Phrasen zu verstecken und unsere Standpunkte zu verschleiern.

Dissense in der Klärungsfrage

So viel also zur Lage, in der wir uns aktuell befinden. Dass es in dieser Situation auch über das wie der Klärung extrem unterschiedliche Vorstellungen gibt, ist kaum verwunderlich. Zumindest dem Wort nach berufen sich alle Beteiligten auf den “wissenschaftlichen Kommunismus”, die “Dialektik”, den “historischen Materialismus” und die “Methode unserer Klassiker”, – darüber, was das jeweils konkret bedeuten soll und vor allem, wie sich daraus eine praktische Handlungsanleitung für den weiteren Klärungsprozess entwickeln ließe, gehen die Vorstellungen jedoch weit auseinander. Dennoch teilen wir alle das Ziel, die Wahrheit finden zu wollen.

In den letzten Monaten, besonders aber auf dem KoKo, sind für uns hinsichtlich des wissenschaftlichen Vorgehens drei zentrale Dissense in der Organisation deutlich geworden.

(I) “Klärung” vs. “Positionierung”

In der KO gibt es mindestens seit Februar 2022 die Auffassung, Klärung und Positionierung seien absolute Gegensätze. Wer zum Beispiel jetzt eine Positionierung zum Krieg fordere, so der Vorwurf, der könne unmöglich für die Klärung sein. Eine Position ist demnach erst als Ergebnis der fertigen Klärung möglich, also dann, wenn alle Dissense und alle Probleme der Theorie und der konkreten Erscheinungsebene ganz “durchdrungen” sind. Diese Haltung einiger Genossen schlägt sich zum Beispiel darin nieder, dass die Verteidiger der PT als “Anti-Klärungs-Lager” verunglimpft werden. Ein konkretes Ergebnis dieser Sichtweise war die von der VV 4 beschlossene “Aktionsorientierung”, die unsere Praxis auf den Kampf gegen den “Hauptfeind” im eigenen Land orientieren, dabei aber die Positionierung zum Krieg ausklammern sollte. Die Vertreter des “nicht-positionieren-Lagers” hatten dabei von Anfang an eine sehr flexible (unehrliche?) Haltung zu ihrem eigenen Mantra (“wir können uns noch gar nicht positionieren”), waren sie doch gleichzeitig diejenigen, die sich mit Verlauf des Krieges zumindest individuell klar positionierten und sich immer kompromissloser auf die Seite Russlands stellten. Sie vertraten beispielsweise, dass Russland nicht etwa wegen seines Einmarsches in die Ukraine, sondern viel eher wegen der angeblichen “Halbherzigkeit” und des “Zuspätkommens” des “Militäreinsatzes” zu kritisieren sei (Klara Bina, 31.03.22). Die Position von Philipp Kissel wurde bereits am 29.03.22 direkt in der Zusammenfassung von ‘Zur Kritik am “Joint Statement” und zur NATO-Aggression gegen Russland’ deutlich. Es ist also klar, dass einzelne Wortführer von Anfang an keinerlei Hemmungen hatten, sich klar zum Krieg zu positionieren – auch ohne einen wissenschaftlichen Klärungsprozess und dessen Ergebnisse abzuwarten. Eine offene Auseinandersetzung mit diesen Positionen war richtig und notwendig – falsch war aber, diesen Dissens zum Anlass zu nehmen, die Programmatischen Thesen und damit jeden kollektiven Standpunkt der KO zu Imperialismus und Krieg voreilig über Bord zu werfen.

Wir vertreten die Auffassung, dass Klärung und Positionierung nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern sich für organisierte Kommunisten gegenseitig bedingen. Wir finden uns zusammen auf Grundlage eines kollektiven Ausgangsverständnisses, gemeinsamer Vorhaben und Perspektiven auf die Welt. Wissenschaftliche Klärung bei gleichzeitiger Beibehaltung der Disziplin und Handlungsfähigkeit der Kommunisten ist nur möglich als Prozess, der von einem kollektiven Ausgangspunkt ausgeht. Dieser nimmt die Form von Programmatischen Thesen, Positionierungen und Beschlüssen an und wird eben nicht anhand individueller Einschätzungen einflussreicher Teile der Organisation als politische Grundlage gewählt. Diese Thesen, Positionierungen und Beschlüsse werden auf dem Weg der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit und politischen Praxis überprüft und schließlich zu einer neuen kollektiven Positionierung auf höherer Stufe geführt. Das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit kann deren Bestätigung und Qualifizierung oder deren Widerlegung und Neuformulierung sein. Im Klärungsprozess werden wir also immer wieder kollektive Zwischenstände festhalten, an denen sich dann unsere Praxis und die weitere Klärung orientieren müssen. Jede Positionierung kann also revidiert werden, aber nicht willkürlich, sondern nach den Spielregeln unseres demokratisch-zentralistischen Organisationsprinzips. Es ist auch jederzeit möglich und richtig, eine Positionierung einzunehmen, da es keine “Nicht-Positionierung” gibt – man steht nicht einfach plötzlich außerhalb der Verhältnisse als “neutraler Beobachter”, der noch etwas Zeit zum Nachdenken braucht. Ohne Positionierungen hätte der Klärungsprozess keinen Anfang und kein Ergebnis, kein Ziel und keine Richtung.

Wir Kommunisten müssen uns positionieren, auch in Zeiten tiefer Krisen und großer Unsicherheiten. Nicht, weil wir der Meinung sind, bereits im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, sondern aus dem klaren Bewusstsein heraus, dass wir immer nur über relative Wahrheiten verfügen können. Wir müssen unsere politische Praxis notgedrungen auf dieser Grundlage entwickeln. Dabei werden uns unvermeidlich Fehler unterlaufen und wir werden uns im Handgemenge der politischen Kämpfe immer wieder der Kritik und Selbstkritik stellen müssen. Der kommunistische Klärungsprozess kann aber nichts anderes sein als die organisierte und schrittweise Annäherung an die absolute Wahrheit, also die richtige theoretische Widerspiegelung der Welt in ihrer widersprüchlichen Bewegung. Dieser Prozess wird auch mit der Gründung der Kommunistischen Partei oder dem Aufbau des Sozialismus nicht endgültig abgeschlossen sein, sondern bleibt die permanente Aufgabe der marxistischen Wissenschaft. Wer aber das Prinzip der Dialektik von Klärung und Positionierung aufgibt, der gibt den Organisationszusammenhang und die Handlungsfähigkeit der Kommunisten auf und verschiebt das Erreichen ihrer Ziele, besonders den Aufbau einer Kommunistischen Partei, auf den Sankt-Nimmerleinstag.

(II) Trennung von Wesen und Erscheinung vs. marxistische Wissenschaft

In einem Teil unserer Organisation und ihrer Führung gibt es die Auffassung, eine Trennung zwischen der “konkreten” Analyse der empirischen Wirklichkeit (Krieg in der Ukraine) und der vermeintlich “abstrakten” Ebene der Theorie (imperialistisches Weltsystem) sei nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, um im Klärungsprozess einen Schritt weiterzukommen. Immer wieder ist die Rede von einer “historischen Herangehensweise”, die sich im Detail die Vorgeschichte des Krieges aneignen müsse. In Diskussionsbeiträgen werden die verschiedensten politischen Ereignisse zu Chronologien aneinandergereiht und daraus Schlussfolgerungen über den Charakter des Krieges gezogen. “Die Wahrheit”, so argumentierte z.B. das KO-Mitglied Philipp Kissel auf dem KoKo, liege “in den Tatsachen”. In seinem Diskussionsbeitrag vom 29.03.22 wird deutlich, dass er darunter offensichtlich versteht, dass der Charakter des Krieges unmittelbar aus der Erscheinungsebene empirisch ableitbar sei. Dieses Verständnis zeigt sich auch im Artikel von Anton Latzo in der UZ vom 28.04.22 ‘Die Wahrheit liegt in den Tatsachen’, auf den Kissel sich positiv bezieht. Eine Einschätzung des Krieges sei demnach unabhängig und losgelöst von einer bestimmten Imperialismustheorie möglich. Als Beleg dafür wurde angeführt, dass Parteien mit unterschiedlichen Imperialismusanalysen (die KPRF und die RKAP) schließlich auch zu weitgehend identischen Einschätzungen des Krieges kommen könnten. Dieses Verständnis führt auch dazu, dass Genossen meinen, man könne die Position zum Krieg vom Imperialismusverständnis trennen, so wie es bei dem KO-Mitglied Klara Bina im Diskussionsbeitrag ‘Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung’ vom 31.03.22 anklingt und sie bei anderer interner Gelegenheit im Oktober deutlich vertreten hat.

Andere Genossen argumentieren, die Frage nach dem imperialistischen Weltsystem sei “zu groß” und übersteige unsere derzeitigen Möglichkeiten. Wir sollten uns also erstmal scheinbar “pragmatisch” auf die unmittelbar brennenden Fragen des Kriegs konzentrieren, anstatt uns mit der “abstrakten” Imperialismustheorie zu befassen. De facto wird die Klärung der Imperialismusfrage damit auf eine unbestimmte Zukunft verschoben und gleichzeitig die Illusion geschürt, es sei möglich, auch ohne den “Umweg” über eine Theorie des imperialistischen Weltsystems zu einer wissenschaftlichen Einschätzung des Krieges zu kommen. Eine solche Abkürzung gibt es aber nicht. Ihren konkreten Ausdruck fand diese Vorstellung in dem Vorschlag eines Teils der Leitung der KO, den Klärungsprozess für unbestimmte Zeit auf isolierte Teilfragen des Krieges (z.B.: “Ist Russland bedroht?”) zu fokussieren und die Frage nach der Imperialismustheorie bis auf weiteres vollständig aus der Debatte auszuklammern.

Wir sind dagegen der Auffassung, dass eine solche Trennung zwischen “konkreten Tatsachen” (Erscheinungsebene) und scheinbar “abstrakter” Theorie des Gesamtzusammenhangs (Wesen) nicht nur nichts zur Klärung beitragen wird, sondern auch grundsätzlich im Widerspruch zu einem marxistischen Wissenschaftsverständnis steht. Der Marxismus ist keine Wissenschaft einzelner „Tatsachen“, sondern er ist die Theorie des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs. In dem Moment, in dem wir diesen Anspruch aufgeben, geben wir den Marxismus auf. Die materialistisch-dialektische Methode unserer Klassiker steigt in einem ersten Weg vom Konkreten zum Abstrakten auf, d.h. in unserem Fall von empirischen Daten (den “Tatsachen”) über den ökonomisch-politischen Gesamtzusammenhang zu einer allgemeinen Theorie des Imperialismus. Erst im zweiten Weg kann sie vom Abstrakten zurück auf die Ebene des Konkreten gehen und so zu einer Einschätzung des Krieges gelangen, anders können die “Tatsachen” gar nicht verstanden werden. Die Kriegsfrage ist also untrennbar mit der Frage des imperialistischen Weltsystems verbunden. Die Unterscheidung zwischen der „konkreten“ Einschätzung des Krieges einerseits, und einer angeblich „abstrakten“ und davon losgelösten Imperialismustheorie andererseits, ist falsch und absolut unmarxistisch. Das, was einige Genossen unter einer “historischen Herangehensweise” verstehen, die sich nie oder erst viel später von der Ebene der konkreten Erscheinungen löst, ist das Gegenteil der dialektischen Methode des Marxismus. Darauf gehen wir im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’ näher ein.

(III) “Wir wissen noch nicht genug” vs. Imperialismusverständnis der Programmatischen Thesen

Von den Genossen, die ein Festhalten an den PT ablehnen, wird immer wieder vorgebracht, wir könnten über den heutigen Imperialismus eigentlich “noch gar nichts wissen”, überhaupt gäbe es noch keine marxistische Theorie des Imperialismus im 21. Jh. etc. Wer anderes behaupte, sei entweder “dogmatisch”, “vermessen” oder einfach “arrogant”. Der Klärungsprozess müsse also “offen” sein und pluralistisch alle Positionen unserer Strömung mit einbeziehen, anstatt sich klar abzugrenzen und bereits von einem konkreten Analyseansatz auszugehen. Eine Konsequenz daraus ist die oben bereits beschriebene Haltung, zu den großen und komplizierten Zusammenhängen lieber nichts sagen zu wollen und sich stattdessen auf das Studium historischer Details zurückzuziehen. Die aggressive Polemik einiger Genossen gegen Parteien wie die KKE steht im scharfen Kontrast zu deren gleichzeitigen Unwillen bzw. der Unfähigkeit, zumindest provisorisch und thesenhaft ein eigenes zusammenhängendes Imperialismusverständnis zu formulieren.

Wir sind dagegen der Auffassung, dass das Verständnis ungleicher gegenseitiger Abhängigkeiten der KKE den Imperialismus auf seiner heutigen Entwicklungsstufe im Wesentlichen richtig beschreibt und konsequent an Lenins Analyse von 1916 anknüpft. Dieses Verständnis kann im Bild der imperialistischen Pyramide veranschaulicht werden, wie es Patrick Honer am 18.04.22 in ‘Von Bildern, imperialistischen Ländern und Schiedsrichtern’ auf der Diskussionstribüne zur Imperialismusfrage beschreibt. Die konkreten Entwicklungen rund um den Krieg in der Ukraine geben aus unserer Sicht keinerlei Anlass dazu, diese Sichtweise zu revidieren, sondern bestätigen ihre Richtigkeit bisher auf ganzer Linie. Eine richtige Einschätzung des Kriegs ist aus unserer Sicht nur ausgehend von einer umfassenden Analyse des Weltsystems möglich. Die Argumente, die die Auseinandersetzung als “zwischenimperialistischen Krieg” untermauern, wurden in zahlreichen Diskussionsbeiträgen dargelegt und überzeugen uns bisher deutlich. Sicher ist auch die KKE nicht im Besitz der absoluten Wahrheit. Aber sie verfügt aus unserer Sicht über den besten Ansatz, den wir bisher haben. Selbstverständlich ist mit Blick auf die ungleichen, aber wechselseitigen Abhängigkeiten – nicht zuletzt für unsere Kampffähigkeit gegen den deutschen Imperialismus – noch viel Vertiefung und konkrete Klärung nötig, in einigen Aspekten vielleicht sogar Korrektur und Neuformulierung. Trotzdem gehen wir davon aus, dass sie den richtigen Ausgangspunkt und das richtige theoretische Fundament liefert, um zu einer wirklichen Klärung der Imperialismusfrage zu kommen.

Wir wollen unsere Darstellung der Dissense in der Klärungsfrage mit einigen Worten Lenins abschließen, der in seiner Imperialismusschrift absolut keinen Zweifel an seinem wissenschaftlichen Standpunkt ließ: “[D]er Beweis für den wahren sozialen oder, richtiger gesagt, den wahren Klassencharakter eines Krieges ist selbstverständlich nicht in der diplomatischen Geschichte des Krieges zu suchen, sondern in der Analyse der objektiven Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten. Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen (bei der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens kann man immer eine beliebige Zahl von Beispielen oder Einzeldaten ausfindig machen, um jede beliebige These zu erhärten), sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen.

[…] Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung [des Imperialismus] begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen.” (LW 22, S. 194; 198)

Wie die Umsetzung dieser Ausführung für uns heute aussehen kann, zeigen wir im Folgenden auf.

Die Welt erkennen, um sie zu verändern: Marxistische Theorie und Methode

(IV) Wozu brauchen wir Wissenschaft?

Unser Alltagsbewusstsein funktioniert auf der Ebene der Erscheinungen. Jeder von uns erfährt abhängig von der eigenen individuellen Umgebung unterschiedliche, sinnliche Wahrnehmungen, die chaotisch von unserem Bewusstsein zusammengesetzt und verarbeitet werden. Doch wie viel Erkenntnisgewinn können wir daraus ziehen? Um das Wesentliche entdecken zu können, müssen wir die Bewegungsgesetze erkennen, die sich in den Erscheinungen ausdrücken. Dafür brauchen wir eine wissenschaftliche Methode. Diese Methode ist der dialektische und historische Materialismus, der uns von Marx und Engels an die Hand gegeben wurde. Marx verweist darauf, dass gerade die ökonomischen Verhältnisse dazu führen, dass sich ein verschleiertes Verständnis des Funktionierens der Welt in unserem Bewusstsein widerspiegelt. Ein konkretes Beispiel: Auf der oberflächlichen Erscheinungsebene sieht es so aus, als basiere das Lohnarbeitsverhältnis, genau wie der Kauf und Verkauf anderer Waren, auf Äquivalententausch, also dem Tausch gleicher Wertgrößen gegeneinander. Die meisten Menschen nehmen das in ihrem Alltagsverstand auch so wahr. Der Lohn erscheint ihnen als genauer Gegenwert ihrer Arbeitszeit. Wie Marx aber gezeigt hat, eignet sich der Kapitalist von seinen Lohnarbeitern unbezahlt einen Mehrwert an. Dem Wesen nach handelt es sich also um ein Ausbeutungsverhältnis. Um zu diesem Wesen vordringen zu können, genügt es aber nicht, sich auf der Ebene des Alltagsverstands die Erscheinungen anzuschauen, sondern es bedarf einer wissenschaftlichen Analyse. Marx schreibt in Kapital Band 3 dazu: “alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen” (MEW 25, S. 825).

Als Kommunisten geben wir uns nicht damit zufrieden, die Welt genau zu erkennen und Wesen und Erscheinungsformen bestimmen zu können. Es kommt uns darauf an, wie Marx in seinen Thesen über Feuerbach schreibt, die Welt nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern “sie zu verändern” (MEW 3, S. 5).

Ganz allgemein gesprochen muss der Mensch die Bewegungsgesetze seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt kennen, um diese seinen Bedürfnissen entsprechend gestalten zu können. Dazu Engels: “Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittelst ihrer unsre Zwecke zu erreichen” (Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 222-223).

Marx schreibt im ersten Band des Kapitals mit Blick auf den gesellschaftlichen Fortschritt und die Notwendigkeit der Revolution: “Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen-, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern” (MEW 23, S. 15-16). Die wissenschaftliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Bewegungsgesetze entfesselt also keine magischen Kräfte, mit deren Hilfe diese Gesetze einfach außer Kraft gesetzt und die Gesellschaft beliebig und ohne jede objektive Einschränkung gestaltet werden kann. Aber die Einsicht in die Bewegungsgesetze ist die Voraussetzung für jeden bewussten Eingriff in die gesellschaftliche Entwicklung. Die möglichst frühe und klare Einsicht in die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution kann die “Geburtswehen” und damit die Leiden unter der alten, überlebten und absterbenden Gesellschaftsordnung abkürzen.

In diesem Sinne verstehen wir auch Lenins viel zitierte Aussage aus “Was tun?”: “Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben” (LW 5, S. 379). Es handelt sich hier keineswegs um eine hohle Phrase oder einen billigen Allgemeinplatz. Lenin formuliert die konkrete Einsicht, dass ohne eine revolutionäre Theorie, die die grundlegenden Bewegungsgesetze der Gesellschaft, ihre Widersprüche und Entwicklungstendenzen richtig widerspiegelt und deren Wirkungsweise in den konkreten historischen Erscheinungen erkennt, nicht möglich, das heißt zum Scheitern verurteilt ist. In seinem Werk “Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus” konkretisiert Lenin diesen Standpunkt mit Blick auf die Analyse des Imperialismus: “Ohne die ökonomischen Wurzeln dieser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre politische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der praktischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen” (LW 22, S. 198).

Dieser marxistische Standpunkt ist natürlich selbst bereits Ergebnis eines wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Der Kapitalismus bringt seine eigenen Totengräber hervor: die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse ist das revolutionäre Subjekt. Es ist nicht zufällig, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist. Sie ist die Klasse, die den im Imperialismus faulend gewordenen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufheben kann. Sie ist die fortschrittliche, handelnde, die Geschichte bestimmende Größe. Wie sich die Richtung des Klassenkampfs von Seiten der Arbeiterklasse gegen die Tendenzen in die andere Richtung (Aufrechterhaltung der Ausbeuterordnung, Opportunismus) im Einzelnen durchsetzt, also wie groß die Einsicht in die Gerichtetheit der eigenen Handlungen ist und damit die Einsicht in die Notwendigkeit des eigenen Handelns, das ist die Frage des bewussten Handelns der Arbeiterklasse, der Partei. Darum ist die Partei als die Vorhut so zentral. Es ist an uns, den Kommunisten, die Handlung in die richtige Richtung bewusst zu führen. Das funktioniert nicht ohne die revolutionäre Theorie, auf deren Grundlage wir die politische Linie bestimmen, hinter der wir uns mit Disziplin versammeln.

Es geht uns in der marxistischen Wissenschaft also darum, das Wesen in den Erscheinungen erkennen zu können und Erkenntnisse über die inneren Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Verhältnisse zu gewinnen. Nur so ist es möglich, Prognosen über die historische Entwicklung der Gesellschaft aufzustellen und daraus praktische Anleitungen für ein bewusstes politisches Handeln abzuleiten. Dabei ist unser Ziel die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und die Errichtung des Sozialismus/Kommunismus, einer Gesellschaftsform, in der die gesellschaftlich geleistete Arbeit gesellschaftlich angeeignet wird.

Wozu brauchen wir also (marxistische) Wissenschaft? (1.) Um das Wesen in den Erscheinungen und die Bewegungsgesetze hinter den konkreten gesellschaftlichen Entwicklungen erkennen zu können. (2.) Um die konkrete Dynamik unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit richtig verstehen und einschätzen zu können. (3.) Um die Welt zu verändern, d.h. aus diesen Erkenntnissen eine wirksame politische Praxis für die Arbeiterklasse im Kampf für den Sozialismus ableiten zu können.

(V) Ausgangspunkt: Unsere kollektive Basis

Wenn wir mit dem wissenschaftlichen Arbeiten beginnen, ist unser Gehirn nicht einfach so “auf null” gestellt. Wir haben nicht einfach eine Tabula Rasa im Kopf und es gibt für uns als historische Materialisten auch keinen archimedischen Standpunkt, also den eines außerhalb der Welt gestellten Beobachters, der ganz unvoreingenommen von außen auf die Dinge blickt. Es gibt keinen “neutralen” Blick auf die Welt. Jede Empirie, sei es das praktische Erfahrungensammeln des Alltagsverstands oder die systematische wissenschaftliche Forschung, geht immer von Erkenntnisinteressen und Vorannahmen über die Welt aus. Wir knüpfen immer schon an unsere vorangegangenen Erfahrungen und intuitiv gebildeten Begriffe an. Mit diesen Vorerfahrungen und Intuitionen müssen wir kritisch umgehen. Sie bilden zugleich den Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen Theoriebildung, aber auch eine Hürde, die der Erkenntnisprozess permanent überwinden muss.

Dazu zwei Beispiele: Auf der Ebene des Alltagsverstands und der unmittelbaren Intuition erscheint die Annahme, die Erde sei flach, als vollkommen logisch und plausibel. Die empirischen Eindrücke, die das Gegenteil beweisen, sind der individuellen Wahrnehmung nicht oder nur vermittelt zugänglich. Zwar ist auch vom Boden aus mit dem bloßen Auge erkennbar, dass Schiffe am Horizont hinter der Erdkrümmung verschwinden oder dass der Stand der Sonne sich ändert, je nachdem, in welcher Entfernung man sich vom Äquator befindet. Dennoch waren seit der Antike jahrhundertelange wissenschaftliche Forschung und der Kampf gegen intuitive Vorurteile und religiöse Dogmen notwendig, um schließlich das Bewusstsein durchzusetzen, dass die Erde weder eine Scheibe ist noch von der Sonne umkreist wird, sondern sich als kugelförmiger Planet auf einer Umlaufbahn um die Sonne befindet. Zwischen der scheinbar unhintergehbaren intuitiven Alltagswahrnehmung und der wissenschaftlichen Wahrheit klafft also ein großer Spalt. Engels schreibt dazu: “Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbacknen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt.” (Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 204)

Weiter. Marx weist den unkritischen Umgang mit bereits vorgefundenen Begriffen zurück: “Wenn wir ein gegebenes Land politisch-ökonomisch betrachten, so beginnen wir mit seiner Bevölkerung, ihrer Verteilung in Klassen, Stadt, Land, See, den verschiednen Produktionszweigen, Aus- und Einfuhr, jährlicher Produktion und Konsumtion, Warenpreisen etc. […] Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen aus denen sie besteht weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn” (Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 34f.). Wenn wir also sagen, wir möchten die ‘Bevölkerung’ untersuchen, so müssen wir uns deutlich machen, was genau man unter ‘Bevölkerung’ versteht und in welche Elemente diese wiederum zu gliedern ist. Denn so klar wir alltagssprachlich wissen, was mit ‘Bevölkerung’ gemeint ist, ist es aus wissenschaftlicher Perspektive nicht. Ähnlich ist es mit Bezeichnungen wie Kompradorenbourgoisie, Befreiungskrieg und Abhängigkeit, um ein paar Begriffe aus unserer aktuellen Imperialismus-Diskussion zu nennen.

Wenn wir der wirklichen Welt in ihrer unendlichen Komplexität und Größe gegenübertreten, bildet sich diese in unserem Bewusstsein zunächst als “chaotische Vorstellung des Ganzen” (MEW 42, S. 35) ab. Diese chaotische Vorstellung des Weltganzen setzt sich aus verschiedenen Wissenselementen und Eindrücken zusammen, die wir mehr oder weniger zufällig in unseren Köpfen gesammelt haben. Geprägt sind diese Eindrücke einerseits von unserer konkreten biologisch-materiellen Beschaffenheit als Menschen, insbesondere unserer Sinnesorgane (die z.B. ohne technische Hilfsmittel viele Naturprozesse gar nicht wahrnehmen können). Andererseits hängt unser Weltbild stark davon ab, wo genau in der Welt wir uns befinden, es ist regional, kulturell, religiös und sozial geprägt. Damit ist die chaotische Vorstellung des Weltganzen zunächst spontan und zufällig. Wissenschaftliche Erkenntnis kann aber nicht das Ergebnis von Zufällen sein, sondern setzt ein systematisches und planvolles Vorgehen voraus.

Marx und Engels haben bei der Entwicklung ihrer Theorie nicht bei null angefangen, also den noch ganz rohen und unreflektierten Begriffen des Alltagsbewusstseins ihrer Zeit, sondern sie konnten bereits an die Vorarbeiten zahlreicher Theoretiker anknüpfen. In ihren ökonomischen Ausführungen kritisieren sie die englischen Klassiker (Smith, Ricardo etc.). Ihr philosophisches Fundament beziehen sie aus Hegels Ausführungen zur Dialektik, Feuerbachs Materialismus, französischer radikaler Aufklärungsphilosophie, der aristotelischen Logik, dem antiken Materialismus (Epikur, Demokrit) und der antiken Dialektik (Heraklit). Ihr Geschichtsverständnis und ihr revolutionär-sozialistischer Standpunkt waren wesentlich geprägt von den Erfahrungen der Französischen Revolution und den ersten utopischen Sozialisten (Vgl. Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, LW 19, S. 3-9).

Warum betonen wir hier die Rolle des Ausgangspunktes so stark? Warum starten wir jetzt nicht direkt mit der Darstellung der marx’schen Forschungsweise? Weil wir es für notwendig halten, uns erstens bewusst zu machen, dass es keine neutrale Erkenntnis aus sich selbst heraus gibt, sondern wir immer in Wissenszusammenhänge eingebettet sind. Wir sollten uns also keine Illusionen über objektive Neutralität machen, sondern offenlegen, was unsere Ausgangspunkte und Vorannahmen sind. Zweitens, weil wir uns als organisierte Kommunisten auf einen kollektiven Startpunkt geeinigt haben. In der KO haben wir uns zu Marx, Engels und Lenin als unseren Klassikern bekannt und unser grundlegendes Verständnis des Marxismus-Leninismus in den Programmatischen Thesen dargelegt. Natürlich behandeln wir diese nicht als ewig gültige Wahrheiten, sondern haben uns vorgenommen, diese immer wieder auf ihre Aktualität zu prüfen. Jedoch muss uns klar sein, dass wir nicht einfach Privatpersonen sind, die aus Spaß an der Wissenschaft zusammenkommen, sondern wir das kollektive Ziel des Parteiaufbaus und der sozialistischen Revolution haben. Um organisiert Wissenschaft zu betreiben, haben wir uns eben diesen Startpunkt gesetzt, um von der “chaotischen Vorstellung des Ganzen”, die jeder von uns individuell hat, zu einer kollektiven “reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen” (Marx: Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 35) zu kommen, in der wir handlungsfähig sind. Diesen Startpunkt – und damit die Grundlage für unsere kollektive Organisierung und unseren kollektiven Wissensgewinn – geben wir erst auf, wenn wir ihn als falsch bewiesen und einen neuen kollektiven Ausgangspunkt bestimmt haben.

Lenin baute auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Marx und Engels auf. Das konnte er, indem er die Methode verstanden und angewendet hat, um nachzuvollziehen, wie sich die Welt weiterentwickelt hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brach der 1. Weltkrieg aus, der die damaligen Kommunisten vor große Herausforderungen in der Einschätzung des Krieges und für ihre Schlussfolgerungen in Bezug auf ihr Handeln stellte. Das Ziel Lenins war mit seinen in der Imperialismusschrift festgehalten Erkenntnissen “sich in der ökonomischen Grundfrage zurechtzufinden, ohne deren Studium man nicht im geringsten verstehen kann, wie der jetzige Krieg und die jetzige Politik einzuschätzen sind, nämlich in der Frage nach dem ökonomischen Wesen des Imperialismus” (LW 22, S. 192).

Lenin wandte die Erkenntnisse von Marx und Engels an und konnte damit die wesentlichen Bewegungsgesetze des Imperialismus beschreiben, wie er sich als dessen “höchste Stufe” aus dem Kapitalismus entwickelt. Marx hatte bereits die gesetzmäßige Entwicklung von Konzentration und Zentralisation der Produktion und des Kapitals identifiziert. Er weist auf eine Entwicklung der freien Konkurrenz hin, die ab einem bestimmten Punkt einen qualitativen Sprung macht und Monopole herausbildet. Dies ist Lenins gesetzmäßiger Ausgangspunkt. Er weist nach, dass dieser Sprung Anfang des 20. Jahrhunderts Realität geworden ist. Der Imperialismus ist allerdings keine eigene Gesellschaftsformation, sondern ein Stadium des Kapitalismus. Die Gesetzmäßigkeiten des vormonopolistischen Kapitalismus haben nach wie vor ihre Gültigkeit. So bezieht sich Lenin auf die Erkenntnisse über gesetzmäßige Entwicklung der Klassiker und bezieht sich auf deren Durchsetzung in der historischen, wirklichen Entwicklung.

Was bedeutet das für uns und unseren Klärungsprozess?Uns beschäftigt die Einschätzung des heutigen Imperialismus bzw. des Krieges in der Ukraine. Wenn wir uns nun um Antworten bemühen, stellen wir fest, dass wir einen Ausgangspunkt brauchen. Wir können nicht blind in die Empirie gehen und Daten sammeln, sondern wir müssen uns bewusst machen, wo wir starten, um einen planvollen kollektiven Erkenntnisprozess zu ermöglichen.

Indem wir uns auf die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und Imperialismus von Marx, Engels, Lenin als die Basis unserer gemeinsamen Organisierung geeinigt haben, sind sie unser Startpunkt. Das haben wir in unseren PT festgehalten. Wir starten nicht bei null, sondern bei dem, was unsere Klassiker bereits aufgedeckt haben und wir grundlegend richtig finden. Also: Wir haben bereits ein grundlegendes weltanschauliches Gebäude. Das ist unser Ausgangspunkt. Und das bedeutet, dass wir bei den Gesetzmäßigkeiten, die die Klassiker identifiziert haben, starten. Das ist nicht dogmatisch. Sondern solange wir uns im Stadium des Imperialismus befinden, also in derselben Gesellschaftsformation, ist die gesetzmäßige Entwicklung, wie sie die Klassiker beschreiben, gültig und wird sich durchschlagen. Wir werden dann zu Dogmatikern, wenn wir nicht verstehen, warum wir sie für wahr halten und wie die Klassiker zu ihren Erkenntnissen gekommen sind (siehe Fehler ‘Begriffe nicht begreifen’ im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’).

Marx und Engels haben uns nicht nur eine Theorie über die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus hinterlassen, sondern vermitteln uns auch, wie sie zu ihren Erkenntnissen gekommen sind. Sie weisen in ihren Schriften nach, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Produktionsweise beruhen, aus der sich unser Bewusstsein, die Ideologie, die Religion entwickelt. Der Überbau steht in ständiger Wechselwirkung mit der ökonomischen Basis. Aus diesem Grund schauen sie sich die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten an, die Entwicklung ihrer Widersprüche und sind in der Lage, Prognosen über die weitere Entwicklung des Kapitalismus, die Zuspitzung und Aufhebung der Widersprüche zu machen. Dass die Ware die abstrakteste Form ist, in der die Produktionsverhältnisse, gesellschaftliche Arbeit und private Aneignung, abgebildet sind, die der bestimmende Moment der kapitalistischen Produktionsweise sind, müssen wir nicht erneut wissenschaftlich analysieren. Im Imperialismus ist für jede wissenschaftliche Betrachtung der Ausgangspunkt das Monopol, weil es durch nichts anderes vermittelt bestimmt werden kann (dazu im Folgenden mehr) (vgl. Kumpf, 1968, S. 105).

Wir müssen uns dieser Bewegungsgesetze, der wissenschaftlichen Begriffe, bemächtigen, um die aktuellen Erscheinungen, wie den Ukraine-Krieg, konkreter beschreiben zu können. Diese Offenlegung und Bewusstmachung von unserem Ausgangspunkt ist zentral, um Orientierung in der unendlichen Komplexität der Welt zu finden und Kollektivität in der Klärung für kollektives Handeln herzustellen.

Wenn wir uns hier (beim Verständnis dieser Gesetzmäßigkeiten) schon uneinig sind, dann macht der ganze Rest der wissenschaftlichen Betrachtung keinen Sinn. Wir werden nie zu einem kollektiven Verständnis der aktuellen Lage kommen, wenn wir keinen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Wir brauchen also zuerst ein kollektives Verständnis der Bewegungsgesetze des Imperialismus, wie sie Lenin beschreibt.

(VI) Marx’ Methode im Überblick

Von Marx und Engels ist kein Text überliefert, in dem sie uns eine umfassende und definitive Darstellung ihrer wissenschaftlichen Methode an die Hand geben. Es verwundert also nicht, dass es in der Geschichte des Marxismus gerade in dieser Frage immer wieder grundsätzliche Dissense und Debatten gegeben hat. Dabei lässt sich die marx’sche Methode in ihren Grundzügen aus zahlreichen über das Gesamtwerk verstreuten Textfragmenten und nicht zuletzt aus dem Studium dieser Methode “in Aktion” in den Hauptwerken der Klassiker zuverlässig rekonstruieren. Genau das wollen wir im Folgenden leisten. Zunächst geben wir einen Überblick über die Methode. Dann werden wir die sechs Schritte, in die sie eingeteilt werden kann, genau beleuchten.

Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals Band 1 beschreibt Marx die von ihm angewandte Methode anhand einer Rezension, die er selbst ausführlich und zustimmend zitiert. Wir geben diese Textstelle hier wieder und entpacken das Zitat im Folgenden schrittweise:

“Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, soweit sie eine fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehn, wie er in einer gegebnen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d.h. der Übergang aus einer Form in die andre, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal dies Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folgen, worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt … Demzufolge bemüht sich Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatsachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehn muß, ganz gleichgültig, ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind. Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen […] Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache nicht mit der Idee, sondern mit der andren Tatsache. Für sie ist es nur wichtig, daß beide Tatsachen möglichst genau untersucht werden und wirklich die eine gegenüber der andren verschiedene Entwicklungsmomente bilden, vor allem aber wichtig, daß nicht minder genau die Serie der Ordnungen erforscht wird, die Aufeinanderfolge und Verbindung, worin die Entwicklungsstufen erscheinen. Aber, wird man sagen, die allgemeinen Gesetze des ökonomischen Lebens sind ein und dieselben; ganz gleichgültig, ob man sie auf Gegenwart oder Vergangenheit anwendet. Grade das leugnet Marx. Nach ihm existieren solche abstrakte Gesetze nicht […] Nach seiner Meinung besitzt im Gegenteil jede historische Periode ihre eignen Gesetze […] Sobald das Leben eine gegebene Entwicklungsperiode überlebt hat, aus einem gegebnen Stadium in ein andres übertritt, beginnt es auch durch andre Gesetze gelenkt zu werden. […] Mit der verschiednen Entwicklung der Produktivkraft ändern sich die Verhältnisse und die sie regelnden Gesetze. Indem sich Marx das Ziel stellt, von diesem Gesichtspunkt aus die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu erforschen und zu erklären, formuliert er nur streng wissenschaftlich das Ziel, welches jede genaue Untersuchung des ökonomischen Lebens haben muß … Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt in der Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln.“

Dann geht es weiter in Marx’ eigenen Worten, der diese Darstellung seiner dialektischen Methode in Abgrenzung zur Darstellungsweise um die folgende Erklärung ergänzt:

“Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.

Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.

[…] In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist” (MEW 23, 25-28).

Was wird hier beschrieben? Marx stellt dar, dass die Forschung sich den empirischen Stoff zunächst im Detail aneignet. Und zwar in seiner Entwicklung. Diese wird begrifflich (ideell) widergespiegelt und die Gesetzmäßigkeit hinter der Entwicklung, das “innere Band” zwischen den Phänomenen, aufgeschlüsselt. Ausgehend von den wesentlichen Gesetzmäßigkeiten werden diese wiederum an der Wirklichkeit überprüft. In einem Satz könnten wir sagen: Marx beginnt bei der empirischen Aneignung des Stoffs, destilliert daraus die inneren Gesetzmäßigkeiten und überprüft diese wiederum an der Wirklichkeit.

Anders ausgedrückt vollzieht sich die Bewegung des Forschens vom sinnlich-chaotisch Konkreten der unmittelbaren Erscheinungen über die begrifflich-theoretische Abstraktion zum bestimmten Konkreten der nun wissenschaftlich durchdrungenen Wirklichkeit (vgl. Marx: Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 35).

Engels beschreibt das Forschungsvorgehen in der ‘Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft’ so: “Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Wir sehen zunächst also das Gesamtbild, in dem die Einzelheiten noch mehr oder weniger zurücktreten, wir achten mehr auf die Bewegung, die Übergänge, die Zusammenhänge, als auf das, was sich bewegt, übergeht und zusammenhängt. […] Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. [Das ist das chaotisch, sinnliche Konkrete mit dem wir in unserem Alltagsbewusstsein durch die Welt gehen.] Aber diese Anschauung, so richtig sie auch den allgemeinen Charakter des Gesamtbildes der Erscheinungen erfaßt, genügt doch nicht, die Einzelheiten zu erklären, aus denen sich dies Gesamtbild zusammensetzt; und solange wir diese nicht kennen, sind wir auch über das Gesamtbild nicht klar. [Die Klarheit über das Gesamtbild ist das Resultat von Schritt 4.] Um diese Einzelheiten zu erkennen, müssen wir sie aus ihrem natürlichen oder geschichtlichen Zusammenhang herausnehmen. [Hier beginnt die Abstraktion: das Herauslösen von Teilen aus einem Ganzen. Hier ist es die “empirische Arbeit”; Schritt 1.] und sie, jede für sich, nach ihrer Beschaffenheit, ihren besondren Ursachen und Wirkungen etc. untersuchen. [Schritt 2: Analyse] Dies ist zunächst die Aufgabe der Naturwissenschaft und Geschichtsforschung; Untersuchungszweige, die aus sehr guten Gründen bei den Griechen der klassischen Zeit einen nur untergeordneten Rang einnahmen, weil diese vor allem erst das Material dafür zusammenschleppen mußten. Erst nachdem der natürliche und geschichtliche Stoff bis auf einen gewissen Grad angesammelt ist [Schritt 1], kann die kritische Sichtung, die Vergleichung beziehungsweise die Einteilung in Klassen, Ordnungen und Arten in Angriff genommen werden [Schritt 2] (Anmerkungen von uns; MEW 19, S. 202-203).

Der marxistische Theoretiker Ernest Mandel (ein Trotzkist, der allerdings an dieser Stelle das marxistische Wissenschaftsverständnis korrekt darlegt) schreibt, eines der komplexesten Probleme der marx’schen Theorie bestehe darin, das “Verhältnis zwischen den allgemeinen Bewegungsgesetzen des Kapitals, wie sie Marx aufgedeckt hat, und der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise” zu entschlüsseln. Wie genau treten die ökonomischen Bewegungsgesetze, die die gesellschaftliche Entwicklung von der Basis her bestimmen, im konkreten und scheinbar chaotischen Geschichtsprozess in Erscheinung? Wie manifestieren sie sich als konkrete Phänomene des Überbaus? Das ist die schwierige und nie abgeschlossene Aufgabe, der sich alle Generationen von Marxisten in ihrer jeweiligen historischen Gegenwart von neuem stellen müssen. Sich dieser Aufgabe zu stellen heißt, den Marxismus nicht als Sammlung einmal entdeckter Wahrheiten zu verstehen, sondern als das Rüstzeug, um die sich ständig verändernde gesellschaftliche Wirklichkeit auf Höhe der Zeit zu analysieren und den theoretischen Erkenntnisprozess nicht hinter die wirkliche historische Bewegung zurückfallen zu lassen.

Mandel schreibt über die marx’sche Methode weiter: “Es ist inzwischen ein Gemeinplatz geworden, daß die durch Marx entdeckten Entwicklungsgesetze des Kapitalismus das Ergebnis einer vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigenden dialektischen Analyse bilden.” Er zitiert Marx aus der ‘Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie’: “Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens.” (MEW 13, S. 632)Mandel fährt fort: “dem ‘Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten’ [ist], wie Lenin beschrieben hat, ein Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten vorangegangen; denn das Abstrakte selbst ist ja bereits Ergebnis einer analytischen Arbeit, die das Konkrete in seine ‘bestimmenden Beziehungen’ zu zerteilen suchte. […] Das Abstrakte ist nur dann wahr, wenn es gelingt, die ‘Einheit des Mannigfaltigen’, die im Konkreten gegeben ist, zu reproduzieren. Das Wahre, sagt Hegel, ist das Ganze; und das Ganze ist die Einheit des Abstrakten und des Konkreten – eine Einheit der Gegensätze, nicht deren Identität. Und viertens kann die gelungene Reproduktion der konkreten Totalität nur durch ihre praktische Anwendung beweiskräftig werden, was u.a. bedeutet – wie Lenin ausdrücklich hervorhebt –, daß bei jedem Schritt der Analyse ‘die Kontrolle durch die Tatsachen respektive durch die Praxis’ stattfinden muss’” (Mandel, 1972, S. 11-12).

Im Folgenden soll es darum gehen, das wissenschaftliche Vorgehen anhand der sechs Schritte der marx’schen Methode zu veranschaulichen. Dabei stellen wir in jedem Schritt dar, wie Marx ihn vollzieht, um dann zu zeigen, welche Rolle der jeweilige Schritt für Lenin gespielt hat. Am Ende jedes Abschnitts geben wir Hinweise, was sie für unseren Klärungsprozess jeweils bedeuten.

Marx’ Methode Schritt für Schritt

Erster Weg: Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten

(1) Aneignung des empirischen Stoffes (Erscheinungsebene)

“Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren.” (MEW 23, S. 27; Hervorhebung von uns)

Laut Marx besteht also der erste Schritt der wissenschaftlichen Forschung darin, sich den empirischen Stoff anzueignen. Auf den ersten Blick scheint uns die Wirklichkeit in ihrer sinnlich empirischen Gegebenheit am konkretesten zu sein. So ist es auch tatsächlich, sofern das Konkrete hier das Konkrete der Realität, jedoch der theoretisch noch nicht durchdrungenen Realität ist. Diese ist zunächst der „Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung“ (MEW 13, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 632).

Marx’ Forschungsvorgehen im ‘Kapital’ beginnt mit der empirischen Betrachtung der ökonomischen Erscheinungen. Die detaillierte Darstellung seiner mühsamen empirischen Vorarbeiten erspart Marx den Lesern des Kapitals (s.o. das Zitat zur Unterscheidung von “Forschungs-” und “Darstellungsweise”), zumindest teilweise liegen uns diese aber in den “Grundrissen” und den “Theorien über den Mehrwert” publiziert vor. Um die empirischen Erscheinungen betrachten zu können, ist bereits Abstraktion notwendig. Einzelne Dinge (z.B. die Ware), die als relevant erachtet werden, müssen aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst und zunächst isoliert untersucht werden. Ohne Abstraktion und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands wäre es unmöglich, sich die unendliche Komplexität der Wirklichkeit systematisch anzueignen und das empirische Material in verwertbarer Form zu sammeln. Anders als in den Naturwissenschaften, so Marx, kann “bei der Analyse der ökonomischen Formen […] weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen” (MEW 23, S. 12). Auf die Abstraktionskraft gehen wir später in Schritt 2 ein.

Marx kann sich zu Beginn seiner Betrachtung noch nicht auf bereits erkannte Bewegungsgesetze stützen, sondern für ihn gilt es zunächst, diese Gesetze herauszufinden. Sein Ziel ist, das Gesamtbild der Wirklichkeit nicht mehr sinnlich-chaotisch zu verstehen, sondern in seiner Gesetzmäßigkeit. Er sammelt also zunächst Einzelheiten, löst sie aus dem Gesamtzusammenhang der Erscheinungen heraus, um sie erkennen zu können. Warum ist das Herauslösen einzelner Erscheinungen richtig auf dem Weg zur Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten?

Jede Entwicklung muss sich verwirklichen, also erscheinen. Wie genau sie sich verwirklicht, ist aber bei der Betrachtung der Erscheinungen noch nicht klar. Die Erscheinungen sind im Vergleich zum Wesen der Dinge reicher. Die Erscheinungen haben mehrere Eigenschaften und zufällige Formen, in denen sie auftreten können. Sie enthalten das Wesentliche, was aber das Wesentliche ist, ist nicht unmittelbar erkennbar. Damit Marx zum Wesentlichen, den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten vordringen kann, muss er durch die Erscheinung “hindurch”.

Marx und Engels stellen immer wieder heraus, dass die Forschung bei der Wirklichkeit beginnt. “Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar.” (Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 20). Warum eigentlich? Weil Marx Materialist ist und sich ganz entschieden gegen den zu seiner Zeit in der bürgerlichen Philosophie vorherrschenden Idealismus wehrt. Die Idealisten versuchen die Welt aus den Ideen heraus zu verstehen. Sie bauen Gedankengebäude, orientieren sich dabei aber nicht an der tatsächlichen Entwicklung der Wirklichkeit. Mit dem Verweis auf die Empirie macht Marx also immer wieder deutlich, dass Erkenntnis nicht einfach von selbst aus der “reinen Vernunft” kommt, sondern Erkenntnis immer mit der tatsächlichen, vom einzelnen Menschen zunächst unabhängigen Entwicklung der Wirklichkeit zu tun hat.

Die konkrete sinnliche Gegebenheit der Welt, bei der Marx mit der Forschung empirisch startet, ist durch unendlich viele Einzelheiten zusammengesetzt. Diese Einzelheiten müssen in ihrer Gesamtheit gesammelt werden. „Damit es wirklich ein Fundament wird, kommt es darauf an, nicht einzelne Tatsachen herauszugreifen, sondern den Gesamtkomplex der auf die betreffende Frage bezüglichen Tatsachen zu betrachten, ohne eine einzige Ausnahme“ (MEW 23, S. 286).

Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ab wann das angehäufte empirische Material vollständig genug ist, um den “Gesamtkomplex der Tatsachen” tatsächlich widerspiegeln zu können, ohne dabei einseitig zu werden und die Wirklichkeit zu verzerren. Die Empirie muss die Komplexität der Wirklichkeit notgedrungen reduzieren, ein überschaubares Feld abstecken und von Störfaktoren abstrahieren, andernfalls würde sie die Analyse kaum ermöglichen. Gleichzeitig darf diese Komplexitätsreduktion aber nicht zu weit gehen, da sonst wesentliche, für die richtige Erkenntnis notwendige Aspekte der Wirklichkeit bei der Analyse ausgeblendet würden. Natürlich musste Marx nicht jeden einzelnen Warentausch analysieren, der in der Menschheitsgeschichte je stattgefunden hat, um zu seinem Begriff der Ware und des Tauschwerts zu kommen, sondern ein repräsentativer Ausschnitt der Wirklichkeit war dafür ausreichend.

Marx weist im Vorwort zur ersten Auflage des ‘Kapitals’ auf einen wichtigen Unterschied zwischen den Natur- und Gesellschaftswissenschaften hin:  “Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern” (MEW 23, S. 12). Die Empirie in den Naturwissenschaften hat also den Vorteil der relativen Störungsfreiheit und der Reproduzierbarkeit. Ein chemischer oder physikalischer Prozess muss nicht in der chaotisch-komplexen Außenwelt mit all ihren Zufälligkeiten und Wechselwirkungen, sondern kann im Labor sozusagen in Reinform beobachtet und beliebig oft wiederholt werden. Das ist bei der Erforschung der Gesellschaft kaum möglich. Hier dienen als Material einerseits die Geschichte und andererseits die unmittelbare Empirie, die nie unter Laborbedingungen stattfindet. Dennoch ist es möglich, durch eine richtige Auswahl des empirischen Stoffs zu allgemeingültigen Ergebnissen zu kommen, Marx schreibt dazu: “Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse, Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient” (MEW 23, S. 12). Marx musste also nicht die Entstehung des Kapitalismus in jedem Land einzeln und in ihrer jeweils historisch-konkreten Besonderheit analysieren, sondern konnte die allgemeinen Bewegungsgesetze aus der Analyse des “klassischen” Falls ableiten.

Zweitens stellt sich die Frage nach der Art des empirischen Materials, das zur Verfügung steht. Marx fand die Wirtschaftsstatistiken, auf die er sich im ‘Kapital’stützt, nicht etwa in Rohform in der British Library vor und er unternahm auch keine eigenen Feldstudien zur eigenhändigen Erhebung seiner Statistiken, sondern er arbeitete mit den empirischen Daten bürgerlicher Ökonomen. Das bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Zunächst stellt sich die Frage, wie exakt und verlässlich die Angaben sind, welchen Messfehlern oder sogar bewussten Manipulationen sie unter Umständen unterliegen. Hinzu kommt, dass solche Daten immer durch die eigenen theoretischen Vorannahmen und Abstraktionen jener geprägt sind, die sie erhoben haben. So etwas wie eine “nackte Empirie”, also frei von Vorannahmen, existiert nicht. Scheinbar neutrale Zahlen und Fakten müssen immer erst kritisch dechiffriert und auf ihre Aussagekraft geprüft werden.

Anders als Marx konnte sich Lenin bereits auf die entdeckten Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und die weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus stützen. Trotzdem befand er sich in einer historischen Entwicklungsphase, die zu ihrer Erfassung weiterer Forschung bedurfte. Er sah sich konfrontiert mit der Expansion von Staaten, ihrer aggressiven Außenpolitik und dem Ersten Weltkrieg, kurz: der Herausbildung dessen, was Lenin und seine marxistischen Zeitgenossen dann auf den Begriff “Imperialismus” bringen sollten. Zur selben Zeit spaltete sich die Kommunistische Bewegung an der Frage, wie diese Entwicklungen einzuschätzen seien und wie darauf aufbauend gehandelt werden müsse.

Marx hatte im dritten Band des ‘Kapitals’die Bedeutung der Monopolbildung und des Finanzkapitals für die weitere Entwicklung des Kapitalismus bereits angedeutet. Lenin knüpfte in seiner Analyse an die von Marx bereits gebildeten Begriffe und entdeckten Bewegungsgesetze an. Er konzentrierte seine eigene empirische Forschung auf die Frage der Wirkungsweise der Zentralisation und Konzentration des Kapitals und die damit zusammenhängenden relativ neuen und für den Imperialismus spezifischen Phänomene (Monopole, Finanzkapital, Kapitalexport, Neuaufteilung der Welt etc.).

Als Vorarbeit zu seinem Werk ‘Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus’ fasste Lenin auf ca. 800 Seiten in 21 Heften Beobachtungen über die Weiterentwicklung der Produktionsweise zusammen. Er studierte Werke von über hundert Autoren in verschiedenen Sprachen. Zusammengefasst sind diese in Band 39 der Lenin Werke. Eine ökonomische Erscheinung, die Lenin im Detail studiert, ist zum Beispiel die Konzentration von Arbeitern pro Betrieb und die Konzentration der Produktion (Dampf- und elektrische Kraft). Dafür schaut er sich die Anzahl der Beschäftigten pro Betrieb in Deutschland, in den USA und Großbritannien in ihrer Entwicklung von 1882 bis 1907 an.

Lenin pflegt dabei einen kritischen Umgang mit bürgerlichen Quellen, die er sorgfältig prüft und kommentiert. Um ein Beispiel zu geben: Im Werk von Hans Gideon Heymann ‘Die gemischten Werke im deutschen Großeisengewerbe’ sind Statistiken aus 24 Werken von Thyssen, Krupp u.a. zusammengefasst. Lenin kommentiert dieses Quellenmaterial einerseits als “Zusammenstellung von (größtenteils ziemlich lückenhaftem) Material”, andererseits als “gutes Beispiel” und “besser als Liefmann und früher” (LW 39, S. 182-183). Zahlen und Erkenntnisse aus diesem Werk finden wir im ersten Kapitel in Bezug auf die Betriebszählungen zur Darstellung der Anzahl Betriebe mit Arbeitern pro Betrieb wieder sowie in Kapitel 3 zum Finanzkapital der Imperialismusschrift (vgl. LW 22, S. 200; 231).

Im Vorwort der Imperialismusschrift merkt er an, dass ihm bei der Erarbeitung des Werks ein begrenztes Datenmaterial zur Verfügung stand, was ihn aber dennoch nicht hinderte, das Wesentliche über den Imperialismus auszusagen. Es geht um die Darstellung des Gesamtzusammenhangs. Dazu müssen die empirischen Daten entsprechend repräsentativ sein und dürfen nicht einseitig oder selektiv, sondern müssen in ihrer Gesamtheit (!) interpretiert werden. So identifiziert er z.B. als repräsentativ für die Einschätzung des Krieges Daten über die objektive Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten. Lenin dazu: “Um diese objektive Lage darstellen zu können, darf man nicht Beispiele und einzelne Daten herausgreifen (bei der ungeheuren Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens kann man immer eine beliebige Zahl von Beispielen oder Einzeldaten ausfindig machen, um jede beliebige These zu erhärten), sondern man muß unbedingt die Gesamtheit der Daten über die Grundlagen des Wirtschaftslebens aller kriegführenden Mächte und der ganzen Welt nehmen.”(LW 22, S. 194). Ähnlich wie Marx, der seine Analyse des Kapitalismus der freien Konkurrenz auf den “klassischen” Fall England stützt, greift auch Lenin ein besonders repräsentatives Beispiel heraus, um allgemeine Entwicklungen des Monopolkapitalismus zu illustrieren. Daten über den weltweiten Ausbau der Eisenbahnlinien zieht er “als anschaulichsten Gradmesser der Entwicklung des Welthandels und der bürgerlich demokratischen Zivilisation” (LW 22, S. 194) heran. Anders als Marx, sind Lenin die zentralen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung bekannt. Wie er nun dazu kommt, die Eisenbahnen anzuschauen, wird in Schritt 3 und 4 von uns weiter ausgeführt.

Was können wir daraus für den Klärungsprozess und unsere Imperialismusdiskussion lernen?Was müssen wir beachten, wenn wir uns den empirischen Stoff aneignen?

Erstens müssen wir vor Beginn der empirischen Forschungsarbeit klären, was unser Gegenstandsbereich ist und welche Frage wir an die Empirie stellen. Nur so lässt sich das richtige empirische Material identifizieren und ein repräsentativer Ausschnitt der zu analysierenden Wirklichkeit definieren. Orientierung dafür bieten uns erstmal unsere Klassiker und Schritt 4 (dazu später mehr). Die Entwicklung von Materie ist unendlich. Wir werden diese unendliche Entwicklung niemals vollständig gedanklich/begrifflich abbilden können.

Zweitens müssen wir einen bewusst kritischen Umgang mit Daten und den Begrifflichkeiten der bürgerlichen Ökonomie erlernen. Die Daten, mit denen wir arbeiten, sind keine “nackten” Zahlen, die wir so in der Welt entdecken, sondern ihnen geht immer schon die Abstraktion und Begriffsbildung durch bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler voraus. So ist z.B. die Kenngröße der “foreign direct investments” nicht deckungsgleich mit Lenins Bestimmung des Kapitalexports. Hier muss man sich klar machen, welche Definition hinter dieser Kenngröße steckt. Natürlich besteht immer die Gefahr von Missinterpretationen und falschen Schlussfolgerungen, dennoch ist die Arbeit mit diesen Daten alternativlos. Dass es möglich ist, aus den Erzeugnissen der bürgerlichen Empirie eine dialektisch-materialistische Theorie zu entwickeln, haben Marx, Engels und Lenin vorgemacht. 

Drittens dürfen wir keinen so genannten Bestätigungsfehler (confirmation bias) begehen. Diesen Fehler begeht man, wenn man der Aneignung des Stoffs bereits ein Ergebnis vorweg nimmt. Also gezielt Daten sammelt, die das “gewünschte” Ergebnis bestätigen, während man jene Daten ignoriert, die den eigenen Vorannahmen widersprechen. Ein solcher Fehler kann uns allen passieren – bewusst oder unbewusst. Wenn wir uns den empirischen Stoff aneignen, ist unser bisheriger Kenntnisstand und unsere bisherigen Überzeugungen ja nicht gelöscht. Es ist also notwendig, selbstkritisch zu hinterfragen, warum man welches Material auswählt. Einem unbewussten Bestätigungsfehler kann man vorbeugen, indem man sich fragt, welche Erscheinungen unplausibel für den eigenen Standpunkt wären und gezielt nach diesen sucht. Wendet man die Analyse, deren Kern die Betrachtung von Gegensätzen ist (Schritt 2), korrekt an, wird deutlich, dass die marx’sche Methode dem Bestätigungsfehler gänzlich entgegensteht und eine korrekte Analyse einen solchen Fehler gar nicht zulässt bzw. eine Analyse auf Basis von ungeeignetem Material kaum möglich ist.

Zuletzt müssen wir überlegen, wann wir “genug” und den “richtigen” Stoff gesammelt haben. Wir wollen zwar die “Gesamtheit der Daten” berücksichtigen, uns gleichzeitig aber nicht in einen ewigen Klärungsprozess verrennen, der nie zu einem Ergebnis kommt. Darüber, ob wir genug Empirie betrieben haben, können wir uns im ersten Schritt noch nicht sicher sein. Einen ersten Anhaltspunkt bekommen wir im nächsten Schritt, wenn wir sehen, ob Analyse und Verallgemeinerung möglich sind. Wenn wir dann schon merken, dass der empirische Stoff nicht ausreicht, brauchen wir mehr. Eine zu schmale oder lückenhafte empirische Ausgangsbasis birgt immer die Gefahr falscher Verallgemeinerungen. Aber auch wenn der nächste und die folgenden Schritte klappen, können wir uns noch nicht ganz sicher sein, ob wir ausreichend Stoff gesammelt haben (mehr dazu in Schritt 5).

(2)  Analytische Aufgliederung des Stoffs

Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren.” (MEW 23, S. 27, Hervorhebung von uns)

Im ersten Schritt hat Marx sich die Erscheinungen angeeignet, die Einzelheiten aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst. Das Ziel bzw. Resultat des zweiten Schrittes auf Basis der Aneignung des empirischen Stoffes ist die systematische Abstraktion: die abstrakten bzw. einfachen Begriffe. Dieser Schritt zielt auf das Herausschälen des Allgemeinen. Dies gelingt mit Hilfe der oben bereits erwähnten “Abstraktionskraft”, also dem gedanklichen Abziehen alles Zufälligen, um so von der Betrachtung der vielen einzelnen Erscheinungen und ihrer jeweils besonderen Eigenschaften hin zum Allgemeinen zu gelangen. Auf diesem Weg findet eine erste Annäherung an das Wesen der Erscheinungen statt.

Wir verbinden das Abstrakte oft mit etwas gedanklich-zufälligem. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil. Der Aufstieg zum Abstrakten ist ein wichtiger Schritt zur wahren Erkenntnis: ,,Das Denken, das vom Konkreten zum Abstrakten aufsteigt, entfernt sich nicht – wenn es richtig ist […] – von der Wahrheit, sondern nähert sich ihr. Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes usw., mit einem Worte alle wissenschaftlichen (richtigen, ernst zu nehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, richtiger, vollständiger wider“ (Lenin, Konspekt zur “Wissenschaft der Logik”, LW 38, S. 160).

Auf Grundlage der Sammlung des empirischen Materials beginnt Marx die Analyse dieser Erscheinungen. Bei der Analyse geht es um die Aufgliederung des Ganzen in seine einzelnen Bestandteile. Diese Zergliederung ist nicht beliebig, sondern wird von Marx anhand entgegengesetzter Teile vorgenommen. Die einzelnen Teile werden hinsichtlich ihrer Verhältnisse, hinsichtlich ihrer Gegensätze, zergliedert und betrachtet. Warum findet die Untersuchung der Einzelheiten, die Marx sich in Schritt 1 angeeignet hat, anhand von Gegensätzen statt? Weil er darauf abzielt, die Dinge in ihrer wesentlichen Entwicklung zu verstehen. Und Entwicklung wiederum (das weiß Marx von Hegel) vollzieht sich anhand von Gegensätzen. Dies ist ausgedrückt in einem der Grundgesetze der Dialektik: Entwicklung findet anhand von Kampf und Einheit der Gegensätze statt. Entsprechend geht es Marx in der Analyse darum, die Wechselwirkung zwischen den Gegensätzen zu bestimmen.

So weit, so gut. Aber woher weiß Marx, welche Teile einander entgegengesetzt sind? Indem er bei Verhältnissen startet. Denn ein Verhältnis beinhaltet schon, dass es zwei Seiten/Teile hat, die sich zueinander verhalten. Es ist ein geflügeltes Wissen, dass es im dialektischen Materialismus immer um Verhältnisse geht. Warum geht es aber immer um Verhältnisse? Im Verhalten der Dinge zueinander können wir die Bewegungsformen der Dinge erkennen. Es genügt uns nicht, wie die Metaphysiker, ein System von Begriffen oder Kategorien aufzustellen, in dem sich die Wirklichkeit “nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand” widerspiegelt. Die Welt ist keine Ansammlung vereinzelter “fester, starrer, ein für allemal gegebener Gegenstände der Untersuchung” (Engels, Von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S. 203), wie die toten Exponate, die in den Schaukästen eines Naturkundemuseums verstauben. Denn die Welt bewegt und verändert sich unentwegt, Materie gibt es nicht ohne Bewegung. Diese Bewegung wird sichtbar in den verschiedenen Entwicklungsformen des Stoffs und in den Verhältnissen der einzelnen Gegenstände zueinander.

Schauen wir uns genauer an, wie Marx in den ersten Kapiteln des ‘Kapitals’ mit Hilfe der Abstraktionskraft seinen Begriff der Ware bildet. Zunächst beginnt er mit der Betrachtung einzelner Tauschgegenstände (Rock, Tuch, Weizen, Silber etc.) und abstrahiert von deren konkreten Gebrauchswerteigenschaften. “Abstrahieren” bedeutet dabei nichts anderes als “abziehen”. Dass der Rock eine bestimmte Farbe und die Äpfel einen bestimmten Geschmack haben, ist unwesentlich für deren Wareneigenschaft und kann ausgeblendet werden. Das Ergebnis dieses Prozesses ist ihr abstraktes Allgemeines, der Tauschwert, den sie als Waren alle gemeinsam haben und der sich in den Mengenverhältnissen ausdrückt, nach denen sie getauscht werden. Allerdings wäre keine dieser Beobachtungen möglich, würde Marx sich auf die Analyse einzelner, isolierter Waren und deren stoffliche Beschaffenheit beschränken. Der Wert ist keine physikalische Eigenschaft der Waren, sondern existiert nur im Tauschverhältnis, also in der gesellschaftlichen Bewegung. In den Wert der Ware, so Marx, geht “kein Atom Naturstoff ein […] Man mag daher die einzelne Ware drehen und wenden, wie man will, sie bleibt unfaßbar als Wertding” (MEW 23, S. 62). Engels beschreibt das in seinen Worten so: “Es ist aber bloß dadurch Ware, daß sich an das Ding, das Produkt, ein Verhältnis zwischen zwei Personen oder Gemeinwesen knüpft, das Verhältnis zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten, die hier nicht mehr in derselben Person vereinigt sind. Hier haben wir gleich ein Beispiel einer eigentümlichen Tatsache, die durch die ganze Ökonomie durchgeht und in den Köpfen der bürgerlichen Ökonomen böse Verwirrung angerichtet hat: Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge”(Rezension zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475f.).

In der Analyse geht es Marx also darum, die herausgelösten Erscheinungen in ihren Verhältnissen zu betrachten, um Schritt für Schritt auf die Begriffe zu kommen, die die Verhältnisse fassen. “Wir gehen bei dieser Methode aus von dem ersten und einfachsten Verhältnis, das uns historisch, faktisch vorliegt [dem Warenverhältnis], hier also von dem ersten ökonomischen Verhältnis, das wir vorfinden. Dies Verhältnis zergliedern wir. Darin, daß es ein Verhältnis ist, liegt schon, daß es zwei Seiten hat, die sich zueinander verhalten. Jede dieser Seiten wird für sich betrachtet; daraus geht hervor die Art ihres gegenseitigen Verhaltens, ihre Wechselwirkung” (Rezension: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475).

Auf dem Weg, der durch abstrahierende und zergliedernde Analyse zu Begriffen führt, findet auch Verallgemeinerung statt. Verallgemeinerung bedeutet, Gemeinsamkeiten von einzelnen Dingen festzustellen, um dann Aussagen über diese als Gruppe zu treffen. Bei diesen Gemeinsamkeiten muss unterschieden werden, ob es sich um numerische Allgemeine (also eine Eigenschaft wird von den einzelnen geteilt z.B. dass Arbeiter sprechen können) oder ob es sich um ein wesentliches Allgemeines handelt, also eine wesentliche Eigenschaft der betrachteten Gruppe ist (z.B. dass Arbeiter frei von Produktionsmitteln sind). Aus der Analyse der treibenden Gegensätze wird ein wissenschaftlicher Begriff gebildet. Dieser Begriff fasst die gemeinsamen Verhältnisse der Dinge, welche durch den Begriff bestimmt werden. (Siehe dazu Fehler ‘Begriffe nicht begreifen’ und ‘Wesen und Erscheinung verwechseln’ im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’)

Wie geht Lenin bei der analytischen Aufgliederung seines empirischen Stoffes vor? Er untersucht beispielsweise die Konzentration der Arbeiter und der Produktion zusammen mit ihrem Gegensatz, nämlich der freien, unkonzentrierten Arbeit und Produktion. Im Zuge dieser Konzentration stellt er heraus, dass die kapitalistische freie Konkurrenz abgelöst wird durch die monopolistische Konkurrenz. Gleichzeitig aber “beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte“ (LW 22, S. 270). Lenin entwickelt aus dieser Analyse seinen Begriff der “Monopolkonkurrenz”. Es bilden sich genau wie in der Industrie durch Unterwerfung der kleinen Banken mittels Aufkauf von Aktien und Kreditgewährung auch große Bankinstitute, die das Kapital in sich konzentrieren. Damit liegt zugleich eine neue Rolle der Banken vor, die aus bescheidenen Vermittlern von Kapital zu Monopolinhabern gewachsen sind, die „fast über das gesamte Geldkapital aller Kapitalisten und Kleinunternehmer sowie über den größten Teil der Produktionsmittel und Rohstoffquellen des betreffenden Landes oder einer ganzen Reihe von Ländern verfügen“ (LW 22, S. 214). Die Konzentration der Industrie und die Bildung von Bankmonopolen bewirken eine wesentliche Veränderung der Wechselbeziehungen zwischen den Banken und der Industrie. Auf der einen Seite verschmelzen die Interessen der Banken mit denen der Industrie immer mehr, wenn eine Bank mehrere Großbetriebe finanziert, so ist diese interessiert an einer Monopolvereinbarung. Auf diese Weise verstärken und beschleunigen die Banken den Prozess der Konzentration des Kapitals und der Bildung von Monopolen. Auf der anderen Seite legen die Großbetriebe ihre Profite wiederum als Bank- bzw. Finanzkapital an, da Kapital nie brachliegen darf, aber erst eine bestimmte Summe für neue Innovationen/Produktionsmittel/Aufkauf weitere Betriebe etc. vonnöten ist. Aus seiner Analyse der Verschmelzung von Bank- und Industriekapital, welche einen Gegensatz darstellen, bildet er den Begriff des Finanzkapitals, um diese neue Erscheinung theoretisch zu fassen.

Was bedeutet das für unsere Klärung der Imperialismusfrage? Im Schritt der Analyse müssen wir darauf achten, dass wir keine zufällige oder willkürliche Aufgliederung vornehmen, sondern dass sie umfassend ist, also alle Seiten des Widerspruchs betrachtet. Wir müssen uns immer deutlich machen, dass wir die Erscheinungen anhand der sie bewegenden Gegensätze aufgliedern, und dass wir die Erscheinungen nach allen Seiten hin untersuchen. Es darf nicht einfach nur ein Aspekt der Erscheinung herausgelöst werden, oder eine Seite des Gegensatzes ignoriert werden. Dieser Weg führt zu Eklektizismus oder Bestätigungsfehlern.

Wenn wir mit den bereits gebildeten Begriffen der Klassiker arbeiten, können wir diese nicht einfach unkritisch verwenden und damit willkürlich Verhältnisse bezeichnen, die sich womöglich längst verändert und neue Entwicklungsformen erreicht haben. Als wissenschaftliche Begriffe fassen sie Verhältnisse. Diese Verhältnisse müssen wir begreifen, um mit ihnen wissenschaftlich arbeiten zu können. Wenn die alten Begriffe die neuen Verhältnisse nicht mehr fassen (was wir nach Schritt 4 bzw. 5 erkennen), müssen wir zunächst verstehen und begreifen, inwiefern sie diese neuen Verhältnisse nicht mehr greifen. Davon ausgehend können wir dann neue Begriffe bilden.

(3) Das „innere Band“: Erforschung der Bewegungsgesetze in ihrem Gesamtzusammenhang (Wesen der Erscheinungen)

“Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren (MEW 23, S. 27, Hervorhebung von uns).

Im zweiten Schritt haben wir gesehen, wie Marx das empirische Material in seine einzelnen Elemente zergliedert und die Begriffe festgezurrt hat. Um das tun zu können, hat er sie aus ihrer Bewegung heraus gebildet. Jetzt geht es ihm darum, die wesentlichen Bewegungsgesetze herauszufinden, also darum, die “Logik” der Bewegung von Materie aufzuzeigen. Marx hat im zweiten Schritt Begriffe wie “Ware” oder “Klasse” gebildet. Nun gilt es zu verstehen, wie diese einzelnen Begriffe zusammenhängen. Aus der Bewegung dieser Begriffe wiederum kommt er dazu, die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise aufzudecken. Mehr noch. Marx deckt nicht nur diese Gesetzmäßigkeiten auf, sondern auch die der menschlichen Geschichte überhaupt. Die chaotisch erscheinende Geschichte der Menschheit bewegt sich also tatsächlich gar nicht chaotisch, sondern nach Gesetzmäßigkeiten. Lenin schreibt dazu: “Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt – wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht” (Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile, LW 19, S. 4).

Wie kommt Marx aber von den Begriffen zu den Gesetzen? Zunächst, indem er sich auf die Grundsätze der Dialektik stützt, also die allgemeinen Bewegungsgesetze der Materie und des Denkens in ihrer abstraktesten Form. Diese sind natürlich selbst keine “Konstruktion a priori”, also aus reiner Vernunftanstrengung gewonnene Eingebungen, sondern das Ergebnis eines vorangegangenen Aufsteigens vom Konkreten zum Abstrakten. Das grundlegende Gesetz der dialektischen Bewegung ist das von Kampf und Einheit der Gegensätze. Hierzu haben wir im zweiten Schritt schon gesehen, dass dies die Quelle der Bewegung ist. Zweitens das Gesetz, des Umschlags von Quantität in Qualität, drittens das der Negation der Negation (bzw. der “Aufhebung”), welches Art und Richtung der Entwicklung charakterisiert. Diese drei Grundsätze der Bewegung sind für Marx zentral, um die jeweiligen Entwicklungsgesetze der Menschheit zu finden. Er ermittelt, welches die Gegensätze sind, die sich zueinander in Einheit und Kampf verhalten; welches die möglichen quantitativen und qualitativen Entwicklungen sind, die sich abzeichnen (und abzeichnen können) und wie die negierten Qualitäten in der jeweils höheren Stufe aufgehoben sind. Dabei geht es nicht darum, die abstrakten Grundsätze der Dialektik auf die Wirklichkeit zu projizieren, sondern die wirklichen Gesetzmäßigkeiten aus der wirklichen Bewegung abzuleiten.

