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Resolution des Kommunismus Kongresses 2023/Communism Congress 2023

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Alle Informationen zum Kommunimus Kongress 2023 finden sich hier.

The English version of the resolution can be found below.

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Teilnehmer des Kommunismus-Kongresses,
wir haben diesen Kongress organisiert, um einen Beitrag zum Kampf gegen den Imperialismus, gegen die NATO, gegen diese Räuberbande und Schlächter der Menschheit zu leisten.

Wir wollen eine gemeinsame Resolution dieses Kongresses vorschlagen und würden uns freuen, wenn Ihr sie mit Applaus annehmt und unterstützt.

Palästina hat sich erhoben! Palästina schlägt zurück! Der Befreiungskampf des palästinensischen Volks bricht durch! Buchstäblich: Gaza hat seine Gefängnismauern gesprengt! Eine lang ersehnte und notwendige Antwort auf über 100 Jahre Kolonialismus und 75 Jahre Besatzung, Vertreibung und Auslöschung der palästinensischen Nation!

Alle Unterdrückten der Welt und alle Befreiungsbewegungen stehen an der Seite des Widerstands gegen das zionistische Besatzungsregime.

Der Kommunismus-Kongress spricht seine volle Solidarität und Verbundenheit mit dem mutigen und entschlossenen Kampf Palästinas aus! Er ist ein leuchtendes Signal für den weltweiten Kampf gegen die Barbarei und für die Befreiung der Menschheit! Es ist eine historische Notwendigkeit, der aktiv zum Durchbruch verholfen wird: Ganz Palästina wird frei sein! Der zionistische Siedlerkolonialismus wird besiegt werden!

Der Kommunismus-Kongress spricht seine Solidarität mit unserem Referenten und Genossen Zaid Abdulnasser aus, dessen Aufenthalt entzogen werden soll. Unsere Botschaft ist unmissverständlich:  Zaid wird bleiben! Bis Palästina frei ist! Es lebe die palästinensische Befreiungsbewegung — in Palästina und in Deutschland!

Wer den Kampf gegen diese gut organisierten Verbrecher aufnimmt, wer sich den Kriegstreibern der NATO entgegenstellt, muss mit Isolation und Repression rechnen. Der wird lächerlich oder verächtlich gemacht. Wer für die Freiheit der Unterdrückten kämpft, wird von ihren Schergen verfolgt.

Der Kommunismus-Kongress spricht seine Solidarität mit den Kononovich-Brüdern aus, die vom Kiewer Regime als Geiseln genommen wurden und öffentlich mit dem Tode bedroht werden. Wir solidarisieren uns auch mit unserem Genossen und Referenten Alexej Albu, der von den ukrainischen Faschisten aus seiner Heimat vertrieben wurde und dem die europäischen Behörden die Einreise in die EU verweigern. Sie wollen ihn damit zum Schweigen bringen.

Der antifaschistische Kampf gegen die Bandera-Bande, die von den NATO-Staaten finanziert und bewaffnet wird, wird weiter gehen!

In Deutschland sitzen die Gesinnungsrichter preußischer Tradition in den Startlöchern, um alle zu drangsalieren, die nicht in den Kriegschor gegen Russland einstimmen. Die Bundesrepublik zeigt offen, was sie immer war: Das anti-kommunistische Bollwerk in Europa, dem Faschismus entwachsen.

Es sind die Ewiggestrigen kleingeistigen Pickelhaubenträger. Geben wir sie der Lächerlichkeit preis, denn sie sind nichts anderes als lächerliche Gestalten. Sie wollen mit Gewalt verhindern, dass die einfachsten Wahrheiten über die Kriegspläne und Kriegstreiberei der NATO ausgesprochen werden.

Setzen wir ihnen Mut und Entschlossenheit entgegen, das zu sagen, was ist! Es ist die NATO, die Faschismus und Krieg in die Ukraine und viele andere Länder der Welt gebracht hat. Sie ist der Aggressor!

Der Kommunismus-Kongress spricht seine Solidarität mit allen aus, die von der bundesdeutschen Gesinnungsjustiz verfolgt werden, weil sie gegen ihre Kriegstreiberei aufstehen. Stärken wir alle, die der NATO-Propaganda entgegen treten.

Wir rufen dazu auf, die Kampagne der Deutschen Kommunistischen Partei, DKP, gegen den Maulkorb für Kriegsgegner zu unterstützen und gegen den Paragraphen 130 anzukämpfen, der uns den Mund verbieten und einschüchtern soll.

Gestern war der 7. Oktober: Der Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik! Der Staat der deutschen Arbeiterklasse, der gegen den Imperialismus gekämpft hat, der brüderlich mit den Befreiungsbewegungen verbunden war, der den Internationalismus gelebt hat!

Lernen wir von der DDR, nehmen wir diesen Schatz unserer Geschichte für unsere heutigen Kämpfe!

Der Kampf gegen die imperialistischen Unterdrücker ist ein internationaler Kampf, es muss ein gemeinsamer Kampf der unterdrückten Völker und der Arbeiterklasse in den imperialistischen Zentren sein.

Wir wissen, dass die Herrschenden in den Zentren alle Mittel des Terrors und der Vernichtung gegen unsere Genossen in den unterdrückten Ländern anwenden. Viele Freiheitskämpfer fielen ihren Meucheltaten zum Opfer. Und auch heute werden viele verfolgt und mit dem Tode bedroht.

Der Kommunismus-Kongress sendet internationalistische Grüße an alle Kämpfer gegen Kolonialismus, Unterdrückung und Imperialismus.

Es lebe die internationale Solidarität — die Zärtlichkeit der Völker! 

Communism Congress Resolution 2023

Dear comrades, dear participants of the Communism Congress,

we have organized this congress to contribute to the fight against imperialism, against NATO, against this gang of robbers and butchers of humanity. We would like to propose a joint resolution for this congress and would be pleased if you approved and supported it with applause.

Palestine has risen! Palestine strikes back! The liberation struggle of the Palestinian people is breaking through! Literally: Gaza has blown up its prison walls! A long-awaited and necessary response to over 100 years of colonialism and 75 years of occupation, expulsion and extinction of the Palestinian nation! All the oppressed in the world and all liberation movements stand on the side of the resistance against the Zionist occupation regime.

The Communism Congress expresses its full solidarity and attachment to the courageous and determined struggle of Palestine! It is a shining signal for the global fight against barbarism and for the liberation of humanity! It is a historical necessity that is being actively helped to achieve a breakthrough: All of Palestine will be free! Zionist settler colonialism will be defeated!

The Communism Congress expresses its solidarity with our speaker and comrade Zaid Abdulnasser , whose stay is to be revoked. Our message is unmistakable: Zaid will stay! Until Palestine is free! Long live the Palestinian liberation movement – in Palestine and in Germany!

Anyone who takes up the fight against these well-organized criminals and opposes NATO’s warmongers must expect isolation and repression. He is ridiculed or despised. Anyone who fights for the freedom of the oppressed will be persecuted by their minions.

The Communism Congress expresses its solidarity with the Kononovich brothers, who were taken hostage by the Kiev regime and are publicly threatened with death. We also express our solidarity with our comrade and speaker Alexei Albu , who was expelled from his homeland by the Ukrainian fascists and to whom the European authorities are refusing entry into the EU. They want to silence him.

The anti-fascist fight against the Bandera gang, which is financed and armed by the NATO states, will continue!

In Germany, the judges of the Prussian tradition are waiting in the starting blocks to harass everyone who does not join in the war chorus against Russia. The Federal Republic is openly showing what it has always been: the anti-communist bulwark in Europe, which has outgrown fascism.

They are the old-fashioned, small-minded, spiked helmet wearers . Let’s expose them to ridicule,
because they are nothing but ridiculous figures. They want to use force to prevent the simplest truths about NATO’s war plans and warmongering from being spoken. Let us show them courage and determination, to say what is! It is NATO that brought fascism and war to Ukraine and many other countries around the world. She is the aggressor!

The Communism Congress expresses its solidarity with all those who are being persecuted by the Federal German justice system because they stand up against their warmongering. Let us strengthen everyone who opposes NATO propaganda. We call on you to support the campaign of the German Communist Party (DKP) against the muzzle of war opponents and to fight against paragraph 130, which is intended to forbid us from speaking up and intimidate us.

Yesterday was October 7th: the founding day of the German Democratic Republic! The state of the German working class, who fought against imperialism, who was fraternally connected to the liberation movements, who lived internationalism!

Let’s learn from the GDR, let’s use this treasure of our history for our struggles today!

The fight against the imperialist oppressors is an international struggle, it must be a common struggle of the oppressed peoples and the working class in the imperialist centers. We know that those in power in the centers use all means of terror and destruction against our comrades in the oppressed countries. Many freedom fighters fell victim to their assassinations. And even today many are persecuted and threatened with death.

The Communism Congress sends internationalist greetings to all fighters against colonialism, oppression and imperialism.
Long live international solidarity – the tenderness of peoples!

The Struggle for National Democratic Revolution in Kenya. Between State Terror and Resistance.

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🇰🇪 Last June and July, hundreds of thousands of protesters once again took to the streets in Kenya. They are demanding justice for those murdered during the anti-IMF protests in 2024 and an end to neoliberal austerity policies.

🚩 Many Kenyans have already been killed by the Ruto regime or are facing increasingly severe repression: systematic shoot-to-kill orders, kidnappings, torture. The resistance is to be broken by any means necessary. Meanwhile, comrades of the Communist Party Marxist – Kenya (CPM-K) are fighting on the front lines against neocolonial violence and for a national democratic revolution.

💡 Njeri and Cynthia gave us insights into the dynamics of the recent protests on the ground and explained the strategies the CPM-K is pursuing in organizing the masses.

Gegen das „Einheit-für den Krieg-Denkmal“

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Bericht zur Protestaktion gegen das „Einheitsdenkmal“ in Leipzig

Vor 35 Jahren wurde die DDR von der BRD annektiert und damit alle Errungenschaften des ersten deutschen sozialistischen Staates ausradiert. Arbeitslosigkeit statt Vollbeschäftigung, Obdachlosigkeit statt Wohnungsbau, Industriebrachen statt Industrialisierung, Rassismus statt internationale Solidarität waren ab da an das Motto für die ostdeutsche Arbeiterklasse. Die gewaltsame Eingliederung der DDR in die BRD, als „Einheit“ oder „Wiedervereinigung“ betitelt, wird jährlich in Leipzig im Rahmen des sogenannten Lichtfestes gefeiert. Dieses Jahr wurde am 9. Oktober dabei auch symbolisch der Grundstein für ein „Einheitsdenkmal“ gelegt. Wir organisierten vor Ort eine Protestaktion unter dem Motto „35 Jahre ‚Einheit‘ – 35 Jahre Armut, Aufrüstung und Kriegsvorbereitung“ und möchten im Folgenden kurz über die Hintergründe des Denkmals, unsere Aktion und die Reaktionen darauf berichten.

Warum ein Denkmal für die „Einheit“?

Anstoß für das Einheitsdenkmal gab der Bundestag bereits 2008. Dieser beschloss das Bauvorhaben mit dem Ziel, „den Beitrag der Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt zur „Friedlichen Revolution“ auf angemessene Weise zu würdigen“.1 Dass ein Großteil der DDR-Bevölkerung die Proteste nicht mitgetragen hat und ein nicht kleiner Teil der Beteiligten nicht für das auf die Straße gegangen ist, was dann dabei herauskam, wird übergangen. So gewaltsam wie die DDR in die BRD einverleibt wurde, wird auch das Gedenken daran organisiert. Gedacht wird nicht derer, die mit dem Ende der DDR nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Identität verloren haben. Auch nicht derer, die in Folge der Besiedelung Ostdeutschland mit faschistischen Strukturen ab 1990 verfolgt oder ermordet wurden. Und natürlich auch nicht der Frauen, deren gesellschaftliche Stellung Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückgeworfen wurde. Die „Einheit“ steht für die Expansion der BRD nach Osten, die massive Profitsteigerung ihrer Konzerne und die Wiederaufrüstung zur militärischen Führungsmacht. In Zeiten von Aufrüstung und Kriegsvorbereitung gegen Russland, passt ein Denkmal für die „Einheit zum Krieg“ daher wie die Faust aufs Auge.

Dabei wäre aus dem Denkmal fast nichts geworden. Nach dem Bundestagsbeschluss von 2008 geriet der Planungs- und Bauprozess ins Stocken. 2014 lag bereits ein Entwurf vor, dieser wurde jedoch aufgrund „mangelnder Transparenz und Bürger*innenbeteiligung“2 (kein Scherz!) ad acta gelegt. Nachdem dann auch der Vorstoß von AfD, Linkspartei und BSW für ein Bürgerbegehren im Leipziger Stadtrat aus dem Weg geräumt worden war, lagen die Kontroversen nur noch im Detail: Während die CDU Sorge hat, dass das Denkmal mit nicht wünschenswerten Parolen versehen werden könnte, sprach sich die Linkspartei gegen den gewählten Ort aus. Im Frühjahr dieses Jahres wurde das Denkmal, dessen Bauprozess fünf Jahre dauern und knapp zehn Millionen kosten soll, dann final auf den Weg gebracht. Am 9. Oktober wurde der Grundstein auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz im Rahmen des jährlichen Lichtfestes gelegt.

Der glücklichste Tag in der deutschen Geschichte“ (Michael Kretschmer)

Zur Einweihung sprachen neben der Initiatorin des Denkmals, Gesine Oltmanns, auch der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer und der neue Staatsminister für Kultur, Wolfram Weimer. Letzterer machte erst kürzlich auf sich aufmerksam, indem er eine Streichung der Gelder für Gedenkstätten zu den deutschen Kolonialverbrechen ankündigte.3 Schon in seinem Konservativen Manifest bedauert Weimer, dass sich Europa „räumlich“ nicht mehr „vermehre“ und die „eigene Kolonialgeschichte als ein durchgehender Sündenfall dargestellt und kritisiert“ werde4. Damit passte Weimer als Redner perfekt: Denn während die DDR den antikolonialen Befreiungskampf bewaffnete, zahlt die BRD bis heute keine Ausgleichszahlung an die Opfer ihrer Kolonialverbrechen und beteiligt sich mit der Unterstützung Israels aktiv am Völkermord.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) verkündete auf der Bühne: Die „Friedliche Revolution“ sei „der glücklichste Tag in der deutschen Geschichte“. Außerdem habe sich bewiesen, dass „Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und auch soziale Marktwirtschaft ganz offensichtlich die besseren Konzepte […] als Sozialismus und Planwirtschaft“ seien. Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) beklagte, dass es heute immer mehr „Autokratien“ auf der Welt gebe und betonte, wie wichtig der Einsatz Deutschlands für die Demokratie sei. Gesine Oltmanns, „Bürgerrechtlerin“ und Ehrenbürgerin der Stadt Leipzig brachte es dann noch klarer auf den Punkt: Es sei heute Deutschlands Verantwortung, die 1989 erkämpfte Demokratie in die Welt zu tragen, zum Beispiel nach Georgien oder Serbien – Zeitenwende lässt grüßen.

Offenheit und Interesse an unserer Aktion

Wir protestierten zusammen mit Aktiven der Friedensbewegung und der DKP mit einem Banner „35 Jahre – Armut, Aufrüstung, Krieg“ gegen die Veranstaltung. Außerdem verteilten wir unter kritischer Beobachtung von Ordnungsbehörde und Polizei Flyer an die Veranstaltungsteilnehmer. Darin thematisierten wir den Zusammenhang der Annexion der DDR und die heutige Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Unsere Aktion schaffte es in die lokale Presse5 und zum MDR6.

Neben einigen aufgebrachten Passanten und vereinzelten verbalen Anfeindungen gab es viel Interesse an unseren Bannern und Flyern. In den kurzen Gesprächen wurde uns gegenüber teilweise Zustimmung geäußert. Man findet es richtig, die deutsche Einheit nicht so positiv wie auf der Bühne zu zeichnen. Viele sagten, dass sie sich in der DDR eigentlich nie unfrei gefühlt hätten. Warum man das heute anders sehe, könne jedoch kaum begründet werden. Ein wichtiges Anliegen der Passanten war die enorme Aufrüstung des deutschen Imperialismus und die Einführung des neuen Wehrdienstes bzw. bald vielleicht der Wehrpflicht. Einige äußerten, dass der Kapitalismus das Problem dabei sei, jedoch sähen sie auch die DDR nicht als Alternative. Viele der Teilnehmenden waren unseren Slogans gegenüber überraschend offen und gesprächsbereit. Trotzdem zeigt sich die Wirkung der jahrzehntelangen antikommunistischen Propaganda und schließlich auch des Einheitsdenkmals: Heute sei zwar vieles schlecht, aber man dürfe immerhin Kritik äußern.

Insgesamt war die Aktion ein Erfolg und die Offenheit unter den Teilnehmern der Veranstaltung größer als erwartet. Das fertige „Einheitsdenkmal“ soll in fünf Jahren eingeweiht werden. Es bleibt also noch viel Zeit, um darauf aufmerksam zu machen, wer die Gewinner und die Verlierer der „Einheit“ waren und es bis heute sind.

1https://freiheitsdenkmal-leipzig.de/neuer-flyer-2025

2https://freiheitsdenkmal-leipzig.de/faq

3https://www.sueddeutsche.de/kultur/kolonialismus-wolfram-weimer-erinnerungskultur-nationalsozialismus-holocaust-li.3316485?reduced=true

4Wolfram Weimer: Das konservative Manifest: Zehn Gebote der neuen Bürgerlichkeit. Plassen Verlag, Kulmbach 2018.

5https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2025/10/friedensgebet-lichtkunst-grundstein-zum-freiheits-und-einheitsdenkmal-leipziger-lichtfest-2025-lz-liveticker-635938

6https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/leipzig/blog-lichtfest-nikolaikirche-revolution-ddr-denkmal-114.html

Neofaschismus in Ostdeutschland

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Über die Zerschlagung des Antifaschismus und den Aufbau einer neofaschistischen Bewegung

Einleitung

Die Bilder aus Lichtenhagen und Hoyerswerda sind bis heute unvergessen: Nazimobs machen Jagd auf Migranten. Ohne auch nur einen Schuss abfeuern zu müssen, annektierte die BRD kurz zuvor die DDR: Massenarbeitslosigkeit, Deindustrialisierung und Hexenjagden auf Kommunisten werfen eine Gesellschaft komplett um. Die Volkswirtschaften Osteuropas wurden ausgeplündert und Deutschland wieder Führungsmacht auf dem Kontinent. Beflügelt vom nationalistischen Freudentaumel der „deutschen Einheit“ machen sich Faschisten in Ostdeutschland breit; schnell entstehen die ersten „national-befreiten Zonen“.

Wurde die Hegemonie rechter und faschistischer Kräfte in Ostdeutschland je gebrochen? Die Stärke und Präsenz von Neonazigruppen und die hohen Zustimmungswerte für die AfD, drängen die Frage nach den Kontinuitäten der Neunzigerjahre auf.

Über die tatsächlichen Hintergründe des sogenannten Rechtsrucks lernt man genauso wenig, wie über die staatlich betriebene Faschisierung des Ostens in den 1990ern. Keiner fragt, woher die Faschisten kommen, wer ihnen einen Nährboden bietet und sie fördert. Die Antwort wäre zu unbequem.

Wem nützt ein starker Neofaschismus? Und zu welchem Zweck?

Wenn wir mit Recht davon ausgehen, dass Antifaschismus in der DDR tatsächlich Staatsdoktrin war, wie konnte dann das Gift des Chauvinismus und Fremdenhasses so rasch verbreitet werden? Wie wurde die neofaschistische Bewegung in Ostdeutschland aufgebaut und gestärkt? Welche Interessen standen hinter dieser Entwicklung und welche Widersprüche trieben sie voran?

Man darf nicht außer Acht lassen, dass die ostdeutsche Bevölkerung, bis heute eine postsozialistische Gesellschaft in der Transformation ist. Sozialismus, dann die Treuhand und der Ausverkauf – diesen Prozess haben nahezu alle Überfünfzigjährigen zwischen Vogtland und Ostsee bewusst miterlebt.

Um die Erstarkung der neofaschistischen Bewegung in Ostdeutschland nachvollziehen zu können, muss die antifaschistische Staatsräson der DDR auf den Prüfstein gestellt werden. Ausgehend davon soll die Entwicklung der neofaschistischen Bewegung der BRD schlaglichtartig beleuchtet werden. So können wir zu der grundlegenderen Frage vordringen, welche Prozesse freigesetzt wurden, als 1990 ein Staat voller Kontinuitäten des Faschismus einen Staat der antifaschistischen Staatsräson annektierte, ausverkaufte und unter seine Ordnung unterwarf.

Um sich dem Prozess der Refaschisierung Ostdeutschlands zu widmen, müssen zwei Tendenzen untersucht werden: Einerseits der Aufbau einer neofaschistischen Bewegung in Ostdeutschland und andererseits der Abbau des DDR-Antifaschismus. Dabei muss unter die Lupe genommen werden, wie sich Medien, Politik, Wirtschaft und die neofaschistische Bewegung an beiden Prozessen beteiligten.

Die DDR: Ein antifaschistischer Staat?

Antifaschistisch-Demokratische Ordnung

In der Sowjetischen Besatzungszone begann auf Basis der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz eine antifaschistisch-demokratische Umwälzung. In den Folgejahren wurde diese Ordnung durch die politische Einheit der Arbeiterklasse und der SED immer stabiler. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, welche zentrale Rolle der Sowjetunion und ihrer Militäradministration in dieser Zeit zukam.

An die Stelle des zerschlagenen faschistischen Staatsapparates rückte eine antifaschistisch-demokratische Staatsmacht aus Parteien und Massenorganisationen, die sich zur antifaschistischen und demokratischen Umwälzung unter der Führung der Arbeiterklasse bekannten.

Diese antifaschistische Ordnung stellte eine Übergangsform zum sozialistischen Aufbau dar und bedeutete gleichzeitig härtesten Klassenkampf, auch wenn er sich ohne Ausbruch eines Bürgerkrieges vollzog.

Entnazifizierungen und Enteignungen

Im Jahr 1945, nur wenige Wochen nach der Befreiung vom Faschismus, stellte Walter Ulbricht fest, dass „[…] sich die große Mehrheit des deutschen Volkes als Werkzeug der Naziführer und Rüstungsindustriellen gebrauchen ließ. Hitler konnte sechs Jahre lang sein Kriegsverbrechen durchführen, weil im deutschen Volke die ideologischen Abwehrkräfte gegen die imperialistische und militaristische Ideologie nur ungenügend vorhanden waren, weil das Gift der Raubideologie und militärische Kadavergehorsam tief im Volke stecken.“[1] Aus diesem Zitat werden die 3 großen Aufgaben, vor denen die Antifaschisten und Kommunisten auf dem Boden der späteren DDR standen, besonders deutlich.

  1. Die Naziführer mussten gesäubert und verfolgt werden.
  2. Die Kriegsindustriellen und Völkermordprofiteure mussten enteignet werden.
  3. Die wohl langfristigste und schwierigste Aufgabe: Die faschistische Ideologie musste bekämpft und überwunden werden.

In vielen Städten hatten sich nach Kriegsende spontan antifaschistische Ausschüsse oder Komitees gegründet, einige arbeiteten schon vorher in der Illegalität. Diese stärkten unter Schirmherrschaft der Sowjetischen Militärverwaltung die lokalen Strukturen der FDJ, des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) oder der SED und gingen später in sie über. Viele wurden in die städtischen Verwaltungen eingesetzt.[2] Gleichzeitig strömten Hunderte Kommunisten aus dem Exil zurück in die Besatzungszonen.

Um den Faschismus ökonomisch in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) auszurotten, wurden im Rahmen der Bodenreform 7200 Großgrundbesitzer und 4500 andere Kriegsverbrecher entschädigungslos enteignet. Bis 1948 wurden darüber hinaus 9200 Betriebe von Kriegsgewinnlern und Naziaktivisten in die Hände des Volkes übergeben und enteignet. Den Maßnahmen stimmten 77,7 Prozent der Sachsen in einer Volksabstimmung zu.

72 Prozent der alten Lehrerschaft gehörten der NSDAP an und mussten aus dem Schuldienst entfernt werden.[3] Um die Erziehung und Bildung weiterhin zu gewährleisten entstand die Neulehrer-Bewegung als politische Kampagne der SED und der Sowjetischen Verwaltung. Insgesamt wurden 40.000 junge Arbeiter und Arbeiterinnen in mehrmonatigen Lehrgängen zu Pädagogen ausgebildet. Diese Neulehrer wurden darauf geprüft, ob sie „Willens und in der Lage waren die deutsche Jugend im Geiste des Antifaschismus, Humanismus, sowie der Demokratie und Völkerfreundschaft zu erziehen“.[4]

DDR-Historiker Stefan Doernberg bringt die Rolle der Entnazifizierung treffend auf den Punkt: „Obwohl die Entnazifizierung nicht die Hauptmethode der demokratischen Erneuerung der Verwaltungsorgane war, weil leitende Funktionen von Anfang an von Antifaschisten übernommen wurden, trug sie dennoch wesentlich zur endgültigen Zerschlagung des imperialistischen Staatsapparats bei. […] Die völlige politische Entmachtung der faschistisch-
militaristischen Kräfte war ein längerer Prozess, dessen Hauptinhalt die Zerschlagung der imperialistisch-kapitalistischen Staatsmaschine und der Aufbau neuer antifaschistisch-demokratischer Staatsorgane war.“
[5]

Allein bis 1946 entließ man 390.478 ehemalige Nazis aus ihren Stellen und Funktionen in Verwaltung, Justiz, Bildung und anderen Bereichen. Darüber hinaus ermittelte das Ministerium für Staatssicherheit bis 1989 gegen alte Kriegsverbrecher und Nazis.[6] In der DDR war es nahezu unmöglich, mit einer SS- oder Wehrmachtshistorie in höhere gesellschaftliche Positionen aufzusteigen. Es gab zwar höhere Staatsbeamte und eine Handvoll Minister in der DDR mit ehemaliger NSDAP-Mitgliedschaft, diese waren allerdings weder in der SS, noch in leitenden Funktionen, um Krieg und Massenmord zu koordinieren, gewesen.[7] Das beweist der Fall des Ernst Großmann, der SS-Mann und KZ-Aufseher fälschte seine Biographie und stieg in das ZK der SED auf. Als seine Vergangenheit 1959 bekannt wurde, schloss man Großmann sofort aus.[8]

Aufarbeitung und antifaschistische Erziehung

Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, aber auch kleinere Publikationen zeugen von einer breiten und umfangreichen Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Publikationen wie „Der SS-Staat“ (1947) sammelten Erlebnisberichte von KZ-Häftlingen. Walter Ulbrichts „Die Legende vom deutschen Sozialismus“ (1946) klärte über die Lügen und Verbrechen des Faschismus auf. Auch die Literatur für Kinder und Jugendliche leistete einen wichtigen Beitrag zur antifaschistischen Erziehung. Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ (1958) wurde ein zentraler Bestandteil der antifaschistischen Bildungsarbeit und fand Einzug in nahezu alle Klassenzimmer der DDR. Bereits zuvor war Anna Seghers’ „Das siebte Kreuz“ ein bekannter Titel in den Schulen. Auch die Behauptung, die DDR habe den Massenmord und die Verfolgung der Juden ignoriert oder nie aufgearbeitet, hält einer Überprüfung nicht stand. Insgesamt widmeten sich 1.086 Publikationen aus DDR-Verlagen der jüdischen Geschichte, Religion und dem Alltagsleben. Zwischen 1945 und 1990 wurden mindestens 238 literarische Werke (darunter Romane, Novellen und Gedichte) zum Völkermord an den europäischen Juden veröffentlicht, wissenschaftliche Literatur ausgenommen![9]

Ein wesentlicher Bestandteil der Erinnerungspolitik in der DDR war es, die Opfer des Faschismus nicht zu vereinzeln oder in Kategorien aufzuteilen, sondern allen Opfern gleichermaßen ehrwürdig zu gedenken. Dabei nahm der Widerstand gegen den Faschismus eine besondere Rolle ein. Das bedeutete jedoch nicht, dass die spezifischen Ursachen der Verfolgung und die Umstände von Opfergruppen ausgeblendet wurden.

Denkmäler und Mahnmale für Opfer des Faschismus prägten zunehmend die Stadtbilder der DDR. Diese wurden oftmals in Absprache mit antifaschistischen Widerstandskämpfern und mit Unterstützung von Arbeitskollektiven errichtet. Mit Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen wurden Drei große Nationale Mahn- und Gedenkstätten geschaffen die weltweite Bekanntheit erlangten.

Am Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, sowie dem Tag der Opfer des Faschismus, aber auch anlässlich der Befreiung einzelner Konzentrationslager oder an Orten faschistischer Verbrechen füllten sich die Straßen und Gedenkorte jährlich mit breiten Menschenmassen. Durch solche Veranstaltungen in enger Zusammenarbeit mit Schulen, Universitäten, Betriebskollektiven und FDJ-Gliederungen wurde die Gedenkstättenarbeit zu einem zentralen Bestandteil politischer Bildungsarbeit.[10]

Antifaschistische Massenorganisationen und ihre Arbeit

Alle Parteien, Organisationen und Verbände mussten sich auf Basis der antifaschistischen Ordnung der DDR gründen und ihre Arbeit danach ausrichten. Alle Massenorganisationen durchzog ein klares Bekenntnis zur Völkerverständigung und zur internationalen Solidarität.

Während der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands regelmäßig sondierte, wie sich eine kämpferische antifaschistische Kultur entfalten ließe, partizipierte der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) an internationalen Konferenzen gegen Krieg und Faschismus.[11] Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft organisierte regelmäßig die Verständigung und den kulturellen Austausch mit den Völkern der Sowjetunion. Der Freien Deutschen Jugend (FDJ) oblag neben den Institutionen der Volksbildung maßgeblich die antifaschistische Erziehung der Jugend. Sie organisierte gemeinsame Ausflüge und Aktivitäten, wie bspw. Gespräche mit Opfern des Faschismus oder dem Besuch von Konzentrationslagern. Auf internationalen Konferenzen widmete sich die FDJ nicht nur dem historischen Faschismus, sondern warnte auch immer wieder vor den Machenschaften deutscher Faschisten in der BRD.[12]

Das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer spielte in der antifaschistischen Politik eine besondere Rolle. Es setzte sich im Jahr 1953 als Vereinigung vieler verschiedener Vereine und Gruppen von KZ-Häftlingen zusammen: Jüdische, christliche, liberale, sozialdemokratische oder kommunistische Gruppen waren gleichberechtigt vertreten.[13] Sie alle erhielten Sozialleistungen für Opfer des Faschismus und betreuten gleichzeitig die korrekte Vergabe dieser. Verfolgte und Widerstandskämpfer erhielten in der DDR höhere Löhne, besseren Zugang zu Lebensmitteln und medizinischer Versorgung, sowie mehr Urlaubstage.[14]

Das Komitee gliederte sich in 15 Bezirks- und 111 Kreiskomitees und war gleichzeitig in der Nationalen Front der DDR vertreten.[15] Neben der Betreuung von Opfern des Faschismus und der Organisation von Kundgebungen, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen veröffentlichte das Komitee regelmäßig Hefte und größere Schriften über Konzentrationslager, Widerstandsgruppen, Verbrechen und Massaker oder Fragen des aktuellen antifaschistischen Kampfes. Die Kasse des Komitees im Wert von 1,7 Millionen D-Mark wurde 1991 von der Treuhandanstalt einkassiert und geraubt.[16]

Antifaschistische Praxis

Die „operative Aufarbeitung“ oblag dem Ministerium für Staatssicherheit und den Justizbehörden der DDR. Diese Organe waren von Anbeginn ihrer Gründung mit untergetauchten Nazi-Kadern, faschistischen Saboteuren und Terroristen, sowie faschistisch motivierten Straftaten beschäftigt. Von faschistischen Verbrechern der Kriegszeit bis zu Hitlergruß zeigenden Schülern wurden sämtliche Straftaten penibel im NS-Archiv der Hauptabteilung IX/11 und IV der Staatssicherheit dokumentiert und verfolgt.[17] Das Justizministerium der jungen DDR sprach sich unter der Leitung der antifaschistischen Widerstandskämpferin Hilde Benjamin für klare und harte Urteile gegen Faschisten und Kriegsverbrecher aus. Die BRD-Justiz erklärte die zahlreichen Urteile gegen Nazi- und Kriegsverbrecher nach 1990 allesamt für gegenstandslos.[18] Die Entnazifizierung des Rechtssystems in der DDR hatte die Entlassung nahezu aller Nazi-Richter, Anwälte und Justizangestellten zur Folge. An ihre Stelle traten Volksrichter und Justizpersonal aus der Arbeiter- und Bauernschicht.[19]

Die Hauptabteilung IX/11 versorgte die anderen Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit mit Informationen und kooperierte mit dem Generalstaatsanwalt der DDR bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[20] Durch die Arbeit der Staatssicherheit konnten zahlreiche Enthüllungen gegenüber ranghohen BRD-Politikern gelingen. Ein Höhepunkt dieser Arbeit stellte das 1965 erschienene Braunbuch über 1000 Kriegs- und Naziverbrecher in Staat, Wirtschaft, Armee, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft der Bundesrepublik dar.[21] Der bürgerliche Historiker Götz Aly geht von einer Fehlerquote von nur 1% in den Recherchen aus.[22] In der Bundesrepublik wurde das Buch verboten. Derartige Recherchen nutzte die Staatssicherheit, um in Sonderfällen auch Personen über die Grenze der DDR zu entführen und vor ein Gericht zu stellen.[23]

Der Antifaschismus der DDR war außerdem fest mit den Prinzipien der Völkerfreundschaft und internationalen Solidarität verbunden. Solidaritätsdemonstrationen für Chile, Hilfsaktionen für griechische und portugiesische Antifaschisten, Kampagnen für Angela Davis und Nelson Mandela, sowie die DEFA-Filme über die Machenschaften Pinochets und Francos bildeten nur einen kleinen Teil dieser Solidaritätsarbeit ab. [24] Bis 1990 wurden neofaschistische Aktivitäten in der BRD genau von den Medien der DDR verfolgt und untersucht.

Der Aufbau einer neofaschistischen Bewegung in der BRD

Kontinuitäten in Staat und Politik

Die Kontinuitäten des Faschismus in der BRD sind weithin bekannt: Antifaschistische Organisationen wurden verfolgt und verboten. Neben der KPD und der FDJ, gerieten auch der Demokratische Frauenbund Deutschlands, die Deutsch-Sowjetische-Freundschaft und die Vereinigung Verfolgter des Naziregimes (VVN) ins Visier der Behörden. Die Nazi-Kontinuitäten im Staatsapparat der BRD waren gravierend: Noch Ende der 1960er Jahre hatten 75 Prozent der Mitarbeiter des BKA eine NSDAP-Mitgliedschaft,- 50 Prozent waren ehemalige SS-Mitglieder. In der Führungsebene des Justizministeriums lag die NSDAP-Quote 1966 bei 66 Prozent.[25] Die Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft wurden mit 300 Repräsentanten von Monopolunternehmen wie der Flick AG, der Deutschen Bank oder der Thyssen AG besetzt.[26] Die deutschen Monopole restaurierten ihren imperialistischen Staatsapparat, mithilfe der USA, für die Anforderungen des Kalten Krieges: Westbindung, Antikommunismus und Remilitarisierung.

Wenn man die Zahl des bürgerlichen Historikers Wolfgang Benz heranzieht, können wir von 140.000 entlassenen Nazis in den westlichen Besatzungszonen ausgehen.[27] Eine nichtige Zahl – denn im 1951 erlassenen Gesetz 131 wurden alle Personen, die bis zum 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst arbeiteten, rehabilitiert und wiedereingestellt.[28] Dieses Gesetz stammte von einer Adenauer-Regierung, in der 16 von 25 Staatssekretären eine schwer belastete faschistische Vergangenheit aufwiesen.[29]

Das Bundesverfassungsgericht fand im Jahr 1972 eine eindeutige Antwort auf die Frage der Kontinuitäten. Die Richter konstatierten, dass das Grundgesetz davon ausgeht, „dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist“. Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern „ein Teil Deutschlands neu organisiert […]. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger’ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich’, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch’, so dass insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.“[30]

Massenbasis und Impulsgeber

Der Neofaschismus hatte seine Massenbasis in verschiedenen SS- und Wehrmachts-Traditionsvereinen sowie im erzreaktionären und revanchistischen „Bund der Vertriebenen“, der eigenen Angaben zufolge 2 Millionen Mitglieder zählte.[31] In weiteren Verbänden und Landsmannschaften tummelten sich nicht nur CDU-Bundestagsabgeordnete, sondern auch alte SS-Offiziere.[32] Die SS-Traditionsverbände zählten 40.000 Mitglieder,- unter ihnen waren auch viele Bundeswehr-Offiziere.[33] Das Verhältnis des bundesdeutschen Konservatismus zum Neofaschismus, bringt CSU-Chef Franz Josef Strauß folgendermaßen auf den Punkt: „Man muß sich der nationalen Kräfte bedienen, auch wenn sie noch so reaktionär sind. Hinterher ist es immer möglich, sie elegant abzuservieren. Denn mit Hilfstruppen darf man nicht zimperlich sein“.[34] Die Netzwerke nationalkonservativer Unionspolitiker reichten tief in die neofaschistische Bewegung hinein. Diese sogenannten „Stahlhelmer“ waren immer wieder am Aufbau neofaschistischer Parteien beteiligt.

Mit dem Regierungsantritt der Sozialliberalen Koalition von SPD und FDP, sowie den Studentenprotesten von 1968/69, geriet einige Dynamik in die Reihen dieser neofaschistischen Strukturen, die wir genauer nachvollziehen müssen, um den Neofaschismus der Neunzigerjahre zu verstehen.

Ideologische Modernisierung

Der Neofaschismus vollzog ab den 1970ern zunehmend eine ideologische Modernisierung seiner Leitlinien. Die wesentliche ideologische Entwicklung bestand in einer Retuschierung der „nationalsozialistischen“ Ideologie durch eine Zuwendung zu präfaschistischen Ideologen.[35] Mit Bezügen auf Schriftsteller wie Ernst Jünger, Oswald Sprengler und Carl Schmitt ließ sich eine scheinbare Distanz zum „Nationalsozialismus“ herstellen.

Der Staatsrechtler Carl Schmitt skizzierte in den 1920ern Ideen von völkischem Lebensraum und autoritärer Staatsführung, die unter Konservativen und Faschisten großen Anklang fanden.[36] Der Schriftsteller Oswald Sprengler war begeisterter Rezipient des italienischen Faschismus und entwarf ein autoritäres Führerstaatsmodell nach dem Vorbild Julius Caesars.[37] Ernst Jünger errang nach 1918 große Bekanntheit mit seinen militaristischen Weltkriegsromamen.[38] Im Wesentlichen gleichen sich all diese Vordenker in der Zusammenführung des zeitgenössischen Rechtskonservatismus mit der aufkeimenden faschistischen Ideologie.

Eine Schlüsselfigur bei der ideologischen Neuformierung der neofaschistischen Bewegung nach 1945 war der Schweizer Armin Mohler. Mit seiner Dissertation „Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932“ aus dem Jahr 1950 legte er einen der wichtigsten Grundlagentexte für die Neue Rechte vor. Er entnazifizierte und kanonisierte Autoren wie Schmitt, Jünger und Sprengler und reihte sie in die Tradition der „Konservativen Revolution“ ein.

Nach dem Krieg engagierte Mohler sich als Privatsekretär von Ernst Jünger und blieb zeit seines Lebens in engem Kontakt mit Carl Schmitt.[39] Mohlers Ideen schienen schnell Anklang in herrschenden Kreisen zu finden: Ab den 1960ern engagierte ihn die Siemens-Stiftung als Vorsitzenden. Als regelmäßiger Autor für Zeitungen wie die Zeit oder die Welt erlangte Mohler erheblichen Einfluss auf den westdeutschen Konservatismus und unterhielt Kontakte zur französischen Neuen Rechten. Durch seine Verbindungen zu Franz Josef Strauß verfügte er über einen direkten Zugang zur Unionspoltik.[40] Alle größeren Parteien, Verlage und Arbeitskreise, die der Neuen Rechten nahe standen, trugen später seine ideologische Handschrift. Sein Einfluss reichte tief hinein in die Führungsriegen der Deutschen Volksunion (DVU) und der Republikaner (REP). In der Criticon oder der jungen Freiheit schrieb er nicht nur regelmäßig, sondern leistete auch Aufbauhilfe. Der Mohler-begeisterte Verleger und neurechte Stratege Götz Kubitschek bezeichnete ihn später als „Vordenker und Mentor unseres politischen Milieus“.[41] In der Siemens-Stiftung zog er noch bis 1985 die Fäden und scharte zahlreiche Gleichgesinnte um sich.[42] Es wäre falsch, die Modernisierung faschistischer Bewegungen allein ihm zuzuschreiben. Er sei an dieser Stelle als prominenter Vertreter einer ganzen Tendenz beleuchtet, nicht als alleiniger Initiator.

Eine ausführliche Zuwendung zu Theorien und Konzepten der Neuen Rechten würde für diese Broschüre den Rahmen sprengen. Der wohl wichtigste Grundsatz besteht in der Metapolitik: Kampf um die kulturelle und politische Hegemonie im vorpolitischen Raum. Wofür man in den Fünf Jahrzehnten nach 1945 nur eine Handvoll Verlage, Zeitschriften und Studienzentren zur Verfügung hatte, steht heute ein breites Netz aus Medien, aktionistischen Gruppen und Verlagen zur Verfügung. Während die Neue Rechte historisch Parteiprojekte unterstützend begleitete, ist sie heute um die AfD organisiert. Das Ziel bleibt, abseits der Parteipolitik eine moderne neofaschistische Bewegung aufzubauen. Hinzu kommt, den Einfluss von Neofaschisten in der Partei zu stärken.

Die NPD, die DVU und die Republikaner präsentieren drei Parteiaufbauprojekte im Sinne dieser Reorganisierung und Modernisierung. Alle Drei, besonders die Republikaner, sind von den Ideen der Neuen Rechten beeinflusst. Sie alle sind in erster Linie Projekte des deutschen Monopolkapitals zur Aufstellung einer neofaschistischen Sammlungspartei. Die Ideen der Konservativen Revolution, sowie die Herkunft aus dem rechten Rand der CDU einen diese drei Projekte. Sie entstanden als Antworten auf die Krisen des Konservatismus.

Für ein besseres Verständnis davon, welche Kräfte sich in den Neunzigerjahren in Ostdeutschland breitmachten, wollen wir NPD, DVU und Republikaner kurz vorstellen.

Die NPD

Der sowjetische Historiker Frumkin offenbart im Verhältnis NPD-CDU/CSU eine interessante historische Kontinuität: „Trotz der Mißerfolge und Niederlagen der Neonazis in den letzten Jahren braucht das Monopolkapital der BRD die NPD und die anderen neonazistischen Gruppierungen. Und vor allem werden sie von der CDU/CSU benötigt, der politischen Hauptpartei der aggressiven Kreise des Monopolkapitals in der BRD. Die NPD funktionierte schon als „Stoßtrupp der CDU/CSU“, als diese an der Spitze der Bonner Regierung standen. CDU/CSU konnten immer weiter nach rechts rücken und sich den Anschein geben, als wollten sie die „gemäßigte“ und „liberale“ Linie gegen den „Extremismus“ und „übertriebenen“ Nationalismus der NPD verteidigen.“[43]

Die NPD achtete trotz, und vielleicht gerade wegen, ihrer dutzenden Nazi-Biografien darauf, einen „gesitteten Konservatismus“ zu vertreten. Die Partei hielt dabei gute und persönliche Kontakte zur CDU/CSU und ließ sich vom Bonner Verteidigungsministerium, dem Bundesverband der deutschen Industrie[44] sowie von Teilen der Bundeswehrführung finanzieren.[45] Durch Inserate von Bayer und Bertelsmann wurde die Bekanntheit der Partei gezielt gesteigert.[46]

Nach dem Einzug der Partei in nahezu alle Landtage der BRD, verfehlte sie 1969 den Einzug in den Bundestag nur knapp,- scharfe Diskussionen und Abspaltungen waren die Folge.[47] 1971 war die Partei bereits auf die Hälfte ihrer Mitglieder (14.000) geschrumpft und deutlich stärker vom offen neofaschistischen Flügel der Partei dominiert. Damit einher ging das schlechte Image der Partei als extremistische Splittergruppe.[48]

Die Streitigkeiten in der NPD um einen nationalkonservativen Kurs entgegen dem Willen militanter Gruppierungen sorgten für Richtungskämpfe und Unklarheiten, die letztlich zur anhaltenden Krise der NPD in den 1970ern führten.

Deutsche Volksunion

Um die SPD und FDP, aber auch die CDU selbst unter Druck zu setzen, inspirierte Franz Joseph Strauß (CSU) 1971 die Gründung der neofaschistischen Deutschen Volksunion (DVU).[49] Sie sollte fortan die Funktion erfüllen, welche die NPD durch ihren Abwärtstrend nicht mehr gewährleistete.

Gerhard Frey, Gründer, Geldgeber und politischer Führer, war der Kandidat für ein solches Projekt. Er pflegte enge Beziehungen zur CSU und Franz Joseph Strauß und war durch sein millionenschweres Verlagsimperium in die Kreise des deutschen Kapitals integriert.[50] Sein Beziehungsgeflecht reichte von BND-Gründer Reinhard Gehlen bis zum BRD-Innenminister Seidl. Mit dem ab 1969 einsetzenden Abwärtskurs der NPD, begannen Pläne zur Formierung einer neuen Partei. Frey beklagte, dass die NPD „zu eng“ angelegt gewesen sei, und sprach sich für eine offenere Partei aus. Die DVU-Mitgliederzeitung schrieb 1971: „Letzter Anlass für die Gründung war die sich steigernde Kapitulationspolitik der roten Regierung gegenüber dem Osten, insbesondere die Verträge von Moskau und Warschau … Die DVU ist keine Partei. Sie will alle verfassungstreuen Kräfte von mitte bis rechts zusammenführen“[51] Die rechtskonservative Stahlhelmfraktion innerhalb der Union versprach sich von der DVU-Gründung einen ständigen politischen Druck auf CDU und CSU, der die Partei nach rechts zieht. An der DVU-Gründungskonferenz beteiligten sich mehrere NPD-, CDU- und CSU-Mitglieder, sowie zahlreiche Altnazis.[52]

Die Deutsche Volksunion konnte sich durch die umfangreichen finanziellen Mittel und Netzwerke Freys beständig formieren und ab 1976 zu einer festen politischen Kraft heranwachsen. In den 1980er Jahren sollte die Partei auf eine Mitgliederstärke von anfänglichen 15.000 bis 25.000 ansteigen und in den 1990ern erste größere Wahlerfolge verzeichnen.[53]

Die Republikaner

Mit dem Niedergang der sozialliberalen Regierung und dem neuen Antritt der CDU/CSU im Jahr 1982/83 entstand zehn Jahre nach der DVU-Gründung ein neuer Impuls. Der radikal-antikommunistische, rechte Flügel der CDU war entsetzt über die, von Franz Joseph Strauß bewilligten, Milliardenkredite an die DDR und den vermeintlichen Linkskurs in der CDU/CSU. Dies führte 1983 zur Gründung der Republikaner durch die CSU-Mitglieder Ekkehard Voigt und Franz Handlos.[54] Ein weiteres Gründungsmitglied, der Fernsehmoderator Franz Schönhuber, war 1981 wegen beschönigender Aussagen zur Waffen-SS aus dem Dienst entlassen wurden.[55] In den Jahren zwischen 1985 und 1989 kletterte die Mitgliederzahl der Republikaner von 2.500 auf 25.000 und die Partei zog in mehrere Landtage ein.[56]

Der Konservatismus in der Partei wurde zunehmend um nationalistische und revanchistische Ideen ergänzt. Hinter dieser Entwicklung standen die Politik Schönhubers und die parteinahe Denkfabrik „Deutschlandrat“. Dieser „Deutschlandrat“ entstand als Arbeitsgruppe der Siemens-Stiftung.[57] Vorsitzender Franz Schönhuber konnte sich mit seinem Kurs der Unterstützung aus den Reihen der mitgliederstarken Vertriebenenverbände sicher sein und die Partei früh für zahlreiche Neofaschisten öffnen.[58]

Verlage, Zirkel und Arbeitsgruppen

Eine nennenswerte Entwicklung dieser Neuorientierung in der neofaschistischen Bewegung war die Gründung des Thule Seminars im Jahr 1980. Die von Pierre Krebs und dem Verlegerehepaar Grabert in Kassel gegründete Denkfabrik versammelte zahlreiche Mitglieder von CDU/CSU, NPD und DVU mit dem Ziel, Strategiedebatten „zur Erringung der kulturellen Hegemonie“ zu führen und eine „Kulturrevolution von rechts“ durchzuführen.[59]  Das 1979 gegründete Studienzentrum Weikersheim verfolgte ähnliche Ziele und wurde durch die Daimler-Benz-Stiftung finanziert.[60]

1986 entstand ein weiteres, wichtiges Organ zur Debatte und strategischen Orientierung:  dieJunge Freiheit. Die Zeitung richtete sich vorrangig an studentische Kreise und widmete sich „Aktivitäten im nationalkonservativen vorpolitischen Raum“.[61] Sie vollzog damit den Spagat zwischen Konservatismus und Neofaschismus. Auch die Gründer des Instituts für Staatspolitik Karlheinz Weitzmann und Götz Kubitschek schrieben regelmäßig für die Junge Freiheit, welche ab den 1990ern auch Sommeruniversitäten organisierte. Heute sind zahlreiche Mitglieder und Sprecher der AfD ehemalige Autoren des Blattes.[62] Der CDU-Stahlhelmer und spätere AfD-Bundessprecher Alexander Gauland offenbarte in einem Interview: „Wer die AfD verstehen will, muss die ,Junge Freiheit’ lesen.“[63]

Im Theorieorgan Criticon wurde breit darüber diskutiert, wie Parteien wie die Deutsche Volksunion (DVU) und Die Republikaner dazu beitragen können, vermehrt Einfluss auf den Konservatismus in Deutschland zu nehmen. [64] 1989 formulierte der neurechte Ideengeber Karlheinz Weißmann: „In dieser Perspektive erscheinen die Republikaner eher als erster Aggregatzustand einer künftigen konservativen Basisbewegung, die innerhalb und außerhalb des parlamentarischen Raumes agieren muss.“[65] Das Umfeld der rechten Parteienlandschaft ist nicht zu unterschätzen. Dort wurden richtungsweisende Diskussionen geführt und Netzwerke geknüpft, die den Aufstieg und Niedergang der Parteien überdauerten.

Eine Arbeitsgruppe des Institutes für Staatspolitik zieht folgenden Schluss: „Allerdings ist schwer vorstellbar, dass es ohne Zusammenbruch des Ostblocks und die Wiedervereinigung Restdeutschlands so rasch zu einer Renaissance der konservativen Rechten gekommen wäre.“[66] Die Politik der BRD, die großen Medienhäuser und Geheimdienste lieferten die nötigen Argumente, Finanzen und Straffreiheiten für die Wiedergeburt rechten Terrors und Fremdenhasses.

Neofaschismus in der DDR

Die immer offeneren Auflösungstendenzen im Sozialismus brachten in den späten 1980er Jahren auch vermehrt neofaschistische Aktivitäten in der DDR hervor. Zusammenschlüsse von Neonazis vor der Grenzöffnung waren maßgeblich von faschistischen Strukturen aus der BRD und ihrer Subkultur beeinflusst. Diese Gruppierungen waren marginal und wurden (wie jegliche faschistische Propaganda) strafrechtlich verfolgt.[67] Die Größe neofaschistischer Zusammenhänge überstieg kaum die von Kleingruppen mit zehn bis zwölf Anhängern.[68]

Und dennoch: In Teilen gewaltorientierter Fußballfans und der ohnehin von Antikommunismus geprägten „Subkultur“ in der DDR entstanden rassistische und nationalistische Skinhead-Gruppen, nach westlichem Vorbild.[69].

Solche Entwicklungen wurden öffentlich aufgegriffen. Die Aktuelle Kamera berichtete umfangreich über Grabschändungen auf dem jüdischen Friedhof in Ostberlin. Filme wie „Unsere Kinder“ setzten sich mit der entstehenden neofaschistischen Szene auseinander.[70] Der Gerichtsprozess gegen die neofaschistischen Schläger von der Zionskirche wurde medial begleitet.[71]

Die Behörden der DDR, die solche Umtriebe genau beobachteten, reagierten umgehend mit Repressionsmaßnahmen. Allein im Jahr 1988 wurden 94 Skinheads für Hetze und Fremdenfeindlichkeit verhaftet. Eine Arbeitsgruppe des Innenministeriums zur Erforschung und Bekämpfung der rechten Skinheads wurde aufgestellt. In FDJ-Gliederungen wurden diese Entwicklungen diskutiert und sich über mögliche Gegenmaßnahmen beraten.[72]

In den Diskussionen der FDJ wurde gleichermaßen ein schwindender Einfluss auf die Jugend konstatiert. Gleichzeitig ergaben die Gerichtsprozesse gegen die faschistischen Schläger, dass bereits in den Arbeits- und Schulkollektiven kaum eine Auseinandersetzung mit der Denk- und Handlungsweise der Neonazis stattfand. Eine Ursachenforschung der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Neofaschisten und Rechtsradikalen ergab im Dezember 1989, dass die gezielte Agitation westdeutscher Neofaschisten sowie die gesellschaftlichen Probleme in der DDR zwei Hauptursachen darstellten.[73]

Die Vermittlung antifaschistischer Inhalte in den Jugendprogrammen und dem Schulunterricht der DDR war offensichtlich nicht mehr so fruchtbar wie zu Beginn der DDR. Auch die antifaschistischen Massenorganisationen standen teilweise weit abgeschlagen neben ihren eigentlichen Aufgaben und häuften Karteileichen an. Anspruch und Wirklichkeit des DDR-Antifaschismus klafften immer offener auseinander. Das schrittweise Zusammenbrechen des Arbeiter- und Bauern-Staates zeigte sich am deutlichsten im Versagen der Massenorganisationen und der SED, welche die Interessen und Entwicklungen in der Gesellschaft weder konstruktiv aufnehmen konnten, noch dazu fähig waren mit Unzufriedenheiten umzugehen. Wo die gesellschaftlichen Organisationen des Sozialismus versagten und nicht mehr einen Ort der Kollektivität und des gemeinsamen Zusammenlebens darstellten, entstanden Individualismus, Zynismus, Rückzug ins Private und Apolitische oder eben in Szenen und Subkulturen wie jene der Neonazis.

Die Untersuchungen der Arbeitsgruppe des DDR-Innenministeriums legten offen, dass sich Neo-Nazis aus Ost und West konspirativ trafen und austauschten: „Das Knüpfen von kommunikativen Verbindungen diente der Entwicklung von Kommunikationsbeziehungen. Die Kommunikation diente dem Transport von Informationen und dem Materialaustausch. Diese Kooperation war daher geeignet, den beteiligten Gruppen Anstöße zur weiteren Entwicklung zu geben. Um kooperationsfähig zu sein, müsste man etwas „bieten“ können, mit Organisationsqualität und Erfolgen eigener Aktivitäten aufwarten können.“[74] Besonders häufig seien Propagandamaterialien der Republikaner, der Freien Arbeiterpartei (FAP) und der NPD durch konspirative Treffen in der DDR in Umlauf gebracht worden.[75] Hinzu kam die von V-Leuten infiltrierte Nationalistische Front (NF), die Kontakte in die Skinhead- und Hooliganszene der DDR aufbaute.[76] Kader der Nationalistischen Front nutzten beispielsweise Kontakte hinein in Ostberliner Fußballclubs wie Union Berlin und BFC-Dynamo. Anführer Andreas Pohl erhielt deswegen ab 1985 ein Einreiseverbot in die DDR.[77]

Die Ermittlungen der Staatssicherheit ergaben ein rechtsradikales Personenpotential von 1067 Personen, größtenteils Skinheads. Die Rechtsradikalen waren immer besser mit westdeutschen Neofaschisten vernetzt. Sie nutzten ihre Musik und ihr Propagandamaterial.[78] Kaderschulungen, eigene Organe, größere Vernetzungsmöglichkeiten, geschweige denn staatliche Finanzierung oder Unterstützung – das war undenkbar, solange die SED an der Macht blieb.

Die antifaschistische Kultur und Bildung wurde von der Paralyse und Entfremdung nahezu aller Organisationen der DDR erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Zahlreiche nach 1990 vorgenommene Studien weisen zwar eindeutig nach, dass die ostdeutsche Gesellschaft ein deutlich höheres „Problembewusstsein und Wissen über die faschistische Vergangenheit“ hatte – und zwar in allen Generationen. Ein Abwärtstrend der Jahrgänge ab 1972 ist trotzdem an verschiedenen Stellen deutlich. Selbst diese Generation übertraf dennoch weiterhin den Wissensstand der BRD-Bevölkerung.[79] In diesem Abwärtstrend zeigt sich das Problem der DDR-Organe mit Generationen umzugehen, die in den Sozialismus hineingeboren wurden und viele politische und soziale Errungenschaften für selbstverständlich hielten.

Eine Emnid-Umfrage aus dem Jahr 1991 stellte fest, dass 16% der westdeutschen Bevölkerung eine „extrem antisemitische“ Einstellung vertraten, während dies nur für 4% der DDR-Bevölkerung zutraf.[80] Deutlicher werden diese Unterschiede anhand von Straftaten. In 40 Jahren DDR wurden 85 jüdische Friedhöfe geschändet. Die BRD verzeichnet im gleichen Zeitraum 1400 Grabschändungen.[81]

Vor Öffnung der Grenze waren von der BRD freigekaufte Faschisten ein bedeutender Faktor zum Aufbau von Verbindungen in die DDR hinein. Im Gegensatz zur BRD waren die Gefängnisse der DDR gefüllt mit alten und neuen Nazis. Sie saßen ein für Verbrechen im Hitlerfaschismus oder Rassenhetze, Gewaltaktionen oder Propaganda in der DDR – häufig jedoch in den gleichen Gefängnissen und mit Möglichkeiten zum Austausch untereinander.[82] Um sich Devisen zu beschaffen, überließ die DDR Häftlinge, die ohnehin ausreisen wollten, der Bundesrepublik und erhielt im Gegenzug mehrere tausend D-Mark pro Häftling. Von dem Geschäft profitierten auch dutzende Faschisten, da sie in den Gefängnissen kaum politische Arbeit leisten konnten.[83] Sie erhielten in der BRD ihre Freiheit, galten zum Teil als politisch Verfolgte und konnten ihre Arbeit wieder aufnehmen. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, zu welch fatalen Fehlschlüssen das Devisenproblem in der DDR führen konnte.

Unter den freigekauften Faschisten waren nicht wenige, die nach 1990 wieder ihre Arbeit im Osten aufnahmen. Da war beispielsweise, der 1967 inhaftierte und ein Jahr später freigekaufte, Faschist Arnulf Priem. Er konnte seine Erfahrungen aus der DDR in Michael Kühnens Netzwerk „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“einbringen. Auch ein späterer Cottbusser Führungskader des Netzwerkes war in den 1980ern zuerst für Verbindungsaufnahme zu Westnazis inhaftiert worden, wurde dann aber freigekauft und ebenfalls in das besagte Netzwerk aufgenommen.[84] Der Rechtsterrorist Josef Kneifel, welcher im Rahmen eines Agentenaustausches 1987 in die BRD gelangte, konnte sich fortan als „Opfer des Stalinismus“ erfolgreich in Szene setzen. Der selbsternannte Freiheitskämpfer gegen die SED-Diktatur organisierte sich in der NPD-Gefangenensolidarität und unterhielt später Verbindungen zum NSU.[85]

Das Netzwerk Kühnens stellte sich in den 1980ern zunehmend zu einer breiten Dachorganisation auf, die nicht nur Kontakte in die DDR pflegte, sondern auch bestens mit Neofaschisten aus den USA vernetzt war.[86] Die Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF) unterhielt dutzende Vorfeldstrukturen und enge Kontakte zu zahlreichen Parteien.[87] Nicht nur die Vorfeldorganisationen, sondern auch die Führungsriege waren mit V-Leuten durchsetzt, die ihre Verfassungsschutzgehälter in die politische Arbeit investierten.[88] Selbst der Anführer Michael Kühnen unterhielt Kontakte zum Verfassungsschutz. Während das niedersächsische Landesamt für Verfassungsschutz sämtliche Akten zu diesen Umtrieben und Netzwerken nicht mehr vorfinden kann, deckt ein Dossier der Staatssicherheit die Verbindungen auf. Die Staatssicherheit, welche seit 1970 Beweismittel zu Kühnen sammelte und seine politische Arbeit genau beobachtete, stellte in einem Bericht fest, dass Kühnen nach einer Haftentlassung 1982 mit einem Fahrzeug des niedersächsischen Verfassungsschutzes (LfV) vom Gefängnis abgeholt wurde.[89] Der überlieferte „Sachstandsbericht“ der für funkelektronische Aufklärung zuständigen Hauptabteilung (HA) III zog folgendes Fazit: „Möglicherweise war die mehrjährige Inhaftierung des K. dazu genutzt worden, ihn als Informanten oder für eine Zusammenarbeit in anderer Form zu gewinnen.“[90] Wenige Jahre später entwickelte Kühnen ein Strategiepapier für die Dachorganisation GdNF, namens „Arbeitsplan Ost“. Im Falle des Zusammenbruchs der DDR solle übergesiedelt werden, um in Ostdeutschland rechte Strukturen aufzubauen. Die Grenzöffnungen vom 9. November 1989 gaben den Startschuss. Michael Kühnen konnte laut eigenen Aussagen, „mithilfe ortsansässiger Kameraden“ einen Grenzübergang passieren.[91] Dutzende neofaschistische Kader folgten Kühnens Polit-Joint-Venture in die DDR.