Die Bewegungsgesetze alleine zu finden, reicht Marx aber noch nicht. Er stellt sie wiederum zueinander in ein Verhältnis und untersucht ihre Wechselwirkung. Warum? Weil dies notwendig ist, um herauszufinden, welche die bestimmenden Gesetze sind. Er bestimmt die Bewegungsgesetze also im Gesamtzusammenhang. Das bedeutet, dass er alle (gesellschaftlichen) Gesetze betrachtet, wie diese einander beeinflussen, welche Bedingungen für das eine Gesetz notwendig sind, für das andere hinreichend, wie sie sich gegenseitig verstärken oder hemmen etc. (siehe hierzu Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 37-38).

Marx hat im zweiten Schritt Verallgemeinerungen gebildet. Verallgemeinerung bedeutet, das Gemeinsame an den Erscheinungen einer Gruppe zu finden. Das Gemeinsame einer Gruppe kann man durch numerische Verallgemeinerung finden, wenn man feststellt, dass schlichtweg viele Dinge ein gemeinsames Merkmal haben. Im dritten Schritt bei der Erforschung der Entwicklung in ihrem Gesamtzusammenhang, kann Marx nun bestimmen, was das wesentliche Allgemeine ist. Beim wesentlich Allgemeinen geht es dann nicht mehr um die numerische Gemeinsamkeit, sondern um das, was eine Gruppe von Einzelnen als diese Gruppe ausmacht. Ein gängiges Beispiel ist die Charakterisierung der Arbeiterklasse. Allen Arbeitern ist eine Sprachbegabung gemeinsam. Aber das macht Arbeiter als Arbeiter noch nicht aus. Diese Eigenschaft teilen sie auch mit modernen Kapitalisten oder antiken Sklaven. Das Wesentliche Gemeinsame für die Gruppe der Arbeiter ist, dass sie frei von Produktionsmitteln sind und in einem Lohnverhältnis stehen. Erst die Theorie des Gesamtzusammenhangs ermöglicht es, genau zu bestimmen, welche Eigenschaften wesentlich sind und nicht bloß eine willkürlich herausgegriffene Gemeinsamkeit beschreiben.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem alltäglichen Erfahrungswissen, das sich unreflektiert auf die “nackte” Empirie stützt, und der wissenschaftlichen Erkenntnis von Bewegungsgesetzen. Warum wissen wir zum Beispiel, dass jeden Morgen von Neuem die Sonne aufgeht? Auf der Ebene unseres Alltagsverstands wissen wir das einfach, weil es schon immer so war und sich jeden Tag von neuem wiederholt. Die bloße empirische Reproduktion der Wirklichkeit in anderer Form, d.h. in Gedanken, ist für sich genommen noch keine Wissenschaft. Es macht einen großen Unterschied, ob man auch die hinter dieser Erscheinung wirkenden Bewegungsgesetze unseres Sonnensystems verstanden hat. Erst diese Einsicht macht es möglich, z.B. die sich im Verlauf des Jahres ändernde Länge der Tage nicht nur zu beobachten, sondern auch zu erklären. Übertragen auf den Bereich der politischen Ökonomie wäre es zum Beispiel unwissenschaftlich, einfach zu behaupten, dass es im Kapitalismus gesetzmäßig alle 10 Jahre zu einer Krise kommen muss, nur weil sich ein solcher Rhythmus über bestimmte Entwicklungsetappen hinweg empirisch grob beobachten lässt. 

Welche grundlegenden Bewegungsgesetze entdeckt Marx also im Kapital? Auf der elementarsten Ebene, im Kapitel über die Ware, beschreibt Marx die Wirkung des Wertgesetzes, das allen anderen Gesetzmäßigkeiten im Kapitalismus zugrunde liegt. Von diesem allgemeinsten Bewegungsgesetz steigt Marx in seiner Analyse zu den immer komplexeren Formen auf, bis er über die Mehrwerttheorie und die gesetzmäßige Bewegung der Kapitalakkumulation zur Erklärung der periodischen Krisen im Kapitalismus und seiner Theorie über den tendenziellen Fall der Profitrate gelangt. Auf einer noch höheren Abstraktionsebene, die die Gesellschaft als Ganze in den Blick nimmt, gelangt Marx zu seiner Erkenntnis des allgemeinen historischen Bewegungsgesetzes: Der Ablösung einer Gesellschaftsformation durch die nächste liegen die wachsenden Widersprüche zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den jeweils gegebenen Produktionsverhältnissen zugrunde.

Ein halbes Jahrhundert nach Marx und Engels leistete dann Lenin mit seiner Imperialismusanalyse einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitalismus in seinem monopolistischen Stadium. Der wesentliche Gesamtzusammenhang des Kapitalismus hat sich seit Marx’ Analyse nicht verändert. Lenin betrachtet aber die von ihm gebildeten Begriffe, Tendenzen und Wirkungen in ihrer Zuspitzung innerhalb des Gesamtzusammenhangs. Er schreibt in der Einleitung zur Imperialismusschrift: “Im folgenden wollen wir versuchen, den Zusammenhang und das Wechselverhältnis der grundlegenden ökonomischen Besonderheiten des Imperialismus in aller Kürze und in möglichst gemeinverständlicher Form darzustellen.” (LW 22, S. 200). Auch ihm geht es also um den Zusammenhang und das Wechselverhältnis der grundlegenden Besonderheiten des Imperialismus. Aufbauend auf den wesentlichen Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus widmet er dem Bewegungsgesetz von Konzentration der Produktion das erste Kapitel: “Das ungeheure Wachstum der Industrie und der auffallend rasche Prozeß der Konzentration der Produktion in immer größeren Betrieben ist eine der charakteristischen Besonderheiten des Kapitalismus” (LW 22, S. 200). Lenin arbeitet heraus, dass sich diese Tendenz immer weiter zuspitzt und an der Schwelle zum imperialistischen Stadium des Kapitalismus schließlich einen Kipppunkt erreicht, an dem die quantitative Entwicklung in eine neue Qualität umschlägt. “Vor einem halben Jahrhundert, als Marx sein ‘Kapital’ schrieb, erschien der überwiegenden Mehrheit der Ökonomen die freie Konkurrenz als ein ‘Naturgesetz’. Die offizielle Wissenschaft versuchte das Werk von Marx totzuschweigen, der durch seine theoretische und geschichtliche Analyse des Kapitalismus bewies, daß die freie Konkurrenz die Konzentration der Produktion erzeugt, diese Konzentration aber auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung zum Monopol führt. Das Monopol ist jetzt zur Tatsache geworden” (LW 22, 204).

Die Entstehung des Monopols führt zu einem gigantischen Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion. Damit wird der Kapitalismus einerseits “überreif” für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und den Sozialismus, gleichzeitig bildet sich eine vorher nicht gekannte gesellschaftliche Macht heraus. “Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die ‘jüngste Entwicklung des Kapitalismus“’, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist” (LW, 22, S. 211). Die Monopole verstärken zudem den krisenhaften Charakter der kapitalistischen Produktionsweise: “das Monopol, das in einigen Industriezweigen entsteht, verstärkt und verschärft den chaotischen Charakter, der der ganzen kapitalistischen Produktion in ihrer Gesamtheit eigen ist” (LW 22, 212). Auf der anderen Seite verstärken aber wiederum die Krisen die Monopolbildung: “Die Krisen – jeder Art, am häufigsten ökonomische Krisen, aber nicht nur diese allein – verstärken aber ihrerseits in ungeheurem Maße die Tendenz zur Konzentration und zum Monopol” (LW 22, S. 213).

Damit ist klar, dass im Imperialismus die wesentliche ökonomische Grundlage das Monopol ist (vgl. LW 22, S. 280). In der Erkenntnis des inneren Bandes des Widerspruchs der Vergesellschaftung der Produktion bei privater Aneignung, ist Lenin in der Lage, Prognosen zu tätigen über die weitere Entwicklung: “In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet” (LW 22, S. 209). Er beendet das Kapitel mit dem Satz “Das Monopol ist das letzte Wort der ‘jüngsten Entwicklung des Kapitalismus’“ (LW 22, 214). Ein nächsthöheres Stadium des Kapitalismus kann es laut Lenin nicht mehr geben. Er ist am Endpunkt seiner Entwicklung angekommen. Ab jetzt steht der Sozialismus auf der historischen Tagesordnung.

Aus den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Monopolbildung erklärt Lenin die notwendige Entstehung des Finanzkapitals, die Tendenz zum Kapitalexport und zur Aufteilung der Welt unter die internationalen Kapitalistenverbände und die Großmächte. Das Bewegungsgesetz der ungleichmäßigen Entwicklung macht eine harmonische Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus unmöglich und führt im imperialistischen Stadium zum notwendigen Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Auf dieser Grundlage bestimmt Lenin den Imperialismus als die Epoche der Kriege und Weltkriege und der sozialistischen Revolution. Auf dem Weg des Aufsteigens vom Konkreten zum Abstrakten gelangt Lenin also zu einer allgemeinen Theorie des imperialistischen Weltsystems und seiner inneren Bewegungsgesetze und Entwicklungstendenzen. Auf dieser Grundlage gelingt es ihm, den Charakter der neuen Kampfetappe zu bestimmen und daraus weitreichende Schlussfolgerungen für die Strategie und Taktik der Arbeiterklasse und der Kommunisten zu ziehen.

Lenin stellt immer wieder unmissverständlich klar, dass erst das Wesen der neuen Epoche im Gesamtzusammenhang dargelegt werden muss, bevor eine Einschätzung einzelner Entwicklung getroffen werden kann. Es genügt nicht, nur einen Ausschnitt des Systems zu betrachten. Zu richtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Einschätzungen gelangen wir erst, wenn wir über ein „Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen” verfügen (LW 22, S. 193).

Für uns bedeutet dies, dass wir auf der Theorie von Marx, Engels und Lenin aufbauen und die neuen Bewegungen, die wir beobachten, bzw. die neuen Begriffe, die wir bilden, in eben diese Theorie des Gesamtzusammenhangs einordnen. Wenn man sich auf einzelne Bewegungsgesetze stützt, deren Stellung im Gesamtzusammenhang überhaupt nicht klar ist, kann nicht geklärt werden, ob man es mit einer wesentlichen Entwicklung zu tun hat und in welchem Verhältnis eben jene Entwicklung zu den anderen steht (siehe Fehler ‘Gesamtzusammenhang ignorieren’ im Kapitel ‘Wie kommen wir vom Weg ab?’). Diesen Schritt dürfen wir nicht überspringen. Denn bevor wir feststellen, dass sich eine Erscheinungsform desselben Wesens verändert hat, müssen wir das Wesen klar haben.

Zweiter Weg: Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten

(4) Die “wirkliche Bewegung” über das Aufdecken der Mittelglieder darstellen

“Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden” (MEW 23, S. 27. Hervorhebung von uns).

Das Ziel der marxistischen Wissenschaft ist nicht nur, die abstrakten Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen, sondern die Welt, wie sie sich konkret darstellt, verstehen, erklären und verändern zu können. Um die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu verstehen, muss das Einzelne mit dem Allgemeinen, das Zufällige mit dem Notwendigen, die Erscheinung mit dem Wesen zusammengebracht werden. Was heißt das und wie funktioniert das?

Im dritten Schritt hat Marx die wesentlich-allgemeinen Bewegungsgesetze des Kapitalismus in ihrem theoretischen Gesamtzusammenhang dargelegt. Dies ist die Voraussetzung dafür, von hier aus nun “die Reise wieder rückwärts anzutreten”, bis der Aufstieg von den “abstrakten Bestimmungen” zur “Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens” abgeschlossen ist (Marx: Einleitung zu den “Grundrissen”, MEW 42, S. 21-22). Denn: “Diese konkreteren Formen der kapitalistischen Produktion können aber nur umfassend dargestellt werden, nachdem die allgemeine Natur des Kapitals begriffen ist” (Marx: Das Kapital Bd. 3, MEW 25, S. 120).

Es geht hier also darum, die gedankliche Abstraktion wieder mit den Erscheinungen zusammenzubringen. Also die Einheit von Wesen und Erscheinung in der spezifisch-konkreten Anschauung. Die spezifisch-konkrete Darstellung der Welt besteht in der Einheit von Wesen und Erscheinung, also der Erkenntnis, wie sich das Wirken der allgemeinen Bewegungsgesetze in der Wirklichkeit ausdrückt.

Wir haben bereits gesehen, dass das Wesen der sinnlichen Wahrnehmung nicht unmittelbar zugänglich ist. Ist es allerdings einmal abstrakt-allgemein erkannt, können wir untersuchen, wie es sich ausdrückt. Die “wirkliche Bewegung”, die es nun darzustellen gilt, ist das Wirken der allgemeinen Bewegungsgesetze auf Ebene der konkreten Erscheinungen, vermittelt über “eine lange Reihe von Mittelgliedern” (Marx: Kapital 1, MEW 23, S. 179). Oder anders gesagt: Die allgemeinen wesentlichen Bewegungsgesetze brechen sich Bahn in einer langen Reihe von Mittelgliedern (Vermittlungsschritten). Diese Mittelglieder müssen aufgedeckt und in ihrer Wirkungsweise verstanden werden. Es gilt also, die Wechselwirkungen und Erscheinungsformen aufzudecken, die von den wesentlich-allgemeinen Gesetzen hervorgebracht werden. Wir haben bereits gesehen, dass sich wissenschaftliche Begriffe dadurch auszeichnen, dass sie die Gegensätze fassen, die eine bestimmte Entwicklung voranbringen. Jetzt geht es uns darum, was die Erscheinungsformen sind, die diese Entwicklung annehmen kann.

Den Weg des Aufsteigens von den abstrakten Bewegungsgesetzen zur wirklichen Bewegung tritt Marx in seinem unvollendet gebliebenen dritten Band des ‘Kapitals’ an. Dort schreibt er: “Im ersten Buch wurden die Erscheinungen untersucht, die der kapitalistische Produktionsprozeß, für sich genommen, darbietet, als unmittelbarer Produktionsprozeß, bei dem noch von allen sekundären Einwirkungen ihm fremder Umstände abgesehn wurde. […] Worum es sich in diesem dritten Buch handelt, kann nicht sein, allgemeine Reflexionen über diese Einheit anzustellen. Es gilt vielmehr, die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungsprozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen. […] Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst auftreten” (MEW 25, S. 33). “Diese konkreteren Formen der kapitalistischen Produktion können aber nur umfassend dargestellt werden, nachdem die allgemeine Natur des Kapitals begriffen ist” (MEW 25, S. 120).

Was wir uns unter diesen Vermittlungsschritten vorstellen können, lässt sich anhand einiger Beispiele verdeutlichen. Erstes Beispiel: Der Wert der Waren tritt an der empirischen Oberfläche nie in Reinform, sondern immer nur vermittelt über den Preis in Erscheinung. Der Preis ist in der Regel nicht identisch mit der zur Herstellung der Waren “gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit”, sondern verzerrt durch den Ausgleich der Profitrate zur Durchschnittsprofitrate und die Verwandlung des Werts in den Produktionspreis sowie den Mechanismus von Angebot und Nachfrage, die zudem noch von zahlreichen außerökonomischen und relativ zufälligen Faktoren beeinflusst werden können (Lieferengpässe, Naturkatastrophen, plötzliche Modeerscheinungen etc.). Ohne diese Vermittlungsglieder zu kennen und konkret analysieren zu können, erscheint es so, als bestünde zwischen dem abstrakten Wertgesetz und der wirklichen Bewegung, in der es zum Ausdruck kommt, ein logischer Widerspruch. Der Preis weicht ständig vom Wert ab, er scheint nicht Ausdruck des Werts zu sein, sondern das quasi zufällige Produkt des Wechselspiels von Angebot und Nachfrage.

Zweites Beispiel: Ausbeutung fasst den Gegensatz von Kapital und Arbeit. Ausbeutung sehen wir aber erstmal nicht. Sondern Ausbeutung nimmt verschiedene Formen an, in denen sie erscheint. Damit aber eine Einheit dieser Gegensätze verwirklicht werden kann, bedarf die ökonomische Form der Ausbeutung der durch den Staat und seiner Macht gesetzten Rechtsform. Die Rechtsform, die das ungleiche Gegensatzpaar von Arbeit und Kapital sich vor dem Recht als Rechtssubjekte; als Freie und Gleiche, begegnen lässt. So nimmt Ausbeutung über die Rechtsform (Wechselwirkung von Ökonomischem und Politischem) die Erscheinungsform des Arbeitsvertrages an. Der Gegensatz in der ökonomischen Form wird über die Rechtsform vermittelt zum Arbeitsvertrag. Am Arbeitsvertrag selbst sehen wir die Ungleichheit von Arbeiter und Kapitalisten erstmal nicht mehr, denn sie begegnen sich als Rechtssubjekte, die scheinbar freiwillig einen Vertrag auf Augenhöhe – als Gleiche – schließen. Dass der Arbeitsvertrag allerdings eine Erscheinungsform, ein Ausdruck von Ausbeutung ist, können wir nur erkennen, wenn wir vorher die allgemein-abstrakten wesentlichen Gesetze erkannt haben. Bürgerliche Wissenschaftler sehen das Wesentliche der heutigen Gesellschaft in der individuellen Freiheit und Vernunft. Darum verstehen Sie den Arbeitsvertrag auch als Ausdruck von genau dieser Freiheit und Vernunft. Wir als Marxisten sehen, dass diese Erscheinungsform, also der Arbeitsvertrag, ein Ausdruck der Ausbeutung ist, der aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit in seiner “Vermittlung” bzw. Wechselwirkung mit dem Politischen resultiert.

Dieses Beispiel soll deutlich machen, dass es im Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten um zweierlei geht, das nicht unabhängig voneinander oder als einseitig mechanisches Kausalverhältnis verstanden werden kann. Nämlich einerseits die konkret historische Untersuchung der Wechselwirkung von Basis und Überbau; von Ökonomischem mit Politischem und Ideologischem; also wie die Ebenen zusammenspielen und sich gegenseitig “vermitteln”, wie die Rechtsform also die Einheit des ökonomischen Gegensatzes vermittelt und so weiter. Andererseits darum, welche Erscheinungsformen diese konkret historisch annehmen. So ist der Arbeitsvertrag eben eine konkret-historische Erscheinungsform davon. Eine andere kann eine Scheinselbständigkeit sein, bei der der Arbeiter Rechnungen schreibt.

Diesen Zusammenhang können wir uns auch anders, in einem dritten Beispiel, erschließen. Wir haben in Schritt 2 und 3 schon gesehen, dass ökonomische Gesetze von Verhältnissen zwischen Personen oder Klassen handeln. Diese Verhältnisse erscheinen allerdings an Dingen. Zur Erinnerung: “Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge”(Rezension zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475f). Das Verhältnis zwischen Arbeiter und Kapitalist beispielsweise erscheint als Arbeitsvertrag und Lohnzettel. Es wird dadurch praktisch wirksam, dass der Arbeiter an jedem Werktag in die Fabrik geht und dort für eine vereinbarte Dauer seine Arbeitskraft verausgabt. Der Fabrikbesitzer zahlt ihm umgekehrt am Monatsende seinen Lohn aus. Aber genauso wenig, wie der Ware ihr Wert, ist dem Arbeiter seine Stellung zu den Produktionsmitteln an der Nasenspitze anzusehen. Diese ist ein gesellschaftliches Verhältnis, keine stoffliche Eigenschaft des Arbeiterkörpers. Und dennoch “verdinglicht” sich dieses Verhältnis über zahlreiche Mittelglieder als materielle Lebenswirklichkeit. Die Stellung im Produktionsprozess und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung führt, vermittelt über die Höhe des Lohns, den Preis der Konsumgüter etc. zu einem bestimmten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, dieser wiederum zu bestimmten Einschränkungen der Konsummöglichkeiten, einem bestimmten Bildungsstand, Wohnort, sozialen Milieu, Sozialisierung usw. Und was am Ende dieses komplexen Vermittlungsprozesses herauskommt, ist eben doch ein Mensch, dem auf der Straße in der Regel jeder ansieht, dass er Arbeiter und eben nicht ein steinreicher Fabrikbesitzer ist.

Die Allgemeinen Bewegungsgesetze und ihre einzelnen Erscheinungen stehen nicht in einem mechanischen Verhältnis nach dem Motto “die Ökonomische Seite gibt den Input A, also sehen wir Erscheinung B, auf politisch-ideologischer Ebene C”. Sondern sie stehen zueinander in einer komplexen Wechselwirkung. Engels beschreibt das so: “Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf dieökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit. Der Staat z.B. wirkt ein durch Schutzzölle, Freihandel, gute oder schlechte Fiskalität […] Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu, auf Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse, unter denen die ökonomischen, sosehr sie auch von den übrigen politischen und ideologischen beeinflußt werden mögen, doch in letzter Instanz die entscheidenden sind und den durchgehenden, allein zum Verständnis führenden roten Faden bilden. […] Ihre Bestrebungen durchkreuzen sich, und in allen solchen Gesellschaften herrscht ebendeswegen die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist. Die Notwendigkeit, die hier durch alle Zufälligkeit sich durchsetzt, ist wieder schließlich die ökonomische. […]

Je weiter das Gebiet, das wir grade untersuchen, sich vom Ökonomischen entfernt und sich dem reinen abstrakt Ideologischen nähert, desto mehr werden wir finden, daß es in seiner Entwicklung Zufälligkeiten aufweist, desto mehr im Zickzack verläuft seine Kurve. Zeichnen Sie aber die Durchschnittsachse der Kurve, so werden Sie finden, daß, je länger die betrachtete Periode und je größer das so behandelte Gebiet ist, daß diese Achse der Achse der ökonomischen Entwicklung um so mehr annähernd parallel läuft. (Brief an W. Borgius, MEW 39, S. 206-207.)

In diesem Schritt müssen also die einzelnen Elemente so verbunden werden, dass die gedankliche Synthese (also das Zusammenführen; die Einheit der Dinge) dem objektiven Gesamtzusammenhang entspricht. Dies ist nur möglich, wenn die Bedingtheit der einzelnen Elemente durch andere richtig gefasst wird; denn nur so können wir Ursache und Wirkung richtig begreifen und Tendenzen erkennen. Dieses Vorgehen erlaubt uns, Prognosen und Aussagen über die zentrale Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs zu geben. Das bedeutet, Wesentliches von Zufälligem unterscheiden zu können, zu erkennen, wie und in welchen konkreten historischen Erscheinungen (Krisen, Kriege, etc.) die Bewegungsgesetze des Kapitalismus gesellschaftlich wirken und welche langfristigen Tendenzen sich abzeichnen.

Lenin gibt in seiner Kritik an Kautskys Ultraimperialismustheorie ein gutes Beispiel dafür, wie nur aus Perspektive der konkreten Wechselwirkung der Bewegungsgesetze und Erscheinungen im Gesamtzusammenhang die richtige Analyse einer gegebenen historischen Situation und der in ihr angelegten Entwicklungstendenzen möglich ist. Er schreibt: “Urteilt man abstrakt-theoretisch, so kann man zu dem Schluß kommen, zu dem Kautsky […] denn auch gelangt ist: daß es nämlich nicht mehr sehr lange dauern werde, bis sich diese Kapitalmagnaten im Weltmaßstab zu einem einzigen Welttrust zusammenschlössen, der dann die Konkurrenz und den Kampf der staatlich getrennten Finanzkapitale durch die internationale Vereinigung des Finanzkapitals ersetzen würde. […] Läßt sich indes bestreiten, daß abstrakt eine neue Phase des Kapitalismus nach dem Imperialismus, nämlich ein Ultraimperialismus, ‘denkbar’ ist? Nein. Abstrakt kann man sich eine solche Phase denken. Nur bedeutet das in der Praxis, daß man zu einem Opportunisten wird, der die akuten Aufgaben der Gegenwart leugnet, um sich Träumen von künftigen, nicht akuten Aufgaben hinzugeben. In der Theorie heißt das, sich nicht auf die in der Wirklichkeit vor sich gehende Entwicklung zu stützen, sondern sich um dieser Träume willen nach Gutdünken von ihr abzuwenden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entwicklung in der Richtung auf einen einzigen, ausnahmslos alle Unternehmungen und ausnahmslos alle Staaten verschlingenden Welttrust verläuft. Doch diese Entwicklung erfolgt unter solchen Umständen, in einem solchen Tempo, unter solchen Widersprüchen, Konflikten und Erschütterungen – keineswegs nur ökonomischen, sondern auch politischen, nationalen usw. usf. -, daß notwendigerweise, bevor es zu einem einzigen Welttrust, zu einer ‘ultraimperialistischen’ Weltvereinigung der nationalen Finanzkapitale kommt, der Imperialismus unweigerlich bersten muß, daß der Kapitalismus in sein Gegenteil umschlagen wird” (Vorwort zu Bucharin, LW 22, S. 103-106).

Kautskys These lautete also, die Tendenz zur Zentralisation, Konzentration und Monopolbildung müsste zum Zusammenschluss aller Monopole in einem “Welt-Trust” und einem Bündnis aller imperialistischen Staaten führen. Lenin kritisiert Kautsky dafür, dass er unzulässigerweise eine einzelne Entwicklungstendenz und die zugrundeliegenden Bewegungsgesetze (Konzentration, Zentralisation, Monopolbildung) “abstrakt-theoretisch” verallgemeinert, ohne ihre Wechselwirkung mit anderen Faktoren und Tendenzen in die Betrachtung mit einzubeziehen. Hier zeigt Lenin auf, dass eine abstrakt-theoretische Einschätzung die tatsächliche Entwicklung der Wirklichkeit nicht fassen kann. Denn die Konkurrenz zwischen Monopolen kann immer auch über die politische Vermittlung die Erscheinungsform des Krieges annehmen, wie uns beispielsweise der Erste und Zweite Weltkrieg gezeigt haben. Denkt man sich die Mittelglieder und historischen Erscheinungsformen der ökonomischen Tendenzen weg, dann wird es nicht gelingen, die tatsächliche Entwicklung der Wirklichkeit zu prognostizieren und handlungsfähig zu werden.

Lenin kritisierte zu seinen Lebzeiten aber nicht nur die falschen Imperialismusanalysen anderer Theoretiker, sondern stellte auch eigene Prognosen über die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems auf. Im Gegensatz zu den Anhängern der Ultraimperialismustheorie ging er nicht von einer Abschwächung, sondern einer Verschärfung der zwischenimperialistischen Konkurrenz aus. Aus dem Wirken des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung schlussfolgert er, dass es unvermeidlich zu Kriegen kommen muss: Als Folge von Konzentration und Zentralisation bildet sich, wie Lenin herausgearbeitet hat, das Finanzkapital als Einheit (“Verschmelzung”) der Gegensätze Bank- und Industriekapital heraus. Die konkrete Erscheinungsform dieser Einheit ist die Herausbildung von Aktiengesellschaften, die als juristische, historische Form heutzutage am geeignetsten ist, den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und Kapital bei privater Aneignung innerhalb der kapitalistischen Schranken zu gewährleisten. Die ökonomische Aufteilung der Welt unter die internationalen Monopolistenverbände kann aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung nur vorübergehend zu einer Einigung führen und mündet zwangsläufig in kriegerische Auseinandersetzungen. Dieses Beispiel zeigt uns, dass wir die Entwicklungen immer im Gesamtzusammenhang betrachten müssen.

Ein “anschaulicher Gradmesser” als Erscheinungsform davon sind bei Lenin die Eisenbahnnetze, die in ihrer ungleichmäßigen Verteilung und Entwicklung das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ausdrücken. “Verteilung des Eisenbahnnetzes, die Ungleichmäßigkeit dieser Verteilung, die Ungleichmäßigkeit seiner Entwicklung – das sind Ergebnisse des modernen Monopolkapitalismus im Weltmaßstab. Und diese Ergebnisse zeigen, daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind” (Imperialismus als höchstes Stadium, LW 22, S. 194). Resultat aus ihrer zu einem Zeitpunkt gegebenen ungleichen Verteilung und der ungleichmäßigen Entwicklung des Eisenbahnnetzes, die aufgrund von Konkurrenz in der Akkumulation zu Drang nach Expansion führen, ist die Unvermeidlichkeit imperialistischer Kriege zwischen Staaten.

Wollen wir diesen Schritt vollziehen, müssen wir uns deutlich machen, wie die ökonomischen Entwicklungen mit dem Überbau in Wechselwirkung stehen. Außerdem müssen wir uns anschauen, welche Erscheinungsformen Ausdruck welcher Entwicklungen sind.

Wir müssten beispielsweise deutlich machen, wie sich aus den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten in ihrer Wechselwirkung multipolare oder unipolare Strukturen im imperialistischen Weltsystem ergeben. Wir müssten untersuchen, wie sich das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung ausdrückt und wie dies in Wechselwirkung mit politischer und militärischer Macht steht, um die Machtverhältnisse zwischen Staaten oder “imperialistischen Polen” wissenschaftlich einordnen zu können. Das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung drückt sich in der kontinuierlichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den Staaten des Weltsystems aus.

Wir sind der Meinung, dass die ökonomische zwischenimperialistische Konkurrenz, die sich aktuell in der Ukraine kriegerisch entlädt, ein Ausdruck des Kampfes um die Kontrolle kritischer Infrastruktur wie Kommunikation, Strom, die Verteilung von Pipelines, die Zugänge zu Häfen etc. und damit Ausdruck des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung ist. Dies gilt es aber für uns in der kommenden Legislatur nachzuweisen bzw. grundlegender zu erforschen, indem wir die Mittelglieder und die Erscheinungsformen, die für den heutigen Imperialismus relevant sind, aufdecken.

(5) Praktisch empirische Verifizierung an der Wirklichkeit

Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen” (Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S. 533. Hervorhebung von uns).

Im vorangegangenen Analyseschritt ging es darum, durch die Erkenntnis der allgemeinen Bewegungsgesetze und der verschiedenen Mittelglieder die “wirkliche Bewegung” der Erscheinungen theoretisch zu durchdringen. Damit stehen wir im nächsten Schritt nun vor der Herausforderung, diese theoretischen Aussagen anhand der wirklichen, empirisch konstatierbaren Entwicklung der Welt zu bestätigen. Dabei dient uns die Praxis als Kriterium der Wahrheit. Jeder Schritt der Analyse, so schreibt Lenin, muss “durch die Tatsachen resp. durch die Praxis” überprüft werden (Plan der Dialektik (Logik) Hegels, LW 38, S. 319). Aber wie geht das?

Zunächst ist der Begriff der Praxis weiter zu fassen, als bloß individuelle “menschliche Tätigkeit” oder “politische Praxis”. In der marxistischen Wissenschaft hat der Begriff der Praxis mindestens eine doppelte Bedeutung. Einerseits bezeichnet Marx gesellschaftliche Praxis im Sinne des “blinden” Wirkens der ökonomischen Bewegungsgesetze, die den objektiven historischen Prozess vorantreiben. “Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen” (Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, S. 115). Gleichzeitig sind alle gesellschaftlichen Verhältnisse aber nicht nur “überliefert”, sondern immer auch selbst Produkt der historisch-gegenwärtigen menschlichen Praxis. Die gesellschaftliche Entwicklung folgt keinem Plan, sondern wird hervorgebracht durch die Gesamtheit der handelnden Individuen, die in der Regel nur ihren individuellen Zwecken folgen. Es ist dieser blinde Prozess, durch den sich, wie Marx immer wieder betont, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten letztlich “hinter dem Rücken” der Menschen durchsetzen, d.h. durch ihr eigenes Handeln, aber unabhängig von ihrem Willen (siehe z.B. MEW 25, S. 880). Niemand verfolgt das bewusste Ziel, durch das eigene Verhalten zur Herausbildung des Durchschnittspreises auf dem Markt oder den Ausbruch einer Krise beizutragen, und doch ist im Kapitalismus beides unvermeidlich. In diesem Sinne wird die “eigene Tat des Menschen”, unser “eigenes Produkt” zu einer “sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt, unsere Berechnungen zunichte macht” (Marx/Engels: Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33). Die eine Seite des Praxisbegriffs bezeichnet also diesen objektiven Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Die andere Seite des Begriffs bezeichnet das bewusste und kollektive Handeln der Klassen im Klassenkampf, insbesondere der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde. Auch diese Praxis wird erst auf Grundlage der ökonomischen Bewegungsgesetze hervorgebracht und gesellschaftlich wirksam, aber nicht blind, sondern als “subjektiver Faktor”, d.h. als kollektives Handeln, das ein bestimmtes Maß an Bewusstsein und Einsicht in die wirklichen Verhältnisse voraussetzt. Wie genau erweist sich hier nun die praktische Wahrheit unserer theoretischen Annahmen? Indem sie sich im Klassenkampf bewähren, also der praktische Beweis erbracht wird, dass unsere strategischen und taktischen Annahmen richtig und dass unsere Losungen geeignet sind, subjektiv die Massen zu ergreifen und die sozialistische Revolution zu befördern, anstatt Illusionen zu schüren und die Bewegung von ihrem zuvor richtig erkannten sozialistischen Ziel abzubringen.

Die Naturwissenschaften stützen sich auf Experimente, mit deren Hilfe theoretisch postulierte Gesetzmäßigkeiten relativ eindeutig nachgewiesen oder falsifiziert werden können. Im Labor können alle Einflussfaktoren konstant gehalten werden, sodass klar bestimmt werden kann, dass unter gleichbleibenden Bedingungen immer ein bestimmtes Ergebnis eintritt. Verändert man die Bedingungen, kann man sehen, dass ein anderes Ergebnis eintritt. In der Entwicklung der Gesellschaft ist das nicht so einfach. Hier können kaum Experimente durchgeführt werden. In der Gesellschaftswissenschaft kann die Theorie also nur dadurch verifiziert werden, dass (1.) theoretische Prognosen über die Entwicklung der Wirklichkeit (z.B. das regelmäßige Auftreten von Krisen oder die Herausbildung von Monopolen) empirisch messbar eintreten und sich damit als wahr erweisen, also die Erforschung von Geschichte und Gegenwart das Wirken der theoretisch postulierten Bewegungsgesetze bestätigt; oder (2.) eine aus der Theorie abgeleitete politische Praxis sich als wirksam im Sinne der Zielsetzung der sozialistischen Revolution und damit als richtig bewährt.

Auch innerhalb der Gesellschaftswissenschaften gibt es unterschiedliche Wissensbereiche, die der exakten empirischen Untersuchung unterschiedlich gut zugänglich sind. Die Arbeitslosenquote oder das BIP zum Beispiel, sind empirisch exakt und objektiv konstatierbar, auch wenn die Art der Erhebung unterschiedlich und selbst schon durch den Klassenkampf bedingt ist. Die Bereitschaft der Arbeiter, einen Generalstreik durchzuführen, hängt dagegen von zahlreichen subjektiven Faktoren ab, die im politischen Tagesgeschehen ständigen Veränderungen unterworfen sind und nicht zuletzt durch das Handeln der Kommunisten aktiv beeinflusst werden etc. Hier sind die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde zugleich Subjekt und Objekt ihrer eigenen Erkenntnis und das Bewusstsein der handelnden Menschen wirkt unmittelbar auf die Bedingungen ihres Handelns zurück (Wechselwirkung), was eine objektiv-empirische Analyse der Situation verkompliziert. 

In diesem Schritt gilt es, wie Lenin warnt, Folgendes zu beachten: “Da aber das Kriterium der Praxis – d. h. der Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahrzehnten – nur die objektive Wahrheit der ganzen sozialökonomischen Theorie von Marx überhaupt, und nicht die irgendeines Teils, einer Formulierung u. dgl. beweist, so ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier von ‘Dogmatismus’ der Marxisten gesprochen wird. Die einzige Schlußfolgerung aus der von den Marxisten vertretenen Auffassung, daß die Theorie von Marx eine objektive Wahrheit ist, besteht im folgenden:

Auf dem Wege der Marxschen Theorie fortschreitend, werden wir uns der objektiven Wahrheit mehr und mehr nähern (ohne sie jemals zu erschöpfen); auf jedem anderen Wege aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Konfusion und Unwahrheit” (Materialismus und Empiriokritizismus, LW 14, S. 138).

Das heißt erstens, dass die Praxis als Kriterium der Wahrheit nicht willkürlich und bruchstückhaft verstanden werden darf. Man darf sich nicht auf die Ausnahmen stützen, sondern muss die allgemeine Entwicklung in ihrer Widersprüchlichkeit betrachten. Sonst führt auch dies wieder zu falschen Verallgemeinerungen wie bei Schritt 1, der Empirie. Auch die Praxis muss in ihrem Gesamtzusammenhang erfasst werden. Zweitens heißt das, dass es zwar objektive Wahrheit gibt, wir uns dieser aber immer nur relativ annähern – und zwar mit der dialektisch-materialistischen Methode. Entsprechend sollten wir auch Praxis als Kriterium der Wahrheit nicht als Absolutum fassen, sondern als Kriterium, mit dem wir uns der Wahrheit immer mehr annähern. Objektive Wahrheit in ihrer Absolutheit ist niemals zu erreichen. Die Praxis als Kriterium der Wahrheit anzulegen, bedeutet dann, dass man sich ihr relativ annähert, indem man die generierte Theorie über die Entwicklung der Welt fortwährend an der realen Entwicklung misst.

Die Einheit von Theorie und Praxis muss also schon in der wissenschaftlichen Methode des Marxismus verwirklicht sein. Die Theorie kann nicht losgelöst von der Praxis existieren oder dieser nur äußerlich als Beraterin zur Seite treten, sondern beide bilden einen untrennbaren Zusammenhang. Die Praxis wirft die brennenden Fragen der Theorie auf und erzeugt permanent das Erfahrungsmaterial, ohne das sich wiederum die Theorie nicht lebendig entwickeln kann. Umgekehrt gibt überhaupt erst die Theorie der Praxis eine Richtung und ein Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Wirkungsbedingungen. “Natürlich wird die Theorie gegenstandslos, wenn sie nicht mit der revolutionären Praxis verknüpft wird, genauso wie die Praxis blind wird, wenn sie ihren Weg nicht durch die revolutionäre Theorie beleuchtet” (Stalin: Grundlagen des Leninismus, SW 6, S. 79).

Marx hatte bereits im dritten Band des ‘Kapitals’ aufgezeigt, dass es zur Monopolbildung kommen wird. Diese Prognose – angestellt auf Basis der Entwicklungsgesetze – bestätigt Lenin empirisch: “Statt einer vorübergehenden Erscheinung werden die Kartelle eine der Grundlagen des gesamten Wirtschaftslebens” (LW 22, S. 204-205).

Wir haben bereits gesehen, dass Lenin davon ausging, dass es in der Epoche des Imperialismus immer wieder zur Neuaufteilung der Welt kommen müsse, also zu zwischenimperialistischen Kriegen um Territorien, Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Handelswege etc. Darüber hinaus stellte Lenin die These auf, dass ökonomische Krisen im Imperialismus zunehmend den Charakter von Weltkrisen und Kriege zwischen Großmächten den Charakter von Weltkriegen annehmen müssten. Diese These bestätigte sich spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der unmittelbar auf diesen folgende Weltwirtschaftskrise in der Praxis. Lenin untermauerte seine theoretischen Positionen mit zahlreichen empirischen Analysen über die konkreten Entwicklungen seiner historischen Gegenwart. Außerdem zog Lenin aus seinen theoretischen Analysen (nicht nur zum Imperialismus) zahlreiche konkrete Schlussfolgerungen für die unmittelbare politische Praxis der Arbeiterbewegung und der Kommunisten. Zum Beispiel, dass eine Kaderpartei notwendige Voraussetzung für die Eroberung der Macht war; dass die Kommunisten in einem zwischenimperialistischen Krieg in jedem Land für die Niederlage der eigenen Regierung und die Revolution kämpfen müssten; dass die Revolution in der Epoche des Imperialismus nicht unbedingt zuerst in den am meisten fortgeschrittenen Ländern, sondern am “schwächsten Kettenglied” des Weltsystems ausbrechen würde; dass dort der Aufbau des Sozialismus in einem Land möglich sei; dass die Arbeiterbewegung der imperialistischen Länder “natürliche Verbündete” in den antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen finden würde etc.pp. Lenins Annahmen bestätigten sich in der Praxis der Klassenkämpfe seiner Zeit. Die Geschichte gab ihm Recht.

Für unsere Klärung bedeutet dies, dass die Aussagen und Prognosen, die wir über die Wirklichkeit machen, logisch widerspruchsfrei aus unserer Theorie über den Gesamtzusammenhang abgeleitet sein müssen. Unsere Thesen müssen theoretisch begründete, klare Aussagen treffen, die anhand der empirischen Wirklichkeit überprüfbar sind.

Aus unserer theoretischen Analyse müssen wir strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Klassenkampf ableiten. Die Richtigkeit unserer Strategie und Taktik ist keine rein theoretische, sondern eine praktische Frage. Ist sie geeignet, subjektiv die Massen zu ergreifen und objektiv die sozialistische Revolution zu befördern, anstatt Illusionen zu schüren und die Bewegung von ihrem Ziel abzubringen? Das muss ständig an den praktischen Erfahrungen im Klassenkampf überprüft und mit der Theorie rückgekoppelt werden. In unseren Programmatischen Thesen schreiben wir dazu: “Sie [die strategischen Eckpunkte] genauer auszuführen, durch die Entwicklung der geeigneten Organisations- und Kampfformen und einer entsprechenden Taktik zu konkretisieren und immer wieder an unseren Erfahrungen zu überprüfen, wird Aufgabe des Klärungsprozesses der nächsten Jahre sein” (Programmatische Thesen, S. 23-24).

Die Prognosen, die wir aufstellen, dienen uns also, um unser Handeln daran zu orientieren, um der Rolle als Avantgarde der Arbeiterklasse gerecht werden zu können. Wenn man Praxis allerdings einseitig als individuelle Tätigkeit oder nur als unsere politische Praxis als KO (und nicht auch als die wirkliche historische Entwicklung der Welt) versteht, dann kommt man zu irrigen Auffassungen darüber, was es bedeutet, dass die Praxis das Kriterium der Wahrheit ist. Für uns bedeutet dies, dass wir die tatsächliche Entwicklung der Welt nicht mit dem tatsächlichen Bewusstsein der Massen verwechseln dürfen als den Prüfstein für die Wahrheit. Denn wenn wir beispielsweise mit der Parole herausgehen, dass der Krieg im Interesse der Arbeiterklasse sei, und die Massen uns zustimmen und uns folgten, dann sagt diese Tatsache nur etwas über das Bewusstsein der Massen aus und nicht über die Richtigkeit unserer Analyse oder die Effektivität unserer Propaganda. Das heißt also noch nicht, dass der Krieg selbst objektiv im Interesse der Arbeiterklasse ist.

(6) „Der Marxismus ist kein Dogma“: Weiterentwicklung der Theorie entsprechend der wirklichen Entwicklung

“Gerade weil der Marxismus kein totes Dogma, nicht irgendeine abgeschlossene, fertige, unveränderliche Lehre, sondern eine lebendige Anleitung zum Handeln ist, gerade deshalb mußte er unbedingt den auffallend schroffen Wechsel der Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens widerspiegeln (Lenin, Über einige Besonderheiten, LW 17, S. 26-27, Hervorhebung von uns).

Der letzte Schritt der wissenschaftlichen Methode ist die ständige Prüfung und gegebenenfalls Weiterentwicklung der gewonnenen Theorie anhand des immer neuen empirischen Stoffs. Der Marxismus ist keine fertige Sammlung einmal entdeckter, ewig gültiger Wahrheiten, sondern das methodische Werkzeug, um zu einer lebendigen Theorie der Gesellschaft in ihrer dialektischen Bewegung zu kommen. In dem Maße, in dem sich die inneren und äußeren Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens verändern, müssen sich diese Veränderungen auch in der Theorie widerspiegeln. Dies ist nur möglich, indem sich der Marxismus das in ständiger Veränderung befindliche empirische Material der Wirklichkeit immer wieder von neuem aneignet. Jede neue Erkenntnis wird früher oder später durch die wirkliche Entwicklung eingeholt, jede einmal gefundene Antwort wirft selbst wieder neue Fragen auf. Die wissenschaftliche Erkenntnis kann demnach kein einmal durchlaufener und dann abgeschlossener, sondern nur ein kontinuierlicher, immer wieder auf höherer Stufe zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrender Prozess sein.

Die “jetzige Gesellschaft” schreibt Marx im Vorwort zur ersten Auflage von ‘Das Kapital’, ist “kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus” (MEW 23, S. 16). Wir haben bereits erwähnt, dass Marx im dritten Band selbst schon darstellt, wie sich die ersten Monopole, die Börse und das Finanzkapital herausbilden. Er beobachtete also, wie sich der Kapitalismus der freien Konkurrenz, getrieben durch seine eigenen Bewegungsgesetze, zum Monopolkapitalismus weiterentwickelte. Es wäre fatal und unwissenschaftlich gewesen, hätte er diese Entwicklungen ignoriert oder als unwesentlich abgetan, um stattdessen auf seiner Beschreibung des Kapitalismus der “freien Konkurrenz” als ewig gültige Wahrheit zu beharren. Marx hat seine theoretischen Erkenntnisse ein Leben lang immer wieder anhand der neuesten empirischen Entwicklungen überprüft und schreckte dabei nie davor zurück, einmal aufgestellte Thesen zu korrigieren und auf neu erscheinende Probleme neue theoretische Antworten zu geben.

Lenin knüpfte in diesem Sinne konsequent an Marx’ Vorbild an, gerade indem er, wenn man so will, bestimmte Annahmen, die Marx anhand seiner Analyse des Kapitalismus der freien Konkurrenz entwickelt hatte, “revidierte” und für die Epoche des Imperialismus auf eine neue Stufe hob. Diese “Revision” stand aber nicht im Widerspruch zu den durch Marx aufgedeckten Bewegungsgesetzen, sondern war deren konsequente und notwendige Weiterentwicklung und damit die Bestätigung ihrer Richtigkeit. Lenin hat also nicht einfach einmal verkündete Wahrheiten schablonenartig auf die Wirklichkeit übertragen, sondern darauf bestanden, dass die tatsächliche Veränderung dieser Wirklichkeit sich in der Theorie widerspiegeln müsse und hat damit die Bewegungsgesetze weiterentwickelt. Das unterschied ihn vom Großteil der scheinbar orthodoxen “Marxisten” der Zweiten Internationale, die sich an liebgewonnene Dogmen klammerten, anstatt konsequent die marx’sche Methode auf die Verhältnisse ihrer Zeit anzuwenden. Hätte Lenin deren verknöcherten und zu einer toten Lehre erstarrten Marxismus nicht schonungslos auf den empirischen Prüfstand gestellt und entschieden bekämpft, so wäre er nicht nur nie in der Lage gewesen, eine wissenschaftliche Theorie des neuen Stadiums des Kapitalismus zu formulieren, sondern hätte den Bolschewiki und dem russischen Proletariat in der Oktoberrevolution auch nicht die richtige strategische und taktische Orientierung für ihre neue Kampfetappe geben können.

Im zweiten Teil des eingangs angeführten Zitats weist Lenin darauf hin, dass es gerade im Umfeld großer historischer “Zeitenwenden”, wie auch wir sie heute erleben – in Lenins Fall ging es um die Phase zwischen der russischen Revolution von 1905 und dem Vorabend des Ersten Weltkriegs – ausgesprochen typisch ist, dass es auch zu tiefen Krisen der Arbeiterbewegung und ihrer Ideologie kommt: “Als Widerspiegelung dieses Wechsels traten tiefgehender Zerfall, Zerfahrenheit, alles mögliche Wanken und Schwanken, mit einem Wort – eine sehr ernste innere Krise des Marxismus in Erscheinung. Die entschiedene Abwehr dieses Zerfalls, der entschlossene und hartnäckige Kampf für die Grundlagen des Marxismus trat wieder auf die Tagesordnung” (LW 17, S. 27). Nichts anderes erleben wir seit dem 24. Februar 2022 schmerzhaft am eigenen Leib. Die ohnehin chronische Krise der kommunistischen Bewegung ist schlagartig akut geworden. Die Verteidigung der Grundlagen des Marxismus drängt sich als Überlebensbedingung für unsere Bewegung auf die historische Tagesordnung.

Aber solche akuten Krisen haben immer eine Vorgeschichte, eine Inkubationsphase. Viele Genossen, so beschreibt Lenin weiter, “hatten sich in der vorhergehenden Epoche den Marxismus höchst einseitig und entstellt angeeignet, indem sie sich diese oder jene ‘Losungen’, diese oder jene Antworten auf taktische Fragen eingeprägt hatten, ohne die marxistischen Kriterien dieser Antworten begriffen zu haben. Die ‘Umwertung aller Werte’ auf den verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens führte zu einer ‘Revision’ der abstraktesten und allgemeinsten philosophischen Grundlagen des Marxismus. Der Einfluß der bürgerlichen Philosophie in ihren mannigfaltigen idealistischen Schattierungen fand seinen Niederschlag […]. Die Wiederholung der auswendig gelernten, aber nicht verstandenen, nicht durchdachten ‘Losungen’ führte zu einer starken Verbreitung hohler Phrasen, die in der Praxis auf absolut unmarxistische, kleinbürgerliche Strömungen hinausliefen” (LW 17, S. 27). Wir gehen davon aus, dass auch die ideologische Krise, die wir im Augenblick durchleben, eine solche Vorgeschichte hat. Es sind das mangelhafte theoretische Niveau und die über Jahrzehnte vernachlässigte Auseinandersetzung mit dem Revisionismus in den eigenen Reihen und der eigenen Geschichte, die sich jetzt gnadenlos rächen.

Was lernen wir daraus? Der Kampf gegen den Revisionismus und die unwissenschaftliche Verflachung des Marxismus sind permanente Aufgaben und dürfen nicht erst dann angegangen werden, wenn die Krise manifest wird. Wenn wir den Marxismus zu einem “toten Dogma” verkommen lassen, verlieren wir unsere schärfste Waffe im Klassenkampf. Neue empirische Forschungsarbeit ist also immer nötig, soll die Theorie nicht die Berührung zur konkreten Wirklichkeit verlieren. Besonders herausgefordert wird die wissenschaftliche Forschung immer dann, wenn (1.) neue Thesen auftauchen, die im Widerspruch zu unseren bisherigen Annahmen und der Theorie der Klassiker stehen; oder (2.) wir es mit neuen Phänomenen zu tun bekommen, für die wir bisher keine wissenschaftlichen Begriffe haben; oder (3.), wenn die wirkliche Bewegung unseren theoretischen Prognosen zuwiderläuft, diese also praktisch widerlegt.

Wenn heute also auf einmal Genossen behaupten, das gesamte imperialistische Weltsystem werde von einer einzigen Supermacht und deren “Vasallen” beherrscht, es gebe auch im heutigen Monopolkapitalismus noch eine “Kompradorenbourgeoisie” oder der Charakter der russischen Monopole unterscheide sich von denen im Westen, weil sie aus der Konterrevolution gegen den Sozialismus hervorgegangen sind etc., so wären diese Genossen aufgefordert, ihre Behauptungen nicht nur mit der gültigen Theorie in Einklang zu bringen (oder deren Revision zu fordern), sondern auch ihre Behauptungen durch neues empirisches Material zu untermauern. Dasselbe gilt, wenn Genossen behaupten, unsere Programmatischen Thesen wären unzureichend, um den Krieg in der Ukraine fassen zu können.

Für uns bedeutet dies außerdem, dass wir nicht einfach bei der Beschreibung der Welt, wie Marx, Engels und Lenin sie uns hinterlassen haben, stehen bleiben können. Wir müssen beobachten, zu welchen neuen Resultaten das Wirken der uns bekannten Gesetzmäßigkeiten in den letzten Jahrzehnten geführt hat. Wie kann zum Beispiel das Kolonialsystem auch heute noch zum Wesenskern des Imperialismus gehören – wie einige Genossen behaupten – wo doch Kolonien heute offensichtlich nur noch als historische Ausnahme existieren, der Imperialismus deshalb aber nicht seine Existenz aufgegeben hat? Wir müssen also fragen, ob neue Phänomene und Entwicklungstendenzen entstanden sind, welche Gegentendenzen aufgekommen sein mögen und ob es Verschiebungen in der Wechselwirkung der Bewegungsgesetze gegeben hat. 

Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass wir verstehen müssen, welche Wirkung die Existenz der Sowjetunion auf die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems hatte und welche Dynamiken durch deren Verschwinden ausgelöst wurden. Wir müssen auch verstehen, was es bedeutet, dass es heute keine Kolonien mehr gibt und fast alle Länder der Welt im Stadium des Monopolkapitalismus angekommen sind. Wir werden sehr konkret und empirisch analysieren müssen, wie das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung wirkt und langfristig zum Abstieg alter Großmächte und zum Aufstieg neuer imperialistischer Pole im Weltsystem führt etc.

Was zeichnet die marxistische Theorie aus?

Wir haben uns nun ausführlich mit der marx’schen Methode und deren Anwendung beschäftigt. An dieser Stelle versuchen wir auf den Punkt zu bringen, welche allgemeinen Eigenschaften die marxistische Theorie ausmachen und wie diese untrennbar mit der wissenschaftlichen Methode zusammenhängen.

  • Sie ist dialektisch, d.h. sie stellt die Welt in ihrer widersprüchlichen Bewegung und ständigen Veränderung dar. Dies umfasst die Grundgesetze der Dialektik als Kampf und Einheit der Gegensätze, das Umschlagen von Quantität und Qualität, und die der Negation der Negation. “Sie alle  [die kleinbürgerlichen Demokraten wie auch alle Helden der II. Internationale] nennen sich Marxisten, fassen aber den Marxismus unglaublich pedantisch auf. Das Entscheidende im Marxismus haben sie absolut nicht begriffen: nämlich seine revolutionäre Dialektik” (Lenin: Über unsere Revolution, LW 33, S. 462).
  • Sie ist materialistisch, d.h. sie geht vom Primat der Materie und den wirklichen Lebens- und Produktionsverhältnissen der Menschen aus. Sie fasst die materielle Welt als objektiv auf, geht also davon aus, dass diese außerhalb der Köpfe der Menschen und unabhängig von deren Ideen und Vorstellungen existiert, im Denken aber widergespiegelt werden kann. “Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle” (Marx: Kapital Bd.1, MEW 23, S. 27).
  • Sie ist historisch, d.h. sie analysiert die Wirkung und Wechselwirkung der ökonomischen Bewegungsgesetze in ihrer konkreten Vermittlung als geschichtlicher Prozess. “Wir haben gesehn, daß der kapitalistische Produktionsprozeß eine geschichtlich bestimmte Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses überhaupt ist. Dieser letztere ist sowohl Produktionsprozeß der materiellen Existenzbedingungen des menschlichen Lebens wie ein in spezifischen, historisch-ökonomischen Produktionsverhältnissen vor sich gehender, diese Produktionsverhältnisse selbst und damit die Träger dieses Prozesses, ihre materiellen Existenzbedingungen und ihre gegenseitigen Verhältnisse, d.h. ihre bestimmte ökonomische Gesellschaftsform produzierender und reproduzierender Prozeß“ (Marx: Kapital Bd. 3, MEW 25, S. 826).
  • Sie ist ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär. Sie stellt sich nicht auf einen abstrakt moralischen Standpunkt außerhalb der Welt, sondern deckt die inneren Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den sie verschleiernden Ideologien auf. Sie akzeptiert die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht als naturgegeben und unveränderlich, sondern entschleiert sie als menschengemacht und durch Menschen veränderbar. Der Fokus auf ihre dialektische Entwicklung weist ihre Vergänglichkeit und die Notwendigkeit ihrer (Selbst)aufhebung nach. “Die wahre Kritik […] zeigt die innere Genesis [des Gegenstandes]. Sie beschreibt ihren Geburtsakt. So weist die wahrhaft philosophische Kritik [des Gegenstandes] nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit” (Marx: Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, S. 296).
  • Sie ist ihrem Anspruch nach einheitlich und harmonisch, d.h. frei von logischen Widersprüchen über alle Grenzen der Wissensgebiete und Teildisziplinen hinweg. Die marx’sche wissenschaftliche Theorie ist dem Chaos im bisherigen Geschichtsverständnis und -darstellung begegnet und kann darstellen, wie auf Grundlage der Produktivkraftentwicklung, sich andere Gesellschaftsformationen herausbilden: “Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt – wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.” (Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile, LW 19, S. 4).
  • Sie betrachtet die Bewegungsgesetze und die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Gesamtzusammenhang. Die einzelnen Vorgänge nicht im Gesamtzusammenhang zu betrachten, führt zu metaphysischen Anschauungen der Wirklichkeit. “Aber [die Naturwissenschaft der letzten Jahrhunderte] hat uns ebenfalls die Gewohnheit hinterlassen, die Naturdinge und Naturvorgänge in ihrer Vereinzelung, außerhalb des großen Gesamtzusammenhangs aufzufassen; daher nicht in ihrer Bewegung, sondern in ihrem Stillstand, nicht als wesentlich veränderliche, sondern als feste Bestände, nicht in ihrem Leben, sondern in ihrem Tod” (Engels: Anti-Dühring, MEW 20 S. 20).
  • Sie ist prognosefähig. Durch die richtige Widerspiegelung der Wechselwirkung der Bewegungsgesetze im Gesamtzusammenhang, ist die Theorie in der Lage, die “Richtung” der dialektischen Bewegung zu erkennen. Aus der Herausstellung der Entwicklungstendenzen, kommen wir in die Lage, Prognosen über die weitere Entwicklung aufzustellen.
  • Sie ist objektiv, aber parteilich. Unsere Gesellschaft ist in zwei Hauptklassen unterteilt. Es gibt unter diesen Bedingungen keine “neutrale” Position. Es gibt zwar eine objektive, aber keine neutrale Wissenschaft. Die Analyse der wirklichen Verhältnisse und die politischen Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, sind zwangsläufig bestimmt durch die eine oder die andere Klassenperspektive. Der Marxismus steht auf dem Standpunkt der Arbeiterklasse. Dazu schreibt Lenin: “eine ‘unparteiische’ Sozialwissenschaft kann es in einer auf Klassenkampf aufgebauten Gesellschaft nicht geben” (Lenin: Drei Quellen, LW 19, S. 3).

Diese Kriterien müssen auch auf eine Imperialismustheorie auf Höhe der Zeit zutreffen, sonst kann sie weder wahr noch marxistisch sein.

Wie kommen wir vom Weg ab? Revisionismus in der Methode – eine unvollständige Aufzählung…

Wir haben oben die wissenschaftliche Methode dargestellt. In diesem Kapitel möchten wir auf gängige Fehler, Probleme und Missverständnisse eingehen, die mit der wissenschaftlichen Methode verbunden sind. Wir nennen diese Fehler, weil sie uns in der Diskussion um den aktuellen Krieg besonders aufgefallen sind. Diese Fehler sind Symptome eines Revisionismus in der Methode und verschließen uns die wissenschaftliche Erkenntnis der Welt. Wir verlieren die Möglichkeit, zielgerichtet und organisiert zu handeln. Entsprechend zählen wir diese Fehler hier auf, um aus ihnen zu lernen und unsere wissenschaftliche Arbeit damit auf ein höheres Niveau zu heben. Das Bewusstsein über diese Fehler hilft uns, sie zu erkennen – bei uns selbst und anderen –, um sie nicht zu begehen.

(a) Begriffe nicht Begreifen

Ein Merkmal von Revisionismus in der wissenschaftlichen Methode ist das Nicht-Begreifen von Begriffen.

Was ist eigentlich ein wissenschaftlicher Begriff? Wenn wir von Begriffen sprechen, dann meinen wir nicht die, die wir umgangssprachlich verwenden, wie die Begriffe “Baum” oder “Mensch”. Ein wissenschaftlicher Begriff, wie zum Beispiel der der “Ware”, ist ähnlich allgemein und abstrakt wie der umgangssprachliche, spiegelt aber das Wesen einer Erscheinung wider. Damit ist gemeint, dass ein Begriff die dialektische Bewegung des Gegenstandes erfasst, und damit die Widersprüche, die die Entwicklung des Gegenstandes kennzeichnen. Diese dialektische Bewegung bezieht sich auf das Verhältnis der einzelnen begrifflichen Elemente zueinander und zu ihrer Welt. Solange alles dies, also der Zusammenhang, fehlt, ist mit dem Wort „Baum“ wohl eine bestimmte Vorstellung verbunden, der Gegenstand damit aber noch nicht begriffen. Wissenschaftlich gesehen heißt „in einen Begriff fassen“, aber nichts anderes als „begreifen“. “Die Begriffe sind das höchste Produkt des Gehirns, des höchsten Produkts der Materie” (Lenin: Konspekte zur “Wissenschaft der Logik”, LW 38, S. 156). Wissenschaftliche Begriffe sind das “Ergebnis des historisch fortschreitenden Erkenntnisprozesses”. In ihnen ist die jeweils erreichte Stufe der Erkenntnis der Wirklichkeit und ihrer Gesetzmäßigkeiten zusammengefasst. Sie müssen der sich verändernden Wirklichkeit und der sich entwickelnden Erkenntnis der Wirklichkeit entsprechend angewandt und in ihrem Inhalt fortentwickelt werden” (Autorenkollektiv, 1973, S. 104). Dabei ist für uns wichtig, dass ein bloßes Verwenden von Begriffen kein wirkliches Begreifen der objektiven, vom Bewusstsein unabhängigen Realität sicherstellt. Vielmehr müssen wir den Begriffsbildungsprozess in seinen wesentlichen Momenten nachvollziehen.

Im Umgang mit wissenschaftlichen Begriffen ist es unser aller Aufgabe, die Entwicklung des Begriffes nachzuvollziehen, um seinen Inhalt zu verstehen: Lenin bildet aus den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise einen inhaltlich bestimmten Begriff heraus, in unserem Beispiel: das Monopol. Wir müssen also begreifen, warum er genau so gebildet wird, wie er gebildet wird und was unter den Begriff fällt.

Wir betrachten einen wissenschaftlichen Begriff unter der Berücksichtigung der von ihm gefassten Widersprüche. Dies kann man anhand des Begriffs der Ware deutlich machen. Wir kennen das Verständnis der Ware als ein zum Austausch produziertes Gut. Aber der treibende Widerspruch, in dem sich die Ware bewegt, ist der zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, der in der Ware enthalten ist (vgl. Tschinkel, 2013, S. 89). So kommt man beim Verwenden von falschen Analyse-Elementen (hier: Gebrauchswert und Tauschwert) und falschen Verständnissen des Begriffs zu Auffassungen, die nicht den Entwicklungen entsprechen, die der Begriff als wissenschaftlicher Begriff fassen soll.

So können wir auch den für den Imperialismus zentralen Begriff des Monopols verstehen. Das Monopol entsteht aus der Konzentration der Produktion und beinhaltet damit die Zuspitzung der gesellschaftlichen Produktion bei privater Aneignung. Das Monopol entsteht aus der infolge von Konkurrenz der zahlreichen Einzelkapitalisten hervorgegangenen Konzentration der Produktion unter immer weniger Großkapitalisten (somit der Selbstaufhebung der Einzelkapitalisten durch ihr eigenes Tun) und beinhaltet damit diesen Widerspruch. Politisch-ökonomisch spiegelt sich der treibende Widerspruch hinter der Konzentration des Kapitals in den von Marx entwickelten Begriffen konstantes und variables Kapital bzw. der Verschiebung in der organischen Zusammensetzung des Kapitals wider. Mit steigender Produktivkraftentwicklung wird mehr konstantes und weniger variables Kapital vonnöten. Wenn jetzt aber doch das variable Kapital ausgeweitet wird, wird die Konzentration der Produktion und damit die Entwicklung hin zum Monopol vorangetrieben. Ein Monopol ist es erst, wenn Monopolpreise und -profite erzielt werden können.

Alle Genossen, die sich an der Debatte beteiligen, müssen sich um größtmögliche begriffliche Schärfe bemühen und für Transparenz und Nachvollziehbarkeit sorgen. Dazu gehört, dass man einen Begriff wie z.B. das Monopol als einen wissenschaftlichen Begriff verstehen muss, und ihn nicht zum bloßen Wort im Sinne des Alltagsverständnisses degradiert. Wer neue Begriffe in die Debatte einführt oder klassische Begriffe in einem neuen Sinn oder einem neuen Kontext verwendet, der steht in der Bringschuld, dies auch transparent zu machen und wissenschaftlich zu begründen.

Wenn man also in unserer Debatte einen Begriff wie “abhängiges Monopol” einbringt, wie Klara Bina das tut, (“Ein Weizenmonopol ist zwar ein Monopol, aber im Vergleich zum Finanzkapital, das sich in BlackRock sammelt, ziemlich lächerlich und das ist viel wichtiger – ein abhängiges Monopol.” Bina, 31.03.22), dann muss deutlich gemacht werden, wie dieser wissenschaftlich zu begreifen ist. Sie scheint einen relevanten Unterschied zwischen “unabhängigen” und “abhängigen” Monopolen zu implizieren. Selbst wenn es Sinn ergäbe, von „unabhängigen“ oder “abhängigen” Monopolen zu sprechen (wobei uns nicht klar ist, was ein “unabhängiges” Monopol sein soll; zumal auch das Weizenmonopol Finanzkapital ist), dann wüssten wir nicht, warum sich aus dieser Unterscheidung eine relevante Implikation ergäbe. Das Wesen des Monopols, das in dem wissenschaftlichen Begriff gefasst wird, ist dasselbe. Monopole sind in der Konkurrenz immer gezwungen, Profite zu machen, sie unterscheiden sich in ihrer Stärke der Profitrealisierung.

Außerdem gehört zum wissenschaftlichen Umgang mit Begriffen, dass man die Begriffe unserer Klassiker selbst durchdringt. So schreibt Paul Oswald in seinem Diskussionsbeitrag ‘Die wissenschaftliche Analyse nicht über Bord werfen!’ vom 11.04.2022 beispielsweise, der Begriff des Imperialismus sei “kein toter und allgemeiner Begriff, er ist eine konkrete Erscheinungsform”. Das ist offensichtlich falsch. ‘Imperialismus’ ist ein allgemeiner Begriff, dessen Allgemeinheit man sich nicht entledigen kann, indem man ihn als nicht-allgemein deklariert. Im Gegenteil, die Allgemeinheit dieses Begriffes befähigt uns erst dazu, die konkrete Wirklichkeit auf den Begriff zu bekommen, ihre Bewegung und ihr Wesen zu verstehen. Tot und vor allem nutzlos wäre der Begriff, wenn er zum bloßen Wort verkäme, das keine Entwicklung fasst. Zu einem toten Wort wird der Begriff durch Paul Oswald selbst, indem er Aussagen aus Lenins Imperialismusschrift zusammenstückelt, ohne die Bewegung der Gegensätze, die der Begriff fasst, darzustellen. Schlimmer noch: seine “Kritik” am Imperialismusverständnis einer anderen Partei wird zu bloßer Diffamierung, da er nicht nachvollzogen hat, wie diese zu ihren Auffassungen kommen – nämlich aus der Bewegung der Gegensätze, die die Begriffe bei Lenin fassen.

(b) Verwechslung und Trennung von Ökonomischem und Politischem

Eine wichtige Quelle für Revisionismus in der Methode ist, die Ebene des Ökonomischen und des Politischen zu verwechseln und/oder zu trennen.

Lenin hält sich in seiner Untersuchung an die marx’sche Methode. Er untersucht zunächst das ökonomische Wesen des Imperialismus, wohl wissend, dass dieses für sich nur in der wissenschaftlichen Abstraktion existiert. Auch bei Marx behandelt das erste Kapitel des Kapitals nur das Ökonomische: den Warenaustausch und die Entwicklung des Warenaustausches. Am Anfang ist weder von Politik noch von irgendeiner politischen Form oder bereits existierenden gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnissen die Rede (obwohl diese der entwickelten Warenform historisch notwendig vorausgehen). Lenin zeigt in seiner Arbeit ‘Über eine Karikatur auf den Marxismus’ auf, dass “es im Interesse der Klärung des ökonomischen·Wesens einer Erscheinung notwendig ist, von allen anderen Sphären zu abstrahieren und die ökonomische Seite in ihrer Reinheit zu betrachten. Jede Vermischung z. B. der politischen mit der ökonomischen Sphäre kann dabei nur Verwirrung stiften” (Kumpf, 1968, S. 112). Wie wichtig Klarheit über das Verhältnis von Politischem und Ökonomischen ist, zeigt sich an Lenins Auseinandersetzung mit Kijewski über das Verhältnis von “Imperialismus” und “Selbstbestimmungsrecht der Nationen”. Lenin stellt klar: “Die Republik ist eine der möglichen Formen des politischen Überbaus der kapitalistischen Gesellschaft, und zwar unter den modernen Verhältnissen die demokratischste Form”, wobei “zwischen Imperialismus und Demokratie ein Widerspruch besteht”. Lenin macht deutlich, dass es in diesem Verhältnis um “die Frage nach der Beziehung der Ökonomik zur Politik; nach der Beziehung der ökonomischen Verhältnisse und des ökonomischen Inhalts des Imperialismus zu einer der politischen Formen” geht und zeigt auf, dass man unterscheiden müsse, ob „dies ein ,logischer‘ Widerspruch zwischen zwei ökonomischen (1) oder zwischen zwei politischen (2) Thesen oder zwischen einer ökonomischen und einer politischen (3) Erscheinung bzw. These“ ist. Da Kijewski das Verhältnis von Ökonomischem und Politischem nicht – bzw. nicht richtig – fasst, kommt er zu der Vorstellung, dass die Selbstbestimmung im Imperialismus nicht realisierbar sei (Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus“, LW 23, S. 37). Wie falsch und fatal diese Vorstellung war, hat nicht nur Lenin, sondern auch die Geschichte gezeigt: Heute gibt es fast ausschließlich politisch selbständige Länder.

Vom ökonomischen Wesen des Imperialismus ausgehen, bedeutet keinesfalls eine Nichtbeachtung der Wechselwirkung, die die ökonomische Basis mit der Politik als Überbau hat. Im Gegenteil, die Ausführungen in Schritt 4 sollten deutlich gemacht haben, dass ökonomische und politische Verhältnisse in Wechselwirkung miteinander stehen. Dort haben wir deutlich gemacht, dass wir die Gesamtheit der Beziehungen begreifen müssen. Das eine vom anderen zu lösen oder darauf zu reduzieren, ist ein Fehler.

Das bedeutet für uns bei der Betrachtung und Einschätzung des Krieges, dass wir das Ökonomische und das Politische nicht voneinander trennen und uns eines Teils entledigen können, wie es Philipp Kissel schreibt: „Die Reduzierung beziehungsweise Abstraktion von den tatsächlichen Ursachen ermöglicht allerdings die Gleichsetzung „beider Seiten“. Denn da die Russische Föderation ein kapitalistischer Staat ist, scheint es einleuchtend, dass es um Märkte, Rohstoffe, etc. geht. Es ist bestimmt so, dass russische Oligarchen Interessen an den Gas-Pipelines, Rohstoffen etc. der Ukraine haben. Aber das ist nicht der Grund für die Militäroperation. Zudem ist es auch auf der Ebene der ökonomischen Konkurrenz nicht einfach ein Kampf zwischen zwei gleichen Seiten. Auch hier besteht eine deutliche Übermacht der USA und EU und sie müssen mit Mitteln der Spaltung, Aggression, faschistischer Kräfte, etc. vorgehen, um Länder wie die Ukraine aus ihren regionalen Zusammenhängen zu reißen und an sich zu binden. Die NATO und die EU wollen die Ukraine außerdem nur als Anhängsel im Sinne einer verlängerten Werkbank, um billige Arbeitskräfte auszubeuten und als Rohstofflieferanten, aber nicht als Konkurrenten mit eigener industrieller Basis. Sie fördern deshalb Kräfte im Land, die die Produktivkräfte schwächen und ihnen schaden. Es ist also, abgesehen davon, dass es nicht die konkrete Ursache der Auseinandersetzung ist, nicht richtig ein Bild von zwei gleichen Seiten darzustellen“ (Kissel, 29.03.22). Philipp Kissel entledigt sich im ersten Teil seines Diskussionsbeitrags der Einschätzung des Joint Statement of Communist and Workers’ Parties, dass es ein imperialistischer Krieg sei, indem er die Behauptung aufstellt, ökonomische Interessen seien nicht der Grund für die “Militäroperation”. Ihm geht es in seiner Kritik am Joint Statement darum, dass beide Seiten (auf der einen Seite Russland, auf der anderen Seite NATO) nicht “gleichzusetzen” sind. Anstatt dann aber die Wechselwirkung von Ökonomischem und Politischem zu betrachten, und ein vermeintliches ökonomisches Ungleichgewicht in dessen Verhältnis zum Politischen darzustellen, entledigt er sich des Ökonomischen.