Aufbau einer neofaschistischen Bewegung in Ostdeutschland

Amnestie für Faschisten

Die in der DDR (ab 1989) aktiven Neofaschisten bauten Strukturen und Gruppen auf und gingen rasch dazu über, Immobilien und Häuser zu kaufen oder zu besetzen, um ganze Stadtviertel zu dominieren. Es sollte nicht lange dauern, bis diesem, vor allem auf die Jugend fokussierten Aufbau, Gewaltakte und Pogrome gegen Antifaschisten und Ausländer folgten. Unter der Schirmherrschaft Michael Kühnens und des Netzwerkes Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front, wurden Ableger der FAP und NPD aufgebaut und dutzende neue Organisationen gegründet.[92] Unter die Montagsdemonstrationen mischten sich immer häufiger und auffälliger neofaschistische Akteure, die einen Anknüpfungspunkt im antikommunistischen Charakter der Demos fanden. Der Ruf „Wir sind ein Volk“ wurde zum Bindeglied zwischen Konservativen, Neofaschisten und einer Breite an Montagsdemonstranten. Neofaschisten konnten spätestens ab März 1990 unwidersprochen mit Bannern und Transparenten auftreten.[93] In einigen Orten stellten sie Ordner und gingen am Rande der Einheitsdemonstrationen bewaffnet auf linke Gegendemonstranten los. Eine Amnestie für „politische Gefangene der DDR“ (unter ihnen viele Skinheads) vom 6. Dezember 1990 stärkte schrittweise, von einer Entlassung zur Nächsten, die Reihen der Neofaschisten.[94] Unter Ihnen waren auch die Schläger vom Überfall auf die Zionskirche 1987 sowie der spätere „Führer von Berlin“, Ingo Hasselbach.[95] Die größtenteils entweder freigelassenen oder aus Westdeutschland eingereisten faschistischen Kader unterstützten nicht nur den Aufbau von Strukturen und Netzwerken, sie tourten auch mit Vorträgen und als Redner quer durch die ehemalige DDR. Auch Faschisten aus anderen Ländern beteiligten sich an diesem Aufbau. So wurde beispielsweise, auf Einladung der Deutschen Volksunion, David Irving nach Dresden eingeladen, um in mehreren Reden den Mythos des „alliierten Bombenholocausts“ zu prägen. Die Kosten für solche Ausflüge und Veranstaltungen übernahm der Verlagsmillionär und DVU-Gründer Frey.[96] Der Bombenholocaust-Mythos mobilisiert bis heute Neonazis rund um den 13. Februar nach Dresden.

In Berlin gründete der freigelassene Neonazi Ingo Hasselbach in Zusammenarbeit mit Michael Kühnen die Nationale Alternative. Die 800 Mitglieder starke Organisation besetzte ein Haus und hortete dort über 100 Maschinengewehre und 20 Panzerfäuste. Gegen das Haus in der Weitlingstraße fanden regelmäßig antifaschistische Demonstrationen statt.[97]

In Cottbus überließ Kühnen dem Österreicher Gottfried Küssel die Führung. Der gewaltbereite Faschist und Holocaustleugner gilt als politischer Ziehvater Martin Sellners, der sich heute, im Gegensatz zu Küssel, um ein weniger offen-faschistisches Image bemüht.[98]

Übersiedeln, Anheizen, Losschlagen

Die gesteigerte Aktivität dieser neofaschistischen Gruppen ging Hand in Hand mit Gewaltexzessen und Pogromen. Jüdische Friedhöfe und Gräber für Rotarmisten und Kommunisten wurde verschandelt. „Sau Juden“ und „Juden Raus“ Schmierereien wie jene am Grab von Helene Weigel und Bertolt Brecht waren kein Einzelfall.[99] Auch die Gedenkstätte am Treptower Park fiel neofaschistischen Randalierern zum Opfer, die Sarkophage und Statuen zu Ehren der sowjetischen Befreier wurden mit faschistischen Losungen beschmiert. Die Aktion hatte einen starken antifaschistischen Protest zur Folge, dem sich am 3. Januar 1990 250.000 DDR-Bürger anschlossen.[100] Auf Montagsprotesten und eigens organisierten Demonstrationen waren zum ersten Mal seit dem Putschversuch vom 17. Juni 1953 wieder lautstark rechtsradikale Parolen wie „Rotfront Verrecke“ oder „Kanaken Raus“ zu hören.[101]

Den Parolen und Schmierereien folgten Angriffe und Pogrome. 1992 wurden so viele rechtsradikale Gewaltdelikte verzeichnet, wie nie zuvor seit 1949 auf dem Gebiet der BRD. Ohne das bewusste Wegschauen bundesdeutscher Behörden, sowie die Aufbau-Unterstützung durch den Verfassungsschutz wäre das undenkbar gewesen. In allen ostdeutschen Städten konnten rechtsradikale Mobs nahezu Angriffe und Brandanschläge verüben.[102] Als Antwort von Unten entstand organisierte antifaschistische und migrantische Gegenwehr.

In Hoyerswerda und Rostock konnten gewalttätige Mobs tagelang Jagd auf Ausländer machen. Diejenigen, die klatschten und zuschauten, waren nicht nur durch die faschistischen Gruppen mobilisiert worden, sondern vorrangig durch die rassistischen Hetzkampagnen in den deutschen Medien. Sie machten sich als geistige Brandstifter mitschuldig. Die tagelangen Verfolgungen und Angriffe auf Ausländer wurden medial flankiert von Berichterstattungen über das sogenannte „Asylproblem“, während die Polizei die Faschisten gewähren ließ.[103]

In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990, der Nacht zur endgültigen Annexion der DDR, griffen über 1500 bewaffnete Neonazis in teils pogromartigen Situationen Antifaschisten, Hausbesetzer und Vertragsarbeiter in der DDR an. Insgesamt kam es zu 30 gewalttätigen Angriffen in verschiedenen Städten.[104]

Staatsgelder von Jugendministerium und Geheimdienst

Im gleichen Zeitraum goss die Bundesjugendministerin unter Merkel weiter Öl ins Feuer und stellte 20 Millionen D-Mark für „Jugendarbeit im Osten“ zur Verfügung. Das Geld floss in Projekte und Räumlichkeiten, in denen sich Neonazis organisierten. Unter dem Vorwand der „akzeptierenden Jugendarbeit“ flossen Staatsgelder aus kommunalen Fonds in rechte Szenetreffs, die sich selbst überlassen wurden. Sozialarbeiter und Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen standen vielerorts einer Übermacht rechter Jugendlicher gegenüber. In einem NDR-Interview vom Oktober 1992 erklärt der junge Neonazi Andreas Irrgang gelassen, wie sie Gelder und Räume vom Jugendamt und Rat der Stadt beantragen konnten, um Plakate für die Jungen Nationalisten (JN) herzustellen. Viele Nazis konnten sich auf diese Weise schnell in der Jugendarbeit mit einer sicheren Anstellung wiederfinden und sich die Organisation rechter Zeltlager als soziale Arbeit auszahlen lassen. All das hatte System: Merkel hatte, wie ein Interview beweist, Kenntnis von der rechten Unterwanderung und blieb tatenlos.[105]

Faschisten konnten sich mit finanzieller Unterstützung des Verfassungsschutzes und weitestgehend unbehelligt von der Polizei auf dem Gebiet der DDR breitmachen und in allen großen Städten Netzwerke und Strukturen aufbauen, die vorher verboten und verfolgt worden wären. Die Gewaltexplosion der frühen 1990er kostete Dutzende Leben und ist bis heute nicht aufgeklärt. Die bundesdeutsche Politik unterstützte diese faschistische Siedlungsbewegung durch ihr Wegschauen und profitierte maßgeblich von ihr, während Springerpresse und Co. mit ihrer „Das Boot ist voll“-Rhetorik das passende Futter lieferten.

Dieser ganze Prozess, den wir hier bruchstückhaft abbilden konnten, verlief als politisches Projekt der Konterrevolution und zur Niederschlagung einer ganzen Gesellschaft. Die Baseballschläger-Stiefelnazis waren nur ein kleines, wenn auch sehr bedeutsames, Zahnrad in dieser gesamten Entwicklung.

Antifaschistischer Widerstand

Antifaschistische Gruppen, Bewegungen und Aktionen lassen sich vor allem auf drei gesellschaftliche Ebenen zurückführen. Da waren einerseits erste Antifa-Gruppen, die bereits in der späten DDR entstanden und sich infolge der politischen Entwicklungen ausbreiteten. Außerdem gingen von den reformistischen Überbleibseln der SED, der Partei Demokratischer Sozialismus (PDS, heute die LINKE), einige antifaschistische Bestrebungen aus. Zu guter Letzt gingen auch immer wieder spontane Protest- und Gedenkaktionen aus der ehemaligen DDR-Bevölkerung selbst hervor.

Vor allem weite Teile der ostdeutschen Antifa-Bewegung gründeten sich auf einem antikommunistischen Konsens und in harter Gegnerschaft zur DDR.[106]  Antiimperialismus wurde als Teil der „DDR-Ideologie“ den roten K-Gruppen in Westdeutschland überlassen, von denen man sich weitestgehend abgrenzte. Aus den politischen Prozessen im Rahmen der DDR-Annexion gingen beispielsweise auch die Antideutschen hervor. Die Entwicklung antifaschistischer Bewegungen und migrantischer Selbstorganisierung im Kontext der Konterrevolution wäre einen eigenen Text wert. An dieser Stelle sei lediglich auf diese Drei Phänomene verwiesen.

Soziale Ursachen und Desorganisierung

Mit dem „Einigungsvertrag“, der „Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“, dem „Rückgabe-vor-Entschädigungs-Gesetz“, der „Altschuldenregelung“, sowie der vom Bund garantierten Straffreiheit für die Treuhandanstalt wurde der Ausverkauf vorbereitet und ermöglicht.[107] 1993 fanden sich 3 Millionen DDR-Bürger in Arbeitslosigkeit wieder.[108] Nahezu sämtliche Großbetriebe und Kombinate der DDR wurden eingestampft oder Investoren hinterhergeworfen. Das einstige Volkseigentum wurde zu 85 Prozent an Westdeutsche, zu 10 Prozent an internationale Investoren und nur zu knapp 5 Prozent an Ostdeutsche übertragen.[109]  Faktisch wurden Vermögenswerte in der Höhe von 850 Milliarden DM fast ausschließlich an die deutschen Monopole verschachert. Dazu kamen noch die Ersparnisse der DDR-Bürger, die sich westdeutsche Versicherungen, Banken etc. aneigneten.[110]

Was diese Abwicklung für die Gesellschaft der DDR bedeuten sollte, beschrieb Ringo Ehlert auf der Hauptfeindkonferenz 2010 ausführlich und zutreffend. Der Schock der Massenarbeitslosigkeit in der DDR lag nicht einfach nur im Jobverlust per se. Die Arbeit in der DDR war mehr als nur ein Job. In den Arbeitskollektiven entstanden feste soziale Bindungen und gemeinsame Aktivitäten. Mit Blick auf die Zerschlagung dieses Lebens formuliert Ehlert:

„Das Auseinanderbrechen der Kollektive durch die Massenentlassungen war sehr oft nur das Ende einer Hatz, in der nun genau der Individualismus und Egoismus wieder sein Haupt erhob, der gerade durch die solidarische Struktur der Kollektive und die Integration vieler sozialer Aspekte ins Kombinat zurückgedrängt werden sollte. Die Ungewissheit schürte dies und brachte nun einen widerwärtigen Konkurrenzkampf um die schwindenden Arbeitsplätze hervor. Schnell bemerkte man, dass nicht diejenigen ihren Arbeitsplatz ein wenig länger behielten, die für den Zusammenhalt der Kollektive eintraten, sondern diejenigen, die sich vermeintliche Vorteile verschaffen konnten, die für sich im Verborgenen Absprachen trafen, denunzierten und sich den neuen Besitzern anbiederten. Mit dem Wegbrechen der Produktionsverhältnisse der DDR und der Transformation in die privatkapitalistische Produktion – in der annektierten DDR hieß das zuallererst Schließung der Produktionsstätten – kamen schnell all die typischen Begleiterscheinungen des »althergebrachten« Lohnarbeitsverhältnisses wieder.“[111]

Dutzende gesellschaftliche Gruppen verloren zahlreiche rechtliche Errungenschaften sowie die Gleichstellung am Arbeitsplatz und ihr Recht auf Arbeit im Allgemeinen.[112] Die massenhafte Aberkennung von Dienstjahren und Qualifikationen, die Aberkennung der Existenzberechtigung ganzer Produktions- und Forschungsbereiche und ganzer Lebensleistungen bildeten nur einen Teil der Demütigung und Entrechtung von Millionen Menschen. Viele Kleinstädte und ländliche Regionen wurden bis heute regelrecht entvölkert. Insgesamt verließen 2 Millionen Menschen die DDR.[113] 

Kampf der Treuhand!

In dieser Zeit demonstrierten Hunderttausende gegen die Werksschließungen und die Massenarbeitslosigkeit. International begannen Arbeiter sich mit ihnen zu solidarisieren. Künstler und Kulturschaffende beteiligten sich an Aktionen der Arbeiter und umgekehrt. Nicht selten, wie bspw. im Fall von Bischofferode, ging es sogar um die Überlebensinteressen ganzer Regionen.

Die Annexion der DDR und der Treuhand-Raub stießen auf starke soziale Bewegungen: Wilde Streiks, Werksbesetzungen und Protestaktionen fanden überall in der annektierten DDR statt. Vom Schiffbau, bis zum Chemiefaserwerk, egal ob großes Kombinat oder kleiner, überall regte sich Widerstand. Montagsdemonstrationen gegen den Ausverkauf der DDR füllten ab 1991 erneut die Straßen von Leipzig und bald auch Ostberlin. Auf ihrem Höhepunkt demonstrierten insgesamt 100.000 Menschen Woche für Woche. Für die Regierung Kohl und die westdeutschen Monopole entwickelte sich ein immer ernsteres Problem. Es ist der Ignoranz der Gewerkschaftsführung sowie dem Druck aus Politik und Medien zu verdanken, dass diese Kämpfe nicht überregional und langfristig koordiniert werden konnten.[114] Der PDS gelang es in diesen Kämpfen ihren Status als Kümmerer-Partei zu erlangen, von dem sie jahrelang profitierte.

Kahlschlag mit Langzeitfolgen

Wohin die deklassierten Millionenmassen ihre Wut lenken sollten, diktierte Ihnen seit 1990 die Springerpresse: Auf die Schwächsten, die Asylanten, die roten Socken und Linken. Die gezielt geschürte gesellschaftliche Verrohung fand viele Ventile.

Das politische Leben in der DDR, auch der Antifaschismus, war immer über verschiedene Kollektive organisiert, diese wurden nun zerschlagen. Hinzu kamen die antikommunistischen Medienkampagnen und die wirtschaftlichen Folgen der Konterrevolution und Annexion. In diesem Prozess wurden nahezu sämtliche soziale Beziehungen auf den Kopf gestellt. Eins wird dabei deutlich: Zwischen Armut und Fremdenhass besteht kein Automatismus. Vielmehr waren es die fremdenfeindlichen Medienkampagnen, der neu erzeugte Konkurrenzkampf, die Spaltung und die gleichzeitige Zerschlagung und Desorganisierung von jeglichem Kommunismus und Antifaschismus, mit welcher der Neofaschismus gestärkt wurde.

Die fortwährende Politik des sozialen Kahlschlags und des Ausverkaufs wirkt sich bis heute aus: Armut, Arbeitslosigkeit, ein riesiger Niedriglohnsektor, niedrigere Renten, Abwanderung von Arbeitskräften, Überalterung und weniger Industrieproduktion – um nur einige wenige Aspekte zu benennen, die einen eigenen Artikel bedürften. Die ganze Vermögens- und Klassenstruktur der ostdeutschen Gesellschaft unterscheidet sich bis heute drastisch von der Westdeutschen. Dementsprechend hat auch der Klassenkampf stark ausgeprägte Spezifika und Besonderheiten. Das zeigen die im Osten deutlich stärkeren Hartz-IV-Proteste der 2000er Jahre, sowie die schwächer aufgestellten Gewerkschaften und Betriebsräte. Auch die antifaschistische Bewegung und Friedensbewegung in Ostdeutschland schauen auf eine weitestgehend andere Tradition und Geschichte zurück – die kommunistische Bewegung ist davon nicht ausgenommen. All diese Faktoren müssen wir berücksichtigen, wenn wir uns dem ostdeutschen Neofaschismus widmen. Vor allem müssen wir genau sein und dürfen uns nicht von einfach erscheinenden Zusammenhängen (wie sie viele Medien präsentierten: Osten = Arm = Rechts) täuschen lassen.

Man muss verstehen, dass die Arbeit, die Freizeit, das politische Leben und die Kultur – alles was das Leben bis 1989 ausmachte – abgeschafft und neue Verhältnisse übergestülpt wurden. Verhältnisse, die ein absoluter Großteil damals nicht wollte und bis heute nicht will. Konkreter betrachtet können wir feststellen, wie soziale Einrichtungen, Angebote und Beziehungen restlos zerstört wurden, die ein kapitalistischer Staat nicht bieten kann. Hier knüpften die Neofaschisten an. Die rechte Hegemonie in Ostdeutschland baut immer mehr auf einer Zivilgesellschaft von rechts auf,- einer „neuen“ Massenbasis der Rechtskonservativen und Neofaschisten. Ihre Ursprünge hat sie in den Leerstellen, die ab 1990 durch Neofaschisten besetzt wurden. Sie profitieren bis heute von fehlenden sozialen Perspektiven in Stadt und Land. Neofaschisten agitieren gezielt in Vereinen und Orten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Bis heute siedeln Neofaschisten aus dem Westen der Republik in vorrangig ländliche Regionen Ostdeutschlands. Was häufig als „Normalisierung“ bezeichnet wird, müssen wir zutreffend als bewusstes Wegschauen und Gewährenlassen seitens der Politik bezeichnen. Viele antifaschistische Projekte haben hier versagt und sich in der eigenen Subkultur von derartigen Problemen losgesagt.

Im Folgenden wollen wir genauer nachvollziehen, welche Rolle der Neofaschismus für die herrschende Klasse im Deutschland der 1990er Jahre hatte.

Die Rolle des Neofaschismus im Prozess der Annexion

Welches Interesse hatte das westdeutsche Kapital an einer derartig heftigen Verbreitung des Neofaschismus? Welche Funktion erfüllten die rechtsradikalen Gruppen und Netzwerke für die BRD?

Der marxistische Faschismusforscher Reinhard Opitz untersuchte den Faschismus sowohl als Herrschaftsform als auch als Bewegung und zog daraus wertvolle Erkenntnisse für die Auseinandersetzung mit dem Neofaschismus. Dabei arbeitete er verschiedene Funktionen heraus, die der Neofaschismus als politische Bewegung erfüllt.

Blaupause für reaktionäre Regierungspolitik

Dabei nennt Opitz beispielsweise die „Alibifunktion für reaktionäre Regierungspolitik“. Die Regierung kann sich auf die neofaschistische Bewegung berufen und anschließend verschärfte, reaktionäre Maßnahmen rechtfertigen. Diese Funktion lässt sich besonders deutlich am Asylkompromiss von 1993 nachweisen.[115] Man ließ die aufgestachelten Faschisten und ihre Mitläufer in Hoyerswerda und Rostock ungehindert randalieren, ohne einzugreifen. Anschließend musste eine „Lösung“ für das sogenannte Asylproblem her – das Asylrecht wurde drastisch eingeschränkt.

Langfristige Umorientierung

Neurechten Zirkeln und Akteuren gelang es, im Zuge der DDR-Annexion immer wieder, bis tief in die CDU und FDP, aber auch in die SPD vorzudringen – das belegen zahlreiche Interviews in der Jungen Freiheit mit CDU-Politikern sowie die „Enquete-Kommission“ zur DDR-Aufarbeitung und der „Bund der Selbständigen“, in denen sich neben Politikern aus SPD, CDU/CSU und FDP auch neurechte Ideologen tummelten.[116]  Ein wichtiges Ziel der Neuen Rechten war die langfristige ideologische Umorientierung des politischen Vorfeldes. Vor allem Intellektuelle und konservative Milieus. Sie setzen also nicht auf jugendliche Fußballfans und gewaltbereite Skinheads, sondern vielmehr auf Studenten, Intellektuelle und Eliten.

In dieser Zeit der immensen Stärkung des deutschen Imperialismus wurde die Neue Rechte durch eine stärkere Betonung nationaler Kultur, Heimat und Souveränität nicht nur anschlussfähiger, sondern auch immer interessanter als Stichwortgeberin und Vordenkerin für die bundesdeutsche Politik. Die Deutsche Volksunion, die in den 1990ern kontinuierlich ihre Strukturen in Ostdeutschland ausbaute, konnte 1998 in einer Landtagswahl in Sachsen-Anhalt große Erfolge einkassieren. Der neurechte Ideologe Karlheinz Weitzmann lobte die Demagogie der Partei: „Aufmerksame Beobachter haben rasch festgestellt, wie groß die Übereinstimmung ihrer Anhänger mit den Forderungen der äußersten Linken ist, wie gering die Bindung an rechte Positionen, soweit diese als bürgerlich im weitesten Sinne verstanden werden können und traditionell konservative oder traditionell liberale Vorstellungen umfassen.“[117]

Die Partei erreichte mit 12,9 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis einer neofaschistischen Partei in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bei den Wahlen in Brandenburg 1999 konnte die DVU ein weiteres Mal mit 5,3 Prozent der Stimmen in einen Landtag einziehen.[118] Nicht nur konnte die Partei zahlreiche Protestpotentiale auffangen und umlenken, ihr gelang es auch weiterhin sich an CDU und CSU anzubiedern und Impulse in die bundesdeutsche Politik zu geben. Die Republikaner unterstützten den Erfolg in Ostdeutschland. Viele ihrer Spitzenpolitiker stärkten die Reihen der Deutschen Volksunion und unterstützten den Wahlkampf.[119]

Terror und Einschüchterung

„Die terroristische Einschüchterungs- und Hilfspolizei-Funktion“ zeigte sich abseits der erwähnten Pogrome von Rostock und Hoyerswerda sowie der 30 Überfälle am 2. Oktober 1990 in vielen weiteren Angriffen und Einschüchterungen gegen Antifaschisten, Kriegsgegner und Migranten. Hier kommt der Begriff „Baseballschlägerjahre“ vollends zum Tragen. Die Täter waren oftmals Skinheads und jugendliche Neofaschisten, die mit der DVU-Parteipolitik oder neurechten Diskursen zwar wenig Überschneidung fanden, sich aber dennoch gerne an deren Propagandamaterial und Argumenten bedienten. Das Zurückweichen der Polizei vor den Pogromen in Rostock und Hoyerswerda steht dabei symptomatisch für den Freibrief, den diese gewalttätige neofaschistische Bewegung im „wilden Osten“ erhielt. Kein Wunder: Im April 1992 bekundeten 20 % der Polizisten Sympathien für die neofaschistischen Republikaner.[120] Der aus Westdeutschland stammende sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf diagnostizierte den Sachsen Anfang der 2000er „Immunität gegenüber Rechtsextremismus“[121]. Was angesichts der offenen Gewalt völlig realitätsfern klingt, war kein Ausrutscher – Biedenkopf wiederholte 2017 diese Aussage. Das Verleugnen und Ablenken führender CDU-Kreise, gab der neofaschistischen Bewegung genau die Rückendeckung, die sie brauchte. Das gilt für die junge BRD, für die Annexion der DDR – und es gilt bis heute.

Von Völkerfreundschaft zu Fremdenhass

Wir konnten mittlerweile ergründen, welche Funktionen der Neofaschismus erfüllte. Widmen wir uns nun nochmal konkreter der Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen, die sich bis heute durchsetzen.

Fremdenfeindlichkeit in der DDR

Während des Bestehens der DDR wurden 40 Angriffe auf Gastarbeiterunterkünfte verzeichnet, wobei sich fast alle Angriffe nach 1975 ereigneten.[122] Die Hauptabteilung XVIII des MfS untersuchte bspw. im September 1987 fremdenfeindliche Angriffe auf Mosambikaner und stellte fest, „daß diese Ausländergruppe Provokationen durch negativ eingestellte, vorwiegend jugendliche DDR-Bürger ausgesetzt ist, die im Ergebnis zu tätlichen Auseinandersetzungen führen. Derartige Provokationen und auftretende Hetzlosungen wurden aus dem Bezirk Dresden und auch gegen dunkelhäutige Werktätige aus der VR Angola und der Republik Kuba bekannt. Hierbei ist eine Entwicklung zu erkennen, daß durch Rechtspflegeorgane (Staatsanwaltschaft) einseitig gegen die ausländischen Werktätigen vorgegangen wird“[123]. Die Hauptabteilung XVIII reagierte auf die fremdenfeindlichen Tendenzen in der Jugend: „Aus aktuellen Vorkommnissen im Zusammenhang mit mocambiquischen Werktätigen ergibt sich das Erfordernis, die massenpolitische Arbeit unter Teilen der Bevölkerung zu aktivieren, um möglichen Anfängen einer Ausländerfeindlichkeit wirksam zu begegnen“.[124]  Die Staatssicherheit erkannte nicht nur Probleme in der Jugend sondern auch den Institutionen der DDR und entwickelte Konzepte zur Bewältigung dieser Tendenzen.

Der proletarische Internationalismus, die Politik der Völkerfreundschaft und die Vertragsarbeiterpolitik der DDR als Gegenentwurf zur Rassenhetze bildeten die Grundlage des Antirassismus der DDR. Mit der Aufnahme von Vertragsarbeitern wurde dieser im Alltagsleben der Bevölkerung gewissermaßen auf die Probe gestellt. Dabei entstanden die genannten Probleme, aber auch eine Vielzahl an freundschaftlichen Verbindungen und solidarischen Zusammenschlüssen in den Betriebskollektiven und außerhalb. 

Migrationspolitik vom Kopf auf die Füße

Inmitten der Zeit des Zusammenbruchs sollten die kapitalistischen Verheißungen aus Funk und Fernsehen sich schnell als heiße Luft erweisen. Das erkannten die Mehrheit der DDR-Gesellschaft und selbst Teile der Bürgerbewegung schon vor der Annexion der DDR am 3. Oktober 1990. Die Mehrheit wollte weder die „Wiedervereinigung“ noch die Auflösung des Volkseigentums.[125] Angesichts der dramatischen Entwicklungen unter der Treuhand ist es nur wenig verwunderlich, dass neuere Forschungen von einer massenhaften und nachhaltigen Traumatisierung der DDR-Gesellschaft ausgehen.[126] Noch im Jahr 1990 lehnten 50% der DDR-Gesellschaft das System der BRD als Ganzes und 22% seine Politik ab.[127]

Dass Migranten politisch und wirtschaftlich ausgenutzt werden, um Konkurrenz- und Lohndruck zu erzeugen und um Spaltung und Sozialabbau zu legitimieren, war ein neues Phänomen für die Gesellschaft im angegliederten Osten. Die Vertragsarbeiter, die in die DDR gekommen waren, wurden nicht genutzt, um Arbeitsplätze streitig zu machen oder gesellschaftliche Spannungen zu erzeugen. Sie wurden durch gleichberechtigte Verträge mit anderen Staaten eingeladen und ausgebildet, um „Know-How“ in ihre Länder zu bringen, die nicht selten durch Krieg und Kolonialismus gezielt unterentwickelt worden waren. Hetze gegen Migranten wurde nicht nur politisch verfolgt – es wäre auch undenkbar gewesen, dass die Parteien und Medien in der DDR zu regelrechten Kampagnen gegen Migranten aufgestachelt hätten. In den früheren Neunzigerjahren verloren tausende ehemalige Vertragsarbeiter ihr Recht auf Arbeit und eine Unterkunft. Viele mussten jahrelang auf eine Arbeitserlaubnis warten, während sie aus ihren Wohnungen geworfen wurden. 

Die ausländischen Arbeitskräfte der DDR waren im Land, um ausgebildet zu werden und später ihre Heimatländer zu unterstützen, nicht um diesen wie heute Fachkräfte zu rauben, die man hier billig ausbeutet. Das Ziel dieser Politik bestand also nicht darin, sie langfristig in die DDR-Gesellschaft zu integrieren. Kontaktaufnahmen und aktive Verbindungen zu ausländischen Arbeitskräften wurden dennoch in den Betriebskollektiven und der Freizeit gefördert.

Spaltung und Verhetzung

Ein altbewährtes Mittel musste her: Ängste schüren und Fremdenhass erzeugen, wo sonst Klassenbewusstsein entstehen könnte oder noch da war. CDU/CSU und FDP, mit etwas Verzögerung auch die SPD, eröffneten eine großangelegte Anti-Asyl-Kampagne. Die größeren Migrationsbewegungen des Jahres 1990 kamen den Herrschenden da sehr gelegen. Bis 1992 stieg die Zahl von 50.000 neuen Migranten auf 440.000. Die meisten flohen vor den Kriegen in Jugoslawien, die aktiv von BRD, USA und NATO geschürt wurden. Zwischen Äthiopien und Eritrea tobten Grenzstreitigkeiten, ebenso zwischen Mali und Burkina Faso. Währenddessen wüteten in Burundi, der Republik Kongo, dem Senegal und Simbabwe Bürgerkriege. Auch hier mischte der Westen, in Sorge um den Zugang zu Rohstoffen, fleißig mit.[128]

In der 1990 eröffneten Anti-Asyl-Kampagne aller großen Bundestagsparteien und dem Großteil der Medien wurden die Bürger rasch und radikal auf die neuen Verhältnisse, den rassistischen Normalzustand, eingenordet. Eine Auswahl von BILD-Schlagzeilen macht die Ausmaße deutlich: „Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“ „Fast jede Minute ein neuer Asylant“. „Asylanten jetzt auf Schulhöfen – Neue Welle! Und bis Weihnachten kommen noch 40.000.“ „Wohnraum beschlagnahmt. Familie muss Asylanten aufnehmen.“.[129] Währenddessen verbreiteten CDU-Politiker Musteranfragen für die Kommunen in Ost und West: „Sind Asylbewerber in Hotels oder Pensionen untergebracht worden? In welchem Zeitraum? Zu welchen Kosten?“.[130] Der SPD-Fraktionsvorsitzende schlussfolgerte, dass Ausländer die Lebensverhältnisse deutscher Bürger verschlechtern würden.[131]  Während Edmund Stoiber (CSU) von einer „Durchrassung der Gesellschaft“ sprach, propagierte die SPD die „Verslumung der Großstädte“ durch Ausländer.[132] Mit solchen Schlagzeilen und politischen Kampagnen trieb man Teile der Bevölkerung in die Arme der neofaschistischen Bewegung. Die neue kapitalistische Konkurrenz sollte im Bewusstsein vieler Menschen somit nicht als Klassenkonflikt erscheinen, sondern als Verteilungskonflikt mit den eigenen Klassengeschwistern.

Besonders für die ostdeutsche Arbeiterklasse, die sich ohne jegliche sozialdemokratische Almosen, enteignet, entrechtet und desorganisiert in der Bundesrepublik wiederfand, war diese Ideologie von großer herrschaftssichernder Bedeutung.

Die Zerschlagung des Antifaschismus

Zurück zur alten Stärke

Um ab den 1990ern wieder als „Ordnungsmacht“ in die „Neustrukturierung Osteuropas“ einzugreifen, entsprach das Kokettieren der politischen und wirtschaftlichen Eliten mit Elementen faschistischer Ideologie und Geschichte in zweierlei Hinsicht den Interessen des deutschen Monopolkapitals. Zum einen bot es der neofaschistischen Bewegung in der annektierten DDR genau die Unterstützung, die sie benötigte, um Teile der dort unterworfenen Gesellschaft zu spalten. Zum anderen sollte diese nationalistische Entwicklung dazu dienen, jeglichen Antifaschismus und Antimilitarismus in der gesamten Gesellschaft abzuschütteln, um neue deutsche Großmachtprojekte und Kriege zu legitimieren.