Er zieht zudem weitreichende Schlussfolgerungen für die Politik: “Die Regierung der RF vertritt nicht die Interessen der Arbeiterklasse, sondern die der nationalen Bourgeoisie, die allerdings im Vergleich zur Kompradorenbourgeoisie (für die tendenziell die Regierung Jelzin stand), die einen Ausverkauf des Landes und seiner Ressourcen anstrebt, in dem (begrenzten) Sinne fortschrittlicher ist, dass sie Bedingungen zur erfolgreichen Akkumulation des Kapitals herstellen will und dafür eine gewisse Eigenständigkeit braucht. In der jetzigen Situation gibt es eine Überschneidung der Interessen der nationalen Bourgeoisie mit denen der Arbeiterklasse in der Verteidigung des Landes und der Verhinderung der Zersplitterung und Unterwerfung. Sollte die NATO ihre Ziele erreichen, wäre es eine katastrophale Situation für die Arbeiterklasse. Die Entkoppelung vom Westen ist im Interesse der Arbeiterklasse und nur zum Teil oder mit Widersprüchen verbunden im Interesse der nationalen Bourgeoisie, die eigentlich eine Einbindung in den Westen angestrebt hatte. Es handelt sich also um eine partielle und begrenzte Überschneidung der Interessen, nicht um eine generelle” (Kissel, 29.03.22). Die nationale Bourgeoisie ist, laut ihm, fortschrittlicher als eine sogenannte “Kompradorenbourgeoisie”, da sie erfolgreiche Akkumulationsmöglichkeiten für das Kapital herstellen kann. Daraus zieht er eine partielle Interessensüberschneidung. Spätestens hier müsste er Aussagen treffen, um das ökonomisch zu begründen und in ein Verhältnis zum Grundwiderspruch des Kapitalismus, dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, setzen. Auch eine Begründung für erfolgreiche Möglichkeiten zur Akkumulation eines Teils der Klasse der Bourgeoisie, bleibt er schuldig. Immerhin zieht er daraus die Konsequenz, dass es sich um einen “fortschrittlicheren” Teil der Klasse handelt. Aus der Imperialismusschrift ergibt sich eine grundsätzliche Politik der Bourgeoisie: eine reaktionäre Politik. Für einen Teil der Bourgeoisie behauptet er nun, dass es auf sie nicht zutrifft: für die nationale. Er belegt aber nicht, wie er dazu kommt. Dies steht im Widerspruch zur Aussage Lenins: “Der politische Überbau der neuen Ökonomik, über dem monopolistischen Kapitalismus (Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus) ist die Wendung von der Demokratie zur politischen Reaktion. Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion” (LW 23, S. 34).

In seiner Einleitung kündigt er an, im zweiten Teil seine Einschätzung zu begründen: “Im zweiten Teil versuche ich die Ereignisse darzulegen und einzuschätzen. Damit will ich meine Einschätzung begründen und transparent darlegen und meine Kritik am JS [Joint Statement, Anm. von uns] untermauern. Ohne eine genaue Betrachtung der konkreten Ereignisse und ihrer Entwicklung können wir nicht die richtigen Fragen stellen und nicht zu den richtigen Schlüssen kommen” (Kissel, 29.03.22). In seinem zweiten Teil des Beitrags führt er lediglich eine politische Geschichte an. Er müsste aber auch Aussagen über die Ökonomie machen. Damit trennt er das Ökonomische vom Politischen in seiner Einschätzung des Krieges.

(c) Trennung von Logischer und Historischer Entwicklung

Die wissenschaftliche Methode ist logisch und historisch. Im Philosophischen Wörterbuch findet man folgenden Eintrag dazu: “Unter dem Logischen wird hierbei die theoretische Erkenntnis verstanden, welche die Gesetzmäßigkeiten des betreffenden Gegenstandes in abstrakter und systematischer Form widerspiegelt, unter dem Historischen dagegen die Erkenntnis und Reproduktion der Entstehung und Entwicklung des Gegenstandes. Die Einheit des Logischen und Historischen ist eine besondere Erscheinungsform der allgemeinen dialektischen Gesetzmäßigkeit der objektiven Realität”(Autorenkollektiv, 1971, S. 668).

Engels beschreibt die marxistische Methode bezüglich des Logischen und Historischen so: “Die Geschichte geht oft sprungweise und im Zickzack und müßte hierbei überall verfolgt werden, wodurch nicht nur viel Material von geringer Wichtigkeit aufgenommen, sondern auch der Gedankengang oft unterbrochen werden müßte; zudem ließe sich die Geschichte der Ökonomie nicht schreiben ohne die der bürgerlichen Gesellschaft, und damit würde die Arbeit unendlich, da alle Vorarbeiten fehlen. Die logische Behandlungsweise war also allein am Platz. Diese aber ist in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten. Womit diese Geschichte anfängt, damit muß der Gedankengang ebenfalls anfangen, und sein weiterer Fortgang wird nichts sein als das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs; ein korrigiertes Spiegelbild, aber korrigiert nach Gesetzen, die der wirkliche geschichtliche Verlauf selbst an die Hand gibt, indem jedes Moment auf dem Entwicklungspunkt seiner vollen Reife, seiner Klassizität betrachtet werden kann” (Rezension zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 475).

Wenn sich das Logische also auf die abstrakten Zusammenhänge als Gesetze oder Verhältnisse bezieht, bezieht sich das Historische auf die tatsächliche Entwicklung eben dieser theoretisch/gedanklich reproduzierten Zusammenhänge. Wie wir dargestellt haben, spielt in der wissenschaftlichen Methode das Historische und das Logische in den beiden Wegen (vom Konkreten zum Abstrakten und vom Abstrakten zum Konkreten) eine jeweils unterschiedliche Rolle. Beim ersten Weg (vom Konkreten zum Abstrakten) ordnen wir das Chaotische logisch, um zu unseren abstrakten Begriffen und Gesetzmäßigkeiten zu kommen. Im zweiten Weg (vom Abstrakten zum Konkreten) geht es uns darum zu verstehen, wie sich diese logischen Zusammenhänge konkret historisch entfalten. Wenn der zweite Weg nicht funktioniert, dann müssen wir feststellen, dass im ersten Weg und damit logisch etwas schiefgelaufen ist.

Engels schreibt weiter: Man sieht, wie bei dieser Methode die logische Entwicklung durchaus nicht genötigt ist, sich im rein abstrakten Gebiet zu halten. Im Gegenteil, sie bedarf der historischen Illustration, der fortwährenden Berührung mit der Wirklichkeit. Diese Belege sind daher auch in großer Mannigfaltigkeit eingeschoben, und zwar sowohl Hinweisungen auf den wirklichen historischen Verlauf auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung wie auch auf die ökonomische Literatur, in denen die klare Herausarbeitung der Bestimmungen der ökonomischen Verhältnisse von Anfang an verfolgt wird. Die Kritik der einzelnen mehr oder minder einseitigen oder verworrenen Auffassungsweisen ist dann im wesentlichen schon in der logischen Entwicklung selbst gegeben und kann kurz gefaßt werden” (MEW 13, S. 477).

Also: bei der dialektischen Methode ist es nicht so, dass die abstrakten Gesetze von der konkreten Betrachtung und Entwicklung der Welt abgeschlossen wären, sondern im Gegenteil, uns gilt es immer wieder, diese in ihrer historischen Erscheinung zu illustrieren; also auch den zweiten Weg der Methode zu gehen. In diesem Zitat steckt zum Schluss noch ein wichtiger Gedanke: Kritik an falschen Auffassungsweisen (der Welt) steckt schon im Logischen. Das heißt, um Kritik an falschen Verständnissen der Welt zu üben, ist es nicht (immer) notwendig, diese vom Historischen aus zu denken, sondern es ist viel eher deutlich, den Fehler bereits im Logischen zu verorten.

Kommen wir zurück zur Bedeutung des Monopols als Wesen des Imperialismus und als Ausgangspunkt zur Einschätzung des Krieges. Wenn das durch die Konzentration des Kapitals entstandene Monopol das ökonomische Wesen des Imperialismus bildet, so bedeutet das, dass es in seinem Wesen auch der historische Ausgangspunkt ist. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass sich alle anderen Momente des Imperialismus erst zeitlich nach der Entwicklung des kapitalistischen Monopols herausgebildet haben. Natürlich gab es schon verschiedene Elemente, wie die territoriale Aufteilung der Welt oder die Kapitalausfuhr vor der Herausbildung des Imperialismus in seiner “Klassizität”.

Der Imperialismus ist Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und Lenin grenzt sich in mehreren Schriften (z.B. Imperialismusschrift, Über die “Junius”-Broschüre, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den “Imperialistischen Ökonomismus”) von einer falschen Imperialismusanalyse, die von einer abstrakt historischen Untersuchung des Imperialismus ausgeht, ab. So kritisiert er Kautsky, der versucht das Wesen des Imperialismus nicht aus dem ökonomischen Wesen, sondern aus dem abstrakten Ausdehnungsdrange, aus der Kolonialpolitik, herzuleiten. Dadurch kommt er zu keinem Verständnis, das über bestimmte Oberflächenerscheinungen hinaus zu ihrem Charakter gelangt und z.B. nicht zum Wesen des Ersten Weltkrieges vordringt. Er ist nicht in der Lage, die Widersprüche, die sich in der imperialistischen Politik konkretisieren, wissenschaftlich zu verstehen und daraus die richtigen praktischen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Für uns bedeutet das, die aus dem “ersten Weg”, logisch entwickelten Begriffe in ihrem historischen Kontext zu fassen. Erst in dieser Einheit können wir zum Wesen eines Krieges gelangen, um daraus praktische Schlussfolgerungen für uns zu ziehen. Dies würden wir missachten, wenn wir, wie in Kapitel ‘Dissense in der Klärungsfrage’ beschrieben, die Wahrheit allein in den historischen Tatsachen suchen würden.

Es muss also klar sein, dass eine konkret-historische Betrachtung nicht ohne eine logische geht: “Von einer konkret-historischen Einschätzung des gegenwärtigen Krieges kann selbstverständlich keine Rede sein, wenn diese nicht auf einer vollständigen Klarlegung sowohl des ökonomischen als auch des politischen Wesens des Imperialismus beruht. Anders kann man zu keinem Verständnis der ökonomischen und diplomatischen Geschichte der letzten Jahrzehnte gelangen, ohne ein solches Verständnis aber wäre es einfach lächerlich, eine richtige Auffassung vom Krieg erarbeiten zu wollen” (LW 22, S. 101).

(d) Wesen und Erscheinung; Notwendiges und Zufälliges verwechseln

Aus der Verwechslung von Politischem und Ökonomischen kann eine Verwechslung von Wesen und Erscheinung bzw. Notwendigkeit und Zufall folgen.

Das Wesen einer Sache ist die “Einheit des Allgemeinen und Notwendigen” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1157). “Das Wesen ist relativ stabil, beständig, hat den Charakter des Allgemeinen, des Notwendigen; die Erscheinung hingegen ist instabil, beweglich, hat den Charakter des Einzelnen, Zufälligen. Das Wesen wird uns nur vermittels der Erscheinung zugänglich, ist also stets nur mittelbar zu erfassen. Die Erscheinung hingegen ist uns unmittelbar gegeben […] Wesen und Erscheinung bilden eine untrennbare Einheit. Die Erscheinung ist aber reicher als das Wesen, denn sie enthält außer dem Allgemeinen, Notwendigen, Invarianten den Reichtum des Individuellen, Zufälligen, Variablen. Es ist die Einheit von Wesentlichem und Unwesentlichem” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1159).

Die Erscheinung, mit der wir unseren wissenschaftlichen Prozess starten, ist reicher als ihr Wesen. An der Erscheinung hängt noch mehr als ihr Wesen. Um nicht von zufälligen, unwesentlichen Charakteristika auf die falsche Fährte geführt zu werden, ist die reale Einheit von Logischem und Historischem, sowie von Theoretischem und Emprischem trotz methodischer Unterscheidung entscheidend.

Das Wesen einer einzelnen Erscheinung können wir nur im Zusammenhang mit dem Allgemeinen erkennen. Bei der Bestimmung des Wesen können wir zwei Fehler machen. Erstens, indem wir das numerisch-allgemeine (quantitative Gemeinsamkeit von mehreren Dingen) mit dem wesentlich-allgemeinen (bestimmend, die Dinge ausmachend – danach suchen wir) verwechseln. Zweitens, wenn wir das Zufällige mit dem Notwendigen verwechseln.

Zum ersten Fehler: Wie oben beschrieben gibt es zwei Arten des Allgemeinen. Das numerische und das spezifische (also bestimmende). ”Ein Allgemeines, das nur durch Vergleich der gemeinsamen Eigenschaften vieler Einzelner gewonnen wird, das also selbst nur ein abstraktes oder ein numerisches Allgemeines ist, braucht noch nicht Ausdruck des Wesens des Einzelnen zu sein. So ist zwar allen Proletariern gemeinsam, daß sie Sprache und Bewußtsein besitzen, doch machen diese Eigenschaften nicht das Wesen eines Proletariers aus. Das abstrakte Allgemeine ist nur “ein Teilchen oder eine Seite” des Einzelnen. Erst wenn das Einzelne nicht nur hinsichtlich seiner gemeinsamen Seiten (Eigenschaften) betrachtet wird, sondern in ein System von Relationen zu anderen Einzelnen gestellt wird, wenn das Gemeinsame seiner Beziehungen zu anderen Einzelnen aufgedeckt wird, gelangen wir zum konkret oder spezifisch Allgemeinen.” (Autorenkollektiv, 1969, S. 57). So kann es sein, dass etwas in seiner Allgemeinheit unwesentlich ist. Ein Schluss von einer Allgemeinheit auf dessen Wesentlichkeit ist somit unzulässig.

Zum zweiten Fehler: Das wesentlich-Allgemeine ist immer notwendig und nicht zufällig. Wenn wir ein zufälliges Ereignis für notwendig halten, kommen wir zu einem falschen Verständnis des Wesens.

Wir können den Zufall folgendermaßen fassen: “Ein Ereignis heißt zufällig, wenn es nicht mit innerer Notwendigkeit aus einer gegebenen Gesamtheit von Bedingungen folgt, wenn es so, aber auch anders hätte verlaufen können. Dies bedeutet nicht, daß ein zufälliges Ereignis nicht kausal bedingt sei” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1180). Notwendigkeit dagegen können wir so verstehen: “Ereignisse, Prozesse, Zusammenhänge usw. heißen notwendig, wenn sie innerhalb eines gegebenen Systems von Bedingungen eindeutig durch andere Ereignisse, Prozesse usw. bestimmt werden, wenn sie sich also im Rahmen dieser Bedingungen nur so und nicht anders gestalten können.” (Autorenkollektiv, 1971, S. 799).

In der Imperialismusdiskussion verwechseln wir Wesen und Erscheinung hinsichtlich der Verwechslung von Notwendigkeit und Zufälligkeit dann, wenn wir eine Abfolge von Dingen, die kausal determiniert sind, für notwendig halten und dadurch den Zusammenhang, der den Dingen zugrunde liegt, kassieren. Ein Beispiel ist, dass aus der zufälligen, wenn auch kausal nachvollziehbaren und nachzeichenbaren Diplomatiegeschichte des Krieges fehlerhafterweise das Wesen des Krieges abgeleitet wird. Obwohl die Abfolge der Diplomatie kausal nachvollziehbar für den Beginn des Krieges scheint, sagt sie nichts über die Notwendigkeit des Krieges selbst und die zugrunde liegenden Bewegungsgesetze aus. Schlimmer noch, sie kann sogar den Gesamtzusammenhang und das Wesen des Krieges verdecken. Sondern im Gegenteil, die Diplomatiegeschichte bleibt zufällig hinsichtlich der Notwendigkeit des Krieges als Wirkung der wesentlichen Gesetzmäßigkeiten. Engels schreibt dazu im Anti-Dühring: “daß Ursache und Wirkung Vorstellungen sind, die nur in der Anwendung auf den einzelnen Fall als solche Gültigkeit haben, daß sie aber, sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhang mit dem Weltganzen betrachten, Zusammengehn, sich auflösen in der Anschauung der universellen Wechselwirkung, wo Ursachen und Wirkungen fortwährend ihre Stelle wechseln, das was jetzt oder hier Wirkung, dort oder dann Ursache wird und umgekehrt” (MEW 20, S. 21f.). So gilt für die Einschätzung des Krieges ganz deutlich zu machen: selbst wenn wir eine deutliche Kausalverbindung zwischen zwei Ereignissen herausstellen und Politiker “nicht anders konnten”, dann bewegen wir uns noch immer auf der Ebene des Einzelnen, wo unser Alltagsverstand Ursache und Wirkung klar auszumachen vermag. So können wir aber unmöglich das Wesen des Vorgehens verstehen. Entsprechend müssen wir eben diese einzelnen Vorgänge gemäß der 6 obigen Schritte einordnen und ausgehend von den wesentlich-allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ihre konkreten Erscheinungen mit all ihren Wechselwirkungen und Entwicklungen darstellen.

Alexander Kiknadze schreibt in seinem Diskussionsbeitrag: “Weiterhin belegt die Art und Weise, wie Russland diese Militäroperation vollzieht, ihre Zielstellung.” (Kiknadze, 10.04.22) Alexander Kiknadze sieht die Zielstellung der “Militäroperation” in der Wahrung der “Sicherheitsinteressen” Russlands. Die Erscheinung, wie Russland Krieg führt, dient ihm als “Beleg” für die Zielstellung und damit den Charakter des Krieges. Mittlerweile hat sich die Art der russischen Kriegsführung deutlich geändert – die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur ist jetzt zum Kern der Taktik geworden – müsste sich damit nach Alexander Kiknadzes Logik nicht auch der Charakter des Krieges geändert haben?  

Eine grundlegende Unklarheit über Wesen und Erscheinungsform zeigt sich bei Paul Oswald, wenn er schreibt “Der Imperialismus ist […] eine konkrete Erscheinungsform, die es zu bekämpfen gilt!” (Oswald, 11.04.2022). Der Imperialismus ist nicht identisch mit seinen konkreten historischen Erscheinungsformen. Zu bekämpfen gilt es ihn natürlich trotzdem. Seine Aufhebung wird aber nicht durch den Kampf gegen die eine oder andere seiner Erscheinungsformen möglich sein, sondern nur durch die Aufhebung der monopolkapitalistischen Produktionsweise. Ein weiteres Beispiel, an dem Oswalds Verwechslung von Wesen und Erscheinung sichtbar wird, ist sein Verständnis, dass “die koloniale Unterdrückung den Kern des Imperialismus bildet” (Oswald, 11.04.2022). Dabei ist die Konkurrenz unter den Monopolen das Wesentliche, die Art ihrer Austragung, z.B. über den Erwerb von Kolonien, ist eine historische Erscheinung – und zudem eine, die mittlerweile weitgehend Geschichte ist… 

(e) Das Empirische vom Theoretischen trennen: Die Mär der neutralen Empirie

Revisionismus in der Methode findet statt, wenn die Empirie als neutrale, scheinbar voraussetzungslose oder abgeschlossene Art der Erkenntnisgewinnung betrachtet wird.

Empirisches Wissen ist Wissen, das aus Erfahrung gewonnen wird. Dabei ist Erfahrung durch die Sinne vermittelt, nämlich der Wahrnehmung und bewussten Beobachtung, zu verstehen. Empirisches Wissen erlangen wir, wenn wir uns die Welt sinnlich erschließen. Das empirische Wissen spiegelt in der Regel die äußere Erscheinung wider. “[A]uf ihrer Grundlage sind weder eine Erklärung des Wesens dieser Erscheinung, die Aufdeckung ihrer Ursachen noch exakte wissenschaftliche Voraussagen bisher unbekannter Sachverhalte möglich” (Autorenkollektiv, 1969, S. 276).

Der Erklärungsgrad empirischen Wissens ist also stark begrenzt. Wenn man nun davon ausgeht, dass Zusammenhänge allein aufgrund von empirischer Betrachtung erklärt werden könnten, dann begehen wir den methodischen Fehler, die Empirie von der Theorie zu lösen. Zumal das Ganze, welches entscheidendes Merkmal des Gesamtzusammenhangs ist, sich stets den Sinnen des Einzelnen entzieht. Der empirische Horizont erfasst logisch betrachtet nie das Ganze des Zusammenhangs.

Theoretisches Wissen ist Wissen, das aus logischem Denken gewonnen wird. Es geht um Wissen, das sich auf die Zusammenhänge von Objekten bezieht, die keine direkte sinnliche Entsprechung haben. Das empirische Wissen und das theoretische Wissen sind also zwei unterschiedliche Arten der Erkenntnis, die “im wissenschaftlichen Forschungsprozeß eine Einheit bilden und einander ergänzen” (Autorenkollektiv, 1969, S. 275). Aber wie und warum ergänzen sie sich?

Das theoretische Wissen spiegelt das Wesen der Erscheinung wider. “[Es] gestatte[t] sowohl die Erklärung bereits bekannter empirischer Sachverhalte als auch wissenschaftliche Voraussagen bisher noch nicht bekannter Sachverhalte. Sätze, in denen theoretische Kenntnisse fixiert sind, können zum Unterschied von empirischen Sätzen objektiv existierende Gesetzeszusammenhänge zum Ausdruck bringen” (Autorenkollektiv, 1969, S. 276).

Ihre Ergänzung zeigt sich im Aufsteigen vom Konkreten zum Abstrakten – wo die Empirie die wichtige Ausgangsbasis ist, und beim Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten, wo wir sehen, dass wir die empirische Entwicklung der Welt nicht ohne die theoretischen Einsichten verstehen können.

In der Unterscheidung von empirischem und theoretischem Wissen wird deutlich, wie wichtig es ist, das Empirische nicht isoliert vom Theoretischen zu betrachten. Wenn wir das Empirische vom Theoretischen aber trennen, dann sitzen wir dem Fehler auf, dass wir die Empirie für eine unabhängige und neutrale Art der Erkenntnisgewinnung verkennen.

Wir haben oben schon gesehen, dass unser Kopf nicht einfach auf null gesetzt ist, wenn wir eine neue empirische Erfahrung machen. Diese steht immer schon im Kontext unserer theoretischen Vorannahmen. Wenn wir diese nicht offenlegen und kritisch einordnen, passiert es, dass der reine Empiriker, der “so sehr in die Gewohnheit des empirischen Erfahrens” vertieft ist “sich noch auf dem Gebiet des sinnlichen Erfahrens glaubt, wenn er mit Abstraktionen hantiert” (MEW 20, S. 502). Der reine Empiriker glaubt, er würde neutral sinnliche Erfahrungen sammeln, während er in Wirklichkeit die Eindrücke gedanklich zu bereits angenommenen Begriffen einsortiert und damit nur seine eigenen Vorurteile bestätigt (vgl. confirmation bias). Er sucht sich also schon die Erfahrungen so zusammen, dass sie der vorher getroffenen Positionierung oder Annahme entsprechen. Eine Folge dieses Fehlers kann sich in der false balance ausdrücken, der Darstellung einer Mehrheitsmeinung und einer Minderheitsmeinung als gleichwertig.

Engels erkennt seinerzeit die Problematik der Mär von der neutralen Empirie in der damaligen Elektrizitätslehre: “Die exklusive Empirie, die sich das Denken höchstens in der Form des mathematischen Rechnens erlaubt, bildet sich ein, nur mit unleugbaren Tatsachen zu hantieren. In Wirklichkeit aber hantiert sie vorzugsweise mit überkommenen Vorstellungen, mit großenteils veralteten Produkten des Denkens ihrer Vorgänger, als da sind positive und negative Elektrizität, elektrische Scheidungskraft, Kontakttheorie. Diese dienen ihr zur Grundlage endloser mathematischer Rechnungen, in denen sich die hypothetische Natur der Voraussetzungen über der Strenge der mathematischen Formulierung angenehm vergessen läßt. So skeptisch diese Art Empirie sich verhält gegen die Resultate des gleichzeitigen Denkens, so gläubig steht sie davor jenen des Denkens ihrer Vorgänger” (Dialektik der Natur, MEW 20, S. 415-416).

Auf unsere Diskussion bezogen bedeutet dies, dass wir die Wahrheit zwar in den Tatsachen suchen müssen, aber wir Tatsachen nicht als rein empirische Tatsachen verstehen dürfen. Sondern wir müssen immer offenlegen, welche Annahmen, Begriffe, Theorien hinter den Schlüssen stehen, die wir aus der Empirie ziehen und anhand derer wir die “relevanten” oder “interessanten” Tatsachen auswählen. Und diese Schlüsse können wir nicht ziehen, ohne das Theoretische.

(f) Metaphysisch-dogmatische Betrachtung der Welt: Gesamtzusammenhang ignorieren

Wir begehen methodischen Revisionismus, wenn wir uns die Welt nicht in ihrer Entwicklung, sondern bloß metaphysisch-dogmatisch, also statisch und in Einzelteile zergliedert und nicht im Gesamtzusammenhang betrachten.

Engels stellt das metaphysische (statische) Denken dem dialektischen (bewegenden) Denken entgegen. Metaphysisches Denken lässt den betrachteten Gegenstand zu Statik gerinnen, selbst wenn ihr Gegenstand „die Dialektik“ sein sollte.

Dass ein Gegenstand statisch wird, ist erstmal nicht schlimm, weil man die Welt eben manchmal isoliert in ihren einzelnen Teilen abstrahiert, auch metaphysisch betrachten muss, um Halt in ihr zu finden. Aber wenn wir dabei stehen bleiben, sehen wir die Welt nur noch als statisches Gebilde. Stattdessen geht es uns ja gerade darum, die Entwicklung zu verstehen, also was sich warum und wie bewegt. Es geht darum, Tendenzen zu erkennen, um eben diese Entwicklung beeinflussen oder verändern zu können. “Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit, sowie des Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur auf dialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdens und Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen” (Anti-Dühring, MEW 20, S. 22). Dabei muss uns auch klar sein, dass sich das Werden immer in Gegensätzen vollzieht.

Auf die Imperialismus-Diskussion bezogen können wir uns diesen Fehler beispielsweise anhand der Vernachlässigung der Bedeutung des Gesetzes der ungleichmäßigen Entwicklung verdeutlichen. Wir dürfen die Hierarchie der Länder nicht statisch begreifen, sondern müssen diese in ihrer Entwicklung und damit in ihrem dynamischen Charakter fassen. Ein Land, das früher einmal Kolonie war, muss das nicht für immer bleiben. Ein Standpunkt, der diese Eigenschaft zumindest innerhalb des imperialistischen Stadiums als unveränderlichen Teil des Wesens betrachtet, wird metaphysisch-dogmatisch und damit blind für die wirkliche Bewegung der Welt.

Wir denken auch dann metaphysisch, wenn wir den einzelnen Forschungsgegenstand nicht im Gesamtzusammenhang betrachten.

“Die ganze uns zugängliche Natur bildet ein System, einen Gesamtzusammenhang von Körpern, und zwar verstehn wir hier unter Körpern alle materiellen Existenzen vom Gestirn bis zum Atom, ja bis zum Ätherteilchen, soweit dessen Existenz zugegeben. Darin, daß diese Körper in einem Zusammenhang stehn, liegt schon einbegriffen, daß sie aufeinander einwirken, und diese ihre gegenseitige Einwirkung ist eben die Bewegung.” (Engels: Dialektik der Natur, MEW 20, S. 355). “Die These vom universellen Zusammenhang besagt vielmehr, daß jedes Ding, jeder Prozeß usw. mit anderen Dingen, Prozessen usw. in einem Zusammenhang steht, der durch die materielle Einheit der Welt und die Bewegung als Daseinsweise der Materie vermittelt wird” (Autorenkollektiv, 1971, S. 1182).

Also: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wahr kann eine Theorie über die Wirklichkeit nur dann sein, wenn sie die einzelnen Teile ihres Untersuchungsgegenstands in ihren Beziehungen und Wechselwirkungen zueinander, also in dialektischer Bewegung widerspiegelt. Das Wesen eines einzelnen Bestandteils der Wirklichkeit kann nur im Gesamtzusammenhang seiner Beziehungen dargestellt werden. Jede Untersuchung über Teilbereiche der Welt muss diese im Gesamtzusammenhang darstellen.

Warum ist es fatal, den Gesamtzusammenhang zu ignorieren? Weil man die Bewegung/Entwicklung eines Einzelnen sonst nicht in Relation zu den anderen gleichzeitig und zu ihm in Wechselwirkung stehenden Einzelnen betrachtet. Im Vorwort zu Bucharin zeigt Lenin auf, dass Kautskys Ausführungen hinsichtlich der gesetzmäßigen Entwicklung in die Richtung eines friedlichen Ultraimperialismus, denkbar sind. Aber im Zusammenhang mit anderen, zu dieser Gesetzmäßigkeit in Wechselwirkung stehenden Gesetzmäßigkeiten sehen wir, dass die Ausführungen Kautskys falsch ist. Abstrakt ist sie richtig: als einzelne Bewegung aus dem Gesamtzusammenhang und dessen Wechselwirkungen herausgelöst. ABER: konkret, also im realen Zusammenhang mit den ganzen anderen Wechselwirkungen, falsch (vgl. LW 22, Vorwort zu Bucharin, S. 106).

Man begeht den Fehler, ein Einzelnes nur abstrakt anzuschauen, wenn man es nicht im Gesamtzusammenhang (konkret) betrachtet. Man sucht sich also ein Gesetz, einen Begriff, eine Erscheinung, eine Tendenz heraus – man abstrahiert sie – löst sie aus dem Gesamtzusammenhang heraus und betrachtet nur damit einen Gegenstand.

Dies ist auch dann der Fall, wenn der (jetzige) Krieg vom Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus getrennt wird. Also wenn man meint, den Krieg einschätzen zu können, ohne ihn in den Gesamtzusammenhang der imperialistischen Entwicklung zu setzen. Wenn ein Krieg ohne Gesamtzusammenhang betrachtet wird, ist es immer eine abstrakte Betrachtung eines Krieges und keine konkrete. Darauf sind wir im Kapitel ‘Dissense in der Klärungsfrage’ hinsichtlich der Herangehensweise von Klara Bina eingegangen. Sie sieht kein Problem darin, einen einzelnen Krieg einzuschätzen, ohne dies auf Basis eines Imperialismusverständnisses zu tun.

Milo Barus macht in seinem Diskussionsbeitrag klar, dass wenn wir die aktuellen Entwicklungen des Imperialismus, auf dessen Grundlage der Krieg stattfindet, verstehen, also unser Imperialismusverständnis schärfen wollen, wird das “nicht ohne eine intensive Auseinandersetzung mit der Imperialismusanalyse, der ihr zugrundeliegenden Imperialismustheorie, aber auch nicht ohne die Betrachtung der wissenschaftlich-methodischen Grundlagen der Theorie möglich sein” (Barus, 12.04.2022). Wir halten es für ein Anzeichen von Revisionismus in der Methodik, dass leitende Teile der KO sich im letzten Jahr genau dagegen versperrt haben.

Einen solchen Fehler begeht man auch dann, wenn man sich dem Allgemeinen als “zu allgemein” entledigt. “das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne. Jedes Einzelne ist (auf die eine oder andere Art) Allgemeines. Jedes Allgemeine ist (ein Teilchen oder eine Seite oder das Wesen) des Einzelnen. Jedes Allgemeine umfaßt nur annähernd alle einzelnen Gegenstände. Jedes Einzelne geht unvollständig in das Allgemeine ein usw. usw. Jedes Einzelne hängt durch Tausende von Übergängen mit einer anderen Art Einzelner (Dinge, Erscheinungen, Prozesse) zusammen usw.” (Lenin: Zur Frage der Dialektik, LW 38, S. 340).

Man kann richtigerweise eine Bestimmung als nicht präzise genug kritisieren. Man kann richtigerweise kritisieren, dass eine allgemeine Bestimmung noch nicht ausreicht, um das Einzelne vollständig zu bestimmen. Es ist richtig, zu sagen, dass mit der Aussage, “es handelt sich bei dem jetzigen Krieg um einen zwischenimperialistischen Krieg“, noch nicht alles über diesen Krieg gesagt ist, was über ihn zu sagen wäre. Es wäre aber falsch, sich dem zwischenimperialistischen Charakter des Krieges zu entledigen, weil dieses “zu allgemein” wäre. Entweder das Einzelne (dieser Krieg) ist Ausdruck des Allgemeinen (zwischenimperialistischer Konflikte) oder dieses Einzelne ist nicht Ausdruck davon. Beispielsweise kann man die Aussage “Hans ist ein Arbeiter” dahingehend kritisieren, dass damit noch nicht alles über Hans gesagt ist. Aber der Tatsache, dass Hans ein Arbeiter ist, kann man sich nicht entledigen, indem man sagt, dass dies “zu allgemein” sei. Viel eher müsste gezeigt werden, dass Hans ein Arbeiter ist, oder eben nicht. Die Ablehnung des Allgemeinen als “zu allgemein” ist eine Herauslösung des Einzelnen aus dem Allgemeinen und damit eine Herauslösung aus dem Gesamtzusammenhang.

Was heißt das jetzt für unsere Klärung?

Wir haben uns zum Ziel gesetzt, eine klassenkämpferische Bewegung und eine kommunistische Partei in Deutschland aufzubauen (PT, S. 4). Dafür haben wir uns auf Grundlage der Programmatischen Thesen organisiert und sind weitere Schritte hinsichtlich einer gemeinsamen Formulierung unserer Vorstellung des Weges, um eine revolutionäre Strategie und Praxis zu erarbeiten. Wir nennen diesen Weg “Klärungsprozess”.

Wie wir in unserem Diskussionsbeitrag betonen, ist Klärung nur (!) mit Hilfe der dialektisch-materialistischen Methode zu erreichen. Diese muss, wie wir ausführlich dargestellt haben, im ersten Weg von den sinnlich-konkreten Erscheinungen zu einer allgemeinen Theorie des imperialistischen Weltsystems der Gegenwart aufsteigen. Erst im zweiten Weg können wir durch das erneute Aufsteigen vom Abstrakten zu den konkreten Erscheinungen der Wirklichkeit zu einer wissenschaftlichen Einschätzung derselben in ihrer “wirklichen Bewegung” kommen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen für den Klassenkampf und die revolutionäre Praxis ziehen. Jeder Versuch, diesen Prozess durch das unmittelbare Suchen der Wahrheit “in den Tatsachen” oder eine “historische Herangehensweise”, die sich nie von der Ebene der Erscheinungen löst, abzukürzen, muss zwangsläufig in die Irre führen.

Für unsere Klärung bedeutet das in Kurzform: Kollektive Bildung, kollektive Forschung und kollektive Organisierung.

Zur kollektiven Bildung: Niemand von uns will bei null anfangen, das bedeutet aber noch nicht, dass wir einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Diese Grundlage müssen wir uns erst durch gemeinsame Bildung erarbeiten. Wir müssen die allgemeinen Begriffe des wissenschaftlichen Sozialismus und die ihnen zugrundeliegenden Bewegungsgesetze, die uns Marx, Engels und Lenin an die Hand geben, begreifen. Wir müssen ihren Weg vom chaotisch-Konkreten zum Abstrakten, den wir in Schritt 1-3 dargestellt haben, nachvollziehen. Das Ergebnis muss ein gemeinsames Verständnis sein und damit als kollektiver Ausgangspunkt festgehalten werden.

Zur kollektiven Forschung: Von unserem Ausgangspunkt, dem Verständnis der wissenschaftlichen Begriffe auf abstrakt-allgemeiner Ebene, beginnen wir in der Forschung bei Schritt 4 und gehen den Weg vom Abstrakten ins spezifisch-Konkrete. Indem wir die Mittelglieder und die Erscheinungsformen, die für den heutigen Imperialismus relevant sind, aufdecken, die von den wesentlich-allgemeinen Gesetzen durch ihr Wirken als Gegensätze hervorgebracht werden, können wir die Erscheinungen in ihrer wirklichen Bewegung aufdecken. So kommen wir in die Lage, unsere Thesen und Positionierungen zum Imperialismus und Krieg zu vertiefen und zu überprüfen.

Zur kollektiven Organisierung: Der Aufbau einer kommunistischen Partei mit einem revolutionären Programm ist unser Ziel. Unsere wissenschaftliche Arbeit muss sich dafür auch in unserer alltäglichen Organisierung widerspiegeln, um Dissense und Unklarheiten schnell erkennen, einen Umgang damit zu entwickeln und Schritt für Schritt einen wissenschaftlichen Apparat vorzubereiten. Die ideologische Einheit ist die notwendige Voraussetzung für den Demokratischen Zentralismus als Organisationsform. Nur auf dieser Basis verkommt der Demokratische Zentralismus nicht zu einem Selbstzweck. Es gibt keinen anderen Weg, um in die Lage zu kommen, dem deutschen Imperialismus organisiertes und schlagkräftiges Handeln entgegenzusetzen.

Nur mit Klärung auf Grundlage der materialistisch-dialektischen Methode und in ständigem Kampf gegen den Revisionismus ist es möglich, ein kollektives Verständnis des heutigen Imperialismus als Ganzes auf eine höhere Stufe der Durchdringung zu heben, uns zu schulen, konkrete Ereignisse begründet einzuordnen und praktische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Dies ist die zentrale kollektive Entwicklung für den weiteren Aufbau einer revolutionären Partei.

Packen wir’s an!

Literaturverzeichnis

Marx,Karl/ Engels, Friedrich. Werke. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Lenin, Wladimir Iljitsch. Werke. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Autorenkollektiv (1969). Philosophisches Wörterbuch Band 1. Leipzig: VEB.

Autorenkollektiv (1971). Philosophisches Wörterbuch Band 2. Leipzig: VEB.

Autorenkollektiv (1973). Kleines Politisches Wörterbuch. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Barus, Milo (12.04.2022). Das Wesen der zwischenimperialistischen Widersprüche – Fragen an die Imperialismusdebatte. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/das-wesen-der-zwischenimperialistischen-widersprueche-fragen-an-die-imperialismusdebatte/

Bina, Klara (31.03.2022). Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/

Honer, Patrick (18.04.2022). Von Bildern, imperialistischen Ländern und Schiedsrichtern. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/von-bildern-imperialistischen-laendern-und-schiedsrichtern/

Joint Statement of Communist and Workers’ Parties (03.03.2022). No to the imperialist war in Ukraine. Solidnet: http://www.solidnet.org/article/Urgent-Joint-Statement-of-Communist-and-Workers-Parties-No-to-the-imperialist-war-in-Ukraine/

Kiknadze, Alexander (10.04.2022). Zum Defensivschlag Russlands gegen die NATO. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/zum-defensivschlag-russlands-gegen-die-nato/

Kissel, Philipp (29.03.2022). Zur Kritik am „Joint Statement“ und zur NATO-Aggression gegen Russland. Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/zur-kritik-am-joint-statement-und-zur-nato-aggression-gegen-russland/

Kumpf, Fritz (1968). Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismus-Analyse. Berlin/DDR: VEB.

Latzo, Anton (28.04.2022). Die Wahrheit liegt in den Tatsachen. Unsere Zeit: https://www.unsere-zeit.de/die-wahrheit-liegt-in-den-tatsachen-168558/

Mandel, Ernest (1971). Der Spätkapitalismus: Versuch einer marxistischen Erklärung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Oswald, Paul (11.04.2022). Die wissenschaftliche Analyse nicht über Bord werfen! Diskussionstribüne der KO: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/die-wissenschaftliche-analyse-nicht-ueber-bord-werfen/

Stalin, Josef (1924). Grundlagen des Leninismus. In: Werke Bd.6, 1952. Berlin/DDR: Dietz Verlag.

Tschinkel, Gerfried (2013). Zur Dialektik finanzkapitalistischer Entwicklung. Aufhebung, 2, pp. 88-103.

Stellungnahme der ehemaligen ZL-Minderheit

Wir veröffentlichen hier die Stellungnahme der fraktionierten ehemaligen ZL-Minderheit, die unsere alte Website gekapert hat und dort eigenmächtig veröffentlicht. Um die Auseinandersetzung sichtbar und transparent zu machen, veröffentlichen wir auf der offiziellen Website der KO alle Beiträge, die zur Debatte kommen.

Richtigstellung zur Veröffentlichung „Die KO wurde gespalten – Wer behält den Namen?“

21. Dezember 2022

Stellungnahme des marxistischen-leninistischen Teils der Führung der KO

Die schrittweise Zersetzung der revolutionären Linie

Die ideologische Krise der KO ist im letzten Jahr hinreichend sichtbar geworden, die politische Krise war spätestens auf dem Kommunismus-Kongress offensichtlich und wurde nun von einer Fraktion der Organisation, einem Teil der Leitung, unabgesprochen in einer Veröffentlichung nach außen getragen. Verschiedene Falschdarstellungen zur Entwicklung und der aktuellen Situation werden mit diesem Text nun richtiggestellt. In einem zweiten Schritt hat dieser Teil der Leitung auch die Website der KO vorübergehend sabotiert, indem sie alle Posts auf der Website gelöscht und die Einrichtung einer neuen Website bekanntgegeben hat. Inzwischen konnten wir allerdings den angerichteten Schaden beseitigen.

Das Wesen der Auseinandersetzung in der KO, welche sich jetzt zum offenen Fraktionskampf entwickelt hat, ist eine Auseinandersetzung zwischen Marxismus-Leninismus und Revisionismus, also dem Eindringen bürgerlicher Ideologie in die Weltanschauung des Proletariats mit der Wirkung, das Proletariat vom Kampf für die Revolution abzubringen. Die ideologische Auseinandersetzung innerhalb der KO wird auch in der internationalen kommunistischen Bewegung geführt. Die KO hatte sich innerhalb dieser Auseinandersetzung immer in dem Teil verortet, der die Bildung eines revolutionären Pols anstrebt und in dem Parteien wie die KKE, die TKP und die KP Mexikos (PCM) eine führende Rolle einnehmen. Das wird von einem Teil der Organisation nun offen angegriffen, der behauptet, es gäbe keinen revolutionären Pol und damit anstrebt, marxistisch-leninistische neben opportunistischen, sogar offen chauvinistischen Parteien gleichberechtigt nebeneinander zu stellen. Wir bekräftigen daher noch einmal, dass die KO nicht „neutral“ in dem Konflikt mit dem Revisionismus sein kann, sondern dass unser Klärungsprozess wieder das werden muss, was er ursprünglich und bis Anfang 2022 war, nämlich unsere Methode zur Verteidigung, Vertiefung und Weiterentwicklung der marxistischen Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus. Damit wollen wir nicht behaupten, dass jeder Einzelne, der sich der revisionistischen Fraktion zuordnet, die nachfolgend genannten revisionistischen Positionen bis ins letzte Detail vertritt. Das Problem liegt aber gerade darin, dass das revisionistische Lager von einer Gruppe von ehemaligen Genossen geführt wird, die eine sehr weitreichende Revision des Marxismus betreiben, während ein großer Teil der Organisation ihnen folgt, ohne zwangsläufig in jedem Punkt ihre Positionen zu teilen. Leider ist es den Revisionisten gelungen, mit ihrer verlogenen Demagogie, wonach das marxistische Lager „keine Klärung“ wolle, weil wir an unserer Kritik des Revisionismus festhalten, einen Teil der Organisation hinters Licht zu führen.

Bezüglich des Imperialismus-, des Staats-, des Faschismus- und des Strategieverständnisses haben die revisionistischen Führer in der KO wesentliche Inhalte infrage gestellt oder bereits gänzlich über Bord geworfen: Sie vertreten einen Begriff von Imperialismus, der die Leninsche Erkenntnis, dass der Imperialismus ökonomisch in der Durchsetzung monopolkapitalistischer Verhältnisse liegt, durch die starre Zweiteilung der Welt in eine kleine Handvoll „imperialistischer Staaten“ und eine große Zahl vermeintlich „unterdrückter Länder“ revidiert. Sie legen nahe, dass das imperialistische Weltsystem in Wirklichkeit unipolar und einseitig von den USA beherrscht werde, sodass sie zwischenimperialistische Konflikte zu Konflikten zwischen „dem Imperialismus“ und angeblich rein einseitig „abhängigen“ Staaten wie Russland, China und Iran umdeuten. So wurde beispielsweise die Position eingenommen, dass die Arbeiterklasse in Russland zunächst für eine Entwicklung der Produktivkräfte und letztendlich für eine höhere Stellung des russischen Staats in der imperialistischen Hierarchie kämpfen und im Iran die Seite der Regierung verteidigen müsse.

Sie revidieren die revolutionäre Strategie, deren Eckpfeiler wir in den Programmatischen Thesen festgehalten haben, indem sie den Sozialismus als unmittelbares Ziel des Klassenkampfes verwerfen und stattdessen in allen außer den führenden kapitalistischen Ländern die Arbeiterklasse einen Kampf für eine „national eigenständige Entwicklung des Kapitalismus“ führen wollen, stellenweise auch gemeinsam mit den „eigenen“ Kapitalisten . Die weitgehende Kritik, die wir während der letzten Jahren an der antimonopolistischen Strategie erarbeitet haben, wird im gleichen Zug verworfen, diese ist wieder zu einer „interessanten Option“ für die Arbeiterklasse der meisten Länder dieser Welt geworden. Die mühsam errungene Erkenntnis, dass in der heutigen Epoche des Imperialismus die Strategie der Arbeiterklasse weltweit einheitlich auf den Sozialismus als unmittelbares Ziel des Klassenkampfes ausgerichtet sein muss, wird auf diese Weise aufgegeben. Gestützt werden die Abweichungen beispielsweise dadurch, dass Monopole in „abhängige“ und „weltbeherrschende“ Monopole unterteilt werden oder dass eine Kompradorenbourgeoisie als relevante Kraft für die abhängigen Länder unterstellt wird – ohne die hinter diesen Begriffen und ihrer Verwendung stehende Analyse darzulegen.

Der Revisionismus in der Faschismusfrage zeigt sich darin, dass die Ukraine ohne politische und ökonomische Analyse als faschistisch eingestuft wird, der Krieg der russischen Armee wird als antifaschistisch verklärt – allein aus dem Grund, dass neben unzähligen Zivilisten und einfachen Soldaten auch ukrainische Faschisten sterben.

Der marxistische Staatsbegriff wird revidiert, mit der Spekulation ob Russland als „post-sozialistischer“ Staat ein anderes Wesen habe als andere bürgerliche Staaten. Aussagen, dass die Gesellschaftsformation Russlands – Kapitalismus oder Sozialismus – sich heute nicht genau bestimmen lassen, bleiben teilweise unwidersprochen. Die Revisionisten negieren unseren Begriff des Sozialismus, indem sie, zumindest in Teilen, die Frage aufwerfen, ob das heutige China nicht doch sozialistisch sei. Zusammengefasst versuchen sie auf nahezu allen Gebieten die Fortschritte, die in der kommunistischen Weltbewegung und auch in der KO in den letzten Jahren bei der Überwindung fehlerhafter revisionistischer Auffassungen gemacht wurden, rückgängig zu machen und in der Konsequenz zu den bankrotten Thesen der Klassenkollaboration, des „objektiven Antiimperialismus“ von Russland und China, der unwissenschaftlichen Beschränkung des Imperialismusbegriffs auf die USA und Westeuropa usw. usf. zurückzukehren. Über das volle Ausmaß, in dem die Revisionisten innerhalb der KO sich vom Marxismus entfernt haben, werden wir die Bewegung noch genauer und ausführlicher informieren, weil wir denken, dass sich wichtige Schlussfolgerungen über die zerstörerische Wirkung des Revisionismus daraus ziehen lassen.

Es steht außer Zweifel, dass die revisionistische Fraktion der KO den revolutionären Standpunkt mehr und mehr verlassen hat. Sie hat auch den internationalistischen Standpunkt verlassen und steht für eine Unterstützung der russischen Bourgeoisie im imperialistischen Krieg in der Ukraine ein. Die Interessen des russischen sowie des ukrainischen Volkes beschäftigen sie nur noch abstrakt, in Form einer angeblichen „Verbesserung der Kampfbedingungen“ der Arbeiterklasse, die sich nach einer siegreichen Beendigung dieses mörderischen Kriegs durch die russischen Bourgeoisie einstellen soll. Die Zerstörung der Ukraine, den gewaltsamen Tod Zehntausender Angehöriger des ukrainischen Volkes, die Stärkung von Nationalismus, die wachsende Weltkriegsgefahr infolge dieses Krieges lassen die Revisionisten dabei außer Acht, denn letztlich geht es ihnen nur um die Unterstützung des russischen Imperialismus, den sie an der Seite der russischen Arbeiterklasse wähnen. Damit schwächen sie gerade auch hierzulande
den Kampf gegen die deutschen und NATO-Kriegstreiber, denn dieser Kampf muss notwendig von einem internationalistischen Standpunkt geführt werden, der konsequent gegen die Aufhetzung der Arbeiter und Völker gegeneinander Stellung bezieht.

Eine zentrale Verdrehung der ehemaligen Genossen besteht darin, dass sie die Zersetzung und bevorstehende Spaltung unserer Seite anlasten. Wer die Veröffentlichungen der KO in den letzten Monaten verfolgt hat, mag sich zuweilen gewundert haben: Spiegeln die Stellungnahmen zu NATO- und G7-Gipfel oder zum Antikriegstag etwa die neue Orientierung der KO wider? Warum genau bleiben Aussagen in Podcasts unwidersprochen, die klar den weiterhin geltenden Programmatischen Thesen der KO widersprechen? Und wem wird da eigentlich alles die Diskussionstribüne geboten? Auch wir haben uns die Augen gerieben und intern die gebotene Kritik in schärfster Weise geübt – nicht zuletzt, weil die Veröffentlichungen programmatischen Grundlagen der Organisation entgegenstanden, mit der Linie zahlreicher Veröffentlichungen der letzten Jahre brachen und sich noch nicht einmal an die bei der vierten Vollversammlung beschlossene Aktionsorientierung hielten, in der es hieß: „Mit dem in unserer Organisation bestehenden Dissens zur Imperialismus- und Kriegsfrage gehen wir offen um und nutzen ihn, um offensiv die Notwendigkeit eines kommunistischen Klärungsprozesses in die Bewegung zu tragen. Individuelle Analyse und Position kennzeichnen wir gegenüber Dritten als solche.“ Wir mussten feststellen, dass die Mehrheit der Leitung dies wohl nicht mehr für notwendig hielt.

Eine weitere Falschdarstellung befindet sich in der Darstellung der Klärung. Die Stellungnahme behauptet, dass die revisionistische KO-Fraktion eine „wissenschaftliche“, „ergebnisoffene“, „bewegungsöffentliche“ und „ernsthafte“ Klärung wolle und unterstellt damit zugleich, dass die marxistischen Teile der KO dies nicht vorhätten – unser Klärungsvorhaben sei stattdessen nur eine ‚Klärung‘ durch Abspaltung. Diese Einordnung ist falsch. Wir wissen, dass es einer noch nicht abzusehenden Anstrengung bedarf, um eine kommunistische Partei wieder aufzubauen, und dass die Klärung zentraler Fragen und die scharfe Bloßstellung revisionistischer Entgleisungen dabei einen wichtigen Teil ausmacht. Klärung und Organisationsaufbau müssen allerdings notwendig auf einer programmatischen Grundlage stattfinden, wenn sie wirksam werden sollen. Weder unsere eigenen Genossen noch andere Teile der kommunistischen Bewegung sollten sich von der Charakterisierung Sand in die Augen streuen lassen. Da die Revisionisten nun unseren Antrag zur Klärung veröffentlicht haben, kann sich jeder selbst ein Bild davon machen, wie wir den Klärungsprozess auf dem Boden des Marxismus in den nächsten Jahren gestalten wollen.

Mit dem Verlassen unserer inhaltlichen Grundlagen geht die organisatorische Zersetzung einher

Es liegt in der Natur der Sache, dass der Ursprung einer Eskalation nicht unbedingt leicht zu lokalisieren ist. Wir werden hier auch keine weiteren Interna offenlegen, die die zerstörerische Tätigkeit der revisionistischen Fraktion in den letzten Monaten belegen würden. Auch für Außenstehende sollte jedoch nachvollziehbar sein, dass die Veröffentlichungspraxis der KO sich im vergangenen Jahr entgegen der öffentlich einsehbaren Aktionsorientierung deutlich verändert hat, indem offen revisionistische Standpunkte als Standpunkte der Gesamtorganisation veröffentlicht wurden. Der Ursprung der Spaltung, die die Revisionisten der Organisation nun aufzwingen, liegt aber nicht einmal in ihren zahllosen Verstößen gegen unser Organisationsprinzip, den Demokratischen Zentralismus. Der Ursprung liegt darin, dass führende Mitglieder der KO im Verlauf des letzten Jahres und teilweise schon davor grundlegende Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus revidiert haben, dass sie sich gegen unsere programmatische Grundlage gestellt haben und dass sie damit die Ziele des Klärungsprozesses, vor allem den Aufbau der kommunistischen Partei, aufgegeben haben.

Mit dem Begriff der Fraktion beschreiben wir eine Gruppe mit eigenständiger Diskussion und Disziplin, ob bewusst oder unbewusst, unabhängig von der Diskussion und Disziplin der gesamten Organisation. Auch die Mehrheit einer Führung kann zu einer solchen Fraktion werden, wenn sie ihre eigenen Zwecke durchsetzt. Die Tatsache, dass sie die Mehrheit der Führung stellen, ist umso schwerwiegender und kaschiert aber gleichzeitig den Inhalt ihrer Fraktionierung, weil fraktionelle Entscheidungen als Beschlüsse der Mehrheit der Führung deklariert werden. Wir beziehen uns dabei auf das kollektive und zielgerichtete Vorgehen eines Teils der Führung, im Laufe des letzten Jahres Schritt für Schritt unsere gemeinsamen Grundlagen aufzuweichen, einen Bruch mit den programmatischen Thesen über Positionierungen in den Stellungnahmen weiter durchzusetzen wie auch dem geschlossenen Parteiaufbau durch die Verweigerung einer Positionierung die inhaltliche Grundlage zu entziehen. Ihre klare Positionierung für den Krieg wird dabei verschleiert durch ständig wiederholte Beteuerungen, völlig offen klären zu wollen.

Die Stellungnahme der Fraktionierer behauptet weiter, dass die Kommunikationskanäle der KO sich in unserem „Besitz“ befänden. Dabei ist es offensichtlich so, dass in Wahrheit die Ex-Genossen der revisionistischen Fraktion diejenigen sind, die die Kommunikationskanäle missbrauchen, um mit organisationsschädigenden Veröffentlichungen den Kampf zu führen.
Wir sehen, dass die Revisionisten präventiv ihren Zugang zur Website genutzt haben, um der Öffentlichkeit ihr falsches Narrativ als erste präsentieren zu können und möglicherweise auch, um eine Politik der „verbrannten Erde“ gegenüber dem marxistischen Teil der Organisation zu betreiben.

Die unabgesprochene Veröffentlichung ihres Textes und vor allem der Anträge an den Kongress stellt eine massive und bewusste organisationsschädigende Maßnahme dar. Die KO wird der Öffentlichkeit und der Bewegung als chaotischer und zerstrittener Haufen und wie eine Politsekte präsentiert, die sich selbst nicht mehr ernst nimmt.

Interna über Strukturen der Organisation, über den Konflikt innerhalb der KO, den Umgang mit den Mitteln der Organisation und Falschinformationen über den Verlauf der ideologischen Auseinandersetzung wurden zudem der Bewegung, aber auch den Behörden offengelegt bzw. mitgeteilt. Auch die Einrichtung einer neuen Website ist ein solches organisationsschädigendes Verhalten, weil sich jetzt, bevor die KO eine Entscheidung über ihren Weg getroffen hat, Verwirrung über sie in der Bewegung breit machen wird. Die ehemaligen Genossen demontieren also das vorher klar erkenntliche Profil der KO weiter und es ist gut möglich, dass sie in den nächsten Wochen mit weiteren Texten auf ihrer neuen Website diese Demontage noch verstärken.

Sie versuchen diesen Schritt damit zu legitimieren, dass der Genosse, der die Website seit der letzten Vollversammlung verwaltet, nicht Teil ihrer Fraktion ist und somit nach ihrem Verständnis die Website „veruntreut“ hat, auch wenn der Genosse im Gegensatz zu ihnen kein einziges Mal die Website für die Zwecke seines politischen Lagers missbraucht hat. Wenn nun der Eindruck erweckt wird, als hätten wir die Website unter unsere alleinige Kontrolle übernommen oder derartiges vorgehabt, so ist das eine glatte Lüge. Selbst nach ihren organisationsschädigenden Veröffentlichungen wie dem Gastbeitrag des Reaktionärs Bernhard Falk und dem Text „Die KO wurde gespalten“ wurden von Seiten des marxistischen Lagers keine entsprechenden Schritte eingeleitet, um den Fraktionierern den Zugang zur Website zu entziehen – dass dies nicht geschehen ist, beweisen die Fraktionierer selbst, da sie sonst nicht in der Lage gewesen wären, vorübergehend alle Texte von der Website zu löschen.

Zudem behaupten sie, die Website, den Organisationsnamen und die anderen Mittel nach einer möglichen Niederlage auf dem Kongress der Mehrheit übergeben zu wollen. Wenn dies tatsächlich ihre Intention wäre, würde sich die Einrichtung einer neuen Website jedoch nicht sinnvoll erklären lassen. Denn wenn am Ende doch nur eine Website der KO bestehen bleiben soll, gibt es keinen Grund, eine zweite einzurichten.

Dies lässt darauf schließen, dass sie bereits vor dem Kongress Fakten schaffen und sich die
widerrechtliche Übernahme des Organisationsnamens im Falle ihrer Niederlage offen halten wollen. Da wir den revisionistischen Führern keine politische Unerfahrenheit unterstellen können, müssen wir von der bewussten Schädigung unserer Strukturen ausgehen, die entweder bereitwillig in Kauf genommen wird oder gar aus den oben genannten Gründen Zielstellung ihres Handelns ist.

Es ist klar, dass die von den Revisionisten entfachte Schlammschlacht nicht nur unserer
Organisation, sondern auch der kommunistischen Sache in Deutschland Schaden zufügt und zur anhaltenden Krise der Bewegung beiträgt. Jede Form der Schadenfreude sollte sich daher auch für Marxisten, die in anderen Strukturen organisiert sind oder Differenzen mit der KO haben, verbieten.

Wir lassen nun die Veröffentlichung der revisionistischen Fraktion mitsamt den angehängten Anträgen auf der Website und stellen lediglich diese Richtigstellung dazu. Zum einen, da der Schaden bereits angerichtet ist und sich nicht mehr rückgängig machen lässt; zum anderen, damit es für Außenstehende nachvollziehbar wird, wer für welche Vorstellung von Klärung und Organisation steht und es den Fraktionierern erschwert wird, weitere Unwahrheiten zu verbreiten.

Stellungnahme der ehemaligen ZL-Minderheit

Wir veröffentlichen hier die Stellungnahme der fraktionierten ehemaligen ZL-Minderheit, die unsere alte Website gekapert hat und dort eigenmächtig veröffentlicht. Um die Auseinandersetzung sichtbar und transparent zu machen, veröffentlichen wir auf der offiziellen Website der KO alle Beiträge, die zur Debatte kommen.

Richtigstellung zur Veröffentlichung „Die KO wurde gespalten – Wer behält den Namen?“

21. Dezember 2022

Stellungnahme des marxistischen-leninistischen Teils der Führung der KO

Die schrittweise Zersetzung der revolutionären Linie

Die ideologische Krise der KO ist im letzten Jahr hinreichend sichtbar geworden, die politische Krise war spätestens auf dem Kommunismus-Kongress offensichtlich und wurde nun von einer Fraktion der Organisation, einem Teil der Leitung, unabgesprochen in einer Veröffentlichung nach außen getragen. Verschiedene Falschdarstellungen zur Entwicklung und der aktuellen Situation werden mit diesem Text nun richtiggestellt. In einem zweiten Schritt hat dieser Teil der Leitung auch die Website der KO vorübergehend sabotiert, indem sie alle Posts auf der Website gelöscht und die Einrichtung einer neuen Website bekanntgegeben hat. Inzwischen konnten wir allerdings den angerichteten Schaden beseitigen.

Das Wesen der Auseinandersetzung in der KO, welche sich jetzt zum offenen Fraktionskampf entwickelt hat, ist eine Auseinandersetzung zwischen Marxismus-Leninismus und Revisionismus, also dem Eindringen bürgerlicher Ideologie in die Weltanschauung des Proletariats mit der Wirkung, das Proletariat vom Kampf für die Revolution abzubringen. Die ideologische Auseinandersetzung innerhalb der KO wird auch in der internationalen kommunistischen Bewegung geführt. Die KO hatte sich innerhalb dieser Auseinandersetzung immer in dem Teil verortet, der die Bildung eines revolutionären Pols anstrebt und in dem Parteien wie die KKE, die TKP und die KP Mexikos (PCM) eine führende Rolle einnehmen. Das wird von einem Teil der Organisation nun offen angegriffen, der behauptet, es gäbe keinen revolutionären Pol und damit anstrebt, marxistisch-leninistische neben opportunistischen, sogar offen chauvinistischen Parteien gleichberechtigt nebeneinander zu stellen. Wir bekräftigen daher noch einmal, dass die KO nicht „neutral“ in dem Konflikt mit dem Revisionismus sein kann, sondern dass unser Klärungsprozess wieder das werden muss, was er ursprünglich und bis Anfang 2022 war, nämlich unsere Methode zur Verteidigung, Vertiefung und Weiterentwicklung der marxistischen Wissenschaft in der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus. Damit wollen wir nicht behaupten, dass jeder Einzelne, der sich der revisionistischen Fraktion zuordnet, die nachfolgend genannten revisionistischen Positionen bis ins letzte Detail vertritt. Das Problem liegt aber gerade darin, dass das revisionistische Lager von einer Gruppe von ehemaligen Genossen geführt wird, die eine sehr weitreichende Revision des Marxismus betreiben, während ein großer Teil der Organisation ihnen folgt, ohne zwangsläufig in jedem Punkt ihre Positionen zu teilen. Leider ist es den Revisionisten gelungen, mit ihrer verlogenen Demagogie, wonach das marxistische Lager „keine Klärung“ wolle, weil wir an unserer Kritik des Revisionismus festhalten, einen Teil der Organisation hinters Licht zu führen.

Bezüglich des Imperialismus-, des Staats-, des Faschismus- und des Strategieverständnisses haben die revisionistischen Führer in der KO wesentliche Inhalte infrage gestellt oder bereits gänzlich über Bord geworfen: Sie vertreten einen Begriff von Imperialismus, der die Leninsche Erkenntnis, dass der Imperialismus ökonomisch in der Durchsetzung monopolkapitalistischer Verhältnisse liegt, durch die starre Zweiteilung der Welt in eine kleine Handvoll „imperialistischer Staaten“ und eine große Zahl vermeintlich „unterdrückter Länder“ revidiert. Sie legen nahe, dass das imperialistische Weltsystem in Wirklichkeit unipolar und einseitig von den USA beherrscht werde, sodass sie zwischenimperialistische Konflikte zu Konflikten zwischen „dem Imperialismus“ und angeblich rein einseitig „abhängigen“ Staaten wie Russland, China und Iran umdeuten. So wurde beispielsweise die Position eingenommen, dass die Arbeiterklasse in Russland zunächst für eine Entwicklung der Produktivkräfte und letztendlich für eine höhere Stellung des russischen Staats in der imperialistischen Hierarchie kämpfen und im Iran die Seite der Regierung verteidigen müsse.

Sie revidieren die revolutionäre Strategie, deren Eckpfeiler wir in den Programmatischen Thesen festgehalten haben, indem sie den Sozialismus als unmittelbares Ziel des Klassenkampfes verwerfen und stattdessen in allen außer den führenden kapitalistischen Ländern die Arbeiterklasse einen Kampf für eine „national eigenständige Entwicklung des Kapitalismus“ führen wollen, stellenweise auch gemeinsam mit den „eigenen“ Kapitalisten . Die weitgehende Kritik, die wir während der letzten Jahren an der antimonopolistischen Strategie erarbeitet haben, wird im gleichen Zug verworfen, diese ist wieder zu einer „interessanten Option“ für die Arbeiterklasse der meisten Länder dieser Welt geworden. Die mühsam errungene Erkenntnis, dass in der heutigen Epoche des Imperialismus die Strategie der Arbeiterklasse weltweit einheitlich auf den Sozialismus als unmittelbares Ziel des Klassenkampfes ausgerichtet sein muss, wird auf diese Weise aufgegeben. Gestützt werden die Abweichungen beispielsweise dadurch, dass Monopole in „abhängige“ und „weltbeherrschende“ Monopole unterteilt werden oder dass eine Kompradorenbourgeoisie als relevante Kraft für die abhängigen Länder unterstellt wird – ohne die hinter diesen Begriffen und ihrer Verwendung stehende Analyse darzulegen.

Der Revisionismus in der Faschismusfrage zeigt sich darin, dass die Ukraine ohne politische und ökonomische Analyse als faschistisch eingestuft wird, der Krieg der russischen Armee wird als antifaschistisch verklärt – allein aus dem Grund, dass neben unzähligen Zivilisten und einfachen Soldaten auch ukrainische Faschisten sterben.

Der marxistische Staatsbegriff wird revidiert, mit der Spekulation ob Russland als „post-sozialistischer“ Staat ein anderes Wesen habe als andere bürgerliche Staaten. Aussagen, dass die Gesellschaftsformation Russlands – Kapitalismus oder Sozialismus – sich heute nicht genau bestimmen lassen, bleiben teilweise unwidersprochen. Die Revisionisten negieren unseren Begriff des Sozialismus, indem sie, zumindest in Teilen, die Frage aufwerfen, ob das heutige China nicht doch sozialistisch sei. Zusammengefasst versuchen sie auf nahezu allen Gebieten die Fortschritte, die in der kommunistischen Weltbewegung und auch in der KO in den letzten Jahren bei der Überwindung fehlerhafter revisionistischer Auffassungen gemacht wurden, rückgängig zu machen und in der Konsequenz zu den bankrotten Thesen der Klassenkollaboration, des „objektiven Antiimperialismus“ von Russland und China, der unwissenschaftlichen Beschränkung des Imperialismusbegriffs auf die USA und Westeuropa usw. usf. zurückzukehren. Über das volle Ausmaß, in dem die Revisionisten innerhalb der KO sich vom Marxismus entfernt haben, werden wir die Bewegung noch genauer und ausführlicher informieren, weil wir denken, dass sich wichtige Schlussfolgerungen über die zerstörerische Wirkung des Revisionismus daraus ziehen lassen.

Es steht außer Zweifel, dass die revisionistische Fraktion der KO den revolutionären Standpunkt mehr und mehr verlassen hat. Sie hat auch den internationalistischen Standpunkt verlassen und steht für eine Unterstützung der russischen Bourgeoisie im imperialistischen Krieg in der Ukraine ein. Die Interessen des russischen sowie des ukrainischen Volkes beschäftigen sie nur noch abstrakt, in Form einer angeblichen „Verbesserung der Kampfbedingungen“ der Arbeiterklasse, die sich nach einer siegreichen Beendigung dieses mörderischen Kriegs durch die russischen Bourgeoisie einstellen soll. Die Zerstörung der Ukraine, den gewaltsamen Tod Zehntausender Angehöriger des ukrainischen Volkes, die Stärkung von Nationalismus, die wachsende Weltkriegsgefahr infolge dieses Krieges lassen die Revisionisten dabei außer Acht, denn letztlich geht es ihnen nur um die Unterstützung des russischen Imperialismus, den sie an der Seite der russischen Arbeiterklasse wähnen. Damit schwächen sie gerade auch hierzulande
den Kampf gegen die deutschen und NATO-Kriegstreiber, denn dieser Kampf muss notwendig von einem internationalistischen Standpunkt geführt werden, der konsequent gegen die Aufhetzung der Arbeiter und Völker gegeneinander Stellung bezieht.

Eine zentrale Verdrehung der ehemaligen Genossen besteht darin, dass sie die Zersetzung und bevorstehende Spaltung unserer Seite anlasten. Wer die Veröffentlichungen der KO in den letzten Monaten verfolgt hat, mag sich zuweilen gewundert haben: Spiegeln die Stellungnahmen zu NATO- und G7-Gipfel oder zum Antikriegstag etwa die neue Orientierung der KO wider? Warum genau bleiben Aussagen in Podcasts unwidersprochen, die klar den weiterhin geltenden Programmatischen Thesen der KO widersprechen? Und wem wird da eigentlich alles die Diskussionstribüne geboten? Auch wir haben uns die Augen gerieben und intern die gebotene Kritik in schärfster Weise geübt – nicht zuletzt, weil die Veröffentlichungen programmatischen Grundlagen der Organisation entgegenstanden, mit der Linie zahlreicher Veröffentlichungen der letzten Jahre brachen und sich noch nicht einmal an die bei der vierten Vollversammlung beschlossene Aktionsorientierung hielten, in der es hieß: „Mit dem in unserer Organisation bestehenden Dissens zur Imperialismus- und Kriegsfrage gehen wir offen um und nutzen ihn, um offensiv die Notwendigkeit eines kommunistischen Klärungsprozesses in die Bewegung zu tragen. Individuelle Analyse und Position kennzeichnen wir gegenüber Dritten als solche.“ Wir mussten feststellen, dass die Mehrheit der Leitung dies wohl nicht mehr für notwendig hielt.

Eine weitere Falschdarstellung befindet sich in der Darstellung der Klärung. Die Stellungnahme behauptet, dass die revisionistische KO-Fraktion eine „wissenschaftliche“, „ergebnisoffene“, „bewegungsöffentliche“ und „ernsthafte“ Klärung wolle und unterstellt damit zugleich, dass die marxistischen Teile der KO dies nicht vorhätten – unser Klärungsvorhaben sei stattdessen nur eine ‚Klärung‘ durch Abspaltung. Diese Einordnung ist falsch. Wir wissen, dass es einer noch nicht abzusehenden Anstrengung bedarf, um eine kommunistische Partei wieder aufzubauen, und dass die Klärung zentraler Fragen und die scharfe Bloßstellung revisionistischer Entgleisungen dabei einen wichtigen Teil ausmacht. Klärung und Organisationsaufbau müssen allerdings notwendig auf einer programmatischen Grundlage stattfinden, wenn sie wirksam werden sollen. Weder unsere eigenen Genossen noch andere Teile der kommunistischen Bewegung sollten sich von der Charakterisierung Sand in die Augen streuen lassen. Da die Revisionisten nun unseren Antrag zur Klärung veröffentlicht haben, kann sich jeder selbst ein Bild davon machen, wie wir den Klärungsprozess auf dem Boden des Marxismus in den nächsten Jahren gestalten wollen.

Mit dem Verlassen unserer inhaltlichen Grundlagen geht die organisatorische Zersetzung einher

Es liegt in der Natur der Sache, dass der Ursprung einer Eskalation nicht unbedingt leicht zu lokalisieren ist. Wir werden hier auch keine weiteren Interna offenlegen, die die zerstörerische Tätigkeit der revisionistischen Fraktion in den letzten Monaten belegen würden. Auch für Außenstehende sollte jedoch nachvollziehbar sein, dass die Veröffentlichungspraxis der KO sich im vergangenen Jahr entgegen der öffentlich einsehbaren Aktionsorientierung deutlich verändert hat, indem offen revisionistische Standpunkte als Standpunkte der Gesamtorganisation veröffentlicht wurden. Der Ursprung der Spaltung, die die Revisionisten der Organisation nun aufzwingen, liegt aber nicht einmal in ihren zahllosen Verstößen gegen unser Organisationsprinzip, den Demokratischen Zentralismus. Der Ursprung liegt darin, dass führende Mitglieder der KO im Verlauf des letzten Jahres und teilweise schon davor grundlegende Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus revidiert haben, dass sie sich gegen unsere programmatische Grundlage gestellt haben und dass sie damit die Ziele des Klärungsprozesses, vor allem den Aufbau der kommunistischen Partei, aufgegeben haben.

Mit dem Begriff der Fraktion beschreiben wir eine Gruppe mit eigenständiger Diskussion und Disziplin, ob bewusst oder unbewusst, unabhängig von der Diskussion und Disziplin der gesamten Organisation. Auch die Mehrheit einer Führung kann zu einer solchen Fraktion werden, wenn sie ihre eigenen Zwecke durchsetzt. Die Tatsache, dass sie die Mehrheit der Führung stellen, ist umso schwerwiegender und kaschiert aber gleichzeitig den Inhalt ihrer Fraktionierung, weil fraktionelle Entscheidungen als Beschlüsse der Mehrheit der Führung deklariert werden. Wir beziehen uns dabei auf das kollektive und zielgerichtete Vorgehen eines Teils der Führung, im Laufe des letzten Jahres Schritt für Schritt unsere gemeinsamen Grundlagen aufzuweichen, einen Bruch mit den programmatischen Thesen über Positionierungen in den Stellungnahmen weiter durchzusetzen wie auch dem geschlossenen Parteiaufbau durch die Verweigerung einer Positionierung die inhaltliche Grundlage zu entziehen. Ihre klare Positionierung für den Krieg wird dabei verschleiert durch ständig wiederholte Beteuerungen, völlig offen klären zu wollen.