In dieser Zeit wurde mit der Totalitarismusideologie die Dämonisierung des Kommunismus umso stärker gefördert. Sie diente zur Beschönigung des Faschismus bei gleichzeitiger Abwertung des Sozialismus. Antifaschismus wurde verbürgerlicht und gegen den Kommunismus instrumentalisiert.

Dass Neofaschisten in Staat und Politik bis zu einem gewissen Grad schon immer integriert waren, konnten wir bereits anhand des Neofaschismus der Nachkriegsjahre feststellen. Die Neue Rechte hatte mit 1990 ein passendes historisches Moment gefunden, um die antikommunistischen Diskurse mitzugestalten, anzuheizen und zu verbreiten. Dieser nächste kleine Marsch durch die Institutionen wurde willkommen geheißen. So ist es wenig verwunderlich, dass die Neue Rechte die „Wiedervereinigung“ als ihre Renaissance bezeichnete. Vertreter der Neuen Rechten konnten in dieser Zeit zahlreiche Gruppen und überparteiliche Initiativen aufbauen, mit denen sie direkten Einfluss auf Parteijugenden und Bundestagsabgeordnete ausübten.[133]

Neofaschismus und DDR-Aufarbeitung

Die Junge Freiheit und später das Institut für Staatspolitik samt seinem Antaios Verlag erkannten großes Potenzial zur Rehabilitierung faschistischer Ideologie im Kontext der sogenannten DDR-Aufarbeitung. Autoren der Jungen Freiheit beteiligten sich zahlreich und intensiv an der Arbeit in Vereinen wie der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewalt und dem Bund der Stalinistisch Verfolgten. Im wichtigsten Organ dieser Verbände, dem „Stacheldraht“, publizierten dutzende Autoren aus den Reihen der Wochenzeitung Junge Freiheit.[134] Junge Freiheit Autoren wie Werner H. Krause stiegen bis in die Geschäftsführung der Verbände auf.[135]

Antikommunismus als Scharnier

Die Überschneidungen sind wenig verwunderlich. Nicht nur war man geeint im radikalen Antikommunismus und der Ablehnung jeglichen Antifaschismus – der Bund der Stalinistisch Verfolgten und die Vereinigung der Opfer des Stalinismus blicken beide auf eine lange Geschichte zurück. Bereits in den 1950er Jahren sammelten sich SS- und NSDAP-Angehörige in den Reihen der Verbände.[136] Mit der Zerschlagung der DDR versuchte man sich erneut in Anschlussfähigkeit und Einfluss auf die etablierte Politik. Mitglieder wie Hugo Diederich sollten damit Erfolg haben,- der Junge Freiheit Autor wurde Mitglied des ZDF-Fernsehrates.[137] Männer von diesem Kaliber waren willkommene Stichwortgeber zur Dämonisierung der DDR und ihres Antifaschismus. Außerdem arbeitete man gezielt an der Rehabilitierung von faschistischen Verbrechern, die man nun als Opfer des Kommunismus darstellen und reinwaschen konnte. So organisierte beispielsweise der Waldheim-Kameradschaftskreis Ehrungen von Euthanasie-Ärzten, die in der DDR eine Todesstrafe erhalten hatten. Sie hübschten fleißig die Biografien von faschistischen Verbrechern auf.[138]

Nach der Annexion der DDR dauerte es nicht lange, bis einer der Chefredakteure der „Opferverbände“, Sigurd Binski, verkündete, die „Opferprozente“ der Toten der „Sowjet-KZ Sachsenhausen und Buchenwald“ seien jeweils höher gewesen als im Konzentrationslager bis 1945.[139] Im gleichen Zeitraum entstand die staatlich geförderte Gedenkbibliothek für Opfer des Stalinismus, in deren Verlagsprogramm sich Holocaustleugner, Neofaschisten und Neurechte wie David Irving, Germar Rudolf, Horst Mahler, Gustav Sichelschmidt und Franz Schönhuber einreihten.[140]

Ein weiterer, nennenswerter Fall ist der von Herbert Kühn. Im Zuge des 17. Juni 1953 brachte er mehrere Sprengsätze an Regierungsgebäuden an, von denen glücklicherweise nur einer zündete. Später, im April 1961, schmierte er „Freiheit für Eichmann“ an das Auswärtige Amt in Bonn und beteiligte sich zwei Jahre später an rechten Terroranschlägen in Italien. 1994 leitete der Rechtsterrorist eine Landesgruppe der Vereinigung der Opfer des Stalinismus und organisierte „Zeitzeugenprogramme“ an westdeutschen Universitäten. Noch 2015 wurde Kühn in einer Vorlesung an der Ruhr-Universität Bochum zur „friedlichen Revolution und den Opfern der SED-Diktatur“ befragt.[141]

Kampf um die antifaschistische Kultur

Die Überreste des Antifaschismus prägten nach 1990 immer noch die Städte und Dörfer des Ostens. Das Land konnte zwar in kurzer Zeit annektiert werden, aber der Kampf um die Köpfe war noch im vollen Gange. Die Denkmäler, Bauwerke und Institutionen aus der DDR stellten einen Störfaktor für die Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur der neuen Machthaber dar.

Überall auf dem Gebiet der DDR wurden deshalb Denkmäler von Kommunisten und Antifaschisten entfernt.[142] Proteste, die den Abriss der Denkmäler verhindern sollten, waren weit verbreitet, hatten aber nur selten Erfolg. In der Zeit nach 1990 wurden dermaßen viele Straßen, Plätze, Brücken, Betriebe, Clubs und Schulen umbenannt, dass viele Kommunen neue Stadtpläne herausgeben mussten. Den Umbenennungen fiel das Andenken an dutzende antifaschistische Widerstandskämpfer zum Opfer.[143] Ganze Museen und kleinere KZ-Gedenkstätten mussten schließen. Die Ausstellungen wurden entfernt, und die Gebäude wurden sich selbst überlassen. Nichts sollte mehr an sie erinnern.

Die Schriftstellerin Daniela Dahn führt in einer ihrer Reflektionen zur DDR-Annexion ein Beispiel an das sinnbildlich für diese Radikalkur steht: „Die Ost-Bürgermeister der Berliner Bezirke Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain weigerten sich, die Änderungen der Namen von Clara Zetkin, Arthur Becker, Hans Beimler und Georgi Dimitroff zu akzeptieren. Schließlich setzte sich (Senator) Haase durch, indem er erklärte, dass das Geschichtsbewusstsein der Bewohner der Ostbezirke zu sehr von der Parteipolitik der DDR geprägt sei und dass sie nicht in der Lage seien, ein Urteil zu fällen. Weshalb auch die Anträge auf Bürger- und Anwohnerbefragungen von den Westberliner Senatoren entschieden abgelehnt wurden. Perfekter hätte die Entmündigung nicht sein können. Nicht in der Lage, ein Urteil zu fällen – wer nun noch protestierte, outete sich als Altlast.“[144]

Dem Rabbinersohn und Politbüromitglied Albert Norden, wurde seine Herausgeberschaft des Braunbuches über Nazis und Kriegsverbrecher in der BRD nicht verziehen. Auch sein Name sollte aus dem Stadtbild Ostberlins weichen. Dieses Vorhaben traf bspw. auf den Protest von Vorstandsmitgliedern des Berliner jüdischen Kulturvereins, der sich gegen die Streichung jüdischer Namen stellte. Vorstandsmitglied Günter Nobel fasst die politische Wirkmächtigkeit dieser Umtriebe in einer Beschwerde an die Marzahner Bezirksverordneten absolut treffend zusammen: „Begreifen Sie wirklich nicht, dass in einer Zeit wachsenden Rassismus und Antisemitismus solche Beschlüsse neofaschistischen Tendenzen Auftrieb geben können?“[145]

Auch die Umbenennung einer Straße, die den Namen des Widerstandskämpfers Bruno Baum trug, stieß auf Protest. „Offenbar ist ihm nicht bekannt, dass Bruno Baum zu den führenden Köpfen des internationalen Widerstands noch in den Vernichtungslagern, Ausschwitz und Mauthausen zählte. Wer wagt es heute, solche Menschen zu beleidigen?“, so Günther Nobel.[146] 

Diese Politik des Abrisses und der Demontage drehte sich um mehr als nur Plätze und Straßen. Es ging darum, jegliche Überbleibsel des marxistischen Antifaschismus verschwinden zu lassen.

Nationale Mahn- und Gedenkstätten: Erinnerungskultur ohne Antifaschismus

Im Folgenden sei auf den Umbau der Gedenkstätten Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen verwiesen. Sie zählten zu den wichtigsten antifaschistischen Gedenkstätten. An ihrem Beispiel lässt sich exemplarisch und eindrücklich nachweisen, wie Neofaschisten und staatliche Politik an einem Strang zogen, um den Antifaschismus aus der Geschichte und Erinnerung zu streichen.

Hier traf der BRD-Geschichtsrevisionismus besonders empfindliche Punkte der fortschrittlichen DDR-Erinnerungskultur. Die ehemaligen Konzentrationslager waren Nationale Mahn- und Gedenkstätten, die nahezu alle DDR-Bürger kannten und auch (meist im Rahmen der Jugendweihe) besucht hatten. Den Ausstellungen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück wurde sich, genauso wie denen in Buchenwald und Sachsenhausen, entledigt.[147] Die erinnerungspolitischen Schwerpunkte passten nicht ins Bild. Sie zeigten das Leiden der Opfer im Zusammenhang mit den faschistischen Tätern und den Unternehmen, die aus den sich zu Tode arbeitenden Häftlingen Gewinn schlugen.[148] Die reichhaltige Forschung der Gedenkstätten wurde nun von einem Staat verwaltet, der bis 1995 noch nicht einmal eine eigene KZ-Forschung betrieb.[149] Das Geld, das nun investiert wurde, um dieses Geschichtsbild umfassend zu korrigieren, kam auch erstmals seit 1945 der KZ-Gedenkstätte Dachau zugute, die jahrelang den Forderungen der CSU nach Schließung widerstand.[150]

Mit der Zeit regte sich auch hier Widerstand. Beispielsweise auf der Veranstaltung zur Verabschiedung des langjährigen Leiters der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, Günter Morsch. Er selbst und sein Historiker-Kollege Volkhard Knigge, Leiter in Buchenwald, erhoben heftige Klage über staatliche Eingriffe in ihre Arbeit. Ihnen seien Geschäftsführer vor die Nase gesetzt worden, die eng an die Politik gebunden waren. Gewünscht war eine Opferperspektive mit wenig Verbindungen zur NS-Täterelite, da dies womöglich eine neue Debatte über personelle Kontinuitäten in der BRD heraufbeschworen hätte.[151]

Neuer Schwerpunkt wurden die Speziallager, der Roten Armee und des sowjetischen Geheimdienstes nach 1945. Die Nutzung ehemaliger Konzentrationslager für die Internierung schwerbelasteter Nazis war auf den Konferenzen der vier Alliierten der Antihitlerkoalition schon 1943 in Teheran und erneut 1945 in Jalta beschlossen worden. Grundlage für die Inhaftierungen war keine Willkür des sowjetischen Geheimdienstes, sondern sie basierten auf Funktionslisten, die seit Oktober 1944 vom britisch-amerikanischen Oberkommando erstellt wurden. Die Amerikaner füllten nach dem Kriegsende 15 einstige KZs, die Briten, Franzosen und Sowjets jeweils 10.[152]

Die Kampfgruppen gegen Unmenschlichkeit bezeichneten diese Speziallager in einer Broschüre aus dem Jahr 1952 als „sowjetische Konzentrationslager auf deutschem Boden“. Eine Auffassung, die sich in der Bundesrepublik weit verbreiten sollte.[153] Die Gleichsetzung und angebliche Kontinuität gehört heute zum guten Ton in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Die Charakterisierung als „sowjetische Konzentrationslager“ wurde bis dato weitestgehend von Verlagen der neofaschistischen Bewegung gefördert. In den 1990ern schlossen sich auch Bundespolitiker, wie Ex-Bundespräsident Joachim Gauck und zahlreiche Historiker, der Deutung an. Gauck sprach von dem Speziallager als „Konzentrationslager nach dem Vorbild Stalinscher Todes- und Vernichtungslager“.[154]

Einige neofaschistische Aktivisten und ihre antikommunistische Anhängerschaft warteten die Entscheidungen der zuständigen staatlichen Stellen gar nicht erst ab und pilgerten selbst zu den KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen, um dort Kreuze zu errichten und Grabmäler anzulegen. Gewidmet waren sie den „Opfern der stalinistischen Willkür“. Dabei wurden logischerweise auch solche Personen geehrt, die sich nachweislich an den Verbrechen der deutschen Faschisten beteiligt hatten.[155] Das KZ Sachsenhausen wurde ab 1990 zu einem regelrechten Wallfahrtsort für Neofaschisten. „Ehre und Ruhm den deutschen Helden“ trug hier die Inschrift eines von Faschisten aufgestellten Schildes.[156]

Die neue Schwerpunktsetzung der Gedenkstätten auf die sowjetischen Speziallager erwies diesen Kräften einen großen Dienst. Hier setzte sich klar erkennbar die, von rechten und neofaschistischen Medien betriebene, Gleichsetzung durch, die sich an „Gräueltaten der Kommunisten“ abarbeitete.[157] Gegen diese geschichtsrevisionistische Umdeutung meldeten sich die Überlebenden der Konzentrationslager und zahlreiche Antifaschisten zu Wort. Die Überlebenden beharrten darauf, dass die Konzentrationslager Stätten ihres Leidens und Kämpfens gewesen waren, weshalb die an ihrer Stelle errichteten antifaschistischen Gedenkstätten nicht einfach zu antikommunistischen Gedenkstätten umfunktioniert werden dürften.[158] Der Protest wurde von den Springermedien, als Machenschaft kommunistischer Ideologen abgeschmettert.[159]  

Es wurden Forderungen laut, die eine finanzielle Entschädigung der Häftlinge der Speziallager verlangten, und zwar in gleicher Höhe wie die der KZ-Häftlinge. Schließlich hätten die Opfer des Kommunismus mindestens genauso schlimm gelitten wie die Opfer des Faschismus.[160] SS-Angehörige aus dem Baltikum erhielten zu dieser Zeit bereits Renten aus der BRD, schließlich waren sie bis 1945 für Deutschland im Dienst und wurden danach politisch verfolgt.[161]  Die neu gegründete Historikerkommission in Buchenwald räumte den ehemaligen SS-Leuten und Wehrmachtssoldaten ihren Opferstatus ein und nahm gleichzeitig die DDR-Erinnerungskultur ins Visier. So entstanden drei Ausstellungen, jeweils zu den faschistischen Konzentrationslagern, den Speziallagern der Sowjetunion und der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR. Einzelne ehemalige KZ-Aufseherinnen wie Hertha Pakozdi (Aufseherin in Ravensbrück und Majdanek) wurden so tatsächlich als Opfer des Stalinismus entschädigt.[162]

Welche Verbrechen an diesem Ort und im Faschismus tatsächlich geschahen und wie es zu ihnen kommen konnte, wurde so weit und so gut es ging, vermischt mit Totalitarismuserzählungen und Hetztiraden gegen die DDR. Zwangsarbeit für das deutsche Monopolkapital oder die Speziallager als Teil einer konsequenten Entnazifizierung – davon sollte bestenfalls niemand mehr etwas wissen.

Dieser erinnerungspolitische Feldzug offenbart alte Kontinuitäten. Kein Antikommunismus konnte aggressiv genug sein, wenn es darum ging, den Faschismus im Osten Deutschlands zu rehabilitieren. Von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit bis zu Joachim Gauck, von faschistischen Pilgergruppen bis zur neu eingesetzten Gedenkstättenleitung – man war geeint im mehr oder weniger fanatischen Antikommunismus.

DDR-Aufarbeitung: Geschichte ohne Antifaschismus

Geschichte umschreiben

Wie wir gesehen haben, war es von großer Bedeutung für die neuen Machthaber, die Deutungshoheit über die Geschichte zu gewinnen. Künftig kümmerte sich die „Enquete-Kommission zur politischen Aufarbeitung von 40 Jahren Vergangenheit der DDR“ um das neue Geschichtsbild.

Was sich hinter dem sperrigen Titel verbirgt, war eine vom Bundestag eingerichtete Instanz, in der Politiker sämtlicher Parteien sowie Mitarbeiter und Berater aus verschiedenen Bereichen tätig waren. Diese Enquetekommission war die erste ihrer Art, die sich der Geschichtsschreibung widmete. Die Kommissionen befassten sich zuvor ausschließlich mit Problemen der Gegenwart wie Aids, Flutkatastrophen, Kernenergie und ähnlichem. Nun sollte die Geschichte des „alten Feindes“ umgeschrieben werden. Eine Enquetekommission zur Aufarbeitung des Faschismus gab es übrigens nie. Für dieses neue Projekt musste notwendigerweise das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit weichen.[163]

Zum Leiter der Kommission wurde der CDU-Politiker und radikale Antikommunist Rainer Eppelmann auserkoren.[164] Eppelmann polarisierte nicht nur mit Kampfansagen gegen die DDR und ihren Antifaschismus, sondern lud sich auch munter Akteure der Neuen Rechten in seine Kommission ein. So zum Beispiel den Politikprofessor Klaus Hornung, der Mitglied in Organisationen wie der „Konservativen Aktion“ und dem neurechten „Studienzentrum Weikersheim“ war. Oder auch Eckhard Jesse, der sich lange Zeit der Betonung von „modernen und progressiven Seiten des Dritten Reiches“ widmete.[165]

Die Kommission werkelte bis 1998 an dem, was heute Einzug in zahlreichen Schulbüchern hielt: Die DDR als zweite deutsche Diktatur – verglichen und oft gleichgesetzt mit dem faschistischen Deutschland.

Die Umsetzung des neuen Geschichtsbildes, war nur mit einer umfassenden Säuberungswelle an Universitäten und anderen akademischen Institutionen möglich. Diese Säuberung richtete sich vor allem gegen marxistische Historiker und Dozenten, die sich der vorgegebenen Geschichtsschreibung widersetzten. Es ging darum, ein neues Narrativ zu etablieren das die DDR und ihren Antifaschismus marginalisierte, während gleichzeitig die neurechten und antikommunistischen Diskurse der Bundesrepublik gestärkt wurden. Historiker, die sich gegen diese Deutungen stellten, wurden entweder aus ihren Positionen entfernt oder ihre wissenschaftliche Arbeit wurde diskreditiert.

Säuberungen der Lehrstühle

Die Säuberungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften übertrafen dabei die der BRD nach 1945 und sogar die Säuberungswelle nach der Machtübergabe an den Hitlerfaschismus 1933. Über drei Viertel des Lehrkörpers und Personals mussten gehen.[166] Für die Säuberungen von marxistischen Wissenschaftlern bekam die Humboldt-Universität zu Berlin Wilhelm Krelle als Verantwortlichen vorgesetzt. Er betreute fortan eine Kommission zur Durchleuchtung sämtlicher Mitarbeiter auf ihre DDR-Nähe. Krelle gehörte während des faschistischen Raubkrieges der 164. Infanteriedivision des XXX. Armeekorps an, die in Griechenland an Kriegsverbrechen wie Massakern beteiligt war.[167] Als SS-Sturmbannführer wurde er 1. Generalstabsoffizier einer SS-Panzerdivision.[168] In seiner Funktion an der Humboldt-Universität sorgte er für die Entlassung von 170 Lehrkräften, weil sie „sich dem DDR-System nicht entzogen hätten.“[169] Entlassungswellen wie diese stießen auf den Protest zahlreicher Studenten. Im Falle der Humboldt-Universität, wo die gleichberechtigte Teilnahme der Studenten in allen Gremien noch nicht zerschlagen worden war, organisierten Studenten Protestdemonstrationen.[170] Ihr antifaschistischer Protest richtete sich gegen die Entlassungen und gegen Wilhelm Krelle. Der SS-Generalstabsoffizier blieb allerdings bei seinem Grundsatz: „Kein Marxist wird seinen Fuß jemals über die Schwelle dieses Hauses setzen, solange ich hier das Sagen habe.“[171]

Ein Teil der vielen entlassenen DDR-Wissenschaftler ließ sich allerdings nicht brechen und entwickelte eine eigene, wenig beachtete Wissenschaftskultur und organisierte sich in Vereinen, Kleinverlagen und Zeitungen. Auch die Teile, die in DDR zu Faschismus und Vernichtungskrieg forschten, versuchten fortan dort einen wissenschaftlichen Antifaschismus-Diskurs weiter zu betreiben.[172]

Während diese Entwicklungen klare Fakten schufen, offenbarte Rainer Eppelmann, Vorsitzender der Enquetekommission, worum es in dieser Aufarbeitung tatsächlich ging. Auf der 30. Sitzung der Kommission im März 1993 beteuerte er: „Noch in der Zeit nach der Wende beschworen höchst achtenswerte Vertreter der Bürgerbewegung, die die SED-Diktatoren zum Abdanken gezwungen hatten, den Antifaschismus als Kern jener DDR-Vergangenheit, den es durch alle Umbrüche hindurch zu erhalten gelte. Diese Menschen hatten noch nicht erkennen können, in welcher skrupellosen Weise die SED-Machthaber auch das Ideal des Antifaschismus nur noch als Alibi der eigenen autoritären Herrschaft einsetzten und mißbrauchten.“[173]


Diesen Menschen sollte man nun auf die Sprünge helfen: Nie wieder Antifaschismus – dass war das Gebot der neuen Stunde. Nicht nur in den Gedenkstätten, auch an den Universitäten und in der Forschung konnten alle an einem Strang ziehen: Politiker der Bundestagsparteien, neurechte Ideologen und ehemalige SS-Mörder – im Antikommunismus vereint. Das ideologische Waffenarsenal, welches man im Kalten Krieg gegen die DDR anhäufte, konnte nun voll zum Einsatz kommen.

Ausblick: Wurzeln schlagen und Weiterentwickeln

Schulung und Bildung

Überall im Osten Deutschlands waren, als Folge von Kühnens breitem Netzwerk und dessen Abspaltungen, Gruppen entstanden. Im Laufe der Zeit gründeten sich solche Strukturen immer unabhängiger von der westdeutschen Neonazi-Szene. Der deutsche Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz unterstützte weiterhin tatkräftig die Gruppierungen: Er vertuschte, schaute weg und finanzierte wo es überall nur möglich war. Der schrecklichste Beweis dafür ist das NSU-Netzwerk. Der NSU ging aus der sächsischen und thüringischen Neonazi-Szene hervor und konnte sich auf Kontakte in ganz Deutschland verlassen. In die Mordanschläge des NSU waren zahlreiche V-Leute involviert.[174]

Die jungen Neonazigruppen standen genau wie die neofaschistischen Parteien vor großen Aufgaben. Der Nazi-Jurist Jürgen Rieger konstatiert: „Wenn wir genügend Untercorpsführer hätten, könnten wir Zehntausende marschieren lassen.“[175] Eine Einschätzung, die viele faschistische Kader teilten. Es entstanden neue Bildungs- und Schulungszentren für die Kaderentwicklung in Ostdeutschland. In den verschiedenen Initiativen wurden breite Netzwerke von Republikanern und Deutscher Volksunion, bis hinein in Kameradschaften und die Freie Arbeiterpartei (FAP) aufgebaut.[176]

DVU mit brüchigem Erfolgskurs

Schon 1989/90 baute die Deutsche Volksunion erste Ortsgruppen im Osten auf. Unterdessen tourte der Vorsitzende und bayrische Multimillionär Gerhard Frey quer durch die ehemalige Republik und hielt dutzende Vorträge.[177]

Die Deutsche Volksunion (DVU) konnte im Jahr 1998 mit 12,9% in den Landtag von Sachsen-Anhalt einziehen. Dazu dienten auch die engen Beziehungen zu den Republikanern, die sie im Wahlkampf unterstützten. Die Partei fand vor allem unter jüngeren Wählern aus der Arbeiterklasse Anklang und setzte auf ein Image als Protestpartei mit dem Wahlspruch: „Protest wählen – Deutsch wählen“. Die Erfolge in Sachsen-Anhalt und kurz darauf in Brandenburg (5,3%) konnte den Abwärtstrend bei den Mitgliederzahlen kurzzeitig umkehren.[178] Die Partei kämpfte sich in den Jahren mühselig auf 4.000 Parteimitglieder in Ostdeutschland hoch. Diese waren allerdings nur wenig aktiv oder geschult.[179] So war es wenig verwunderlich, dass die Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt noch vor Ende der Legislaturperiode auseinanderbrach.[180] Die Mitglieder der ersten Parlamentsfraktionen in Westdeutschland waren auch bereits weitgehend inaktiv, inkompetent und zerstritten.[181]

Darin zeigen sich die Probleme, die trotz der Wahlerfolge in Ostdeutschland zum Niedergang der Deutschen Volksunion führen sollten. Die Partei hatte sich bei ihrem Vorsitzenden Frey über die Jahre stark verschuldet. Dieser ermöglichte keinerlei innerparteiliche Auseinandersetzungen oder Debatten, wodurch nie ein tatsächliches Parteileben entstehen konnte. Bis auf Parteistammtische entfalteten die nur schlecht geschulten Mitglieder kaum Aktivitäten außerhalb des Wahlkampfes. Derartige Mängel glich Frey durch immense Ausgaben für Flyer und Wahlplakate aus. Spätestens ab 2004 befand sich die Partei in einer tiefen Krise, die sie sechs Jahre später zu einer Fusion mit der NPD veranlasste.[182]

Republikaner im Abwärtstrend

Die Krise in den Reihen der Republikaner trug ähnliche Züge. Die großen Wahlerfolge bei der Berliner Senatswahl und der Europawahl 1989, bei denen die Partei jeweils über 7% erzielen konnte, beförderten Machtkämpfe und Richtungsstreitigkeiten. Auch hier entlud sich der Protest über den „diktatorischen Führungsstil“ des Vorsitzenden Schönhubers, der die Partei von ihrem konservativen, CDU-nahen Profil wegbewegte.[183] Während die Republikaner in Westdeutschland zunehmend Polizisten, Bundeswehrsoldaten und Akademiker in ihren Funktionärskörper aufnehmen konnten, scheiterte die Partei im Osten. Westdeutsche Republikaner reisten zwar kontinuierlich in ostdeutsche Städte, um dort auf Montagsdemonstrationen zu agitieren, die wenigen angeworbenen Funktionäre erwiesen sich jedoch als unerfahren, schlecht geschult und teils zu offen neofaschistisch. Die folgende massive Anti-Asyl Kampagne sollte der Partei einen letzten kleinen Aufwind verschaffen. So stiegen die Mitgliederzahlen der Republikaner in Ostdeutschland auf 3.000 Mitglieder im Jahr 1992.[184]

Franz Schönhuber und seinen Republikanern gelang in dieser Zeit das Eindringen in bürgerlich-liberale Kreise am erfolgreichsten. Um den Vorwurf des Rechtsextremismus gegen die Republikaner zu entkräften, legte Schönhuber während seiner Zeit als Parteivorsitzender in der Regel großen Wert auf die Abgrenzung zu DVU und NPD.[185] Die Zielstellung, eine „seriöse und demokratische Alternative der Parteien rechts von der Union“[186] zu schaffen, litt allerdings unter dem Druck des offen-rechtsradikalen Flügels in der Partei. Solche programmatischen Streitigkeiten sollten die Republikaner tiefer in die politische Bedeutungslosigkeit führen.[187]

Dennoch keine Krise der Neofaschisten

Die Entwicklung der neofaschistischen Bewegung erlitt durch den Niedergang dieser beiden Parteien allerdings keinen Dämpfer. Die NPD konnte von der fehlenden Konkurrenz profitieren und die bestehenden Potenziale bündeln. Im Jahr 2004 erreichte die Partei bei der sächsischen Landtagswahl in Sachsen 9,2% und zwei Jahre 7,3% in Mecklenburg-Vorpommern. Wir sprechen hier von 190.909 Stimmen (Sachsen) bzw. 59.845 Stimmen (Mecklenburg-Vorpommern). In den Wahlkämpfen inszenierte sie sich vorrangig als rechte Protestpartei. In ihrem Vorfeld wuchsen neofaschistische Jugendgruppen weiter an. Ostdeutschland verzeichnete im Jahr 2000 viermal mehr fremdenfeindliche Gewalttaten als in Westdeutschland. Ausländer in Ostdeutschland waren mit einem 20-fach höheren Risiko konfrontiert, Opfer rechter Gewalt zu werden.[188] In ländlichen Regionen gewannen Neofaschisten die Oberhand über die Jugendkultur und öffentliche Räume. Solche „national-befreiten Zonen“ wurden auch in Stadtvierteln von größeren ostdeutschen Städten realisiert. Die Optionen für Andersdenkende beschränkten sich häufig auf Anpassung, Stillschweigen oder Inkaufnahme von Gewalt. Organisierter antifaschistischer Selbstschutz von Migranten und Linken in solchen Regionen ist kaum dokumentiert.

Die neofaschistische Bewegung konnte ungehindert weiter Wurzeln schlagen, ihr mangelte es jedoch weiterhin an geschulten Funktionären und Kadern. Bis zur Gründung der AfD konnte sich die NPD in einigen ostdeutschen Landtagen halten. Sie übergab in den 2010er Jahren der blauen Partei sozusagen den Staffelstab.

Auf dem Weg zum vierten Anlauf

Die Unterwerfung Osteuropas und das deutsche Exportmodell prophezeiten vorerst eine Phase der Integration und stabilen Herrschaft. Der sozialdemokratische Klassenkompromiss konnte sich auf imperialistische Extraprofite im Rahmen der EU-Integration stützen. Auf Basis der internationalen Konterrevolution errichtete Deutschland seinen Weltmachtstatus.

Die Bedingungen für einen solchen sozialdemokratischen Klassenkompromiss waren in Ostdeutschland deutlich weniger gegeben. Dort entwickelte sich der Neofaschismus als konstante integrative Kraft in Form von Parteien wie der NPD, sowie Kameradschaften und Jugendgruppen.

Kurt Gossweiler, der sich 1998 mit genau dieser Frage von starker neofaschistischer Bewegung und realer Herrschaftsoption beschäftigte, schlussfolgerte zutreffend: „Deshalb bedarf heute das deutsche Finanzkapital keines Faschismus, um seine Hegemonie über das ”vereinte” Europa zu errichten – das wäre vielmehr das alleruntauglichste Mittel.“ Gossweiler fügt dem hinzu: „Das heißt aber ganz und gar nicht, dass in einer Europa-Union nicht Krisensituationen eintreten könnten, zu deren Meisterung die Regierenden kein anderes Mittel mehr sehen, als die Abschaffung jeglicher demokratischer Rechte und die Errichtung einer – natürlich ”modernen”, mit den neuesten technischen Mitteln der Massenbeobachtung und -beherrschung ausgerüsteten – neofaschistischen Diktatur.“[189] Die Finanzkrise und europäische Schuldenkrise läuteten diese Krisensituation ein: Die AfD betrat infolgedessen die politische Bühne.

Fest steht: Neofaschistische Parteien entstehen nicht einfach spontan und von Unten. Das beweisen die Geschichte der NPD, DVU und Republikaner. Sie werden dann von Oben aufgebaut, wenn man sie braucht. Und sie sind immer ungefähr so stark, wie man sie haben will. Ihre Stiftungen, Medien und Netzwerke hat die herrschende Klasse genau für solche Zwecke.

Das Pulver trocken halten

Die Neue Rechte wusste wie entscheidend ein nachhaltiger und langfristiger Aufbauprozess für die neofaschistische Bewegung sein wird.

Die Stabilisierung rechten Gedankenguts sollte fortan eine Hauptaufgabe der Neuen Rechten werden.[190] In den verschiedenen Verlagen, Zirkeln und Arbeitskreisen wurde weiterhin kontinuierlich diskutiert und Propaganda für die Konservative Revolution betrieben. Zeitgleich mit dem Niedergang von DVU und Republikanern bildete sich das Institut für Staatspolitik (IfS) heraus – heute eine der wichtigsten neurechten Denkfabriken in der Bundesrepublik.

Die Schulungen und Seminare des Instituts werden bis heute zahlreich und prominent besucht. Ihre Publikationen erfreuten sich ebenso einer breiten Leserschaft und konnten immer häufiger Impulse in die neofaschistische Bewegung senden. Die Zusammenarbeit mit der auflagenstarken Jungen Freiheit war den Gründern des Instituts von Beginn an sicher. In einem Interview mit der Wochenzeitung benannte einer ihrer Gründer, Karlheinz Weißmann, 2001 die Ziele des IfS: „Uns geht es um geistigen Einfluss, nicht die intellektuelle Lufthoheit über Stammtische, sondern über Hörsäle und Seminarräume interessiert uns, es geht um den Einfluss auf die Köpfe, und wenn die Köpfe auf den Schultern von Macht- und Mandatsträgern sitzen, umso besser.“[191]

Die Gründung des Institutes steht dabei in einer klaren Kontinuität zur Entwicklung der Neuen Rechten und reagierte auf die Stagnation der 2000er Jahre. Weißmann und Kubitschek, die beiden bekanntesten Gründer des Institutes, teilten sich ihre gemeinsame politische Herkunft aus der völkischen Studentenverbindung Deutsche Gildenschaft sowie ihre Autorenschaft für dieJunge Freiheit.[192]

Mit dem Zentrum in Schnellroda knüpften die größtenteils westdeutschen Gründer gezielt an die Siedlungsstrategien im Osten Deutschlands an. Mit Schulungen und Seminaren holte man die dringend notwendige Ausbildung von Kadern, Funktionären, Rednern und Autoren nach. Über die Theoriezeitschrift Sezession wurde sich gezielt mit neuen Strategien auseinandergesetzt, während man verschiedene Kräfte sammelte, organisierte und schulte. Die Verleger und Organisatoren übten sich seit ihrer Gründung im Jahr 2000 in Geduld und langfristigem Denken. Kubitschek gab noch im selben Jahr in der Jungen Freiheit ein Interview und betonte, dass sie „ihre Arbeit sehr ernst nehmen“, sie jedoch „derzeit nicht wirklich gebraucht“ werden: „Unsere vollkommen abgesicherte Gesellschaft wird durch unsere Warnrufe und Forderungen nicht berührt.“ Es gelte das „Pulver trocken zu halten (…), weil die Stimmung für uns arbeitet: Es liegt etwas in der Luft“, so Kubitschek anlässlich der Gründung des Instituts.[193]

Die Integrationsfähigkeit des imperialistischen Staates ist nicht grenzenlos, weswegen eine neofaschistische Bewegung, die die kapitalistische Herrschaft stabilisiert, sehr nützlich ist. Es deutet sehr viel darauf hin, dass die Finanzkrise und die Eurokrise genau eine solche Dynamik hervorbrachten.

Kräfte sammeln

Die mühevolle Arbeit an einer Konsolidierung der übrigen Kräfte formierte sich in den 2000er Jahren zu einem breiten Netzwerk. In ihm fungierte das Institut für Staatspolitik als zentrale Denkfabrik, die durch das von Daimler finanzierte Studienzentrum Weikersheim oder das Thule-Seminar, ergänzt wurde. Dem hauseigenen Verlag Antaios kam dabei die Aufgabe zu, Strategiedebatten und politische Auseinandersetzungen zu organisieren und festzuhalten. Diese Arbeit wurde auf den Seminaren des Instituts für Staatspolitik in Schulungen übersetzt, während die Junge Freiheit propagandistisch in die Breite wirken sollte. Dabei wurden beständige Kontakte zu den verstreuten rechtskonservativen Parteien wie der „Freiheit“ oder dem „Bund Freier Bürger“ gesucht, die später die AfD mitgründen sollten. Die nötigen Kontakte hinein in das Kapital versprachen die „Hayek Gesellschaft“, der Unternehmerverband „die Familienunternehmer“, sowie die Netzwerke Bernd Luckes.

Als sich 2013, mit Rückenwind von Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, die letzten verbliebenen rechtskonservativen Stahlhelmer aus der CDU verabschiedeten und mit weiteren Gleichgesinnten die AfD gründeten, hatte dieses Netzwerk schon längst einen Fuß in der Tür und begleitete den Aufbauprozess der Partei. „Eine Oase der geistigen Regeneration“[194] sollte Björn Höcke das Institut später beschreiben. Das Institut für Staatspolitik entwickelte sich zum Motor der ideologischen Entwicklung der AfD und einem Antreiber zur Stärkung des neofaschistischen Flügels der Partei.[195]

Neurechte Strategen, wie Martin Sellner, warnen beispielsweise vor zu starker Militanz und Gewalt. Diese würden mittelfristig nur zu Repressionen und Ablehnung führen und keinen realen Weg zur Macht bieten. Gleichzeitig wird vor „Parlamentspatriotismus“ gewarnt. Gemeint ist damit die Integration in das politisch konservative Establishment und die Aufgabe völkischer und nationalistischer Standpunkte.[196] Was Sellner vorschlägt und weite Teile der AfD und der Neuen Rechten umsetzen, ist eine langfristige Rückeroberung politischer Räume und Deutungshoheiten, bei gleichzeitiger Anbiederung an das deutsche und US-Kapital.

An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass wir längst zu anderen Fragen, abseits der Annexion und der Neunzigerjahre, vorgestoßen sind. Wir können weiterhin erkennen, wie sich die Annexion der DDR und der Aufbau einer neofaschistischen Bewegung in Ostdeutschland bis heute auswirken. Die Entwicklung der AfD und ihre hohen Zustimmungswerte in Ostdeutschland – all diese Entwicklungen sind mit der Refaschisierung Ostdeutschlands verbunden. Die Saat, die man in den 1990ern gesät hat, blüht bis heute.

Die Entwicklungen nach der Annexion der DDR sorgten nicht nur für eine breite Kooptierung der Neuen Rechten in Staat und Politik, sondern schufen auch einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, aus dem die neofaschistische Bewegung Schlüsse zog: Auf die Gewaltausbrüche der 1990er folgten Schulungen durch westdeutsche Neonazis (oft in staatlich finanzierten Jugendzentren) und eine Professionalisierung der Bewegung setzte immer verstärkter ein. Ab Mitte der 1990er häuften sich Unternehmensgründungen und Bestrebungen, um in der Stadtgesellschaft anschlussfähiger zu werden. Ein Paradebeispiel bilden von Neonazis aufgebaute Sicherheitsfirmen, die Clubs oder Stadt- und Pressefeste „beschützen“.

Schlussbemerkungen und Ausblick

Diese Refaschisierung Ostdeutschlands startete als Offensive gegen die Überreste der annektierten DDR – sie hängt organisch mit der Konterrevolution zusammen und setzt sich dementsprechend fort. Der Sieg über den Sozialismus, die darauffolgende ökonomische und politische Ausbeutung Osteuropas, sowie die Zerstörung ganzer Gesellschaftsstrukturen boten den Nährboden für eine neofaschistische Bewegung, die sich mit der Unterstützung durch den deutschen Geheimdienst, durch gezieltes Wegschauen von Behörden, durch antikommunistische und ausländerfeindliche Medienkampagnen in Ostdeutschland breitmachen konnte. Das deutsche Kapital und die Regierung Kohl hatten ein klares Interesse an dieser gesellschaftlichen Verrohung und ausländerfeindlichen Straßengewalt. Sie dienten dazu, linke Kräfte und Antifaschisten zum Schweigen zu bringen und wurden ausgenutzt um Grundrechte wie das Asylrecht zu schleifen und gleichzeitig von den ursächlichen Problemen der ostdeutschen Bevölkerung abzulenken. Wie führende BRD-Politiker über die NPD oder andere Neofaschisten persönlich nachdachten ist dabei unwesentlich – sie erfüllten in dieser Zeit genau die Rolle, die sie spielen sollten, sonst hätte man sie politisch bekämpft.

Mit der DDR ging nicht nur ein Staat unter, für viele ging auch eine Idee unter. Die ideologische Seite dieser Konterrevolution ist nicht zu unterschätzen. Am Beispiel des Antifaschismus wurde das besonders deutlich.  In dieser Kampagne gegen den marxistischen Antifaschismus war der Antikommunismus das wichtigste Scharnier auf dem Weg zu einem inhaltsleeren, ungefährlichen und verbürgerlichten Antifaschismus, der den Neofaschismus langfristig eher stärkt als schwächt.

Von den neofaschistischen Gruppen, die im Zuge der DDR-Annexion aufgebaut wurden, gehen bis heute Gewalt und Einschüchterungen aus. Der Osten Deutschlands dient bis heute als Rückzugsort und Freiraum für Faschisten. Mit der „Initiative Zusammenrücken“ entstand im Jahr 2020 eine Plattform, die Umzüge von West nach Ost koordiniert und bewirbt – ganz im Stile Michael Kühnens in den 1990er Jahren. Die faschistische Bewegung profitiert bis heute von den Kontinuitäten und Netzwerken, die man in den Neunzigern etablierte und aufbaute.

Eine weitere Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Neofaschismus in der Bundesrepublik müsste sich unweigerlich der AfD widmen. Wir müssen ihre Entstehung aus den Kreisen des Neofaschismus und Konservatismus genau verstehen und gut nachvollziehen, können welche Rolle insbesondere die Neue Rechte in ihrem Gründungsprozess und der weiteren Entwicklung spielte. Wir müssen bezüglich dieser Partei verschiedene Fragen klären: Wie stark ist sie ideologisch und personell vom Neofaschismus durchsetzt? Welchen Weg geht die Partei?

Während nahezu sämtliche neofaschistische Parteien Europas ihren nationalneutralistischen und NATO-kritischen Kurs verworfen haben, hielt die Alternative für Deutschland lange daran fest – eine Position, die dem fest transatlantisch eingebundenen deutschen Kapital natürlich nicht passt. Jetzt, wo sich jedoch das US-Kapital in den deutschen Wahlkampf 2025 einschaltet und die Trump-Administration offen eine AfD-Regierung einfordert, schwenkt die AfD allmählich auf einen transatlantischen Kurs ein.

Fest steht, dass die ideologischen Anknüpfungspunkte des Faschismus immer vielfältiger waren als seine spätere Funktion. Die vermeintlich „russlandfreundliche“ Propaganda der AfD findet vor allem für ostdeutsche Wählerschaften statt und greift die Konkurrenznachteile, die eine EU-Integration für Teile des Kleinbürgertums mit sich bringt auf. Dieser Kurs kommt an seine Grenzen. Die Partei schwenkt auf einen transatlantischen Kurs ein und signalisiert der CDU Regierungsbereitschaft.

Die hier angeschnittenen Entwicklungen deuten darauf hin, dass der Neofaschismus in den letzten Jahren wieder aktiver und gezielter aufgebaut wurde. Der aktuell hegemoniale und staatstragende Antifaschismus bezweckt gleichzeitig das Gegenteil von dem, was er vorgibt zu sein – er stärkt den Neofaschismus und trägt zur Formierung einer liberalen Volksgemeinschaft bei.

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[81] Ebd.

[82] Der ehemalige Neofaschist Ingo Hasselbach berichtet in mehreren Artikeln und Dokumentationen darüber, wie er und viele weitere Insassen durch Altnazis wie den Dresdner Gestapo-Chef Schmidt noch weiter radikalisiert wurden.

[83] Reich (2021).

[84] VHS Doku (2020).

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[86] Marulanda (2019), S. 90f.

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[90] Ebd.

[91] Dokumentation Eskalation der Gewalt 1992.

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[93] Autorenkollektiv UdL (2024), S.5.

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[97] Lewis (1996), S.25ff.

[98] Monroy (2024).

[99] Robert Havemann Gesellschaft (ohne Jahr).

[100] Robert Havemann Gesellschaft (ohne Jahr) 2.

[101] Autorenkollektiv UdL (2024), S.5.

[102] Werner (2022).

[103] Ohne Autor (2022) / Kleffner (2016).

[104] Ohne Autor (2021).

[105] NDR Doku (2022).

[106] Das Buch 30 Jahre „Antifa in Ostdeutschland – Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung“ zeichnet diese Standpunkte gut nach, allerdings ohne sich selbstkritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.

[107] Ehlert, Ringo (2010).

[108] Ebd.

[109] Ohne Autor (2022).

[110] Tschernig (2023).

[111] Ehlert (2013).

[112] Autorenkollektiv (2019), S.34.

[113] Ehlert (2010).

[114] Rosa-Luxemburg-Stiftung (2019).

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[116] Hethey (2020), S. 44.

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[118] Kalitz (2009), S. 111.

[119] Hertel (1998), S.26.

[120] Neubacher (1996), S.55.

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[125] Niemann (2005), S.81.

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[132] Linke (1994), S.178.

[133] Wiedemann (1988) /sowie Linke (1994), S.175f.

[134] Heitzer (2013), S. 23f.

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[140] Ebd.

[141] Heitzer (2023), S. 33f.

[142] Elo (2016) / Scheffler (2012).

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[147] Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten (ohne Jahr).

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[173] Deutscher Bundestag Referat Öffentlichkeitsarbeit (1994), S. 1f.

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[175] Linke (1994), S.148ff.

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[188] Webarchiv Bundestag (2000)

[189] Gossweiler (1998)

[190] Ebd.

[191] Speit (2020), S.13.

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[194] Tornau (2021)

[195] Ebd.

[196] Sellner skizziert diese Idee in einer Buchvorstellung im Rahmen des Instituts für Staatspolitik. Die Audioaufnahme ist auf dem „Kanal Schnellroda“ erhältlich.

Anerkennung Palästinas: Reine Symbolpolitik oder Erfolg des Widerstands?

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Von Yannik Mallmann und Noel Bamen

Am 7. Oktober 2025 jährt sich die „Al-Aqsa-Flut“ zum zweiten Mal – jenes Ereignis, das die palästinensische Frage wieder ins Zentrum weltweiter Aufmerksamkeit rückte. Millionen Menschen protestieren seither regelmäßig gegen den Genozid in Gaza, begangen durch Israel und seine Verbündeten. Das zionistische Regime wird international zunehmend isoliert, während seine engsten Partner – allen voran die USA und Deutschland – unter wachsenden Druck geraten. Doch trotz dieser Isolation geht das Völkermorden in Gaza weiter: Tag für Tag werden Dutzende bis Hunderte Palästinenser getötet, vor den Augen einer globalen Öffentlichkeit.

Aktuell steht der kürzlich von den USA und Israel diktierte, von Jordanien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, der Türkei, Pakistan und Indonesien nachträglich unterstütze, „Gaza-Deal“ im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Und zwar vor allem deshalb, weil sich die Hamas, für viele überraschend, offen gezeigt hat, dem Plan zuzustimmen, wenn er wirklich ein Ende des Genozids und einen Rückzug der IOF bewirkt.

Der zweite Jahrestag des Gaza-Aufstands findet aber nicht nur vor dem Hintergrund dieser allerneuesten Entwicklung statt. Denn zuletzt Ende September haben mehrere westliche Staaten, darunter so mächtige wie Großbritannien, Frankreich und Kanada, Palästina offiziell anerkannt; nicht weniger als 14 Länder – darunter zahlreiche EU-Mitglieder – sind diesen Schritt seit der „Al-Aqsa-Flut“ gegangen. Wie Qais Abu Samra und Tarek Chouiref schreiben, handelt es sich dabei um die jüngste von mehreren Wellen, in denen der 1988 ausgerufene Staat Palästina mittlerweile durch 159 von insgesamt 193 UN-Mitgliedern anerkannt wurde.1

Doch wie ist diese Anerkennung einzuordnen? Der folgende Artikel legt die verschiedenen Einschätzungen von deutschsprachigen Linken und Kommunisten einerseits und von Widerstandsakteuren aus Palästina und Libanon andererseits dar und diskutiert sie. 

1. Positionen im deutschsprachigen Raum 

Nur wenige Organisationen und Medien der kommunistischen Bewegung in Deutschland und Österreich haben sich bislang zur westlichen Anerkennungswelle Palästinas geäußert. Bei denen, die es getan haben, überwiegt die Einschätzung, dass es sich dabei vor allem um eine symbolische Geste handelt, die westliche Staaten aus rein taktischem Kalkül vollzogen.

Perspektive Online 

Mohannad Lamees schreibt in Perspektive Online, das dem Kommunistischen Aufbau (KA) nahe steht: „egal ob mahnende Worte oder die Anerkennung eines Staates Palästina – Israel hat sich von seiner systematischen Politik der Landnahme und Vertreibung noch nie durch diplomatische Schritte abbringen lassen.“ Die Frage, ob Israel von einer solchen Anerkennung überhaupt beeindruckt wäre, müsse daher „mit einem klaren Nein beantwortet werden“. Besonders der Vorstoß Frankreichs sei nichts weiter als eine politische Finte: ein Versuch, sich in Konkurrenz zu den USA und Deutschland zu profilieren und zugleich innenpolitisch Ruhe zu schaffen. Die Anerkennung Palästinas nütze dem französischen Staat somit mehr als den Palästinensern selbst.2

Klasse gegen Klasse 

Die trotzkistische Online-Plattform Klasse gegen Klasse (KgK) hat einen Artikel ihrer französischen Schwesterorganisation gespiegelt, in dem die Autoren die Ansicht vertreten, dass die Anerkennung Palästinas in erster Linie darauf abzielt, „die palästinensische Bewegung zu zwingen, die koloniale Herrschaft Israels zu akzeptieren.“ Besonders scharf kritisieren sie den französischen Präsidenten Macron, dem es in Wahrheit darum gehe, „durch die Wiederbelebung der Zwei-Staaten-Lösung den Status quo in Palästina aufrechtzuerhalten und die Selbstbestimmungsbestrebungen der Palästinenser einzufrieren.“

Dies könne dazu führen, dass sich die angestrebte Lösung „immer mehr dem Modell der Bantustans im Südafrika der Apartheid annähert, wobei die PA [Palästinensische Autonomiebehörde, KO] als Subunternehmer der israelischen Armee fungieren würde.“

Gleichzeitig betonen die Autoren, dass die Anerkennung in erster Linie ein Ergebnis des internationalen Kräfteverhältnisses ist, „das durch den Kampf des palästinensischen Volkes und die Solidaritätsbewegung gegen den Völkermord entstanden ist.“ Zudem zeuge die Entscheidung von der „zunehmenden internationalen Isolation des israelischen Staates.“3

Junge Welt

Auch Wiebke Diehl äußert sich in der Tageszeitung Junge Welt kritisch. Die Anerkennung Palästinas sei „reine Symbolpolitik“ und ändere „an der fatalen Lage vor Ort kaum etwas.“ Besonders mit Blick auf Großbritannien, das enge militärische Kooperationen mit Israel pflegt und für seine umfangreichen Waffenlieferungen bekannt ist, betont sie, dieses Land habe „freilich nicht urplötzlich die Seiten gewechselt.“ Zugleich weist sie jedoch darauf hin, dass der Druck von der Straße groß sei.4

Unsere Zeit

Manfred Ziegler meint in der DKP-Wochenzeitung UZ ebenfalls, die Anerkennung Palästinas durch Frankreich, Großbritannien, Kanada und andere westliche Staaten sei „rein virtuell und ohne praktische Konsequenzen.“ Damit solle „ein Rest an westlicher Softpower erhalten bleiben. Aber es ist zu wenig und zu spät.“5

MLPD

In der Roten Fahne schreiben die Hauptkoordinatorin der internationalen Organisation ICOR, Monika Gärtner-Engel, und der stellvertretende Hauptkoordinator, Hatem Laouini, dass die Anerkennung Palästinas vor allem durch die internationalen pro-palästinensischen Proteste erkämpft wurde. Danach sei die „Anerkennung Palästinas durch immer mehr Länder […] ein erster Erfolg der Proteste, die sich auch von brutaler Unterdrückung nicht einschüchtern lassen.6

RKP/Der Funke

Auch die vor allem in Österreich, teilweise aber auch in Deutschland aktive trotzkistische Revolutionäre Kommunistische Partei (RKP), vormals Der Funke, bezeichnet die Anerkennung durch Großbritannien und Frankreich als „nicht mehr als eine symbolische Geste.“ Sie diene in erster Linie dazu, „die öffentliche Meinung zu beschwichtigen und die letzten Überreste einer unabhängigen europäischen Nahostpolitik zu erhalten.“7

Partei der Arbeit Österreichs

Etwas heraus sticht die PdA aus Österreich. Sie hält es für notwendig, dass die österreichische Bundesregierung und das Parlament den Staat Palästina offiziell anerkennen. Eine solche Anerkennung wäre „ein wichtiger Schritt, um die Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina wieder zu forcieren und dem palästinensischen Volk sein Recht auf Freiheit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu verhelfen.“

Darüber hinaus fordert die Partei die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied der Vereinten Nationen, seine vollständige Souveränität in den Grenzen von 1967, den Rückzug der israelischen Armee aus „allen besetzten Gebieten“ (gemeint sind: Westbank, Gazastreifen und Ostjerusalem), die „Rücknahme“ illegaler israelischer Siedlungen und Annexionen sowie das Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachkommen.8

2. Die Positionen der Widerstandsfraktionen

Die deutschsprachigen Positionen zeichnen größtenteils ein sehr negatives Bild der Anerkennungswelle. Nur einzelne betonen, dass diese erkämpft wurde – ob nun von den Palästinensern oder von der Solidaritätsbewegung. Die meisten kritisieren, dass dieser Schritt dem palästinensischen Volk nichts nütze, da der Genozid weitergehe.

In diesem Punkt stimmt ihre Haltung zumindest teilweise mit den Positionen der verschiedenen Widerstandsfraktionen in der Region überein. Denn auch sie betonen, dass die Anerkennung nur dann Wirkung entfaltet, wenn sie in konkrete und wirksame Maßnahmen umgesetzt wird. Gleichzeitig bewerten die Fraktionen des palästinensischen Widerstands die Anerkennung durch einige westliche Staaten insgesamt deutlich positiver als die deutschsprachige Linke. Sie heben insbesondere hervor, dass die Anerkennungen ein Erfolg des palästinensischen Volkes seien, der mit großen Opfern erkämpft wurde. Sie verstehen diese Schritte als Teil eines umfassenderen Prozesses zur Befreiung Palästinas, der unbedingt mit praktischen Maßnahmen einhergehen müsse, die zur Errichtung eines palästinensischen Staates führen.

DFLP

So betont die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas, dass formale Schritte wie die Anerkennung in wirksame und praktische Maßnahmen umgesetzt werden müssen – vor allem, um „Hindernisse zu beseitigen und die Ambitionen Israels zu vereiteln, die unser palästinensisches Volk daran hindern, seinen vollständig souveränen unabhängigen Staat zu verwirklichen.“

Gleichzeitig sei die Anerkennung „eine der wichtigsten Errungenschaften der großen Opfer, die unser kämpfendes Volk gebracht hat, sowie seiner Standhaftigkeit, an seinem Land, seiner Heimat und seinen legitimen nationalen Rechten festzuhalten.“9

PFLP

Die Anerkennung Palästinas durch westliche Staaten ist auch laut der Volksfront zur Befreiung Palästinasdas Ergebnis der Standhaftigkeit und der enormen Opfer des palästinensischen Volkes […] und darauf zurückzuführen, dass das Bild des zionistischen Feindes und seine Kriegsverbrechen des Völkermordes der ganzen Welt vor Augen geführt werden.“

Gleichzeitig betont die PFLP, dass die Anerkennung „keine der Kolonialregierungen von ihrer Verantwortung für ihre fortgesetzte Kollaboration mit der zionistischen Entität und ihre beschämende Beteiligung an der militärischen Umsetzung dieser Entität entbindet, insbesondere angesichts des Vernichtungskrieges, der Lieferung verschiedener Arten von Waffen und der Bereitstellung politischer Deckung, damit diese ihre Verbrechen fortsetzen kann.“10

Palästinensischer Islamischer Jihad

Der stellvertretende Generalsekretär des PIJ, Mohammad Al-Hindi, betont, dass die Anerkennung Palästinas „eine Reaktion auf den anhaltenden Völkermord in Gaza“ und eine diplomatische Niederlage für Israel darstelle. Zugleich weist er darauf hin, dass die Anerkennung kein Selbstzweck sei, sondern Teil eines umfassenderen Prozesses, der Israels Tötungen, Zerstörungen und den Siedlungsbau stoppen müsse.

Idealerweise solle die Anerkennung westliche und arabische Staaten dazu zwingen, ihre Normalisierung der Beziehungen sowie ihre sicherheits- und wirtschaftspolitische Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht zu überdenken. Gleichzeitig müsse die „Anerkennung Palästinas mit konkreten Schritten einhergehen […] und dürfe nicht nur dazu dienen, die öffentliche Wut zu beschwichtigen.“ Die Beendigung des Krieges sei der wahre Test für diese Positionen, wobei das Kräfteverhältnis der eigentliche Schiedsrichter bleibe.11

Hamas

In einem Statement schreibt die Organisation , die jüngsten internationalen Anerkennungen Palästinas seien „ein wichtiger Schritt zur Bekräftigung des Rechts des palästinensischen Volkes auf sein Land und einen eigenen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt.“ Gleichzeitig betont sie, dass diese Anerkennung mit dringenden Maßnahmen einhergehen müsse, um den anhaltenden Völkermord Israels in Gaza zu beenden.12

Die Anerkennung sei zudem eine längst überfällige Würdigung des Kampfes, der Widerstandsfähigkeit und der Opfer des palästinensischen Volkes in seinem Streben nach Befreiung und Rückkehr. Gleichzeitig müsse der Schritt von praktischen Maßnahmen begleitet werden, um den Völkermord in Gaza unverzüglich zu stoppen und den „Annexions- sowie Judaisierungsbemühungen Israels“ im Westjordanland und in Jerusalem entgegenzuwirken. Das Statement schließt mit einem Aufruf an die internationale Gemeinschaft, Israel zu isolieren, jegliche Zusammenarbeit und Koordination zu beenden, Strafmaßnahmen zu verschärfen und Kriegsverbrecher Israels vor internationale Gerichte zu bringen.13

Osama Hamdan, ehemaliger hochrangiger Vertreter der Organisation im Libanon und Iran, stellt fest, dass die „Al-Aqsa-Flut“ die palästinensische Sache wieder in den Vordergrund gerückt habe. Die Anerkennung des Staates Palästina sei „ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, aber alleine nicht ausreichend. Echte Fortschritte erfordern praktische Maßnahmen vor Ort.“ Er sieht die Anerkennung als politisches Ergebnis des palästinensischen Widerstands, insbesondere seit Beginn der Operation „Al-Aqsa-Flut“ am 7. Oktober 2023, und betont, dass nun konkrete Schritte notwendig seien, um den palästinensischen Staat mit Jerusalem als Hauptstadt zu errichten und dem Volk zu ermöglichen, sein Schicksal selbst zu bestimmen.14

Ezzat al-Resheq, Mitglied des Politbüros der Hamas, bewertet die internationalen Anerkennungen des Staates Palästina als politischen und moralischen Sieg, der die Standhaftigkeit und die großen Opfer des palästinensischen Volkes widerspiegele. Die Anerkennungen seien Ausdruck „der zunehmenden Isolation der Besatzung durch das zionistische Regime, des Scheiterns seiner Narrative und der weltweiten Unterstützung für die Gerechtigkeit der palästinensischen Sache“. Er fordert die internationale Gemeinschaft nachdrücklich auf, die Anerkennungen in praktische Maßnahmen umzusetzen, die dem palästinensischen Volk seine Rechte zurückgeben und seine Sehnsucht nach Befreiung und Unabhängigkeit erfüllen.15

Hisbollah

In einem Statement schreibt die Hisbollah, dass der Schritt der Anerkennung zwar Jahre oder Jahrzehnte zu spät komme, er aber dennoch bestätige, dass die palästinensische Sache lebendig sei und weder begraben noch abgehakt werden könne.

Zwar habe die Welle der Anerkennung keine direkten oder praktischen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen des palästinensischen Volkes in den besetzten Gebieten oder in der Diaspora. Dennoch habe „die Welt vollständig verstanden, dass die Politik, diese gerechte Sache zu ignorieren und ihr den Rücken zu kehren, ja sogar zu versuchen, Tatsachen zu verschleiern und Wahrheiten zu verfälschen, nichts bringt.“

Die “erneute Wachsamkeit in Bezug auf die internationale Verantwortung für das, was in Palästina geschieht“, entstehe „einzig aufgrund des zunehmenden Leidens und Schmerzes, den das palästinensische Volk“ erdulden müsse. All dies sei der Standhaftigkeit der Palästinenser zu verdanken, ihrer Weigerung, sich den Plänen der Vertreibung und Auslöschung zu beugen, sowie ihrem „außergewöhnlichen Widerstand“ gegen einen „zionistischen Krieg und einen kriminellen Apparat“, der von „arroganten Weltmächten unter Führung der Vereinigten Staaten unterstützt“ werde.16

Die Anerkennung spiegele zwar ein wachsendes Bewusstsein in der weltweiten Öffentlichkeit für die Gerechtigkeit des palästinensischen Kampfes wider. Gleichzeitig müsse die internationale Gemeinschaft jedoch wirksamere Maßnahmen ergreifen, um den Völkermord zu beenden, der nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Westjordanland verübt werde.17

Fazit

Die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Anerkennung Palästinas spiegeln die jeweiligen Positionen der Akteure und die verschiedenen Bedingungen ihrer Kämpfe wider: In Palästina geht es um das nackte Überleben, um Widerstand gegen Vertreibung und Vernichtung. In dieser Situation ist es selbstverständlich wichtig, Erfolgsmeldungen zu verbreiten, um die Kampfmoral der Bevölkerung und der Fidayin aufrecht zu erhalten – was nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Meldungen falsch sind und es sich nur um leere Durchhalteparolen handelt. Gleichzeitig geht es in Palästina auch darum, realistische und praktische Ansätze für die Erringung nationaler Souveränität voranzutreiben – eine Tatsache, die wir auch aus anderen nationalen Befreiungskämpfen lernen können: Kampf auf Leben und Tod und Diplomatie gehören hier untrennbar zusammen. Dass die Hamas das weiß, sieht man an ihrem praktischen Handeln.