Die Stellungnahme der Fraktionierer behauptet weiter, dass die Kommunikationskanäle der KO sich in unserem „Besitz“ befänden. Dabei ist es offensichtlich so, dass in Wahrheit die Ex-Genossen der revisionistischen Fraktion diejenigen sind, die die Kommunikationskanäle missbrauchen, um mit organisationsschädigenden Veröffentlichungen den Kampf zu führen.
Wir sehen, dass die Revisionisten präventiv ihren Zugang zur Website genutzt haben, um der Öffentlichkeit ihr falsches Narrativ als erste präsentieren zu können und möglicherweise auch, um eine Politik der „verbrannten Erde“ gegenüber dem marxistischen Teil der Organisation zu betreiben.

Die unabgesprochene Veröffentlichung ihres Textes und vor allem der Anträge an den Kongress stellt eine massive und bewusste organisationsschädigende Maßnahme dar. Die KO wird der Öffentlichkeit und der Bewegung als chaotischer und zerstrittener Haufen und wie eine Politsekte präsentiert, die sich selbst nicht mehr ernst nimmt.

Interna über Strukturen der Organisation, über den Konflikt innerhalb der KO, den Umgang mit den Mitteln der Organisation und Falschinformationen über den Verlauf der ideologischen Auseinandersetzung wurden zudem der Bewegung, aber auch den Behörden offengelegt bzw. mitgeteilt. Auch die Einrichtung einer neuen Website ist ein solches organisationsschädigendes Verhalten, weil sich jetzt, bevor die KO eine Entscheidung über ihren Weg getroffen hat, Verwirrung über sie in der Bewegung breit machen wird. Die ehemaligen Genossen demontieren also das vorher klar erkenntliche Profil der KO weiter und es ist gut möglich, dass sie in den nächsten Wochen mit weiteren Texten auf ihrer neuen Website diese Demontage noch verstärken.

Sie versuchen diesen Schritt damit zu legitimieren, dass der Genosse, der die Website seit der letzten Vollversammlung verwaltet, nicht Teil ihrer Fraktion ist und somit nach ihrem Verständnis die Website „veruntreut“ hat, auch wenn der Genosse im Gegensatz zu ihnen kein einziges Mal die Website für die Zwecke seines politischen Lagers missbraucht hat. Wenn nun der Eindruck erweckt wird, als hätten wir die Website unter unsere alleinige Kontrolle übernommen oder derartiges vorgehabt, so ist das eine glatte Lüge. Selbst nach ihren organisationsschädigenden Veröffentlichungen wie dem Gastbeitrag des Reaktionärs Bernhard Falk und dem Text „Die KO wurde gespalten“ wurden von Seiten des marxistischen Lagers keine entsprechenden Schritte eingeleitet, um den Fraktionierern den Zugang zur Website zu entziehen – dass dies nicht geschehen ist, beweisen die Fraktionierer selbst, da sie sonst nicht in der Lage gewesen wären, vorübergehend alle Texte von der Website zu löschen.

Zudem behaupten sie, die Website, den Organisationsnamen und die anderen Mittel nach einer möglichen Niederlage auf dem Kongress der Mehrheit übergeben zu wollen. Wenn dies tatsächlich ihre Intention wäre, würde sich die Einrichtung einer neuen Website jedoch nicht sinnvoll erklären lassen. Denn wenn am Ende doch nur eine Website der KO bestehen bleiben soll, gibt es keinen Grund, eine zweite einzurichten.

Dies lässt darauf schließen, dass sie bereits vor dem Kongress Fakten schaffen und sich die
widerrechtliche Übernahme des Organisationsnamens im Falle ihrer Niederlage offen halten wollen. Da wir den revisionistischen Führern keine politische Unerfahrenheit unterstellen können, müssen wir von der bewussten Schädigung unserer Strukturen ausgehen, die entweder bereitwillig in Kauf genommen wird oder gar aus den oben genannten Gründen Zielstellung ihres Handelns ist.

Es ist klar, dass die von den Revisionisten entfachte Schlammschlacht nicht nur unserer
Organisation, sondern auch der kommunistischen Sache in Deutschland Schaden zufügt und zur anhaltenden Krise der Bewegung beiträgt. Jede Form der Schadenfreude sollte sich daher auch für Marxisten, die in anderen Strukturen organisiert sind oder Differenzen mit der KO haben, verbieten.

Wir lassen nun die Veröffentlichung der revisionistischen Fraktion mitsamt den angehängten Anträgen auf der Website und stellen lediglich diese Richtigstellung dazu. Zum einen, da der Schaden bereits angerichtet ist und sich nicht mehr rückgängig machen lässt; zum anderen, damit es für Außenstehende nachvollziehbar wird, wer für welche Vorstellung von Klärung und Organisation steht und es den Fraktionierern erschwert wird, weitere Unwahrheiten zu verbreiten.

Eröffnung der Diskussionstribüne zum außerordentlichen Kongress

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Wir eröffnen hier eine Diskussionstribüne im Vorfeld des außerordentlichen Kongresses der KO, der Anfang Januar 2023 stattfinden wird. 

Die Diskussionstribüne beginnt mit diesem Beitrag. Die interne Debatte begann bereits vorher. Wir werden einzelne Beiträge dieser internen Debatte ebenfalls veröffentlichen.

Wir glauben, dass die Fragen, mit denen wir uns befassen (müssen) auch Fragen der Kommunistischen Bewegung sind und wichtige Punkte – sowohl aktuelle als auch grundsätzliche – berühren. 

Es steht eine Entscheidung über den Charakter der KO, ihre Zielsetzung und ihr Verhältnis zur Bewegung an. Dazu interessiert uns auch die Einschätzung von Anderen. 

Wir freuen uns über Zusendungen von Beiträgen. Bitte schickt diese als word-Datei an info@kommunistische-organisation.de 

Die Beiträge können sich auf einzelne, aber auch auf alle oder andere Punkte beziehen. Die folgenden Themen stehen im Moment zur Debatte: 

Demokratischer Zentralismus, Rolle der Prinzipien und Regeln 

Aufgrund der Zersetzung der Organisation stehen Fragen des Demokratischen Zentralismus zur Debatte. Was bedeutet er für unsere Organisation aber auch darüber hinaus? Was bedeutet seine Verletzung, warum ist es nicht „nur“ ein Dokument oder eine sekundäre politische Frage? Kann, darf oder sogar soll man sich über Regeln hinwegsetzen, wenn es die revolutionäre Sache rechtfertigt? 

Klärung und Wissenschaft 

Ein Punkt der Auseinandersetzung ist die Klärung und die Frage wissenschaftlicher Methoden, die Rolle der Klassiker und was wir unter Revisionismus verstehen. Hier geht es auch um den Klärungsprozess, den die KO anstrebt und sein Verhältnis zur Bewegung. 

Politische Situation, Imperialismus und Krieg 

Der Krieg in der Ukraine und die imperialistische Weltordnung stehen zur Debatte und wie man sich positionieren muss – gegen wen der Kampf zu richten ist. Das ist nicht nur der Hintergrund der Spaltung der KO und anderer Teile der Kommunistischen Bewegung. Da es uns um das Eingreifen in die politische Auseinandersetzung, in den Klassenkampf geht, ist diese Frage zentral. Das ist bereits Thema der Diskussionstribüne zur Imperialismusfrage. Die Beiträge können sich aber auch gerne auf den Leitantrag und die Gegenanträge zum außerordentlichen Kongress beziehen. 

Die KO hat eine neue offizielle Website

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Zuletzt haben wir an dieser Stelle darüber informiert, dass die KO durch eine Fraktionierung gespalten wurde. Auf einem außerordentlichen Kongress im Januar wird entschieden, wer weiterhin unter dem Logo der KO weiter arbeiten wird.

Nun hat die Gruppe, die sich als Fraktion in der KO herausgebildet hat und damit die Spaltung bereits vollzogen hat, die Kontrolle über die alte Website übernommen. Wir reagieren darauf als gewähltes und damit bis zum Kongress mit der Leitung der KO beauftragtes Gremium, indem wir einen Umzug der Website und die Erstellung eines neuen Telegramkanals vorgenommen haben.

Beides steht damit wieder unter Kontrolle der legitimierten Strukturen, sodass gesichert ist, dass die Veröffentlichungsorgane nach dem Kongress der Mehrheit der KO zur Verfügung stehen und unter ihrer Kontrolle sind, unabhängig davon, wofür sich die KO Mehrheitlich entscheiden wird.

Folgt uns auch auf unserem Telegram-Kanal.

Zur dialektischen Analyse des Imperialismus

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Warum so viele ehrliche Kommunist*innen kluge Analysen schreiben und sich trotzdem uneinig sind

Von Martin Hilbig

Hier als PDF

0. Einleitung

Wenn es wahr ist, dass alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, dann ist alle Geschichte der Klassenkämpfenden eine der Frage von Klarheit und Einheit. Zu behaupten, die Frage sei so alt wie die Arbeiter*innenbewegung selbst, wäre untertrieben. Sie stellte sich bereits den Gefolgsleuten Thomas Müntzers und Florian Geyers, den urchristlichen Gemeinden und den römischen Plebejern. Klarheit vor Einheit rufen die einen, schließlich könne eine Bewegung nicht der Beliebigkeit anheim fallen. Einheit vor Klarheit rufen die anderen, um mit der elenden Sektiererei Schluss zu machen.

Die vergleichsweise junge Kommunistische Organisation spann den Faden der Geschichte hier weiter mit dem Ansatz: Einheit durch Klarheit. Die Ratio dahinter ist einfach wie schlagend. Wenn Wahrheit wissenschaftlich erkennbar ist und der historische und dialektische Materialismus als Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus von allen Kommunist*innen anerkennt wird, müsste ein Klärungsprozess möglich sein, an dessen Ende eine mit Wahrheitsanspruch versehene politische Analyse steht. Hinter dieser müsste sich die kommunistische Weltbewegung so zwangsläufig versammeln, wie die Astronomen hinter dem heliozentrischen Weltbild.

Ganz augenscheinlich verhält es sich aber nicht so. Allein die Frage des imperialistischen Charakters Russlands hat die Organisation mehr gespalten als geeint. Zwei Theorien stehen sich diametral gegenüber und versuchen jeweils, die andere zu Boden zu werfen. Die Spaltungslinien lassen sich in der kommunistischen Weltbewegung gleichermaßen feststellen.1 Was ist schief gelaufen?

Meine Behauptung nun soll nicht sein, dass Wahrheit prinzipiell nicht erkennbar wäre, dass eine Gesellschaft zu komplex sei, um relative oder absolute Wahrheiten über sie abzuleiten oder sie sich dem freien Willen der Menschen beugen müsse. Ich versuche die Behauptung nachzuweisen: „Das Wahre ist das Ganze.“2 Meine These ist, dass sich die KO keine Rechenschaft über die Form des Ergebnisses des Klärungsprozesses abgelegt hat und daher mit einer falschen Erwartungshaltung an diesen herangegangen ist. Die falsche Erwartung besteht darin, allein durch die wissenschaftliche Analyse eine allgemeingültige Handlunsganweisung erarbeiten zu können, anhand derer sich Revolutionär*innen von Opportunist*innen scheiden ließen.

1. Urteile über Russland

Die Theorien, die sich gegenüberstehen sind die Pyramiden-Theorie und die Block-Theorie3. Die Pyramiden-Theorie besagt, dass der Imperialismus kein Adjektiv ist, das man vor eine Nation setzen könne, sondern eine Phase des Kapitalismus, in der die einzelnen Länder auf Grundlage der gleichen Handlungsprämissen ihre unterschiedliche ökonomische, politische und militärische Macht nur unterschiedlich ausspielen könnten. Die Block-Theorie hingegen sagt, dass der Imperialismus immer Subjekt und Objekt habe, dass es also immer ein imperialistisches Land gäbe, das in der Lage ist, einem anderen seinen Willen aufzwingen zu können und zwangsläufig auch nicht- oder anti-imperialistische Nationen. Wer die entsprechenden Diskussionstexte gelesen, die Podcasts gehört oder dem Kommunismus-Kongress beigewohnt hat, hat sicher festgestellt, dass das Niveau von allen Seiten recht hoch war. Beide Theorien fußen auch auf sehr genauer Beobachtung der politischen Wirklichkeit:

(i) Russland ist ein entwickeltes kapitalistisches Land.4

(ii) Die russische Bourgeoisie ist keine Kompradorenbourgeoisie.5

(iii) Russland kämpft um außenpolitische Einflusssphären.6

(iv) Russland ein einen schlagkräfitgen Militärapparat.7

(v) Nur die USA kann aktuell anderen Ländern ihren Willen diktieren.8

(vi) Russland ist nicht in der Lage, seine eigenen Interessen als weltweit gültige Normen durchzusetzen.9

(vii) Die Politik Putins hat der russischen Arbeiter*innenklasse Verbesserungen gebracht.10

(viii) Russland zahlt imperialistische Extraprofite in die kapitalistischen Zentren.11

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Alle diese Urteile wurden in den jeweilen Beiträgen belegt und in sinnstiftende Kontexte eingebettet. Sie stehen teilweise neben falschen Aussagen oder es werden falsche bis unvollständige Schlussfolgerungen gezogen, aber mir kommt es bei dieser Sammlung auf zwei Aspekte an: Ich behaupte, dass alle Aussagen wahr sind und die jeweilige Herleitung der Theorien aus den sie stützenden Beobachtungen konsistent ist. Es sind weder die Beobachtungen oder die Theorien, die falsch sind, sondern die Erwartung, eine von beiden müsse falsch sein.

2. Die Grundlagen der Dialektik

Das bürgerliche Denken, das in der formalen Logik wurzelt, sagt uns, dass beide Positionen unvereinbar sind. Imperialismus kann nicht gleichzeitig eine alle kapitalistische Länder gleichermaßen betreffende historische Phase und gleichzeitig Attribut einzelner Länder sein. Russland kann nicht gleichzeitig imperialistisch und nicht-imperialistisch sein. Es gelten die Sätze der Identität (A ist gleich A.), der Widerspruchsfreiheit (A kann nicht wahr und unwahr sein.) und das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten (A muss wahr oder falsch sein.).12

Im Regelwerk der formalen Logik kann das Urteil, ob Russland entweder imperialistisch oder nicht-imperialistisch ist, nur mit Hilfe einer von zwei Beweisführungswegen gefällt werden. Entweder wird der Wahrheitsgehalt aller hinreichenden Sätze oder eines notwendigen Satzes einer Position attackiert, was in der Imperialismus-Diskussion noch nicht umfassend gelungen ist. Oder es wird eine Kategorisierung der Sätze in allgemeine Eigenschaften und spezifische vorgenommen. Auf theoretischer Ebene ergibt sich hier das Problem, dass es keine Eigenschaft der Eigenschaften selbst ist, allgemein oder spezifisch zu sein. Man benötigt also a priori einen Beurteilungsmaßstab, der sich eigentlich erst aus der Analyse ergeben sollte. Das ist das Einfallstor für bürgerlichen Idealismus, bei dem sich die Wirklichkeit nur so darstellen kann, wie es das vorher festgelegte Analyseprinzip zulässt. Auf praktischer Ebene ist das Problem, dass die Arbeiter*innen meist unter den spezifischen Bedingungen des Kapitalismus leiden. Diese zu Gunsten einer höheren Allgemeinheit in den Hintergrund zu rücken, schwächt die Verbindung der Avantgarde zum revolutionären Subjekt.

Deswegen beschreiten Marxist*innen seit 200 Jahren den Weg der Dialektik, genauer des dialektischen Materialismus. Die formale Logik ist ja korrekt, wenn sie auf ihren Gegenstandsbereich angewendet wird. Sie beschreibt die Wirklichkeit richtig, aber nicht vollständig. Ihr fehlt die Dimension der Zeit.13 14 Dialektik gilt daher nicht zu Unrecht als die Wissenschaft der Bewegung. Bewegung bedeutet, dass eine Größe A zu einem Zeitpunkt t2 einen anderen Wert besitzt als noch zu Zeitpunkt t1.15

Die Dialektik findet hierfür ihren eigenen Formalismus für die Integration der Zeit. A kann nicht allein Seiendes sein, da dies jegliche Beziehung zur Umwelt ausschließt. A muss auch immer etwas Gewordenes oder Realisiertes und Werdendes, das heißt Potentielles sein. A besitzt also eine widersprüchliche Doppelgestalt. Guglielmo Carchedi hat dazu die Notation verwendet: A = {Ar, Ap}. A ist die Einheit von realisiertem Ar und potentiellem Ap.16 Die formale Logik beschreibt nur Ar. Es ist jedoch augenscheinlich, dass das Gewordene und das Werdende unterschiedlich sind. A als Totalität ist Einheit dieser Gegensätze.17 Das realisierte A ist die Erscheinung, das Wesen von liegt jedoch in seinem Potential, wenn es nicht totes Geronnenes sein soll.18 19 Beide trennt die wissenschaftliche Analyse. Auf diesen Sätzen baut die dialektische Logik auf, aus denen sich die dialektische Methodik entwickelt.

Und so hört die theoretische Arbeit von Marxist*innen hier natürlich nicht auf.20 Sie fängt erst an. Nur weil ein Phänomen A ein potentientielles Ap besitzt, wissen wir über letzteres noch garnichts. Wir müssen die Bewegungsgesetze ermitteln, welche A={Ar,Ap} in B={Br=Ap,Bp} überführen21. Für die klassische Mechanik sind dies die Newtonschen Gesetze und die daraus ableitbaren Bewegungsgleichungen. Für das Kapital sind es die Gesetze, die Marx im Kapital festgehalten hat. Es gilt, durch genaue theoretische Arbeit und präzise Argumentation die Widersprüche und Selbstbewegung der konkreten Materie und Begriffe22 konsistent zu fassen. Dialektik ist keine Abkürzung bei der wissenschaftlichen Arbeit, sie ist ihre Vervollständigung.

3. Dialektik und Imperialismus

Es ist also zwingend erforderlich, den Imperialismus als Prozess zu analysieren. Definitionen alleine genügen nicht, denn sie gehören allein dem Reich des Gewordenen an. Wie vollständige Wissenschaft ein Prozess ist, so ist dies auch der Imperialismus, sowie die Wissenschaft von ihm und wir dürfen nicht nur beim realisierten Phänomen verharren, sondern müssen den Bewegungsgesetzen dieses Prozesses nachgehen.23

Als realisiertes Phänomen ist der Imperialismus zunächst einmal eine Folge des Kolonialismus und trägt dessen Muttermale. Der im Imperialismus realisierte Kolonialismus ist nicht allein durch die kapitalistischen Entwicklungsgesetze geprägt, sondern auch durch die Gesetze der vorangegangenen Klassengesellschaften, die urspüngliche Akkumulation und durch die Zufälligkeiten des konkreten historischen Prozesses. Als Einheit von realisiertem Kolonialismus und den potentiellem Imperialismus geht der Prozess nicht im Kolonialismus auf. Um auf den potentiellen Imperialismus zu schließen, müssen wir dessen Bewegungsgesetze kennen. Diese entsprechen den allgemeinen Bewegungsgesetzen des Kapitals, erweitert auf den Weltmaßstab und unter Berücksichtigung der Nationalstaaten als Fraktionierungskerne von nationalen Klassen. Mit Hilfe dieser lässt sich der Gesamtprozess folgendermaßen verstehen:

Auf Grund der Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse, die mehr Wert produziert, als sie selbst zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft benötigt, gerät die kapitalistische Gesellschaft ab dem Stadium der erweiterten Reproduktion in eine beständige Überakkumulationskrise, für die die Bourgeoisie keine Lösung, aber immerhin zeitweilige Bewältigungsstrategien besitzt. Im Wesentlichen sind dies drei: Die erste ist die Kommodifizierung aller Weltregionen und aller Bereiche des sozialen Lebens.24 Allerdings sind dieser Fortsetzung der ursprünglichen Akkumulation natürliche Grenzen gesetzt. Die zweite Strategie ist die zeitliche Verlagerung des Nachfragedefizits.25 Durch Kredite wird akkumuliertes Kapital realisert und das kurzfristige Nachfragedefizit ausgeglichen. Allerdings fehlt das Geld zur Akkumulation in der Zukunft. Und so bleibt der Bourgeosie nur eine dritte Bewältigungsstrategie, wenn sie nicht die bittere Pille der Krise schlucken möchte: der Kapitalexport. Überschüssiges Kapital wird im Ausland investiert, während die Profite wieder zurück in die Heimatländer fließen. Auch dieser Strategie sind Grenzen gesetzt. Denn die Überakkumulation tritt in allen kapitalistischen Ländern auf, die in das Stadium der erweiterten Reproduktion eingetreten sind. Die Bourgeoisien aller entwickelten Nationen möchten ihr Kapital exportieren. Der Kapitalexport ist jedoch ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, verliert der andere. Es beginnt der Kampf um Einflusssphären und die Erzwingung bzw. Verhinderung freier Märkte.26 27

Die Gesetze gelten allgemein, die Agenten sind jedoch spezifisch. Jeder kapitalexportierenden Nation steht eine kapitalimportierende Nation gegenüber.28 Den Krisenbewältigungsmechanismus der kapitalexportierenden nationalen Bourgeoisie kann die kapitalimportierende Bourgeoisie nicht mehr anwenden. Es gibt einen direkten Interessengegensatz zwischen den nationalen Bourgeoisien. Die weniger entwickelte und das heißt, unproduktivere Bourgeosie wird in diesem Interessengegensatz versuchen, ihren Markt zu schließen. Die entwickeltere und produktivere Bourgeoisie wird versuchen, den Weltmarkt zu öffnen. Der ökonomische Kampf wird zum politischen Kampf, dessen verlängerter Arm der Krieg ist. Zwei prinzipielle Ausgänge sind denkbar: Entweder kann die unproduktivere Nation die Marktöffnung verhindern, dann bleibt die nationale Bourgeoisie allein herrschende Klasse. Kann jedoch die Marktöffnung erzwungen werden, steht sie der kapitalerxportierenden Bourgeosie gegenüber, die über mehr Handlungsmöglichkeiten als die nationale Bourgeoisie verfügt:

i) Waren, die durch produktivere Produktionsweisen hergestellt wurden, enthalten weniger gesellschaftlich durchschnittliche Arbeit als die einheimischen Waren, ihr Wert ist dadurch geringer und sie können zu geringeren Preisen angeboten werden. Die kapitalimportierende Bourgeoisie ist nicht mehr konkurrenzfähig.

ii) Möchte die kapitalimportierende Bourgeoisie konkurrenzfähig bleiben, so muss sie ihre Waren unter dem lokalen Wert anbieten. Kapitalexportierende Bourgeoisien können Waren also unter ihrem Wert im Heimatland importieren. Wert wandert direkt von der kapitalimportierenden zur kapitalexportierenden Nation. Dies wird in der Literatur häufig als imperialistischer Extraprofit bezeichnet. Das Proletariat des kapitalimportierenden Landes arbeitet damit einen Teil des Arbeitstages für die eigene Bourgeoisie und einen Teil des Tages für die Extraprofite der kapitalexportierenden Bourgeosie! Sie wird doppelt oder surplus-ausgebeutet.29

iii) Möchte die kapitalimportierende Bourgeoisie ihre Produktivität steigern, ist dies in der Regel nur durch den Import von Produktionsmitteln aus der kapitalexportierenden Region möglich. Diese besitzt daher ein Monopol auf die fortgeschrittene Technik, die sie als imperialistische Monopolrente, als Preisaufschlag durch das Fehlen an Alternativen, auf ihre Waren zusätzlich geltend macht … wenn sie überhaupt den Export der Produktionsmittel zulässt.

iv) Das grenzenlose Bedürfnis des Kapitals, zu akkumulieren, führt aber auch die kaptialexportierende Bewältigungsstrategie an ihre Grenzen und die Widersprüche müssen sich zwangsläufig krisenhaft entladen. Durch die Verflechtung mit dem kapitalexportierenden Land wird die Krise dann auch in das kapitalimportierende Land exportiert. Meist geschieht dies mit zeitlicher Verzögerung, da das kapitalexportierende Kapital nach der erfolgreichen Zerrstörung eines Großteils des akkumulierten Kapitals auf dem einheimischen Markt wieder neue Investitionsmöglichkeiten vorfindet und einst exportiertes Kapital abzieht. Die politische Hoheit liegt so nicht bei der nationalen Bourgeoisie des kapitalimportierenden Landes, sondern die Krisenzyklen der kapitalexportierenden Nation bestimmen die Verwertungsbedingungen. Dies macht dauerhafte politische Strategie zur Überwindung der Abhängigkeit, also sogar ein Bündnis von Arbeiter*innen und nationaler Bourgeoisie, unmöglich.

v) Kann ein kapitalexportierendes Land Auslandsinvestitionen in der eigenen Währung tätigen, ergibt sich eine privilegierte Stellung.30 Ein Krisenbewältigungsmechanismus aller nationalen Bourgeosien ist die Abwertung der eigenen Währung, um zwischenzeitlich mehr Waren exportieren zu können und das alte Akkumulationsregime auf höherer Stufenleiter wiederherzustellen. Wichtig ist hierbei die Frage, ob die bisherigen Auslandsschulden in der eigenen oder der Fremdwährung aufgenommen wurden. Konnte man sie in der eigenen Währung aufnehmen, dann sinken mit dem Wert der Währung auch die Auslandsschulden. Um hier einen Korrekturmechanismus zur Hand zu haben, muss die kapitalimportierende Nation einen Teil des Volksvermögens als Devisenreserve zurückhalten und kann sie nicht produktiv investieren31. Zudem gibt es folgenden Effekt: Erfolgen Investitionen in der Währung des kapitalexportierenden Landes, während die Löhne der Arbeiter*innen in der Währung des kapitalimportierenden Landes gezahlt werden, so bedeutet eine Abwertung der Währung zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit eine Verbilligung der Arbeitskraft aus Sicht des ersten Landes.

vi) Die Marktöffnung zeigt also ganz unterschiedliche Resultate für die kapitalexportierende und die kapitalimportierende Nation. Welche Gründe gibt es für zweitere eigentlich, überhaupt seine Märkte zu öffnen? Erstens kann dies im Monopol auf hochentwickelte Waren und Produktionsmittel, welche die kapitalimportierende Bourgeoisie unbedingt benötigt, begründet sein. Zweitens kann die kapitalexportierende Nation militärischen Schutz und Beistand anbieten. Und drittens kann die kapitalexportierende Nation den Liberalismus als universellen oder kulturellen Wert verkaufen, der beide Nationen verbinde. Von historischem Mystizismus bis hin zur Kontrolle entscheidender Komponenten des Medien- und Konsumbetriebs kann die kapitalexportierende Nation versuchen, die Werte, die ihren Interessen entsprechen, für das Zielland zu verallgemeinern.

vii) Ein Teil der Extraprofite wird von der kapitalexportierenden Nation dazu verwendet, einen militärischen Apparat zu finanzieren, der die Öffnung der Märkte entweder gewaltsam oder gegen Schutzversprechen erzwingen kann. Kapitalexportierende Nationen werden also militärische Mächte, die den Krieg in sich tragen, wie die Wolke den Regen.

Der Imperialismus als Prozess realisiert sich also in einem neuen Zustand, in dem es durchaus Subjekte und Objekte gibt, die unterschiedliche Handlungsoptionen besitzen. Wir sehen auch, dass sich die Ausprägungen des Imperialismus gegenseitig bedingen und akkumulieren und dass, je größer der Vorteil des einen Landes ist, desto größer der Nachteil des anderen wird. Es ergibt sich aus dem realisierten Phänomen des Imperialismus, dass eine Schwächung der imperialistischen Mächte durchaus eine Verminderung der Surplusausbeutung des Proletariats des kapitalimportierenden Landes bedeuten kann.

Eine solche Herleitung des Imperialismus aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation leitet alle relevanten Phänomene aus dem weltweiten Kapitalismus ab, ohne qualitative Unterschiede zu verwischen.32 Sie erklärt, warum sowohl die Pyramiden- als auch die Block-Theorie gültige empirische Argumente für sich geltend machen können. Wichtig ist aber, dass der Imperialismus als soziales Phänomen Einheit von potentiellem und realisertem Imperialismus ist. Auf der Seite des Potentials hat die Pyramidentheorie vollkommen Recht damit, dass nicht alle Tendenzen gleichzeitig und in Beziehung zu allen anderen Ländern auftreten müssen. Ein Land A, dass Land B Schulden in der eigenen Währung aufdrängen kann, kann schon wieder gegenüber Land C eine geringere Produktivität besitzen und an dieses Extraprofite zahlen müssen. Auf der Seite der Realisierung stellen wir wiederum eine erstaunliche Stabilität des Weltsystems fest. Ein Land, welches einmal Produktionsmittel monopolisieren konnte, wird diese nicht hergeben, damit andere aufholen können. Es wird nach Möglichkeit die eigenen Waren verkaufen, um mit den Extraprofiten die ideologische und militärische Überlegenheit zu sichern. Die Monopolisierungsprozesse, die Marxist*innen-Leninist*innen auf nationaler Ebene herausgearbeitet haben, finden auch auf internationaler Ebene statt. Das, was die eine Theorieschule als imperialistischen und antiimperialistischen Block oder zum Beispiel die Weltsystemtheorie als Zentren, Semiperipherie und Peripherie benennt, ist der realisierte Imperialismus.

Wichtig in der dialektischen Analyse ist, dass weder potentielles und realisiertes Phänomen einen Vorrang genießen. Keines von beiden ist das Eigentliche, keines von beidem genießt als Allgemeines Vorrang vor dem Besonderen, sondern beide entfalten sich nur zusammen als Prozess33. Wer den wahren Marxismus sucht, wird nicht bei einer der beiden Seiten fündig, er wird nur in der gemeinsamen Analyse des realisierten und des potentiellen Imperialismus fündig.

4. Imperialismus und Klassenfrage

Häufiger wurde eingewandt, dass beispielsweise die „Sicherheitsinteressen Russlands“ oder die Frage der „multipolaren Welt“ für Marxist*innen nicht von Belang wären. Es gilt jedoch: Jeder politische Kampf ist ein realisierter und potentieller Klassenkampf.34 Nehmen wir das Diktum Lenins ernst, dann ist die Frage, ob die Sicherheitsinteressen Russlands respektiert werden müssen oder ob die Weltordnung multi- statt unipolar ist, immer auch eine Klassenfrage. Abseits der bürgerlichen Analyse, die nur auf der Oberfläche der politischen Erscheinungen verbleibt, ist es die Aufgabe der Marxist*innen, den Klasseninhalt der politischen Kämpfe offen zu legen. Und der Klasseninhalt des Imperialismus kann sich nur auf das internationale Proletariat beziehen. Der Imperialismus als prozessierender Widerspruch führt hier zu zwei entgegengesetzten Tendenzen:

(i) Der Imperialismus beutet durch Monopolrenten, Extraprofite und Währungsdominanz die Peripherie übermäßig aus. Dadurch entsteht ein Gefälle in den Lebenslagen der jeweiligen nationalen Arbeiter*innenklassen, das es unmöglich macht, ein gemeinsames Klassenbewusstsein auszubilden und ein verbindendes internationalistisches Programm aufzustellen. Samir Amin35 und Zak Cope36 als bekannte Theoretiker dieser Tendenz haben beide argumentiert, dass aus globaler Sicht eine Arbeiter*innenaristokratie in den kapitalistischen Zentren entstanden sei, die beim Kampf um das globale Mehrprodukt eine privilegierte Haltung einnehmen kann und in Zusammenarbeit mit der eigenen nationalen Bourgeosie tatsächlich einen höheren Teil des Mehrprodukts erhält als durch internationalen Klassenkampf. Rassismus und Nationalismus seien demnach rationale Bewusstseinsformen des zentralen Proletariats. Die Herausbildung eines internationalen Proletariats als Klasse für sich ist in der Folge an die Bedingung einer Angleichung der Ausbeutungs- und Reproduktionsbedingungen gebunden, die durch eine Schwächung der kapitalistischen Zentren bewirkt werden kann.

(ii) Der Imperialismus dehnt den Kapitalismus über den gesamten Globus aus und reißt alle Hürden für den Weltmarkt ein. Er proletarisiert noch den letzten Kleinbauern und subsumiere formell oder informell die gesamte Menschheit unter das Kapital. Traditionelle, vormoderne Herrschafts-, Klassen- und Familienstrukturen bieten keinen Fluchtpunkt mehr und lassen dem globalen Proletariat keine andere Möglichkeit als die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft als Ganzes. Diese Grundtendenz wurde beispielsweise von David Harvey37 in den Mittelpunkt gestellt, aber auch „kritische“ Theoretiker*innen38 zielen in diese Richtung

In der Geschichte des Kapitalismus haben sich Phasen, in der die Uniformierung oder die Stratifizierung der internationalen Arbeiter*innenklasse dominant waren, abgewechselt, aber in der Regel wirken beide Tendenzen gleichzeitig und regional verschieden. Keine der beiden Tendenzen erzeugt das objektive Klassenbewusstsein automatisch. Es ist und bleibt die kommunistische Partei, welche die Herausbildung eines revolutionären Klassenbewusstseins organisiert. Aber je nachdem, welche Tendenz regional vorherrschend ist, gibt es unterschiedliche mögliche taktische Positionen. Herrscht dominant die Tendenz (i) vor, so kann es ratsam sein, zunächst auf die Einebnung der materiellen Unterschiede innerhalb der internationalistischen Arbeiter*innenklasse hinzuarbeiten, indem die kommunistischen Parteien kapitalimportierender Länder zeitweilige, vielleicht projektgebundene Bündnisse mit der nationalen Bourgeoisie eingehen, während die KPs der kapitalexportierenden Parteien dies für die einheimische Arbeiter*innenklasse übersetzen. Herrscht Tendenz (ii) vor, so kann der Kampf gegen die jeweilige nationale Bourgeoisie sowohl in kapitalexportierenden, wie in importierenden Ländern forciert werden. Da sich die Tendenzen oft überlagern, vielleicht auch garnicht eindeutig zu erkennen sind, kann es Mischformen und auch Fehleinschätzungen der jeweiligen Taktik geben. Nicht alle kommunistischen Parteien müssen daher weltweit die gleiche Position haben. Eine Koordination wäre allerdings zur Erfüllung des internationalistischen Anspruch anzuraten.

5. Organisation, Strategie, Taktik

In der Notation Carchedis ließe sich schreiben: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus ist I = {Ir, Ip} = {IStadium, IEigenschaft} = {IPyramide, IBlock}. Der Imperialismus ist Einheit von allgemeingültigem Stadium und spezifischer Eigenschaft; von nur quantitativen Unterschieden in der Möglichkeit, Kapital zu akkumulieren, die zu ideologisch und ökonomisch qualitativ trennbaren Blöcken führen.

Hier endet der wissenschaftliche Prozess. Man kann die theoretische Analyse zum Potential verfeinern oder die empirische Forschung zum realisierten Imperialismus bis ins letzte Detail fortsetzen. Aber die Wissenschaft endet mit der vollständigen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, die alle Aspekte der dialektischen Entwicklungen der bürgerlichen Klassengesellschaft umfasst. Marxist*innen können hier Schluss machen. Sie können diese Einheit von Einheit und Differenz im Ergebnis stehen lassen. Kommunist*innen als praktizierende Marxist*innen hingegen stehen im konkreten politischen und ökonomischen Kampf. Sie stehen im Kontakt zum Proletariat mit all seinen konkreten richtigen und falschen Bewusstseinsformen, mit ihren Kampf- und Friedensmitteln und ihren ganz konkreten Organisationsformen. Kommunist*innen müssen Position beziehen und sie müssen dies in dem Bewusstsein tun, dass sie die Realität nicht vollständig abbilden können.