Ganz anders ist die Situation der Solidaritätsbewegung im Westen: Sie befindet sich nicht in der Position eines Diplomaten – und auch nicht in der eines Vermittlers. Sie ist der Alliierte der Befreiungsbewegung. Ihre Aufgabe ist, Öffentlichkeit zu schaffen, Druck aufzubauen und die Maximalpositionen des Widerstands als die legitimen Forderungen darzustellen, die sie sind. Daher ist auch die permanente und scharfe Kritik an den eigenen Herrschenden, den hinter Israel stehenden imperialistischen Mächten, absolut richtig: Es ist unsere Aufgabe, ihre Heuchelei in jeder Sekunde aufzudecken, ihre Verbrechen anzuprangern und klar zu machen, dass jedes Zugeständnis ihrerseits – sei es groß oder klein – nicht genug ist. 

Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass wir auf den Widerstand schauen und verstehen müssen, was er sagt. Für die kämpfenden Palästinenser vor Ort ist die Anerkennung eine wichtige Errungenschaft – Ausdruck ihrer Standhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit. Das gilt es zu beachten und diesen Erfolg ernst zu nehmen und zu würdigen. Diese Anerkennungen sind mit dem Blut und den Opfern des palästinensischen Volkes erkämpft. Zugleich ist er in der Tat ein Zeichen des wachsenden Drucks auf den Westen.

Auch wir sollten als Bewegung von den Palästinensern lernen: nämlich unsere eigenen Errungenschaften besser zu erkennen. Denn auch wenn es in erster Linie dem Widerstand der Palästinenser zuzuschreiben ist, so liegen diejenigen, die die Anerkennung (auch) als Reaktion auf die Protestbewegung sehen, sicher nicht falsch. (Dabei ist klar: Die Solidaritätsbewegung, gerade in Deutschland, ist ebenfalls in erster Linie eine Errungenschaft der Palästinenser selbst.) Das alles bedeutet selbstverständlich weder, dass ein Sieg oder auch nur ein baldiges Ende des Völkermordes sicher ist, noch dass wir uns als Bewegung auch nur eine Sekunde ausruhen dürften.

In Deutschland schließlich sind wir noch in einer spezielleren Situation: Denn die BRD gehört zu den wenigen Staaten, die sich weigern, auch nur diesen, von deutschen Linken als „rein symbolisch“ kritisierten Schritt zu gehen. Schauen wir auf das, was der Widerstand sagt, kann es durchaus Sinn machen, die taktische Forderung nach einer Anerkennung Palästinas, in unseren Forderungskatalog als Solidaritätsbewegung aufzunehmen. Freilich sollten wir das – im Gegensatz zur PdA in Österreich – tun, ohne von der Forderung nach der Befreiung ganz Palästinas und von der Ablehnung der PA abzulassen.

Zuletzt: Da es sich bei den hier untersuchten Texten zumeist um Statements und kurze Kommentare handelt, werden eher Standpunkte deklariert, als Argumente vorgetragen und diskutiert. So wird die in der palästinensischen und internationalen Debatte zentrale Frage, inwiefern die Anerkennung eine Stärkung der PA darstellt,18 lediglich bei KgK angerissen. Gar nicht erwogen wird, ob es neben der Symbolik auch völkerrechtliche Aspekte gibt, die eine Anerkennung zum rechtlichen Hebel und damit für den weiteren Kampf nutzbar machen.19

  1. https://www.aa.com.tr/en/middle-east/timeline-countries-recognizing-state-of-palestine-since-1988/3696119 ↩︎
  2. https://perspektive-online.net/2025/07/anerkennung-eines-palaestinensischen-staates-mehr-als-ein-symbol/ ↩︎
  3. https://www.klassegegenklasse.org/anerkennung-palaestinas-was-verbirgt-sich-hinter-macrons-entscheidung/ ↩︎
  4. https://www.jungewelt.de/artikel/508786.genozid-in-gaza-symbolischer-schritt.html ↩︎
  5. https://www.unsere-zeit.de/ohne-konsequenz-4806133/ ↩︎
  6. https://www.rf-news.de/2025/kw40/freiheit-fuer-palaestina-global-sumud-wir-begleiten-dich ↩︎
  7. https://derfunke.at/25820-weitere-zuspitzung-des-voelkermordes ↩︎
  8. https://zeitungderarbeit.at/international/wer-erkennt-den-staat-palaestina-an-und-wer-nicht/ ↩︎
  9. https://saba.ye/en/news3557695.htm ↩︎
  10. https://saba.ye/en/news3558046.htm ↩︎
  11. https://qodsna.com/en/408701/Al-Hindi:-We-%2525E2%252584%2525A2ve-received-no-new-proposals-the-West-wants-to-Eliminate-the-resistance ↩︎
  12. https://www.palestinechronicle.com/live-blog-qassam-posts-farewell-picture-as-hezbollah-chief-speaks-about-only-path-day-716/ ↩︎
  13. https://qodsna.com/en/408647/Hamas:-Int-%2525EF%2525BF%2525BDl-recognition-of-Palestine-is-crucial-step-toward-upholding-our-people-%2525EF%2525BF%2525BDs-rights ↩︎
  14. https://english.palinfo.com/news/2025/09/22/348233/ ↩︎
  15. https://qodsna.com/en/408699/Resheq:-The-world-%2525EF%2525BF%2525BDs-recognition-of-Palestine-is-a-political-and-moral-victory ↩︎
  16. https://saba.ye/en/news3559960.htm ↩︎
  17. https://en.mehrnews.com/news/236935/Hezbollah-welcomes-Palestine-recognition ↩︎
  18. Stark in diese Richtung argumentieren beispielsweise Joseph Massad: https://www.middleeasteye.net/opinion/why-recognising-palestine-rewards-israels-pa-collaborators-not-palestinian-people und Noura Erakat, Shahd Hammouri, Diana Buttu, Yara Hawari und Inès Abdel Razek: https://www.nachdenkseiten.de/?p=138778; dieser Artikel des Mondoweiss Palestine Bureau weist dagegen auf die Tatsache hin, dass die hegemoniale politische Linie in israel auf die Liquidierung der PA drängt: https://mondoweiss.net/2025/09/why-israel-is-threatened-by-the-palestinian-authority/. ↩︎
  19. Diese Seite betonen etwa Maike Gosch: https://www.nachdenkseiten.de/?p=139512 und Marium Ali: https://www.aljazeera.com/news/2025/9/23/which-are-the-150-countries-that-have-recognised-palestine-as-of-2025. ↩︎

Bericht vom sechsten Mitgliederkongress der KO

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Mitgliederkongresse sind für unsere Organisation eine wichtiger Zeitpunkt, um über die vergangene Arbeit zu reflektieren, uns über aktuelle politische Entwicklungen zu verständigen und uns als Kollektiv für die kommenden Aufgaben neu aufzustellen. Auch in diesem Jahr haben wir diese Möglichkeit genutzt: im September fand unser sechster Mitgliederkongress statt. Im Folgenden wollen wir euch einen kurzen Einblick in die wichtigsten Diskussionen und Beschlüsse unseres diesjährigen Kongresses geben.

Die Krise der kommunistischen Bewegung ernst nehmen

Ziel der Kommunistischen Organisation war und ist weiterhin den Weg zur Formierung der Kommunistischen Partei in Deutschland zu ebnen, die den Anforderungen an die Partei Neuen Typs gerecht wird und die Krise der Bewegung überwindet. Die vielfältigen Erfahrungen in Theorie und Praxis, die sich rasant entwickelnde Lage in der BRD und darüber hinaus machen immer wieder eine Verständigung über den genauen Weg zur Formierung der Kommunistischen Partei notwendig.

Im Rahmen unserer Spaltung im Jahr 2023 haben wir uns intensiv mit der Imperialismusfrage auseinandergesetzt. Nun wollen wir den Weg wieder bewusster in Richtung Parteiformierung gehen: die Bestandsaufnahme der Entwicklung unseres Kollektivs, der kommunistischen Bewegung und die Verständigung über die zukünftigen Schritte sind für uns wieder in den Vordergrund gerückt. Ihnen ein inhaltliches und organisatorisches Fundament zu geben ist das vorderste Ziel der kommenden Legislaturen. Im anlaufenden Jahr haben wir uns die Behandlung der wichtigsten Fragen der kommunistischen Bewegung, ihre Dissense und verschiedenen Positionen, aber auch ihre Erfahrungen und Herangehensweisen zum Beispiel an die Partei- und Organisationsfrage vorgenommen. Wir wollen wissen, wie Parteien und Organisationen die politische Lage einschätzen, wie sie ihre eigene Rolle sehen, wie sie Probleme oder die Krise der Gesamtbewegung überwinden wollen. Wir wollen uns auch in Diskussionen und Auseinandersetzungen einmischen, unsere Erfahrungen und Einschätzungen einbringen, und damit weitere Schritte zur Klärung gehen. Ausgangspunkt ist, dass wir weiterhin einen Klärungsprozess zu den zentralen Fragen der Bewegung für dringend notwendig halten und es ein Fehler wäre, die Probleme und Dissense zu übergehen.

Die Parteifrage ist ein wichtiger Bereich in dieser Auseinandersetzung. Im Studiengang Kommunismus werden wir uns verstärkt mit der Frage der Organisation der Kommunisten beschäftigen und wollen dies im Zusammenhang mit der heutigen Situation, den heutigen Bedingungen und Möglichkeiten diskutieren. Damit wollen wir den eingeschlagenen Weg Richtung Parteiformierung schärfen und ihn inhaltlich untermauern.

Der Studiengang Kommunismus als Kerntätigkeit

Bereits auf dem fünften Mitgliederkongress haben wir die besondere Bedeutung des Studiengangs beschlossen: die Herausbildung von geschulten Genossen und die bewegungsoffene Auseinandersetzung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung hat höchste Priorität.

Der Start des Studiengangs verlief positiv: wir haben einen organisatorischen Rahmen geschaffen und in einigen Städten Deutschlands Lesezirkel gebildet, in denen die Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung regelmäßig passiert. Wir konnten eine Reichweite erzielen, die auch andere Teile der kommunistischen Bewegung aktiv einbindet. Sowohl Erfahrene, als auch Genossen, die den Marxismus erst kennenlernen, können in der gemeinsamen Auseinandersetzung etwas lernen.

Gleichzeitig mussten wir feststellen, dass die organisatorische Arbeit hinter dem Studiengang teilweise zu holprig ablief. Wir haben daher das Orga-Team für den Studiengang stärker aufgestellt und wollen bald einen festeren Rahmen für den bundesweiten Austausch über den Studiengang schaffen.

Wir laden weiterhin alle Interessierten dazu ein, sich am Projekt Studiengang Kommunismus zu beteiligen und mit uns in den Austausch zu kommen.

Der antiimperialistische Kampf

Der Genozid in Gaza und die ethnische Säuberung Palästinas werden fortgesetzt. Gleichzeitig wird in der Bundesrepublik Deutschland aufgerüstet, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse herabgesetzt, immer aggressiver für den Krieg gegen Russland gehandelt. Die Repressionen gegen die Palästina-Solidarität sowie gegen die Antikriegsbewegung nehmen immense Ausmaße an. Wir verstehen diese Schlaglichter des Kampfes gegen den NATO-Imperialismus – den palästinensischen Befreiungskampf und die Militäroperation Russlands in der Ukraine – als zwei zentrale Schauplätze eines zusammengehörenden antiimperialistischen Kampfs. Daher wird es auch in der nächsten Legislatur darum gehen, Aufmerksamkeit zu schaffen, Widerstand zu organisieren und die Bewegungen miteinander zu verknüpfen. Auf dem Mitgliederkongress haben wir über die Berichte von Genossen in der Massenarbeit diskutiert und auch aus den Erfahrungen der letzten Jahre abgeleitet, die Reflexion vorantreiben zu wollen: wir müssen die wesentlichen Fragen der Bewegungen herausarbeiten, reflektieren und zur Verständigung über grundlegende Fragen der Strategie kommen.

Die Kommunistische Bewegung als Schwerpunkt

Eine offene Debatte dreht sich um die Frage, welche Inhalte und Formate unsere Organisation publizieren soll. Im Zusammenhang mit dem Studiengang haben wir auf dem sechsten Mitgliederkongress festgelegt, dass sich Veröffentlichungen auf die deutsche und internationale Kommunistische Bewegung konzentrieren sollen. Daher werden in Zukunft primär Debatten und Einschätzungen verschiedener Akteure aufgenommen und gespiegelt, um die Spaltungslinien, die Dissense und Entwicklungswege von Parteien und anderen antiimperialistischen und kommunistischen Organisationen zu beleuchten. Wir wollen damit auch einen Beitrag zur Übersicht über die Dissense und zu deren Klärung schaffen. Auf dem Mitgliederkongress haben wir uns als einen ersten Schritt der Reflexion über die DKP und ihre Entwicklung seit unserem Austritt verständigt.

Die Debatte um den genauen Zweck und die Ausrichtung unserer Publikationen sowie unseren Umgang mit Social Media über den festgelegten Fokus hinaus ist noch nicht abgeschlossen und wird im kommenden Jahr weitergeführt.

Klärung und Parteikonstituierung mit der Bewegung

Mit den bereits vorliegenden und nun getroffenen Beschlüssen sind wir zuversichtlich, die richtigen Weichen für die Stärkung der KO und der Bewegung gestellt zu haben.

Anliegen unserer Organisation war es stets, verschiedene Teile der Kommunistischen Bewegung und darüber hinaus für den gemeinsamen Weg aus der Krise der Bewegung zusammen zu bringen. Im Jahr 2026 wird eine Studienwoche unserer Organisation zur Parteifrage stattfinden, in der wir uns gemeinsam mit der Bewegung über unseren bisherigen Weg sowie die zu gehenden Schritte zur Parteiformierung austauschen. 2027 organisieren wir einen Kommunismus-Kongress als Diskussionsplattform für die kommunistische Bewegung mit noch offenem Thema. Beide Veranstaltungen sind besonders geeignete Momente zum Austausch aller Interessierten. Auch der Studiengang als kontinuierlich stattfindendes Projekt lebt von eurer Beteiligung. Wir sind daher stets offen für den Austausch, eure Fragen und für eure Kritik, und rufen euch aktiv dazu auf.

Der Sahel strebt nach Souveränität

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Anlässlich des zweiten Jahrestages der Gründung der Allianz der Sahelstaaten (AES) spiegeln wir das kürzlich auf Englisch und heute auf Deutsch erschienene Dossier des Tricontinental Institute zum Kampf der Völker Westafrikas gegen Kolonialismus, Neokolonialismus und für sozialen Fortschritt.

Internationale Solidarität braucht inhaltliche Auseinandersetzung. Daher wollen wir, wie schon bei unserem Kongo-Dossier, einen kleinen Beitrag leisten, um auf Deutsch einen Zugang zu diesem wichtigen und hochaktuellen Thema zur Verfügung zu stellen.

Redaktion der Kommunistischen Organisation

Einleitung

Im September 2023, kurz nach den von progressiven Fraktionen des Militärs geführten Staatsstreichen, trafen sich die Staatschefs von Burkina Faso, Mali und Niger in Bamako (Mali), um die Charta von Liptako-Gourma zur Gründung der Allianz der Sahelstaaten (AES) zu unterzeichnen.1 Artikel VI der Charta legt fest:

Jeder Verstoß gegen die Souveränität und territoriale Integrität einer oder mehrerer Vertragsparteien gilt als Angriff auf die anderen Parteien und begründet eine Pflicht zur Hilfe und Unterstützung durch alle Parteien, einzeln oder gemeinsam, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, um die Sicherheit innerhalb des von der Allianz abgedeckten Gebiets wiederherzustellen und zu gewährleisten.2

Die Gründung der AES war eine direkte Reaktion auf die Drohung der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS) in Niger militärisch zu intervenieren, nach dem von der Bevölkerung unterstützten Militärputsch in diesem Land. ECOWAS verhängte gemeinsam mit der Afrikanischen Union (AU) Sanktionen und suspendierte die Mitgliedschaft aller drei AES-Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen Staatsstreichen: Mali im August 2020, Burkina Faso im Januar 2022 und Niger im Juli 2023.

Im Januar 2024 kündigten Burkina Faso, Mali und Niger gemeinsam ihren Austritt aus der ECOWAS an. Die Entscheidung, die im Januar 2025 offiziell wurde, wurde wie folgt begründet:

Die tapferen Völker von Burkina Faso, Mali und Niger stellen mit tiefem Bedauern und großer Enttäuschung fest, dass die Organisation [ECOWAS] von den Idealen ihrer Gründerväter und vom Panafrikanismus abgekommen ist. Sie dient nicht mehr den Interessen ihrer Völker, sondern ist zu einer Bedrohung für ihre Mitgliedstaaten und Bevölkerungen geworden, deren Glück sie eigentlich garantieren sollte.3

Die Führer der AES – Assimi Goïta aus Mali, Ibrahim Traoré aus Burkina Faso und Abdourahamane Tchiani aus Niger – verdanken all drei ihren Aufstieg den Volksaufständen und sind vereint in ihrer Ungeduld mit der pro-westlichen Politik der ECOWAS. Sie repräsentieren eine neue Generation von Militäroffizieren, die die weit verbreitete öffentliche Frustration über den französischen Neokolonialismus kanalisieren, und ihr Austritt aus der ECOWAS hat seine Wurzeln in den historischen Beschränkungen dieses Blocks.

Die ECOWAS war 1975 mit panafrikanischer Rhetorik von Führern wie Ghanas General Acheampong und dem Versprechen gegründet worden, dass sie als neue regionale Organisation „Jahrhunderte der Spaltung und künstlichen Barrieren, die Westafrika von außen auferlegt wurden, beseitigen würde”. Aber ihre Wirkung war schon immer begrenzt. In Wirklichkeit wurde sie gegründet, um sich auf wirtschaftliche Fragen wie die Schaffung eines gemeinsamen Marktes zu konzentrieren, ohne ernsthafte Ziele für eine politische Integration zu verfolgen.4 Diese sowieso begrenzten Möglichkeiten wurden sofort durch interne Spaltungen und, was noch wichtiger ist, durch konkurrierende externe Loyalitäten behindert. Die parallele frankophone Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (CEAO), die von Frankreich unterstützt wurde, untergrub oft die Ziele des Blocks. Dies zeigte sich während der Tschad-Krise von 1979–1981, als Frankreich und die CEAO die Friedensmission Nigerias untergruben und sie zu einem Misserfolg für die ECOWAS und einen Sieg für den eigenen Block machten. Desweiteren behinderten bilaterale Militärbündnisse zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien die Bemühungen um eine gemeinsame Verteidigungsstrategie.5

Es ist diese Geschichte innerer Spaltungen und anhaltender ausländischer Einflussnahme, die die heutige Sichtweise der AES prägt. Die Allianz argumentiert, dass die ECOWAS inzwischen als regionaler Vollstrecker externer Interessen fungiert und ihre Gründungsprinzipien verraten hat, indem sie „unter den Einfluss ausländischer Mächte“ geriet.6 Folglich bekräftigten die Mitgliedstaaten auf dem Gipfeltreffen in Niamey, auf dem die AES ins Leben gerufen wurde, dass ihr Austritt aus der ECOWAS endgültig sei, auch wenn sie den Übergang zu einer zivilen Regierung planen.

Obwohl etablierte Sicherheitsinstitutionen, politische Kommentatoren und Nichtregierungsorganisationen das Versagen der ECOWAS und anderer Sicherheitspartnerschaften bei der Gewährleistung nachhaltiger Sicherheit in der Region anerkennen, verurteilten sie die von der AES ergriffenen Maßnahmen weitgehend als „schweren Schlag für ein regionales Integrationsprojekt“, der wahrscheinlich zu „größeren Brüchen“ führen und „die sich verschlechternde [Sicherheits-]Lage“ in der Region „verschärfen“ würde.7 Aber in der Sahelzone entsteht eine Gegenerzählung. Nicht nur aus Sicht der politischen Führer der AES, sondern auch aus Sicht lokaler Basisorganisationen und der breiten Bevölkerung entstand das Bündnis vor dem Hintergrund der allgemeinen Unsicherheit und Ungleichheit, mit denen viele Länder des Globalen Südens zu kämpfen haben, die sich aktiv mit Fragen der Souveränität und Entwicklung auseinandersetzen. Für die Mitglieder der AES markierte das Jahr 2023 einen kollektiven Bruch mit gescheiterten Sicherheitsvereinbarungen (wie der G5 Sahel), der delegitimierten Führung regionaler Gremien wie der ECOWAS und der AU sowie langjährigen und ungleichen politischen Verflechtungen mit der Europäischen Union, Frankreich und den Vereinigten Staaten – alle gestützt durch jahrzehntelange neoliberale Wirtschaftspolitik.8

Dieses Dossier untersucht die Entstehung der AES. Wir sehen diese neue Formation als Beispiel für antiimperialistischen Regionalismus im Zusammenhang mit der Frage, wie Staaten des Globalen Südens mit Souveränität, Abhängigkeit und internen und externen Sicherheitsherausforderungen umgehen. Das Dossier lädt zum Nachdenken und zur Debatte über die Bedeutung und die Auswirkungen dieser Rückkehr auf den Weg der Souveränität ein – nicht als nostalgischer Nationalismus, sondern als mutiger und notwendiger Versuch, angesichts des Hyperimperialismus politische Autonomie, wirtschaftliche Selbstbestimmung und zivilisatorische Würde zurückzugewinnen.

Von der Kolonialherrschaft zur Unabhängigkeit


Burkina Faso, Mali und Niger sind Binnenstaaten, deren Territorien sich zum großen Teil über den südlichen Rand der Sahara erstrecken. Zusammen machen sie etwa 45 % der Landmasse Westafrikas und 17 % seiner Bevölkerung aus, was insgesamt 73 Millionen Menschen entspricht (Niger: 26,2 Millionen; Mali 23,8 Millionen; Burkina Faso 23 Millionen).9 Diese Nationen teilen tief verwurzelte kulturelle Normen, mit einer starken Betonung gemeinschaftlicher Werte, mündlicher Überlieferungen, einer überwiegend agrarischen Lebensweise und gesellschaftlichen Strukturen und einem Alltag, die stark von der vorherrschenden Religion, dem Islam, geprägt sind.

Wie ein Großteil Westafrikas erlebten diese Länder während des Zweiten Weltkriegs die Widersprüche der Kolonialherrschaft besonders deutlich. Die Landung in der Normandie gehört zwar zu den berühmtesten Momenten der französischen Militärgeschichte, doch wird dabei oft übersehen, dass viele der Soldaten und Arbeitskräfte, die zum Sieg über Nazi-Deutschland beitrugen, Afrikaner aus französischen Kolonien waren, darunter aus den heutigen Staaten Burkina Faso, Mali und Niger. Ihr Opfer auf europäischem Boden trug zu einem wachsenden politischen Bewusstsein bei und legte den Grundstein für die Forderungen nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung in der Nachkriegszeit.10

Nach dem Krieg und ermutigt durch den aufstrebenden sozialistischen Block verstärkte sich der Ruf nach Unabhängigkeit. In Niger beispielsweise wurde 1946 die Nigerische Fortschrittspartei (PPN) und angeschlossen an die Afrikanische Demokratische Versammlung (RDA), eine panafrikanische, antikoloniale Bewegung unter der Führung von Persönlichkeiten wie Modibo Keïta in Mali und Ahmed Sékou Touré in Guinea gegründet. Die RDA forderte zunächst die Gleichbehandlung mit französischen Bürgern, wandte sich jedoch bald der Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit zu. In Burkina Faso schloss sich die Partei Voltaische Union (UV) der RDA an, in der Hoffnung, eine regional koordinierte nationale Befreiungsfront aufzubauen, doch die UV löste sich schließlich unter französischem Druck auf. Dieses politische Erwachen legte den Grundstein für die nationalen Befreiungskämpfe in Westafrika.

Nach der kostspieligen Niederlage in Vietnam 1954 und inmitten des eskalierenden Krieges in Algerien (1954–1962) sah sich Frankreich zunehmendem Druck im In- und Ausland ausgesetzt. Aus Angst vor einem vollständigen Verlust seines wirtschaftlichen und politischen Einflusses in Afrika rief der neu an die Macht zurückgekehrte Präsident Charles de Gaulle 1958 im Rahmen der neuen Verfassung der Fünften Republik ein Referendum aus. Das Referendum bot den afrikanischen Kolonien zwei Möglichkeiten: mit „Ja” zu stimmen, um Teil der französisch-afrikanischen Gemeinschaft unter französischem Einfluss zu bleiben (die sogenannte „Übergangsoption”, die eine aufgeschobene Unabhängigkeit versprach, während wichtige Befugnisse in französischer Hand blieben), oder mit „Nein” zu stimmen, um sofortige Unabhängigkeit zu erlangen, aber der Gefahr eines plötzlichen Rückzugs Frankreichs und drohender wirtschaftlicher Instabilität ausgesetzt. Djibo Bakary, Gründer der Sawaba-Partei (auf Hausa „Freiheit“) und späterer Regierungschef Nigers nach den ersten Wahlen 1957, führte die „Nein“-Kampagne an. Letztendlich stimmte nur Guinea unter der Führung von Sékou Touré erfolgreich mit „Nein“ und wurde 1958 als erste westafrikanische französische Kolonie unabhängig.

Befürworter eines vollständigen Bruchs mit Frankreich wie Bakary wurden im Inland unterdrückt und von Kolonialkollaborateuren, darunter traditionelle Führer, Kolonialverwalter und Évolués (was so viel wie „die Fortgeschrittenen“ bedeutet, Afrikaner, die an französischen Institutionen ausgebildet worden waren, begrenzte Rechte oder einen bestimmten Status erhielten und darauf vorbereitet wurden, der Kolonialordnung zu dienen), an den Rand gedrängt.11 Um das Referendum in Niger zu sabotieren und die Sawaba-Partei zu untergraben, welche ebenfalls gegen die französische Urangewinnung gekämpft hatte, entsandte de Gaulle einen neuen Gouverneur: Don Jean Colombani. Die Regierung Colombani nutzte ihre totale Kontrolle über wichtige staatliche Institutionen – wie Sicherheit, Finanzen und Territorialverwaltung –, um eine Kampagne der Unterdrückung, Einschüchterung und sogar psychologischen Kriegsführung zu starten. Unter anderem wurden Flugblätter aus Flugzeugen abgeworfen, in denen gewarnt wurde, dass „Nein“-Wähler Staatsfeinde seien.12 Trotz der breiten öffentlichen Unterstützung für Sawaba sorgte massiver Wahlbetrug 1958 in Niger schließlich zu einem Sieg der „Ja“-Kampagne.

Dennoch zwang der Sieg der „Nein”-Kampagne in Guinea im selben Jahr, der auf der früheren Unabhängigkeit Ghanas von Großbritannien im Jahr 1957 aufbaute, die Franzosen dazu, in der Frage der politischen Unabhängigkeit weitere Zugeständnisse zu machen, und 1960 erklärten siebzehn afrikanische Länder – darunter vierzehn ehemalige französische Kolonien – ihre Unabhängigkeit. Diese formale Unabhängigkeit wurde jedoch ohne echte wirtschaftliche Transformation erreicht. Französische Vormundschaft und Entscheidungshoheit blieben bestehen, und wirtschaftliche Kontrolle wurde durch eine Reihe von „Kooperationsabkommen“ aufrechterhalten, darunter Verteidigungsabkommen, Protokolle über technische Hilfe und finanzielle Vereinbarungen wie das CFA-Franc-System. Eines dieser Abkommen war das im April 1961 von der Elfenbeinküste, Benin (ehemals Dahomey) und Niger unterzeichnete Verteidigungsabkommen, das Frankreich die „uneingeschränkte Nutzung“ von Vermögenswerten von militärischem Interesse ermöglichte.13

Frankreich kontrollierte Niger also weiterhin, und diese Kontrollmechanismen wurden in der gesamten Region angewendet:

  • Koloniale Schuldenregelungen: Niger musste Frankreich für die Infrastruktur aus der Kolonialzeit „entschädigen“, wie beispielsweise Straßen und Schulen, die durch Zwangsarbeit errichtet worden waren.
  • Kontrolle über Ressourcen: Frankreich behielt sich das Vorkaufsrecht für strategische Exporte aus Niger vor, insbesondere für Uran, und französische Unternehmen erhielten bevorzugten Zugang zu wichtigen Wirtschaftssektoren.
  • Steuerbefreiungen: Basierend auf dem Prinzip der Nicht-Doppelbesteuerung zahlten französische Unternehmen, die in Niger tätig waren, nur in Frankreich Steuern und waren von lokalen Abgaben befreit – darunter Zölle, Umsatzsteuern wie Mehrwertsteuern und sogar Kraftstoffsteuern –, was die Steuereinnahmen des Landes erheblich beeinträchtigte.
  • Währungsabhängigkeit: Niger war verpflichtet, den CFA-Franc zu verwenden, eine vom französischen Finanzministerium ausgegebene und regulierte Währung, wodurch seine Kontrolle über die Geld- und Fiskalpolitik eingeschränkt wurde.
  • Militärisches Entrenchment: Frankreich unterhielt Militärstützpunkte und ihm wurde das Recht auf „freie Nutzung militärischer Einrichtungen” gewährt. Dazu gehörten uneingeschränkte Bewegungsfreiheit zu Lande, in der Luft und auf dem Wasser sowie freier Zugang zu Transport- und Kommunikationsinfrastruktur und das Recht, Luft- und Seesignalisierungs- und Übertragungssysteme zu installieren.14

Darüber hinaus sicherte Anhang II des Verteidigungsabkommens von 1961 die Rolle des Militärs als Vollstrecker der französischen Kapitalinteressen und Wirtschaftspolitik in den Unterzeichnerstaaten. Insbesondere wurden in Artikel I des Anhangs zwei Kategorien strategischer Rohstoffe festgelegt: 1) flüssige oder gasförmige Kohlenwasserstoffe und 2) Uran, Thorium, Lithium und Beryllium sowie deren Erze und Verbindungen. In Artikel II hieß es: „Die Französische Republik unterrichtet die Republik Côte d’Ivoire, die Republik Dahomey und die Republik Niger regelmäßig über die Politik, die sie in Bezug auf strategische Rohstoffe und Produkte zu verfolgen beabsichtigt, wobei sie die allgemeinen Verteidigungsbedürfnisse, die Entwicklung der Ressourcen und die Lage auf dem Weltmarkt berücksichtigt“ [Hervorhebung hinzugefügt]. Artikel V besagte, dass die Afrikaner ihrerseits dafür sorgen mussten, dass Frankreich „über Programme und Projekte im Zusammenhang mit dem Export von Rohstoffen zweiter Kategorie und strategischen Produkten außerhalb des Territoriums informiert“ wurde. Außerdem waren alle drei Länder verpflichtet, „zugunsten der französischen Streitkräfte die Lagerung strategischer Rohstoffe und Produkte zu erleichtern“ und, wenn es die Verteidigungsinteressen erforderten, „deren Ausfuhr in andere Länder zu beschränken oder zu verbieten“.15 Durch die Einbettung wirtschaftlicher Direktiven in Rahmenwerke der militärischen Zusammenarbeit verwandelte das Abkommen die Verteidigungsinfrastruktur des Landes in ein Instrument zur Wahrung der wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen Frankreichs.

Auch Mali versuchte in den Jahren unmittelbar nach seiner Unabhängigkeit im Jahr 1960, seine wirtschaftliche und politische Souveränität zu behaupten. Unter der Führung von Modibo Keïta (1960–1968) verfolgte das Land eine sozialistisch orientierte Wirtschaftspolitik16, wie die Gründung staatlicher Unternehmen und die Einführung einer vom CFA-Franc unabhängigen Landeswährung im Jahr 1962, um die französische Währungsdominanz zu brechen. Diese Bemühungen wurden mit erheblichen Vergeltungsmaßnahmen konfrontiert, darunter diplomatische Isolation, Handelsbeschränkungen und der Entzug technischer und finanzieller Unterstützung Frankreichs, die zu einer Verschärfung der Wirtschaftskrise beitrugen. Die darauf folgenden wirtschaftlichen Turbulenzen ermöglichten 1968 den von Frankreich unterstützten Militärputsch von Leutnant Moussa Traoré, der dazu führte, dass Mali 1984 wieder der CFA-Franc-Zone beitrat.

Mit dem Ende des Kalten Krieges änderte Frankreich seine Afrika-Politik und führte auf dem Gipfeltreffen von La Baule 1990 „politische Konditionalität” ein. Präsident Mitterrand erklärte, dass die französische Hilfe an sogenannte demokratische Reformen wie Mehrparteienwahlen geknüpft sein würde.17 Dies löste eine Welle von Strukturanpassungsprogrammen (SAP) des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank aus, die in den 1980er Jahren in ganz Afrika durchgesetzt wurden, beispielsweise in Mali, wo Sparmaßnahmen, Kürzungen im öffentlichen Sektor und Handelsliberalisierung mit der Wiederaufnahme des Landes in die CFA-Franc-Zone im Jahr 1984 einhergingen. In den 1990er Jahren kam es zu einer zweiten Welle von SAPs auf dem Kontinent, insbesondere nach der Abwertung des CFA-Francs im Jahr 1994, als der Wert der Währung unter dem Druck Frankreichs, des IWF und der Weltbank um die Hälfte gesenkt wurde. Als Maßnahme zur Förderung der Exporte und zur Wiederherstellung der finanziellen Stabilität konzipiert, löste die Abwertung in Wirklichkeit starke Preissteigerungen, Lohnverfall und weit verbreitete Unruhen in der gesamten Region aus. Diese zweite Phase verband wirtschaftliche Liberalisierung mit von den Gebern durchgesetzten Reformen der Regierungsführung.18 Obwohl als Demokratisierung dargestellt, verstärkten diese Veränderungen die neokoloniale Kontrolle durch Verschuldung, Privatisierung und von außen gesteuerte Umstrukturierung des Staates.

Diese neu konfigurierten Herrschaftsinstrumente gingen mit einer Ausweitung der militärischen Präsenz der USA unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung einher. Im Jahr 2002 starteten die Vereinigten Staaten die Pan-Sahel-Initiative, die den Beginn einer dauerhaften westlichen Militärpräsenz in einer Reihe von Ländern der Region markierte, darunter Mali, Niger, Tschad und Mauretanien, und später unter ihrem Nachfolger, der Trans-Sahara-Partnerschaft zur Terrorismusbekämpfung, im Jahr 2005 auf Burkina Faso ausgeweitet wurde.

Die regionale Sicherheitskrise wurde, wie Malis Außenminister Abdoulaye Maïga 2024 vor der UN-Generalversammlung erklärte, „durch die rücksichtslose militärische Intervention der NATO in Libyen im Jahr 2011 verschärft”.19 Der Zusammenbruch des libyschen Staates öffnete die Schleusen für unregulierten Waffenhandel und zunehmende terroristische Aktivitäten. Die Bombardierung des damals eines der am weitesten entwickelten afrikanischen Staaten – mit den höchsten Werten des Human Development Index auf dem Kontinent und großen Infrastrukturentwicklungsprojekten wie dem Bewässerungsprojekt „Great Man-Made River“ – wurde weithin als Wendepunkt angesehen. Sie untergrub auch den Friedens- und Sicherheitsrat der Afrikanischen Union, der bereit war, eine Mission in die libysche Hauptstadt Tripolis zu entsenden, als die ersten Bomben fielen.20

Nach der Bombardierung Libyens im Jahr 2011 – erneut unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung – weiteten Frankreich und die USA ihre militärischen Aktivitäten in der Sahelzone erheblich aus. Neue US-Drohnenoperationen, von AFRICOM geleitete Ausbildungsmissionen sowie US-amerikanische und französische Militäreinsätze und Stützpunkte wurden in Gao (Mali), N’Djamena (Tschad), Niamey (Niger) und Ouagadougou (Burkina Faso) eingerichtet. Im Jahr 2014 starteten französische Truppen die Operation Barkhane, um ihre regionale Präsenz zu konsolidieren und die gemeinsamen Task Force G5 Sahel, zu der Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien und Niger gehörten, zu bilden.21 Dennoch haben die terroristischen Aktivitäten in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen. Malische Beamte haben wiederholt behauptet, dass die französischen Militäroperationen nicht nur den Terrorismus nicht eindämmen konnten, sondern sogar die treibende Kraft hinter den terroristischen Aktivitäten waren. Sie warfen Frankreich vor, selektiv gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen, andere zu tolerieren oder zu schützen und die Sicherheitskrise zu nutzen, um seine anhaltende militärische Präsenz zu rechtfertigen und strategische Interessen zu wahren. Im August 2022 warf der damalige malische Außenminister Abdoulaye Diop Frankreich offen wiederholte Luftraumverletzungen, Spionage und direkte Unterstützung terroristischer Gruppen vor – darunter die Lieferung von Waffen aus der Luft und die Koordination mit Dschihadistenführern – und forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats, um das zu beenden, was er als „Akt der Aggression gegen die Souveränität und territoriale Integrität [Malis]“ bezeichnete.22

Während ausländische Militärakteure unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung die nationale Souveränität untergruben, fuhren transnationale Unternehmen fort, unter äußerst ungleichen Bedingungen Reichtümer aus der Sahelzone zu extrahieren. Diese Länder sind nach wie vor stark vom Export von Rohstoffen abhängig – beispielsweise Uran aus Niger und Gold aus Mali – und das unter ausbeuterischen Bedingungen. So erhielt Niger beispielsweise im Jahr 2010 nur 13 % des gesamten Exportwertes, der von den beiden dominierenden französischen Uranbergbauunternehmen im Land erwirtschaftet wurde.23 Obwohl Mali seit den 1990er Jahren zu einem der größten Goldproduzenten Afrikas gehört, blieben die wirtschaftlichen Vorteile minimal. Steuerbefreiungen, ungerechte Lizenzgebührenstrukturen und andere politische Maßnahmen ermöglichten es Unternehmen wie Randgold Resources (das mit der Barrick Gold Corporation im Jahr 2018 fusionierte) und AngloGold Ashanti, hohe Gewinne mit geringen Reinvestitionskosten zu erzielen.

Diese wirtschaftliche Abhängigkeit verstärkte die langfristige Unterentwicklung, machte die Staaten anfällig für externen Druck und schränkte ihre Fähigkeit ein, ihre Wirtschaft zu diversifizieren oder günstigere Handelsbedingungen auszuhandeln. Der daraus resultierende Mangel an nachhaltiger Entwicklung hat zu einer Reihe von politischen, sozialen und sicherheitspolitischen Krisen beigetragen. Seit den 1990er Jahren sind Staatsstreiche und Regimewechsel an der Tagesordnung, die Eliten konkurrieren in dem schwachen institutionellen Umfeld um die Macht. Korruption, unzureichende öffentliche Dienstleistungen und die Ausgrenzung marginalisierter Gruppen haben die Legitimität des Staates weiter untergraben und das Misstrauen der Bevölkerung vertieft.

Militärische Intervention für nationale Souveränität

Massenmobilisierungen

Die Frustration der Bevölkerung über staatliche Institutionen, die durch jahrzehntelange neoliberale Umstrukturierungen und ausländische Einmischung ausgehöhlt wurden, entlud sich zwischen 2017 und 2022 in Mali, Burkina Faso und Niger in Massenmobilisierungen, die schließlich zu Volksaufständen in den drei Ländern führten.

Ausgehend von Protesten gegen den CFA-Franc im September 2017 in Senegal eskalierten die Demonstrationen schnell in der gesamten Sahelzone. Die vom französischen Finanzministerium ausgegebene Währung wurde weithin als Instrument fortgesetzter wirtschaftlicher Dominanz und als Symbol neokolonialer Kontrolle angesehen. In Mali kam es im April 2019 nach einer Welle interkommunaler Gewalt, darunter ein Massaker an rund 160 Fulani-Dorfbewohnern durch Mitglieder der ethnischen Gemeinschaft der Dogon, zu groß angelegten Protesten.24 Die Situation eskalierte im Januar 2021, als ein französischer Luftangriff eine Hochzeitsfeier im Dorf Bounti traf und mindestens 19 Zivilisten tötete. Während das französische Militär behauptete, jihadistische Kämpfer angegriffen zu haben, kam eine anschließende Untersuchung der Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass der Angriff überwiegend Zivilisten getroffen hatte ­– ein Verstoß gegen das Völkerrecht.25 Diese Ereignisse führten zu Massendemonstrationen, bei denen der Rücktritt von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta und der Abzug der französischen und internationalen Truppen gefordert wurden, was schließlich zur Absetzung Keïtas und zur Bildung einer vom Militär geführten Regierung im August 2020 beitrug.

Ganz ähnlich kam es in Burkina Faso seit 2018 zu Massenmobilisierungen gegen die ineffektive Sicherheitspolitik von Präsident Roch Kaboré. Diese erreichten im November 2021 einen Wendepunkt, als Demonstranten in Kaya und anderen Orten französische Militärkonvois blockierten, weil sie diese der Komplizenschaft mit terroristischen Gruppen verdächtigten. Diese anhaltenden Unruhen gipfelten im Januar 2022 in einer Militärrevolte, die Hauptmann Ibrahim Traoré an die Macht brachte.

Gleichzeitig kam es in Niger zu Protesten nach einem tödlichen Angriff von IS-Kämpfern auf einen Militärstützpunkt im Dezember 2019, bei dem mindestens 71 nigrische Soldaten getötet und die öffentliche Wut über die Unfähigkeit des Staates angeheizt wurde. Im November 2021 kam es in der Stadt Tera erneut zu Spannungen, als Demonstranten einem französischen Militärkonvoi gegenüberstanden, der zuvor von Demonstranten in Burkina Faso über eine Woche lang aufgehalten worden war. Der Konvoi eröffnete das Feuer, tötete mindestens zwei Zivilisten und verletzte mehrere weitere, was die öffentliche Empörung verschärfte.26

Populäre Staatsstreiche

Afrika wird häufig als Kontinent bezeichnet, der unter einer „Staatsstreich-Epidemie“ leide.27 Zwischen 1950 und 2022 fand die Mehrzahl der versuchten Militärputsche weltweit – 214 von 486 – in Afrika statt, wobei die Hälfte davon erfolgreich war.28 Die Mainstream-Darstellung der jüngsten Putsche in der Sahelzone stellt sie weitgehend als einen weiteren Zyklus politischer Instabilität in Afrika dar – Teil eines Musters autokratischer politischer Unternehmer, die um die Macht buhlen.29 Im Gegensatz zu früheren Staatsstreichen auf dem Kontinent scheinen diese jedoch einen ausgeprägten Patriotismus zu verkörpern, den der Präsident der West African Peoples’ Organisation Philippe Toyo Noudjnoume als „militärische Intervention zur Wahrung der Souveränität” beschreibt.30

Diese Militärregierungen unterscheiden sich von früheren Regierungen in der Region in mindestens drei wesentlichen Punkten: erstens in der Klassenherkunft und ideologischen Ausrichtung der Putschisten, zweitens in der aktiven Beteiligung von Volksorganisationen und drittens in der Entwicklung endogener panafrikanischer, antiimperialistischer nationaler Programme.

1) Die Klassenherkunft und ideologische Ausrichtung der Putschisten. Viele der wichtigsten Putschisten unterscheiden sich deutlich von anderen Offizieren, die in der Region Putsche angeführt haben. Die typischen Staatsstreiche der 1960er und 1980er Jahre wurden größtenteils vom Westen unterstützt und richteten sich gegen nationale Befreiungsführer, um die Ausbreitung antiimperialistischer oder linksgerichteter Regierungen und sozialer Kräfte einzudämmen. In diesen Fällen hing das Überleben einer Militärregierung weniger von ideologischen Überlegungen ab als vielmehr von der Sicherung der Unterstützung durch zivile Eliten und ausländische Geldgeber.31 Die jüngsten Staatsstreiche entsprechen diesem Muster nicht. Vijay Prashad, Direktor des Tricontinental: Institute for Social Research, bemerkt dazu:

„Menschen wie Burkina Fasos Captain Ibrahim Traoré (geb. 1988), der in der ländlichen Provinz Mouhoun aufgewachsen ist und in Ouagadougou Geologie studiert hat, und Malis Oberst Assimi Goïta (geb. 1983), der aus der Viehmarktstadt und Militärhochburg Kati stammt, repräsentieren diese breiten Klassenfraktionen… Ohne eine echte politische Plattform, die für sie spricht, haben sich große Teile des Landes hinter den patriotischen Absichten dieser jungen Militärs versammelt, die selbst von Massenbewegungen – wie Gewerkschaften und Bauernorganisationen – in ihren Ländern vorangetrieben wurden. Deshalb wird der Staatsstreich in Niger in Massenkundgebungen von der Hauptstadt Niamey bis zu den kleinen, abgelegenen Städten an der Grenze zu Libyen verteidigt. Diese jungen Führer kommen nicht mit einem ausgefeilten Programm an die Macht. Allerdings bewundern sie Menschen wie Thomas Sankara: Kapitän Ibrahim Traoré aus Burkina Faso beispielsweise trägt wie Sankara eine rote Baskenmütze, spricht mit Sankaras linker Offenheit und ahmt sogar Sankaras Ausdrucksweise nach.“32

2) Die aktive Beteiligung von Volksorganisationen. Volksorganisationen haben Kernelemente der nationalen Agenda geprägt und beteiligen sich aktiv an deren Gestaltung. Als es im Juli 2023 zum Staatsstreich in Niger kam, belagerten Massenorganisationen aus allen Bereichen französische Militärstützpunkte und die französische Botschaft – nicht nur, um den Sturz eines schwächelnden Regimes zu feiern und den Putsch zu verteidigen, sondern auch, um ihre seit langem bestehenden Forderungen nach einem Abzug der neokolonialen französischen Streitkräfte durchzusetzen. Bereits vor dem Staatsstreich hatten soziale Bewegungen begonnen, eine Massenfront gegen den Imperialismus aufzubauen, ein Prozess, der auf die Aktivitäten der Volksorganisation seit dem Jahr 2022 zurückgeht und auf jahrzehntelanger politischer Organisation und Aufklärung aufbaut. Als die Militärregierung Nigers mit Frankreich brach, signalisierte sie dem Volk, dass seine Interessen vorangebracht wurden. Seitdem fordern die Führer der Basis die AES weiterhin auf, ihre antiimperialistischen Versprechungen zu halten, und betonen die Notwendigkeit institutioneller Mechanismen, die sowohl Rechenschaftspflicht als auch die Beteiligung der Bevölkerung gewährleisten. Effred Mouloul Al-Hassan, Generalsekretär der nigerianischen Gewerkschaft für das Bildungswesen, brachte diese Dynamik der bedingten Unterstützung im November 2024 auf einer Konferenz in Niamey zum Ausdruck: „Wir unterstützen sie, solange sie für das Volk sind. Wenn nicht, werden wir sie bekämpfen, wie wir die Kolonialisten bekämpft haben.“33

3) Die Entwicklung endogener panafrikanischer, antiimperialistischer nationaler Programme. Die neuen Putschregierungen haben nationale Programme initiiert, die eine deutlich antiimperialistische Ausrichtung haben und auf endogenen Entwicklungsmodellen sowie dem sozialen und intellektuellen Erbe der Region basieren. Malis Nationale Strategie für Aufschwung und nachhaltige Entwicklung (SNEDD 2024–2033) skizziert ein mittelfristiges Programm für die nationale Erneuerung, das auf einem historischen Bruch mit von außen auferlegten Regierungs- und Entwicklungsmodellen basiert. SNEDD 2024–2033 stützt sich auf Mali Kura ɲɛtaasiraka bɛn san 2063 ma (Ein neues Mali: Eine Vision für 2063), einem von der Regierung herausgegebenen Zukunftsbericht, der eine umfassendere Vision für die Zukunft des Landes formuliert.34 Zusammen zielen diese Rahmenwerke darauf ab, den nationalen Wiederaufbau wieder in Malis vorkolonialem politischen Denken und seinen ethischen Traditionen zu verankern. Im Rahmen der Neudefinition der nationalen Identität und der institutionellen Prioritäten verbindet SNEDD 2024–2033 die Erneuerung Malis nach dem Staatsstreich ausdrücklich mit drei Säulen des zivilisatorischen Erbes des Landes. Erstens die Manden-Charta – die Verfassung des Mali-Reiches, die 1236 geschaffen wurde und oft als eine der frühesten Menschenrechtserklärungen der Welt bezeichnet wird –, die Werte wie soziale Solidarität, Schutz benachteiligter Bevölkerungsgruppen und partizipative Regierungsführung durch versammlungsbasierte Entscheidungsfindung förderte. Zweitens die Gesetzbücher des Massina-Reiches (1818–1862), das im inneren Nigerdelta in Zentralmali gegründet wurde und islamische Rechtswissenschaft mit lokaler Regierungsführung verband, um Gerechtigkeit, Umweltschutz und die Kontrolle der Exekutive zu institutionalisieren. Drittens die Manuskripttraditionen von Timbuktu, die sich über Recht, Wissenschaft, Ethik und öffentliche Verwaltung erstrecken und Jahrhunderte einheimischer intellektueller Produktion und Debatten über gerechte Herrschaft, die moralische Verantwortung von Führungskräften und das Streben nach Wissen im Dienste des Gemeinwohls widerspiegeln.

Zusammen bilden diese Traditionen die Grundlage für eine neue antiimperialistische Vision der malischen Identität und Staatskunst, die auf sozialer Gerechtigkeit, kollektiver Regierungsführung und zivilisatorischer Würde basiert.35 Die Vision Mali 2063 fordert die Entwicklung eines „neuen malischen Individuums (Maliden kura). … ein verantwortungsbewusster, patriotischer, wertebewusster Bürger, [der] fleißig, gewissenhaft und aufgeschlossen ist – der sich für die Souveränität und das Wohlergehen aller einsetzt”.36

Diese nationale Strategie stärkt den Wiederaufbau Malis als nationales und zivilisatorisches Projekt, das auf einem „starken, stabilen und wirtschaftlich souveränen Staat” basiert, der „seine Souveränität über mehrere strategische Sektoren gewährleisten muss”.37 Verankert in der Beteiligung der Bevölkerung und dem Widerstand gegen neokoloniale Einflüsse, schlägt sie eine ganzheitliche Transformation vor, die sich auf ein „neues endogenes Entwicklungsmodell (Mali Kura Taasira)“ in Bereichen wie Regierungsführung, Bildung, Justiz und wirtschaftliche Souveränität konzentriert.38 Diese grundlegende Vision stellt die kulturelle Integrität und Souveränität in den Mittelpunkt der nationalen Entwicklung und markiert damit eine klare Abkehr von den neokolonialen, von Gebern bestimmten Rahmenwerken der Vergangenheit.

Dieses Programm soll schrittweise durch mehrere große Initiativen umgesetzt werden. Zu den wichtigsten Infrastrukturprojekten gehören der Ausbau der Schnellstraße Bamako-Koulouba-Kati und der strategisch wichtigen Trans-Sahara-Straße (Abschnitt Bourem-Kidal) sowie der Bau des 200-MW-Solarkraftwerks Sanankoroba (genehmigt im Jahr 2024).39 Im Bergbausektor, der von der Regierung als strategischer „Hebel für Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung“ bezeichnet wird, wurden durch das Bergbaugesetz von 2023 weitrechende Reformen umgesetzt, beispielsweise die Erteilung großflächiger Goldförderlizenzen (wie die Korali-Sud-Lizenz in der Region Kayes) und der Erwerb einer 80-prozentigen Beteiligung Malis an der Goldmine Yatela, die zuvor von ausländischen Unternehmen gehalten wurde.40 Das Bergbaugesetz von 2023 revidierte die Bedingungen für die Zusammenarbeit mit allen ausländischen multinationalen Unternehmen, schrieb eine erhöhte staatliche Beteiligung von bis zu 30 % an Bergbauprojekten vor, hob Steuerbefreiungen auf und schuf die Voraussetzungen dafür, dass der Staat ausstehende Steuern und Dividenden einfordern kann. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, Milliarden von CFA-Francs zurückzugewinnen, die zuvor durch ungerechte Vereinbarungen verloren gegangen sind (eine kürzlich durchgeführte Prüfung ergab einen Verlust von 300 bis 600 Milliarden CFA-Francs an staatlichen Einnahmen aufgrund solcher Geschäfte), und signalisieren eine aggressivere Haltung gegenüber den historischen Plünderern des Goldreichtums Malis.41 Die Regierung hat außerdem Pläne zum Bau einer von Russland unterstützten Goldraffinerie und zur Entwicklung der Lithiumgewinnung mit chinesischer Hilfe im Rahmen des Goulamina-Projekts vorangetrieben, um Mali in die Wertschöpfungskette zu integrieren, anstatt nur als Lieferant von Rohstoffen zu fungieren.42

Die Gründung und Entwicklung der AES

Die AES-Länder stehen weiterhin vor erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen. So betrug beispielsweise im Jahr 2023 das Pro-Kopf-BIP des Niger nur 560 US-Dollar – eines der niedrigsten weltweit –, bei einer internationalen Armutsquote von 47,8 % und einer Lebenserwartung von 61 Jahren.43 Mali und Burkina Faso weisen vergleichbare Indikatoren auf, die auf weit verbreitete Armut und einen begrenzten Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen hindeuten. Die Sicherheitsprobleme wurden durch die vorherrschenden wirtschaftlichen Herausforderungen noch verschärft. In den letzten fünfzehn Jahren hat die Terrorismusaktivität in der Sahelzone dramatisch zugenommen, mit einem Anstieg der Todesfälle um 2.860 % und einer Zunahme der Vorfälle um 1.266 %. Allein im Jahr 2023 wurden fast 4.000 Menschen bei Terroranschlägen in der Region getötet, was 47 % der weltweiten Todesfälle durch Terrorismus und 26 % aller registrierten Vorfälle entspricht. Die überwiegende Mehrheit davon ereignete sich in Burkina Faso, Mali und Niger.44 Anhaltende Gewalt in Verbindung mit der Umweltzerstörung hat Millionen von Menschen in der gesamten Region vertrieben und zu einer wachsenden Zahl von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen beigetragen.45 Diese demografischen und sicherheitspolitischen Belastungen beeinflussen gemeinsam die strategischen Prioritäten und politischen Entscheidungen der AES.

Vor diesem und dem Hintergrund wachsender anti-französischer Stimmung begann die AES Gestalt anzunehmen. Bis Februar 2022 hatte Mali französische Diplomaten und Militärs des Landes verwiesen und sich aus regionalen Sicherheitspartnerschaften wie der G5 Sahel zurückgezogen, wobei es deren Versagen bei der Bewältigung der Sicherheitsprobleme in der Region anprangerte.

Im Juli vertiefte Mali die militärische Zusammenarbeit mit Russland durch neue Abkommen über Ausbildung und gemeinsame Operationen. Im September desselben Jahres erlebte Burkina Faso seinen zweiten Staatsstreich dea Jahres, wodurch eine neue Führung an die Macht kam, die Malis antiwestliche Haltung teilte und nach alternativen Sicherheitspartnerschaften suchte. In Mali eskalierten die Spannungen mit Frankreich weiter und gipfelten im November 2022 in der Aussetzung französischer Hilfsprogramme.

Im Jahr 2023 wurde die AES als regionaler Block offiziell gegründet. Im Januar forderte Burkina Faso den Abzug der französischen Truppen, wodurch die Militärvereinbarungen faktisch beendet und die französischen Stützpunkte im Land geschlossen wurden. Im Juli schloss sich Niger Mali und Burkina Faso an und lehnte nach den jeweiligen Militärputschen den politischen und militärischen Einfluss des Westens ab. Im August verkündete die AES einen kollektiven Verteidigungspakt – der später in der im folgenden Monat unterzeichneten Charta von Liptako-Gourma formalisiert wurde –, in dem festgelegt wurde, dass ein Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle Mitglieder betrachtet wird. Die Allianz erweiterte auch ihre internationalen Partnerschaften auf dem Russland-Afrika-Gipfel in Sankt Petersburg, wo die Mitgliedstaaten neue militärische und wirtschaftliche Abkommen mit Russland abschlossen. Im September wiesen die AES-Mitgliedstaaten US-amerikanische und europäische Diplomaten aus, denen Einmischung vorgeworfen worden war, und nahmen formelle Verhandlungen mit China auf, um Infrastrukturinvestitionen und Projekte zur gemeinsamen Nutzung von Ressourcen zu prüfen.

Im Jahr 2024 unternahm die AES eine Reihe strategischer Initiativen, um ihre regionale Präsenz zu vertiefen und ihre Souveränität zu behaupten. Im Juli hielt sie ihren ersten Staatschefsgipfel ab und formalisierte ihren Austritt aus der ECOWAS. In den folgenden Monaten führte das Bündnis seine ersten gemeinsamen Militärübungen durch, deren Schwerpunkt auf koordinierten Terrorismusbekämpfungsoperationen und Grenzsicherheit lag.

Im März, nachdem Niger den Betrieb eines der größten US-Drohnenstützpunkte eingestellt hatte, baute die AES ihre Sicherheitsabkommen mit Russland weiter aus, der Schwerpunkt lag auf der Beschaffung von Waffen und dem Austausch von Geheimdienstinformationen.46

Im April 2024 nahmen AES-Führungskräfte an einem Panafrikanischen Sicherheitsforum teil und setzten sich für mehr regionale Autonomie und afrikanisch geführte Lösungen für Sicherheitsherausforderungen ein. Im Juni bekräftigte die Allianz ihr Bekenntnis zur Ressourcensouveränität und hob die strategische Bedeutung von Uran in Niger, Gold in Mali und landwirtschaftlichen Ressourcen in Burkina Faso hervor. Im Juli lehnte die AES Forderungen der Vereinten Nationen und westlicher Mächte nach einem beschleunigten Übergang zu einer liberalen demokratischen Zivilregierung ab und stellte Stabilität über von außen auferlegte Zeitpläne. Die Allianz veröffentlichte außerdem eine Erklärung, in der sie die anhaltenden Sanktionen des Westens gegen Mitgliedstaaten verurteilte und diese als imperialistische Instrumente zur Untergrabung der regionalen Souveränität bezeichnete. Am 6. Juli 2024 verabschiedeten die AES-Mitglieder einen Vertrag zur offiziellen Gründung der Konföderation der Sahelstaaten, wodurch das im Rahmen der Charta von Liptako-Gourma von 2023 geschlossene Bündnis gefestigt wurde. Der Vertrag umreißt gemeinsame Prioritäten in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, Terrorismusbekämpfung und Förderung der wirtschaftlichen, kommerziellen und kulturellen Zusammenarbeit zwischen den drei Ländern.47

Diese Entwicklungen unterstreichen das Engagement der AES für die Stärkung der regionalen Autonomie und die Förderung eines einheitlichen Ansatzes zur Bewältigung der komplexen Herausforderungen der Sahelzone. Als Frankreich vertrieben wurde und sein Einfluss schwand, baute die Region ihre Beziehungen zu China und Russland aus. Diese Verschiebung weckte in Washington und im Westen Besorgnis über den Verlust des westlichen Einflusses in der Region und machte die Sahelzone zu einem Schauplatz internationaler Konflikte.

Wirtschaftliche Herausforderungen für die Zukunft

Die AES stehen vor grundlegenden Herausforderungen, da ihre Volkswirtschaften weiterhin von Rohstoffvorkommen abhängig sind, wodurch die anhaltenden neokolonialen Muster ungleicher Handelsbeziehungen und begrenzter Wertschöpfung widerspiegelt werden.

LandHauptexportgut (2023)Anteil der Exporte (%)Gesamtexporte (Billionen USD)Top Ziele
Burkina FasoGold81,8%3.65Schweiz (67%)
MaliGold94,1%5.02VAE (72%)
NigerGold, Ölsamen, Uranium~68,5 % kombiniert0.8VAE (25%)
China (20%)


Zusammengestellt aus dem Atlas der Ökonomischen Komplexität der Harvard University auf Grundlage von Daten der Handelsdatenbank der UN.48

Die AES-Länder nutzen ihren Mineralreichtum, um Veränderungen in ihren Volkswirtschaften anzustoßen, aber sie tun dies vor dem Hintergrund von Abhängigkeit, nötiger Diversifizierung und Wertschöpfung.49 Obwohl sich die Handelsziele von der französischen Dominanz befreit haben, dominieren heute die Schweiz (Zentrum der Goldraffinerie) und die Vereinigten Arabischen Emirate (ein wachsendes regionales Handels- und Raffineriezentrum) die AES-Exporte. Während die Schweiz weitgehend als Transithub fungiert und raffiniertes Gold mit minimaler lokaler Wertschöpfung für afrikanische Staaten wieder exportiert, betreibt die VAE in geringem Umfang Raffination, was eine leichte strategische Verbesserung der Diversifizierung widerspiegelt. In beiden Fällen bleibt die Wertschöpfungskette jedoch überwiegend außerhalb der Kontrolle Afrikas, wodurch die Rohstoffabhängigkeit aufrechterhalten wird.

Die Volkswirtschaften der AES-Länder bleiben somit anfällig für globale Rohstoffpreisschwankungen. Beispielsweise könnten ein Rückgang der Goldpreise oder Störungen auf den Finanzmärkten der Vereinigten Arabischen Emirate schwerwiegende Auswirkungen auf die Deviseneinnahmen Malis und Burkina Fasos haben. Unterdessen bleibt die Abhängigkeit Nigers vom Uran politisch heikel. Als wichtiger Lieferant für den europäischen Kernenergiesektor – insbesondere für Frankreich – haben die politische Neuausrichtung des Landes nach dem Staatsstreich und die Spannungen mit den westlichen Mächten zu Bedenken hinsichtlich der Versorgungssicherheit geführt. Diese Spannungen wurden durch Sanktionen und die Aussetzung von Hilfsleistungen noch verschärft, wodurch Uran sowohl zu einer wirtschaftlichen Lebensader als auch zu einer geopolitischen Verhandlungsmasse geworden ist.

Obwohl die AES-Länder ein klares politisches Interesse an einer souveränen wirtschaftlichen Entwicklung gezeigt haben, bestehen weiterhin strukturelle Schwachstellen, die von der Eigentumsfrage bei den Ressourcen bis zur Hegemonie der CFA-Währung reichen. Echte Selbstständigkeit erfordert nicht nur eine Diversifizierung der Exportmärkte und -produkte, sondern auch eine grundlegende Veränderung der Produktionsstrukturen: den Aufbau heimischer Raffineriekapazitäten, die Kontrolle der Geldpolitik, die Stärkung des regionalen Handels und eine Industrialisierung, die über die Abhängigkeit von Rohstoffen hinausgeht.