Diese Entscheidungen sind nicht willkürlich und erst recht nicht unwichtig. Im Gegenteil: sie sind das Kerngeschäft der kommunistischen Partei als organisiertem revolutionärem Willen. Sie sind aber dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess nachgelagert. Kommunist*innen müssen sich programmatisch zur inneren Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Wirklichkeit bekennen, um dann taktisch und strategisch begründete Entscheidungen innerhalb dieser Widersprüchlichkeit zu fällen. Diese Entscheidungen hängen jedoch von Faktoren ab, die nicht mehr wissenschaftlich bearbeitbar sind: von dem konkreten Komplexitätsproblem, von den Zufälligkeiten der historischen Möglichkeiten, von den Chancen, die einem der Klassenfeind einräumt, von charismatischen Figuren, von beschränkter Informationslage, von der Beschränktheit der organisatorischen Möglichkeiten und letztendlich von Zeitnot. Kurzum: von all den Randbedingungen, die man als subjektiven Faktor zusammenfassen könnte. Wo eine wissenschaftliche Lösung nicht möglich ist, muss eine politische gewählt werden und diese Bestimmung wiederum ist eine Folgerung des wissenschaftlichen Sozialismus. Kommunistische Organisationen haben sich in der Regel hierzu das Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus gegeben, der die wissenschaftliche Analyse zwar zur Grundlage der Meinungsbildung macht, aber eben nicht vollständig in ihr aufgeht und daher Abstimmungen und Fraktionsbildungen zulassen muss. Kommunist*innen haben einen gewissen Freiheitsgrad in der Positionierung zwischen Block- und Pyramidentheorie; während wissenschaftliche Sozialist*innen keinen Freiheitgrad in der Erkenntnis haben, dass beide Konzepte gemeinsam Elemente der dialektischen Realität sind. Einheit durch Klarheit ist daher richtig; aber man muss wissen, worin die Klarheit besteht: nämlich in der Erkenntnis, dass die kommunistische Partei ein Instrument der Entscheidungsfindung und aktiven Umsetzung zwischen zwei potentiell revolutionären Positionen ist und nicht zwischen Revolution und Opportunismus.39

Die bürgerliche Demokratie braucht Parteien und Parlamente, weil sie auf einer Klassengesellschaft gründet, in der die Interessen der einzelnen Klassen prinzipiell feindlich gegenüberstellen. Die Kommunistische Partei braucht den demokratischen Zentralismus und Fraktionen, weil sie sich in den Widerprüchen der bürgerlichen Gesellschaft positionieren muss, die es erst noch zu überwinden gilt. Jede Position ist aber nur ein Moment der widersprüchlichen Totalität der kapitalistischen Gesellschaft, die durch den Kommunismus als reale Bewegung aufgehoben wird. Jede Verabsolutierung eines der Momente führt zu bürgerlichem Idealismus und Sektierertum. Daher muss es auf programmatischer Ebene heißen: Klarheit durch Einheit der Gegensätze; auf exekutiver Ebene: Klarheit durch Organisation.

6. Position beziehen: Das Proletariat der Ukraine, Russlands und Deutschlands

Zu guter Letzt möchte sich dieser Text nicht dadurch immunisieren, dass er keine Position zum Krieg in der Ukraine bezieht. Dieser Abschnitt unterscheidet sich von den anderen jedoch dadurch, dass er nicht nur aus der inneren Logik heraus kritisiert werden kann, sondern dass notwendigerweise subjektive Einschätzungen, unvollständige Informationen und der rasche zeitliche Wandel der Kräfteverhältnisse auch zu Fehlern in den Prämissen und den Ableitungen führen können.

Die Bundesrepublik Deutschland ist nach der abgeschlossenen inneren Kolonisierung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ein zweifelsfrei imperialistischer Kernstaat. Sie kann alle Vorteile einer Weltwährung, von Monopolrenten und Extraprofiten nutzen, sogar ohne – wie die Vereinigten Staaten – (noch) die Kosten eines riesigen Militärapparats zu tragen. Taktische Bündnisse mit der Bourgeoisie schließen solche Bedingungen für Kommunist*innen selbstredend aus und die Phasen, in denen sich das Kleinbürgertum als Bündnispartner anbietet, sind vergleichsweise kurz. Hier herrscht sinnvollerweise auch weitestgehende Einheit unter allen kommunistischen Organisationen in Deutschland.

Russland hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen Ausverkauf des produktiven Sektors ohne historisches Beispiel erlebt. Putin hat durch Kompromisse mit der mafiös organisierten Bourgeoisie und Repression gegen Abweichler erst vor zwei Jahrzehnten ein vakantes Gewaltmonopol des Staates wiederhergestellt, dass überhaupt eine imperialistische Strategie artikulieren könnte. Durch den fast ausschließlichen Export von Primärgütern wandern über die globale Wertschöpfungskette gigantische Extraprofite in die kapitalistischen Zentren, während das Land durch regelmäßige Sanktionen weitestgehend von moderene Produktionsmitteln ausgeschlossen ist.40 Die Extraprofite, welche in die imperialistischen Zentren wandern, zwingt das Proletariat von einigen strategischen Sektoren abgesehen, ihre Arbeitskraft unter Wert zu verkaufen und einen Zweitjob, meist im kleinbürgerlichen Sektor zu suchen oder auf familiäre Solidaritätsstrukturen zurückzugreifen. Dies führt zu kleinbürgerlichen ideologischen Bewusstseinsformen führt, die Putin bespielen kann.41 Das taktische und explizit nur anlassgebundene taktische Bündnis der KPRF42 mit Einiges Russland, dass zwangsweise den ideellen Gesamtkapitalisten verkörpert, ist vor diesem Hintergund eine nachvollziehbare Position, die nicht auf andere kommunistische Parteien verallgemeinerbar ist. Der Doublecheck hier ist hier die ähnliche Positionierung der Kommunistischen Arbeiterpartei Russlands.

Es gibt nicht viele Länder, in denen Russland sowohl Schulden in Rubel aufnehmen konnte und auf Grund einer höheren Produktivität Extraprofite erzielen konnte. Ein solches Land war jedoch die Ukraine, genauer die Stahl- und Rohstoffindustrie des Donbass. Ist das Interesse Russlands also denen des ukrainischen Proletariats entgegengesetzt? Die Antwort ist ein klares: jain. Die Oligarchen des Donbass haben durch das Proletariat erarbeitete Extraprofite an Russland gezahlt, aber das Produktivitätsgefälle zur EU ist weitaus höher. Wenn die Industrie des Donbass mit den oktroyierten EU-Normen überhaupt hätte produzieren dürfen, hätte sie einen weit höheren Anteil des produzierten Werts an die zentralen Staaten der EU transferieren müssen. Die finanzielle Beteiligung an einem Strukturreformprogramm, das Janukowitsch vorgeschlagen hatte, wurde von der EU ausgeschlagen. Russland wäre für die Arbeiter*innen des Ostens das geringere Übel gewesen und entsprechend hat es sich positioniert. Die immateriellen und Reproduktionsarbeiter*innen der Kiewer Region und des Westens wiederum schielten natürlich auf die Arbeiternehmer*innenfreizügigkeit innerhalb der EU, durch welche sie hofften, die durch die imperialistischen Mechanismen niedrigen Löhne durch Monilität entgehen zu können. Die Maidan-Frage war daher nicht nur die Frage entgegengesetzter Oligarchenfraktionen, sondern auch eine entgegengesetzter Interessen innerhalb des real existierenden Proletariats.43 Beide wären nur revolutionär vereinbar gewesen, ohne dass ein revolutionäres Klassenbewusstsein vorgelegen hat. Der Beleg dafür ist die real existierende Spaltung der ukrainischen Arbeiter*innenklasse über die EU-Frage und die beiderseitige Zusammenarbeit mit Oligarchen und faschistischen Gruppierungen. Das Verbot der KPU, das von den rechten Kräften vor allen Dingen auf Grund der symbolischen Verbindung zur früheren Sowjetunion und damit Russland erlassen wurde, zwang die Kommunist*innen, sich einseitig für den pro-russischen Kurs zu positionieren. Die vielfältigen politischen und familiären Verbindungen zwischen russischen und ukrainischen Kommunist*innen taten ihr Übriges für diesen Kurs.

Weder der Krieg noch die Angliederung des Donbass waren von Russland gewollt. Kurzfristrige neue Investitionsmöglichkeiten in den ehemaligen Volskrepubliken überwiegen nicht die positiven Effekte, die Extraprofite und Währungsdominanz in der Ukraine oder in einem teilautonomen Donbass hatten und gehabt hätten. Minsk-II und die Verhinderung des Beitritts des Donbass zur EU waren gewollt. Da das Völkerrecht, im Falle des Donbass das Selbstbestimmungsrecht der Völker, nicht durch einen Souverän durchgesetzt werden kann, wollte sich Russland als Anwalt in Szene setzen, um über sein militärisches und politisches Gewicht den Kristallisationskerrn eines eigenen imperialistischen Zentrums schaffen zu können. Das ist ein potentiell imperialistisches und realisiert anti-imperialistisches Unterfangen. Es hätte die reale Subsumtion des Weltproletariats unter das Kapital behindert, die formelle Subsumtion allerdings nicht berührt.

In einer Zeit, in der das Proletariat der imperialistischen Zentren noch immer ganz real und messbar von nationalem Dünkel und rassistischen Bewusstseinsformen durchdrungen ist, da der ganz reale Imperialismus diesem die Ketten vergoldet, behindert die materielle Basis des Weltproletariats die erfolgreiche Arbeit von Kommunist*innen. Man kann nun das mangelnde Klassenbewusstsein des deutschen Proletariats beklagen, aber letztendlich ist es auch die Schuld von uns Kommunist*innen, die sich über die Jahre zerstritten und fragmentiert haben; die keine einheitliche, kommunistische Partei gebildet haben. Solange wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben, steht uns Hochnäsigkeit und Besserwisserei gegenüber den russischen, syrischen, chinesischen, indischen, brasilianischen und allen Genoss*innen der Peripherie und Semiperipherie nicht zu.

1vgl. die beiden konträren Resolutionen „RESOLUTION on the imperialist war on the territory of Ukraine“ und „The Struggle Against USA and NATO Imperialism which Seek World Hegemony is the Key Task of the Progressive Forces“ auf dem 22. International Meeting of Communist & Workers Parties in Havanna [online: http://solidnet.org/meetings-and-statements/imcwp/22nd-International-Meeting-of-Communist-Workers-Parties/]

2Hegel, G.W.F (1832-45/1986): Die Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S.24. Der Folgesatz „Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ ist der kleine rote Faden dieser Argumentation.


3Beide Namen sind nur Hilfsbegriffe, aber ihnen lassen sich jeweils die beschriebenen Grundpositionen zuordnen.

4„Der russische Kapitalismus ist im Vergleich auch zu anderen entwickelten kapitalistischen Ökonomien von einer sehr hohen Konzentration und Zentralisation des Kapitals gekennzeichnet.“ (Spanidis, Zur Verteidigung der Programmatischen Thesen der KO!)

5„[Bei der russischen Bourgeoisie] handelt es sich nicht um eine „Kompradorenbourgeoisie“, sondern um entwickeltes Monopolkapital.“ (Spanidis, „Finanzkapital, finanzkapitalistische Herrschaftsverhältnisse und die sogenannte „Kompradorenbourgeoisie“)

6„In dem Maße, in dem der russische Imperialismus an politischer und wirtschaftlicher Stabilität gewinnt, beginnt er, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, um Einflusssphären zu kämpfen.“ (Hugo Müller, Der Imperialismus von gestern und von heute)

7„Die imperialistische Eigenständigkeit entstammt dem vergleichsweise schlagkräftigen Militärapparat und der politisch-militärischen Interventionsfähigkeit auch gegen das Einverständnis anderer imperialistischer Staaten, wie in Syrien oder jetzt gerade in der Ukraine.“ (Bob Oskar, „Russlands imperialistischer Krieg“)

8„Trotz eines ökonomisch und militärisch aufstrebenden Chinas und eines militärisch starken Russlands sind die USA weiterhin die Nation, die der gesamten Welt ihre Politik diktieren kann.“ (Alexander Kiknadze, Zum Defensivschlag Russlands gegen die NATO)

9„Wenn man aber davon ausgeht, dass mit dem Adjektiv ‚imperialistisch‘ bezüglich eines Landes / eines Staates die reale polit-ökonomische (das schließt militärisch ein) Potenz zur Beherrschung der Welt gemeint ist, dann ist Russland nicht im Club der Imperialisten dabei.“ (Klara Bina, Imperialismus, Krieg und die kommunistische Bewegung)

10„[Die Politik Putins] hat eine nicht von der Hand zu weisende Verbesserung der materiellen Lebenslage der russischen Arbeiterklasse zur Folge. Es handelt sich allerdings auch weiterhin um ein ökonomisch und politisch sehr instabiles Konstrukt.“ (Alexander Kiknadze, Zum Defensivschlag Russlands gegen die NATO)

11kompletter Abschnitt „Frage der Unterscheidung zwischen imperialistischen und ausgebeuteten Ländern“ (Yana [KPD], Imperialismus und die Spaltung der kommunistischen Bewegung)

12Aus diesen Sätzen lässt sich dann die ganze Boolesche Algebra ableiten, welche Grundlage der klassischen Logik und der gesamten elektronischen Datenverarbeitung ist.

13Im Folgenden werde ich mich auf die Darstellung der Dialektik in der Theorie Guglielmo Carchedis stützen. Sie ist sicher nicht die einzige und nicht die verbreiteste, korrespondiert aber mit allen anderen Darstellungen und entmystifiziert die dialektische Logik durch den temporalen Ansatz. vgl. Carchedi, G. (2011): Behind the Crisis. Marx’s Dialectics of Value and Knowledge. Leiden, Boston: Brill.

14Die Bedeutung des Kriteriums der Zeit als Unterscheidung zwischen formaler und dialektischer Logik stammt nicht von Hegel, der die Begriffe Raum und Zeit dem spekulativen Denken unterordnet. Lenin bemerkt in seinen Hegel-Konspekten zu Recht, dass die Behandlung der Zeit als Element der objektiven Realität der Angelpunkt zwischen einem(wie auch immer gearteten) Hegelschen Idealismus und einem dialektischen Materialismus ist. Vgl. Lenin (1914/1964): Konspekt zur „Wissenschaft der Logik“. Die Lehre vom Begriff. In: Leninwerke 38. Berlin/ Hauptstadt der DDR: Dietz. S.219f.

15Die formale Logik kann die Zeit nur berücksichtigen, wenn die Phänomene dem Kommutativgesetz unterliegen, also ein Phänomen A zu Zeitpunkt t2 zu B geworden ist, weil C und D dazugekommen sind. Die formale Logik verlangt allerdings den Umkehrschluss, dass sich B auch wieder in A, C und D trennen ließe. Es gibt Phänomene, für die das gilt, denken wir an die Prozesse eines Computers, aber sie sind in Natur und Gesellschaft die Ausnahme. So werden nach Marx Menschen einmal gefundene funktionale Produktionsmethoden nicht wieder zurück-, sondern weiterentwickeln. In der Physik haben wir das äquivalente Phänomen der Entropie, die über den zweiten Hauptsatz der Thermoynamik mit der Zeit verknüpft ist.

16Der erste Satz der Dialektik

17Der zweite Satz der Dialektik

18Der dritte Satz der Dialektik

19Und um hier mit einem Vorurteil über bürgerliche Wissenschaft aufzuräumen. Die bürgerliche Wissenschaft beschränkt sich zwar scharf auf das realisierte Phänomen, sie tut dies aber mit hochentwickelter, scharfsinniger und sinnvoller Methodik. Bürgerliche Wissenschaft ist nichts grunlegend schlechtes, sondern notwendiges. Da Marxist*innen auch über den realisierten Zustand Bescheid wissen müssen, bieten sie einen brauchbaren Fundus. Die Beschränkung ihres Geltungsrahmens auf das realisierte Phänomen wechselwirkt auf den Erkenntnisprozess zurück und verursacht ihre Schwächen. Historisch-materialistisch begründet rührt die Beschränkung daher, dass der Kapitalismus die realisierte Herrschaft des Bürgertums ist. Sie hat kein Interesse an den Entwicklungstendenzen über den momentanen Zustand hinaus.

20 Nicht ganz zu Unrecht ist Dialektik dafür verschrien, vermittels der dialektischen Gesetze einfach alles behaupten

zu können, was der formalen Logik nicht genügt.

21Die allgemeinen Bewegungsgesetze sind Engels‘ berühmte Grundgesetze der Dialektik.

22Zusatz: … die nur Widerspiegelung der Materie im neuronalen Netz der Menschen sind.

23Wie wichtig das Dialektik-Studium Lenins im Schweizer Exil für die reifere revolutionäre Theorie Lenins war, ist weitestgehend unstrittig. Schon alleine die zeitliche Nähe ist Evidenz. Ein Jahr nach seinen Hegel-Konspekten schrieb Lenin „Der Imperials als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Im Vorwort der Leninwerke wurde es sehr schön zusammengefasst. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU (1964): Leninwerke 38. a.a.O., S. IXf.: „Die Bedeutung der „Philosophischen Hefte“ für die Entwicklung des Marxismus-Leninismus zeigen ganz besonders solche Werke Lenins aus jener Zeit wie „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ […] Die Leninsche Analyse der grundlegenden Probleme der materialistischen Dialektik spielte eine bedeutende Rolle bei der Ausarbeitung der marxistischen Theorie des Imperialismus, bei der Entwicklung der Theorie der sozialistischen Revolution, der Lehre vom Staat, der Strategie und Taktik der Partei.“

24vgl. Luxemburg, R. (1913): Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. oder für moderne Prozesse Harvey, D. (2003): The New Imperialism. Oxford: Oxford University Press.

25Luxemburgs Schrift „Die Akkumulation des Kapitals“ wird zu Unrecht als fehlerhaft kritisiert. Linke Kritiker*innen berufen sich auf Beispielrechnungen, dass das Nachfragedefizit bei der Überakkumulation durchaus ausgeglichen werden könne. Diese übersehen, dass die Kritik die Forderung Luxemburgs umgeht, dass die Nachfrage aus einem Produktionszyklus kommen muss. Wenn, und so rechnen die Kritiker*innen, die Nachfrage einfach den späteren Perioden entnommen wird, potenziert sich das Problem halt später. Luxemburgs Argumentation hingegen ist einfach und schlagend: Wo Arbeiter*innen ausgebeutet werden und die Kapitalisten nicht alles verfressen können, entsteht ein Nachfragedefizit. Keine Theorie kann dies wegdiskutieren und Luxemburgs Werk ist ein Musterbeispiel dafür, eine einfache Frage beharrlich an komplexe Theorien zu stellen und sich von diesen nicht einlullen zu lassen.

26Als Definition des Imperialismus werden häufig die fünf Kriterien Lenins herangezogen. Alle fünf Kriterien Lenins leiten sich als Definitionen des bis zum Zeitpunkt der Niederschrift Lenins aus den realisierten Phänomenen des dargestellten Prozesses ab. Nun erscheint es vielleicht etwas gewagt, die Leninschen Imperialismuskategorien aus Argumenten eines Werks von Luxemburg herzuleiten, das Lenin als „falsche Auslegung der Marxschen Theorie“ bewertet hat. Dass beide Theorien jedoch sehr wohl ineinander übergehen und nur unterschiedliche Schwerpunkte setzen, hat Berberoglu, B. (2003): Globalization of Capital and the Nation-State. Imperialism, Class Struggle and the Age of Global Capitalism. Oxford: Lowman & Littlefield. S.44ff. knapp und überzeugend herausgearbeitet.

27Diese Herleitung der Bewegungsgesetze des Imperialismus stützt natürlich die Ansicht, dass der Imperialismus ein Stadium des Kapitalismus ist, in dem die ursprüngliche Akkumulation vollends abgeschlossen, die Aufnahmekapazität überschüssigen Kapitals im fiktiven Kapital durch die Finanzmärkte an seine Grenzen gestoßen ist und eine Überakkumulationskrise nur noch durch Kapitalexport verhindert werden kann. Doch wenn wir auf den vollständigen Prozess des Kapitalexports schauen, dann zeigt sich, dass dies nur die halbe Wahrheit ist.

28Im Folgenden werde ich nur von „kapitalexportierenden“ und „kapitalimportierenden“ Nationen bzw. Bourgeoisien sprechen, um nicht das Urteil über die Frage des Imperialismus sprachlich vorwegzunehmen. Die Adjektive beziehen sich auf einen Zeitpunkt t1, ab dem sich die Unterschiede auf Grund unterschiedlicher historischer Voraussetzungen mittels der gleichen Gesetze entfalten.

29vgl. Emmanuel, A. (1972). Unequal exchange: A study of the imperialism of trade. New York: Monthly Review Press. Hier wird man vielleicht einwenden wollen, dass die Theorie des ungleichen Tauschs, wie sie zuerst von Arghiri Emmanuel aufgestellt worden und seitdem weiter entwickelt worden ist, umstritten ist. Daher möchte ich ein bis zwei Worte darüber verlieren, was und warum sie umstritten ist. Die Kritik knüpft grob gesagt an zwei Schnittstellen an: Entweder wird behauptet, der Marxsche Preisbildungsmechanismus über die Durchschnittsprofitrate sei fehlerhaft oder es wird gesagt, dass sich dieser Preisbildungsmechanismus nicht auf den Weltmarkt anwenden ließen. Zu ersterem hat Fröhlich, N. (2009): Die Akutalität der Arbeitswert. Marburg: Metropolis. gezeigt, dass sich Preise über den Marxschen Algorithmus mit über 95% Gneauigkeit bestimmen lassen. Die Frage der Anwendbarkeit auf den Weltmarkt ist bis heute nicht abschließend geklärt, aber es ist wohl unstrittig, dass der Freihandel seit den 70er Jahren sogar eher zugenommen hat und dass die wichtigsten kapitalistischen Waren intenational zu Weltmarktpreisen gehandelt werden. Die Kritik an der Theorie des ungleichen Tausches wurde seiner Zeit von der Kommunistischen Partei Frankreichs vorangetrieben, deren Verhältnis zum französischen Kolonialismus und Post-Kolonialismus mehr als problematisch war. Das Argument lautete, dass die hier im 4. Kapitel (i) dargestellte Entwicklung ja eine Spaltung des internationalen Proletariats bedeute. Nun ist eine wissenschaftliche und konsequent auf Marx aufbauende Theorie wohl kaum nur deshalb abzulehnen, weil einem die Konsequenzen nicht passen. In der marxistischen Forschung der USA, Südamerikas und Asiens wird sie konsensuell angewandt und ist die empirisch fruchtbarste Imperialismustheorie. Auch die KKE baut ihre Imperialismusanalyse auf den gleichen Argumenten auf, ohne die Theorie explizit zu vertreten.



30vgl. Martínez, M. & Borsari, P. (2022) The Impacts of Subordinated Financialisation on Workers in Peripheral Countries: an Analytical Framework and the Cases of Brazil and Colombia. In: New Political Economy, Jahrgang 27. Ausgabe 3, S. 361-384.

31vgl. Kühnlenz, A. (2022): Russlands Devisen stabilisieren den Rubel. In: Finanz und Wirtschaft. Online Only. [online abrufbar unter: https://www.fuw.ch/article/russlands-devisenreserven-stabilisieren-den-rubel]

32Hierin löst sich beispielsweise die spitzfindige Frage auf, ob Kapitalflucht und Kapitalexport das gleiche seien. Wenn der Kapitalexport keine Folge der Überakkumulation und mit dieser organisch verwoben ist, dann macht es wenig Sinn, diesen Kapitalexport als imperialistisch im Sinne Lenins anzunehmen. Siehe dazu auch die Argumentation von Buzgalin, A., Kolganov, A. & Barashkova, O. (2016): Russia: A new imperialist Power? Moskau: Veröffentlichungen der ökonomischen Fakultät der Lomonossow-Universität. [online abrufbar unter: https://ideas.repec.org/p/upa/wpaper/0030.html]

33Der Aufstieg Chinas auf dem Weltmarkt war spektakulär. Möglich war er, weil er in der Potenz des Imperialismus angelegt war. Spektakulär war er, weil er in der realisierten Wirklichkeit des Imperialismus so gut wie nie und nur unter grober Missachtung globaler kapitalistischer Normen vorkommt.

34vgl. Lenin (1902/1955): Was tun?, LW 5. Berlin/ Hauptstadt der DDR: Dietz. S.426: „Das Bewußtsein der Arbeitermassen kann kein wahrhaftes Klassenbewußtsein sein, wenn die Arbeiter es nicht an konkreten und dazu unbedingt an brennenden (aktuellen) politischen Tatsachen und Ereignissen lernen, jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten; wenn sie es nicht lernen, die materialistische Analyse und materialistische Beurteilung aller Seiten der Tätigkeit und des Lebens aller Klassen, Schichten und Gruppen der Bevölkerung in der Praxis anzuwenden.“

35Amin, S. (2012): Das globalisierte Wertgesetz. Laika.

36Cope, Z. (2012): Divided World. Divided Class. Global Political Economy and the Stratification of Labour Under Capitalism. Oakland: AK Press.

37Harvey, D. (2003): The New Imperialism. Oxford, Nerw York: Oxford University Press.

38vgl. Grigat, S. (2007): Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus. Freiburg i. Br.: ca ira. (insbesondere die Kapitel „Mystifikationen in der Globalisierung“ oder „Kommunistische Emanzipation“. Eine kleine Überblicksdarstellung dieses Diskurszweigs findet sich auch bei Wolter, K. (2004): Kritik des postkolonialen Antiimperialismus. Rote Ruhr Uni [online abrufbar unter: https://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/poko_rru2016.pdf]. Die Gefahr , über eine einseitige Betrachtung dieser Tendenz in einen wirklichen Opportunismus zu verfallen, sollte aus diesen Texten deutlich werden.

39Nehmen wir als Beispiel die bekannteste Auseinandersetzung der kommunistischen Geschichte: die zwischen „Weltrevolution“ und „Sozialismus in einem Land“, die häufig durch die angeblichen Gegenpole Stalin und Trotzki ausgedrückt wird. Der Witz in der ganzen Geschichte liegt darin begründet, dass Stalin gar kein Gegner der Weltrevolution war. Zu offensichtlich war die Notwendigkeit, dass das rückständige Russland politische Partner brauchte. Auch Trotzki war überhaupt kein Gegner des „Sozialismus in einem Land“. Nach den gescheiterten Aufständen in Deutschland sprach er sich für die vorläufige Konzentration auf die innenpolitische Entwicklung aus. Was auch sonst? Hätte Trotzki etwa vorschlagen sollen, die Bolschewiki müssten auf Grund der ausgefallenen Weltrevolution wieder nach Hause, sprich in die Knäste oder unter das Henkerbeil gehen. Die Ursünde der KPdSU war nicht, die falsche Seite in der China-Frage 1927 gewählt zu haben. Wenn die Shagnhaier Kommunist*innen ohne Aufstandsversuch abgeschlachtet wurden, wären sie es vermutlich bei einem Aufstandsversuch erst recht. Die Ursünde war, sich nicht an die Prinzipien des demokratischen Zentralismus gehalten zu haben, der aus zwei begründeten und entgegengesetzten Taktiken, die zusammen die Einheit der Problemlage des jungen Revolutionsstaats bildeten, eine verbindliche auswählt.

40vgl. Ricci, A. (2021): Value and Unequal Exchange in International Trade. The Georgraphy of global capitalist Exploitation. London, New York: Routledge. S.208.

41vgl. Yana (2022): Lage und Organisierung der Arbeiterklasse in der Russischen Föderation. Vortrag auf dem Kommunismus-Kongress 2022. [online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=agqIS2fn2-0]

42vgl. Internationale Abteilung des Zentralkomitees der KPRF (2022): In der Ukraine kämpft Russland gegen den Neo-Nazismus. [online abrufbar unter: http://www.solidnet.org/article/CPRF-International-Department-of-the-CC-CPRF-In-Ukraine-Russia-is-Fighting-Neo-Nazism/, auf deutsch: https://kommunistische-organisation.de/dossier/kprf-iii-in-der-ukraine-kaempft-russland-gegen-neonazismus/]

43Die Pro-Maidan-Linke hat also nicht komplett den Arbeiter*innenstandpunkt verlassen, sie hat wie die Anti-Maidan-Linke nur einen partikulären Arbeiter*innenstandpunkt eingenommen.

Die KO wurde gespalten – Wer behält den Namen?

Das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 ist sehr umstritten in der kommunistischen Bewegung. Anhand dieser konkreten Frage sind sowohl allgemeine und grundlegende Fragen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung aufgerufen, zugleich zeigen sich in besonderer Weise Schwächen in der Analyse- und vor allem in der Diskussionsfähigkeit der Bewegung. Das führt zu zahlreichen, einander widersprechenden und zum Teil diametral entgegengesetzten Reaktionen auf die russische Militäroperation, die nicht ohne schwere Vorwürfe auskommen.

Die Bruchlinien verlaufen dabei nicht nur zwischen den kommunistischen Parteien und Organisationen, sondern mitunter auch mitten durch sie hindurch. Das gilt auch für die KO. Weil wir dies erkannt haben, haben wir im März diesen Jahres öffentlich Selbstkritik geleistet und auf unserer vierten Vollversammlung im April einen Beschluss zur Klärung der Imperialismus- und Kriegsfrage gefällt.

In diesem Sinne haben wir uns von April bis November sowohl bewegungsöffentlich — in Form der Diskussionstribüne, regionaler Debatten und Veranstaltungen sowie des Kommunismus-Kongresses (KoKo) —, als auch intern — in Form von bundesweiten Referaten und Diskussionen über verschiedene internationale kommunistische Parteien und ihre Positionen zum Ukrainekrieg und zur Imperialismusfrage, mittels interner Diskussionsbeiträge und zuletzt durch einen Prozess der individuellen Positionierung aller Genossen in der KO — mit verschiedenen Imperialismusanalysen und Bewertungen des Krieges in der Ukraine sowie der dort involvierten Akteure auseinandergesetzt und darüber gestritten.

Es ist bereits vielen Genossen außerhalb der KO aufgefallen, dass wir zum KoKo, der als öffentlicher Höhepunkt unserer Auseinandersetzung mit der Imperialismusfrage geplant war und der in der Tat viel Aufmerksamkeit in der Bewegung auf sich gezogen hat, bislang keine Auswertung nach außen gegeben haben. Das liegt daran, dass sich nach dem Kongress die mit der Frage nach der Klärung der Imperialismusfrage verbundenen Spannungen innerhalb der KO zu einer regelrechten Krise ausgewachsen haben. Vor diesem Hintergrund hat eine Minderheit innerhalb der Leitung begonnen die Regeln und Strukturen der Organisation in Frage zu stellen und damit das Fortbestehen der KO in ihrer bisherigen Form. Die Gruppe ist so weit gegangen, dass sie sich inzwischen der Organisation als eine alternative Leitung anbietet. Das heißt, sie ist zu einer offenen Fraktionierung übergegangen, was notwendiger Weise die Auflösung der Organisationsstrukturen provoziert.

Tatsächlich werden beide Leitungsgruppen – also diejenigen, die in der gewählten Struktur verblieben sind, als auch diejenigen, die sich fraktioniert haben – von ähnlich großen Teilen der Organisation unterstützt. Natürlich stellt das die Handlungsfähigkeit der legitimierten Strukturen vollkommen in Frage und hat einen Machtkampf innerhalb der Organisation ausgelöst. Eine Kritik und Sanktionierung der Fraktionierungstätigkeit und der Zersetzung der geregelten Abläufe, kann daher de facto nicht durch die legitimierten Strukturen durchgesetzt werden. Das gilt unter anderem auch für die Kontrolle über die Kommunikationskanäle der KO wie etwa dieser Website oder unseren Telegram-Kanal. Momentan befindet sie sich im Besitz der fraktionierten Gruppe, auch wenn wir gegenwärtig noch in der Lage sind Beiträge zu veröffentlichen.

Damit ist die KO nicht mehr souverän, wie beispielsweise über den Verbleib der Website als zentralen Bestandteil ihrer Infrastruktur und ist damit von der Bereitschaft der Fraktionierer abhängig. Die Mehrheit der Leitung hat sich dennoch entschlossen, diese Fraktionierungstätigkeit mit statuarischen Maßnahmen zu belegen. Das hat sie in vollem Bewusstsein der fehlenden Durchsetzungsmöglichkeiten getan. Infolgedessen ist eine Beschäftigung mit unserem Verständnis von Demokratischem Zentralismus in Gang gekommen, die wir als produktiv ansehen. Schließlich wird ein Beschluss des Anfang Januar anstehenden außerordentlichen Kongresses der KO über den zukünftigen Charakter der KO, sowie den Verbleib und den weitern Umgang mit den Mitteln und Infrastruktur der KO entscheiden. Es bleibt leider nur zu hoffen, dass die Fraktionierer diese Beschlusslage akzeptieren werden.

Inhaltlich stehen sich folgende zwei Positionen gegenüber: Die einen wollen die wissenschaftliche, ergebnisoffene und bewegungsöffentliche Klärung in ihrer bisherigen Form fortsetzen und vertiefen, und lehnen eine Positionierung zum Ukrainekrieg vor dieser Klärung ab — die anderen wollen, dass die KO sich jetzt positioniert, und zwar dahingehend, dass der Krieg in der Ukraine ein imperialistischer Krieg von beiden Seiten sei, um von dieser Position ausgehend eine weitere Klärung im Sinne einer Vertiefung der Position zu betreiben. Der Teil der Organisation, der jetzt eine Positionierung einfordert, möchte vor allem eine Verurteilung des von ihnen als imperialistisch eingeordneten Eintritts der Russischen Föderation in den Krieg. Für sie war und ist die im Beschluss der vierten Vollversammlung festgelegte Positionierung gegen NATO und deutscher Imperialismus nicht ausreichend. Die inhaltliche Auseinandersetzung soll jetzt über eine Spaltung ‚geklärt‘ werden. Der andere Teil innerhalb der KO ist durch die Erfahrungen des letzten Jahres zur Einsicht gelangt, dass eine ernsthafte Klärung der Dissense zur Imperialismus- und Kriegsfrage innerhalb der kommunistischen Bewegung, einer größeren Anstrengung bedarf. Sie muss die historischen Quellen und damit die Genese der Positionen besser erfassen und die Bewegung noch vielmehr als es uns bisher – z.B. im Zusammenhang mit dem KoKo – gelungen ist, einbeziehen.

Auch wenn sich diese zwei Gruppen noch unter dem Dach der KO befinden, ist durch die Fraktionierung und Zersetzung der Organisation, ihre Spaltung de facto vollzogen. Wer sich durchsetzen wird, ist bislang völlig offen.

Uns ist es wichtig, der kommunistischen Bewegung gegenüber, als deren Teil wir uns sehen und mit der wir die Klärung führen wollen, möglichst viel Transparenz herzustellen. Das betrifft die inhaltlichen Auseinandersetzung, die in der KO geführt wird. Für genauso wichtig erachten wir aber, dass die Bewegung verstehen kann, welche Prozesse zur Spaltung der KO geführt haben. Diese, wenn auch bitteren Erfahrungen, die wir machen, sind nicht privater Natur, sondern wichtig, damit auch die gesamte Bewegung ihre Schlüsse daraus ziehen kann. Wir sehen es demnach als unsere Verantwortung gegenüber der Bewegung an, diesen Prozess nicht im stillen Kämmerlein auszutragen.

Daher haben wir uns entschieden, die nun zur Abstimmung stehenden Anträge, die zwei unterschiedliche Entwicklungsrichtungen für die KO vorschlagen, öffentlich zugänglich zu machen. Wir dokumentieren den Leitantrag, der von der Zentralen Leitung und den darin verbliebenen Genossen eingebracht wurde und für eine Fortsetzung der Klärung eintritt, als auch die Resolution, die von den fraktionierten Genossen als Positionierung in den aufgeworfenen Fragen vorgeschlagen wird und ihre Vorstellung zur weiteren Klärung, die sie in einem zusätzlichen Antrag eingebracht haben.

Die Anträge werden bis 30.12. überarbeitet, die neue Version werden wir ebenfalls online stellen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Anträge nicht für die Öffentlichkeit verfasst wurden, Abkürzungen und bestimmte Details werden daher unverständlich sein.


Deindustrialisierung? Transformation? Beides? – Schadet der deutsche Imperialismus sich selbst?

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Findet eine Schwächung des deutschen Kapitals statt, weil die Regierung dem Druck der USA folgt? Ist nicht gerade Nord Stream II der beste Beleg für die Unterordnung Deutschlands unter die USA? Oder ist vielmehr eine Stärkung des deutschen Imperialismus im Sinne der erklärten „Zeitenwende“ zu erkennen, die eine eigenständige Strategie zur Transformation der Wirtschaft (für die gesamte EU) fortsetzt? Wir wollen diese Fragen und ihre Bedeutung für unseren Widerstand gegen die Kriegspolitik der Regierung zusammen mit Richard Corell (KAZ) diskutieren.



Ort: Berlin, Salon im ND, Franz-Mehring-Platz 1



Zeit: 13. Januar | 19 – 21 Uhr