Starkes Streben nach Souveränität

Als die meisten afrikanischen Staats- und Regierungschefs zum Russland-Afrika-Gipfel 2023 eintrafen, verfolgte die internationale Presse das Geschehen aufmerksam. Als der Präsident von Burkina Faso, Ibrahim Traoré, und der malische Präsident Assimi Goïta den Veranstaltungsort betraten, gab es einen Medienrummel um diese „abtrünnigen“ Staatschefs, die ein zunehmend selbstbewusstes Verhalten an den Tag legten, das auf einen umfassenderen geopolitischen Wandel in strategischen Knotenpunkten des Globalen Südens hindeutete.

Während des bilateralen Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin stellte Traoré nationale Sicherheits- und Entwicklungsabkommen in den Vordergrund, verwies aber auch ausdrücklich auf „die Entwicklungen in Niger”, wo General Abdourahamane Tchiani gerade einen Militärputsch anführte. Diese Geste signalisierte die Übereinstimmung mit dem politischen Bruch in Niger und bekräftigte die Erzählung vom gemeinsamen Kampf innerhalb einer ungerechten internationalen Ordnung, die nach Ansicht der AES-Führer neu gestaltet werden muss.50 Die diplomatische Strategie von Traoré und Goïta spiegelten eine bewusste Abkehr von neokolonialen Verstrickungen und eine Hinwendung zu souveränen Entwicklungspartnerschaften wider und entsprachen damit einer wachsenden Tendenz vieler Staaten des Globalen Südens innerhalb der heutigen Architektur des Hyperimperialismus, eine Haltung einzunehmen, die man als „starkes Streben nach Souveränität” bezeichnen könnte.51

Diese diplomatischen Bemühungen – darunter strategische Neuausrichtungen und gemeinsame Wirtschafts- oder Sicherheitsinitiativen – sind nicht einfach opportunistische Allianzen, sondern Ausdruck tieferer Bestrebungen nach einer strukturellen Neupositionierung. Die AES gleicht nicht nur Bedrohungen im Sinne der gängigen Sicherheitsstudien aus (d. h. sie verbündet sich mit einer Macht, um eine andere auszugleichen), noch sucht sie lediglich nach neuen Gönnern. Vielmehr könnte man die Haltung als „Souveränitätsoffensive“ bezeichnen – einen Zustand, in dem Staaten, die mit den Zwängen einer hyperimperialistischen Ordnung konfrontiert sind, politische Maßnahmen und institutionelle Strategien durchsetzen, die darauf abzielen, die Abhängigkeit zu durchbrechen und ihren Platz im globalen System neu zu gestalten.

Auf der Internationalen Konferenz zur Solidarität mit den Völkern der Sahelzone im November 2024 in Niamey erklärte Brigadegeneral Abdou Assoumane Harouna – ein Führer des Nationalen Rates zur Verteidigung des Vaterlandes (CNSP) von Niger und Gouverneur von Niamey: „Wir werden uns der Macht des Imperialismus stellen … Keine Militärmacht der Welt kann das Streben nach Unabhängigkeit und die Ablehnung der alten Weltordnung aufhalten.“52 Diese Formulierung spiegelt ein Bestreben wider, nicht nur in der Sahelzone, sondern im gesamten Globalen Süden, sich aus der Zwangsjacke imperialistischer Herrschaft zu befreien und unabhängige Wege der Entwicklung, regionalen Zusammenarbeit und ideologischen Klarheit zu beschreiten.53

Die souveräne Neupositionierung der AES ist nicht ideologisch spontan, sondern entspringt tief verwurzelten Traditionen von Befreiungskämpfen und der Ablehnung von Abhängigkeit, die Basisbewegungen seit langem fordern. Die lautstarken Forderungen von unten haben die Art und Weise, wie die AES-Führung ihre militärisch geführten Transformationen als Formen „korrigierender Souveränität“ darstellt, deutlich geprägt.

Während einige Analysten diese Veränderungen auf „Mitläufertum“ gegenüber Russland oder opportunistischen militärischen Populismus reduzieren, verkennt eine solche Darstellung die strukturelle Dynamik der Loslösung von einem System erzwungener Unterordnung. Wie Präsident Goïta in seinen bilateralen Verhandlungen mit Präsident Putin während des Russland-Afrika-Gipfels 2023 feststellte: 

Zahlreiche afrikanische Länder, insbesondere Mali, leiden unter dem beispiellosen Druck mehrerer Länder, die bereit sind, Sanktionen gegen uns zu verhängen, weil wir eine Partnerschaft mit Russland eingegangen sind – wegen unserer souveränen Entscheidung [Hervorhebung hinzugefügt]. Wir sind fassungslos über diese neokolonialistische Praxis, die durch konzertierte Anstrengungen auf internationaler Ebene eingedämmt werden muss.54

Diese „souveräne Entscheidung” beruht auf gemeinsamen Interessen und längeren historischen Prozessen, die sich noch immer entwickeln. Der Präsident von Burkina Faso, Traoré, erklärte in seiner Rede auf dem Gipfel, dass Russland aufgrund seiner gemeinsamen Geschichte für die afrikanischen Völker wie eine Familie sei. Russland hat während des Zweiten Weltkriegs enorme Opfer erbracht, um die Welt vom Nationalsozialismus zu befreien. Auch die afrikanischen Völker, “unsere Großväter, wurden gewaltsam deportiert, um Europa dabei zu helfen, sich vom Nationalsozialismus zu befreien”, erklärte er. „Wir teilen dieselbe Geschichte in dem Sinne, dass wir die vergessenen Völker der Welt sind.”55

Diese Haltung der AES ist nach wie vor von Bedeutung. Wenn Präsident Ibrahim Traoré erklärt, dass „Ein Sklave, der sich nicht zu seiner eigenen Revolte bekennen kann, kein Mitleid verdient“, oder wenn der malische Außenminister Abdoulaye Diop feststellt, dass „das Schicksal unserer Länder nicht in Brüssel, Paris, Washington oder London entschieden wird. Es wird in Bamako, Ouagadougou, Niamey entschieden werden“, dann ist das nicht nur rhetorisches Säbelrasseln.56 Solche Aussagen sind politische Bekenntnisse, die mit dem Wunsch der Bevölkerung nach Souveränität durch bewaffneten und institutionellen Kampf im Einklang stehen – eine Abkehr von den demobilisierten, von Kompradoren geführten liberalen Regimes der letzten Jahrzehnte. Dies wurde deutlich, als eine Reihe von Anschlagsversuchen und Interventionen gegen Traoré am 30. April 2025 in Ländern auf dem gesamten Kontinent und weltweit, von Burkina Faso über Côte d’Ivoire und Kenia bis hin zu den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, mit zahlreichen Kundgebungen, Protesten und Demonstrationen zur Unterstützung seiner Führung beantwortet wurden.57

Damit soll die AES nicht romantisiert werden. Ihre Regierungen stehen vor tiefgreifenden internen Widersprüchen und müssen die Gefahren alter und neuer Abhängigkeiten bewältigen. Veränderungen in der geopolitischen Landschaft können die Fähigkeit der AES, ihre neuen Beziehungen zu nutzen, schnell verändern. Vijay Prashad schreibt über die Ereignisse in Syrien und ihre Auswirkungen auf die Sahelzone:

Der Regierungswechsel in Syrien hat nicht nur den Iran kurzfristig geschwächt, sondern auch Russland (ein langfristiges strategisches Ziel der Vereinigten Staaten), das zuvor syrische Flughäfen nutzte, um seine Versorgungsflugzeuge auf dem Weg in verschiedene afrikanische Länder aufzutanken. Russland kann diese Stützpunkte nicht mehr nutzen, und es bleibt unklar, wo russische Militärflugzeuge für Flüge in die Region, insbesondere in Länder der Sahelzone, auftanken können. Dies bietet den Vereinigten Staaten die Möglichkeit, die an die Sahelzone angrenzenden Länder wie Nigeria und Benin dazu zu drängen, Operationen gegen die Regierungen von Burkina Faso, Mali und Niger zu starten. Dies muss genau beobachtet werden.58

Trotz ihrer bisherigen symbolischen und strategischen Siege hängt der Erfolg der Allianz von ihrer Fähigkeit ab, dauerhafte Institutionen zu schaffen, die wirtschaftliche Integration zu fördern und ihre internen Ziele mit der regionalen Stabilität in Einklang zu bringen. Neue Initiativen – wie die regionale Koordinierung der Ressourcenverwaltung, Vorschläge für eine Währung für die Sahelzone, ein einheitlicher AES-Pass, der den freien Personenverkehr zwischen den Staaten ermöglicht, Netzwerkverbindung, gemeinsame Streitkräfte und Forderungen nach Süd-Süd-Kooperation – sind erste Schritte hin zu einem neuen Entwicklungsparadigma, das auf Souveränität, Selbstständigkeit und Beteiligung der Bevölkerung basiert. Das sich abzeichnende Paradigma in der Sahelzone ist noch fragil, spiegelt jedoch eine entschiedene Ablehnung des imperialen Kommandomodells und einen politischen Horizont wider, der mit den Emanzipationsbestrebungen des Globalen Südens im Einklang steht.

Anmerkungen

  1. Behörde von Liptako-Gourma, Charta von Liptako-Gourma zur Gründung der Allianz der Sahelstaaten, September 2023, https://maliembassy.us/wp-content/uploads/2023/09/LIPTAKO-GOURMA-Engl___-2.pdf, 2. ↩︎
  2. Behörde von Liptako-Gourma, Charta von Liptako-Gourma, 3. ↩︎
  3. Gemeinsames Kommuniqué von Burkina Faso, der Republik Mali und der Republik Niger: Die drei Länder beschließen den sofortigen Austritt aus der ECOWAS, 28. Januar 2024, veröffentlicht in Le Sahel. Abgerufen am 14. Juli, https://www.lesahel.org/communique-conjoint-du-burkina-faso-de-la-republique-du-mali-et-dela-republique-du-niger-les-trois-pays-decident-de-leur-retrait-sans-delai-de-la-cedeao/, eigene Übersetzung. ↩︎
  4. R. I. Onwuka, „Der ECOWAS-Vertrag: Auf dem Weg zur Umsetzung“, The World Today 36, Nr. 2 (1980): 52, http://www.jstor.org/stable/40395168. ↩︎
  5. Onwuka, „Der ECOWAS-Vertrag“, 52. ↩︎
  6. “Frankreich raus aus Afrika“ ist der Solgan der Stunde: Der 49. Newsletter  (2024)“, abgerufen am 10.09. 2025], https://zetkin.forum/2024/12/05/frankreich-raus-aus-afrika-ist-der-slogan-der-stunde/; Vijay Prashad, ‘The Sahel Stands Up and the World Must Pay Attention’, People’s Dispatch, accessed 7 July 2025, People’s Dispatch, abgerufen am 7. Juli 2025], https://peoplesdispatch.org/2024/07/08/the-sahel-stands-up-and-theworld-must-pay-attention/. ↩︎
  7. A Splinter in the Sahel: Can the Divorce with ECOWAS Be Averted?’, Crisis Group, 5 December 2024, https://www.crisisgroup.org/africa/sahel/burkina-faso-mali-niger/splinter-sahel-can-divorce-ecowas-be-averted; Beverly Ochieng, ‘Will the Sahel Military Alliance Further Fragment ECOWAS?’, Center for Strategic & International Studies, 15 February 2024; Matthew Edds-Reitman and Rachel Yeboah Boakye, ‘Sahel Coup Regime’s Split from ECOWAS Risks Instability in Coastal West Africa’, United States Institute of Peace, accessed 25 December 2024, https://www.usip.org/publications/2024/10/sahel-coup-regimes-split-ecowas-risks-instabilitycoastal-west-africa. ↩︎
  8. Die historischen Wege, die Burkina Faso, Mali und Niger eingeschlagen haben, um mit ihrem kolonialen Erbe umzugehen, unterscheiden sich in wesentlichen Punkten. Mali versuchte in den 1960er Jahren eine sozialistische Agenda zu verfolgen, die jedoch durch einen Staatsstreich im Jahr 1968 vereitelt wurde; Burkina Faso startete zwischen 1983 und 1987 ein staatlich kontrolliertes souveränes Entwicklungsprojekt, das mit der Ermordung von Thomas Sankara endete; und die führenden antikolonialen Gruppen in Niger wurden Anfang der 1960er Jahre weitgehend zerschlagen. Eine vollständige Analyse dieser Unterschiede würde den Rahmen dieses Dossiers sprengen, doch die gemeinsamen historischen Erfahrungen dieser drei Länder – wie der französische Kolonialismus, neokoloniale Wirtschaftsvereinbarungen, häufige Militärputsche und die Abhängigkeit von Bodenschätzen – sind ausreichende Gleichartigkeiten, um sie gemeinsam zu analysieren. ↩︎
  9. World Bank, ‘Population, Total – Burkina Faso, Mali, Niger’, World Development Indicators, accessed 12 June 2025, https://data.worldbank.org/indicator/SP.POP.TOTL?locations=BF-ML-NE. ↩︎
  10. Sarah Jean Zimmerman, Living Beyond Boundaries: West African Servicemen in French Colonial Conflicts, 1908–1962 (UC Berkeley, 2011), https://escholarship.org/uc/item/4x19q2xb. ↩︎
  11. Mamane Sani Adamou, of the Revolutionary Organisation for New Democracy (ORDN) – Tarmouwa, unpublished interview by Mikaela Nhondo Erskog, 9 September 2024. ↩︎
  12. Rahmane Idrissa, ‘Hot Water’, London Review of Books Blog, 9 April 2021, https://www.lrb.co.uk/blog/2021/april/hot-water; Klaas Van Walraven, ‘Decolonisation by Referendum: The Anomaly of Niger and the Fall of Sawaba, 1958–1959’, The Journal of African History 50, no. 2 (2009): 269–292, https://doi.org/10.1017/S0021853709990053. ↩︎
  13. Accord de coopération en matière de défense entre la République française et la République du Niger’ [Abkommen über die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich zwischen der  Französischen Republik und der Republik Niger], unterzeichnet in Paris am 24. April 1961, wiedergegeben in ‘Accords de coopération signés par la France avec la Côte d’Ivoire, le Dahomey et le Niger’, Journal Officiel de la République Française no. 69, 23 March 1963 [Von Frankreich unterzeichnete Kooperationsabkommen mit Côte d’Ivoire, Dahomey, und Niger], Journal Officiel de la République Française Nr. 69, 23. März 1963, https://afriquexxi.info/IMG/pdf/accord_france_niger_1961_0_.pdf. ↩︎
  14. Die fünf aufgeführten Bereiche wurden in einem unveröffentlichten Interview mit Mamane Sani Adamou von der Revolutionären Organisation für Neue Demokratie (ORDN) – Tarmouwa, geführt von Mikaela Nhondo Erskog, am 9. September 2024, skizziert. ↩︎
  15. Accord de cooperation’, 4, eigene Übersetzung. ↩︎
  16. Matthew Read: „L’option socialiste“: Der nichtkapitalistische Entwicklungsweg Malis und die internationale kommunistische Bewegung, 2023; https://ifddr.org/mali-nichtkapitalisitsche-entwicklung-kommunistische-bewegung/. ↩︎
  17. Gordon Cumming, ‘French Aid to Africa: Towards a New Consensus?’, Modern & Contemporary France 4, no. 4 (1 January 1996): 453–62, https://doi.org/10.1080/09639489608456334; Bocar Diagana et al., ‘Effects of the CFA Franc Devaluation on Urban Food Consumption in West Africa: Overview and Cross-Country Comparisons’, Food Policy 24, no. 5 (1 October 1999): 465–78, https://doi.org/10.1016/S0306-9192(99)00060-3. ↩︎
  18. IMF, ‘Background Information from the Study Guide to The Fabric of Reform – An IMF Video’, accessed 12 June 2025 [IWF, „Hintergrundinformationen aus dem Studienführer zu „Das Gefüge der Reform“ – Ein IWF-Video“, abgerufen am 12. Juni 2025], https://www.imf.org/external/pubs/ft/fabric/backgrnd.htm. ↩︎
  19. Abdoulaye Maiga, ‘Speech at the General Debate of the 79th Session of the United Nations General Assembly’, 28 September 2024, New York, https://gadebate.un.org/sites/default/files/gastatements/79/ml_fr.pdf, eigene Übersetzung. ↩︎
  20. Tricontinental: Institute for Social Research, Defending Our Sovereignty: US Military Bases in Africa and the Future of African Unity, dossier no. 42, 5 June 2021, https://thetricontinental.org/pan-africa/dossier-42-militarisation-africa/; Malak Altaeb, ‘What’s Next for Libya’s Great Man-Made River Project?’, Middle East Institute, 10 August 2022, https://www.mei.edu/publications/whats-next-libyas-great-manmade-river-project. ↩︎
  21. Tricontinental: Institute for Social Research, Defending Our Sovereignty. ↩︎
  22. ‘Letter from Republic of Mali to UN on French Aggression and Support for Terrorism in Region’, Black Agenda Report, 24 August 2022, http://www.blackagendareport.com/letter-republic-mali-un-french-aggression-and-supportterrorism-region. ↩︎
  23. Areva in Niger: Who Is Benefiting from the Uranium?’, Oxfam International, 21 August 2014, https://www.oxfam.org/en/press-releases/areva-niger-who-benefitinguranium. ↩︎
  24. ‘Thousands Rally in Mali to Protest against Ethnic Violence’, Al Jazeera, 5 April 2019, https://www.aljazeera.com/news/2019/4/5/thousands-rally-in-mali-to-protestagainst-ethnic-violence. ↩︎
  25. ‘UN Finds French Strike in Mali in January Killed 19 Civilians; France Refutes Report’, France 24, 30 March 2021, https://www.france24.com/en/livenews/20210330-un-probe-finds-french-strike-in-mali-in-january-killed-19-civilians. ↩︎
  26. ‘Deaths in Niger as Protesters Confront French Army Convoy’, Al Jazeera, 27 November 2021, https://www.aljazeera.com/news/2021/11/27/three-killed-inniger-as-protesters-confront-french-army-convoy; Andrea Carboni, ‘Regional Overview: Africa 8–14 December 2019’, Armed Conflict Location & Event Data, 16 December 2019 https://acleddata.com/2019/12/16/regional-overview-africa-8-14-december-2019/. ↩︎
  27. Kent Mensah, ‘Africa’s Coup Epidemic: Has Democracy Failed the Continent?’, Al Jazeera, 23 September, https://www.aljazeera.com/features/2023/9/22/africascoup-epidemic-has-democracy-failed-the-continent. ↩︎
  28. AJLabs, ‘Mapping Africa’s Coups d’etat across the Years’, Al Jazeera, accessed 27 December 2024, https://www.aljazeera.com/news/2023/8/30/mapping-africascoups-detat-across-the-years. ↩︎
  29. heodore Murphy, ‘Middle Powers, Big Impact: Africa’s “Coup Belt,” Russia, and the Waning Global Order’, European Council on Foreign Relations, 6 September 2023, https://ecfr.eu/article/middle-powers-big-impact-africas-coup-belt-russia-and-thewaning-global-order/. ↩︎
  30. ‘Democracy is Like Rice. We Need to Grow It Ourselves: The Twelfth Pan-Africa Newsletter (2024)’, Tricontinental: Institute for Social Research, accessed 11 June 2025, https://thetricontinental.org/pan-africa/newsletterissue-niger-conference/. ↩︎
  31. Ebenezer Babatope, Coups: Africa and the Barrack Revolts (Ibadan: African Books Collective, 1981); Samuel Decalo, ‘Modalities of Civil-Military Stability in Africa’, The Journal of Modern African Studies 27, no. 4 (1989): 547–578; Godfrey Mwakikagile, Military Coups in West Africa Since the Sixties (New York: Nova Science Publishers, 2001. ↩︎
  32. ‘Das Volk von Niger will die Resignation bezwingen: Der dreiundvierzigste Newsletter (2023)’, Tricontinental: Institute for Social Research, accessed 30 December 2024, https://ifddr.org/kooperationen/newsletter_34_2023/. Mehr zu Traore’s biography, vgl. Jack G. Kraft, Ibrahim Traoré: The Youngest Leader of Burkina Faso: From Military Officer to Interim President (Independently published, 2025). ↩︎
  33. Effred Mouloul Al-Hassan, remarks heard by the authors at the International Conference in Solidarity with the Peoples of the Sahel, Niamey, Niger, November 2024. ↩︎
  34. Ministry of Economy and Finance, Mali Kura Ɲɛtaasira Ka Bɛn San 2063 and National Strategy for Emergence and Sustainable Development (SNEDD 2024–2033), Bamako: Government of Mali, December 2024. ↩︎
  35. Ministry of Economy and Finance, Mali Kura Ɲɛtaasira Ka Bɛn San 2063; Ministère de la Refondation de l’État, République du Mali, ‘Programme National d’Éducation aux Valeurs’, Bamako, 5 January 2023, https://cdi.gouv.ml/wp-content/uploads/2024/02/Programme-National-DEducation-aux-Valeurs.pdf. ↩︎
  36. Ministry of Economy and Finance, Mali Kura Ɲɛtaasira Ka Bɛn San 2063, 4. ↩︎
  37. Ministry of Economy and Finance, Mali Kura Ɲɛtaasira Ka Bɛn San 2063, 4. ↩︎
  38. Ministry of Economy and Finance, Mali Kura Ɲɛtaasira Ka Bɛn San 2063, 22. ↩︎
  39. Présidence de la République du Mali, ‘Sanankoroba: coup d’envoi de la construction d’une nouvelle centrale solaire de 200 MWc’, Koulouba, accessed 12 July 2025, [Koulouba, abgerufen am 12. Juli 2025], https://koulouba.ml/sanankoroba-coup-denvoi-de-la-construction-dunenouvelle-centrale-solaire-de-200-mwc/; Présidence de la République du Mali, ‘Communiqué du Conseil des Ministres du jeudi 02 mai 2024’ [Communiqué of the Council of Ministers of Thursday, 02 May 2024], Koulouba, accessed 12 July 2025, https://koulouba.ml/communique-du-conseil-des-ministres-du-jeudi-02-mai-2024/. ↩︎
  40. Ministry of Economy and Finance, Mali Kura Ɲɛtaasira Ka Bɛn San 2063, 14; Joy Chukwu, ‘Mali Takes Full Control Of Yatela Gold Mine From Foreign Companies’, West Africa Weekly, 20 October 2024, https://westafricaweekly.com/mali-takes-fullcontrol-of-yatela-gold-mine-from-foreign-companies/. ↩︎
  41. Bloomberg, ‘Mali to Get $1.2bn from Miners after Talks’, Mining Weekly, accessed 16 June 2025, https://www.miningweekly.com/article/mali-to-get-12bn-from-minersafter-talks-2025-01-13. ↩︎
  42. Bruno Venditti, ‘Ganfeng Begins Production at Goulamina Lithium Mine in Mali’, Mining, 26 December 2024 , https://www.mining.com/ganfeng-begins-productionat-goulamina-lithium-mine-in-mali/. ↩︎
  43. World Bank, Macro Poverty Outlook: Sub-Saharan Africa (Washington, DC: World Bank, October 2024), https://www.worldbank.org/en/publication/macro-povertyoutlook/mpo_ssa, 66. ↩︎
  44. Institute for Economics & Peace, Global Terrorism Index 2024: Measuring the Impact of Terrorism, Sydney, February2024, https://www.visionofhumanity.org/wp-content/uploads/2024/02/GTI-2024-web-290224.pdf. ↩︎
  45. ‘Internal Displacement in Africa Triples in 15 Years since Landmark Treaty to Address It’, Internal Displacement Monitoring Centre, accessed 20 December 2024, https://www.internal-displacement.org/news/internal-displacement-in-africa-triplesin-15-years-since-landmark-treaty-to-address-it. ↩︎
  46. Antony Sguazzin and Katarina Hoije, ‘Niger’s Military Junta Ditches America and Courts Russia’, Bloomberg, 19 March 2024, https://www.bloomberg.com/news/newsletters/2024-03-19/next-africa-us-right-to-operate-drone-base-in-nigerterminated-by-junta. ↩︎
  47. Kester Kenn Klomegah, ‘The Alliance of Sahel States: Implications, Challenges and Prospects in West Africa’, Modern Diplomacy, 17 September 2024, https://moderndiplomacy.eu/2024/09/17/the-alliance-of-sahel-states-implicationschallenges-and-prospects-in-west-africa/. ↩︎
  48. Harvard’s Atlas of Economic Complexity, ‘Growth Lab’, accessed 10 June 2025, https://atlas.hks.harvard.edu/explore. ↩︎
  49. Harvard’s Atlas of Economic Complexity, ‘Growth Lab’. ↩︎
  50. Team of the Official Website of the President of Russia, ‘Meeting with Interim President of Burkina Faso Ibrahim Traore’, President of Russia, 29 July 2023, http://en.kremlin.ru/events/president/news/71838. ↩︎
  51. Hyper-Imperialism: A Dangerous Decadent New Stage, Studies on Contemporary Dilemmas no. 4, 23 January 2024, deutsche Übersetzung: https://www.marxistische-blaetter.de/de/article/1712.hyper-imperialismus.html. ↩︎
  52. Peoples Dispatch, ‘The Anti-Imperialist Upsurge in the Sahel Is Irreversible, Say Leaders at Historic Conference in Niamey’, Peoples Dispatch, 19 November 2024, https://peoplesdispatch.org/2024/11/19/the-anti-imperialist-upsurge-in-the-sahelis-irreversible-say-leaders-at-historic-conference-in-niamey/. ↩︎
  53. Peoples Dispatch, ‘The Anti-Imperialist Upsurge in the Sahel is Irreversible, Say Leaders at Historic Conference in Niamey’, Peoples Dispatch, 19 November 2024, https://peoplesdispatch.org/2024/11/19/the-anti-imperialist-upsurge-in-the-sahelis-irreversible-say-leaders-at-historic-conference-in-niamey/. ↩︎
  54. Team of the Official Website of the President of Russia, ‘Meeting with Interim President of Mali Assimi Goita’, President of Russia, 29 July 2023, http://en.kremlin.ru/events/president/news/71842. ↩︎
  55. Steve Lalla ‘Burkina Faso’s President Traor. Delivers Anti-Imperialist Speech at Russia–Africa Summit’, MR Online, 5 August 2023, https://mronline.org/2023/08/05/burkina-fasos-president-traore-delivers-anti-imperialist-speech-atrussia-africa-summit/. ↩︎
  56. ‘Le sort des Etats de l’Alliance du Sahel ne se d.cidera pas dans les capitales occidentales (Abdoulaye Diop)’ [Das Schicksal der Staaten der Sahel-Allianz wird nicht in den westlichen Hauptstädten entschieden (Abdoulaye Diop), abgerufen am 30. Dezember 2024], https://www.aa.com.tr/fr/afrique/le-sort-des-etats-de-lalliance-du-sahel-nese-d.cidera-pas-dans-les-capitales-occidentales-abdoulaye-diop-/3262012, eigene Übersetzung; Christina Glazkova, ‘Future of Sahel Is Now Decided by Its People, Malian Foreign Minister Declares in EU’, Sputnik Africa, 28 June 2024, https://en.sputniknews.africa/20240628/future-of-sahel-is-now-decided-by-its-peoplemalian-foreign-minister-declares-in-eu-1067286390.html; Peoples Dispatch, ‘“A Slave Who Cannot Assume His Own Revolt Does Not Deserve to Be Pitied,”Says Ibrahim Traor. of Burkina Faso’, Peoples Dispatch, 2 August 2023, https://peoplesdispatch.org/2023/08/02/a-slave-who-cannot-assume-his-own-revolt-doesnot-deserve-to-be-pitied-says-ibrahim-traore-of-burkina-faso/. ↩︎
  57. Oluwasegun Sanusi, ‘Demonstrators March, Picket Western Embassies in Ouagadougou, Accra, London, Paris in Support of Ibrahim Traor.’, West Africa Weekly, 1 May 2025, https://westafricaweekly.com/demonstrators-march-picketwestern-embassies-in-ouagadougou-accra-london-paris-in-support-of-ibrahimtraore/. ↩︎
  58. Vijay Prashad, ‘How to Understand the Change of Government in Syria: The Fifty-First Newsletter (2024)’, Tricontinental: Institute for Social Research, 19 December 2024; „Wie der Regierungswechsel in Syrien zu verstehen ist: Der einundfünfzigste Newsletter (2024)“, https://zetkin.forum/2024/12/19/wie-der-regierungswechsel-in-syrien-zu-verstehen-ist/. ↩︎

¡Solidaridad con Venezuela! ¡Detengan las provocaciones bélicas del imperialismo estadounidense!

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Estados Unidos envía varios buques de guerra y un submarino nuclear a las costas venezolanas con el pretexto de una supuesta guerra contra el narcotráfico.

El Gobierno venezolano y parte de la sociedad reaccionan con acciones masivas y protestas contra los ataques a la soberanía nacional del país. La campaña #YoMeAlisto («¡Estoy listo!») lanzada por el Gobierno ha sido seguida por decenas de venezolanos que se han alistado en el ejército para contribuir a la defensa del país.

Las amenazas se suman a la larga lista de intentos de derrocar al Gobierno electo de Venezuela y poner fin al camino del pueblo venezolano, la «Revolución Bolivariana». Si bien los intentos de golpe de Estado anteriores siempre han fracasado, el imperialismo estadounidense amenaza ahora con una intervención militar directa. Es evidente que Estados Unidos está interesado principalmente en las reservas de petróleo venezolanas, las más grandes del mundo.

La presencia de buques de guerra estadounidenses frente a las costas de Venezuela es un ataque a la soberanía nacional del país y debe ser condenada! Venezuela tiene derecho a defenderse por todos los medios contra los ataques externos.

¡Exigimos el cese inmediato de todas las acciones hostiles contra Venezuela, su pueblo y su gobierno democráticamente elegido! ¡Exigimos el respeto de la soberanía nacional y el derecho a la autodeterminación de Venezuela! 

¡Solidaridad con Venezuela y su pueblo! ¡Basta ya de las provocaciones bélicas del imperialismo estadounidense! ¡Viva la solidaridad internacional!

Solidarität mit Venezuela! Stoppt die Kriegsprovokationen des US-Imperialismus!

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Die USA entsenden mehrere Kriegsschiffe sowie ein Atom-U-Boot vor die venezolanische Küste und begründen dies mit einem angeblichen Krieg gegen den Drogenhandel. 

Die venezolanische Regierung und Teile der Gesellschaft reagieren mit Massenaktionen und Protesten gegen die Angriffe auf die nationale Souveränität des Landes. Der von der Regierung gestarteten Kampagne #YoMeAlisto („Ich bin bereit!“) folgten Dutzende Venezolaner, die sich ins Militär eintragen ließen, um ihren Beitrag zur Verteidigung des Landes zu leisten.

Die Drohungen reihen sich ein in die lange Liste der Versuche, die gewählte Regierung Venezuelas zu stürzen und den Weg des venezolanischen Volkes, der „bolivarischen Revolution“, zu beenden. Während frühere Putschversuche stets gescheitert sind, droht der US-Imperialismus nun mit einer direkten militärischen Intervention.. Dass die USA vor allem Interesse an den venezolanischen Erdölvorkommen – den größten der Welt – haben, liegt auf der Hand.

Die Präsenz von US-Kriegsschiffen vor den Küsten Venezuelas ist ein Angriff auf die nationale Souveränität des Landes und muss verurteilt werden! Venezuela hat das Recht sich mit allen Mitteln gegen die äußeren Angriffe zu verteidigen! 

Wir fordern die sofortige Einstellung aller feindlichen Handlungen gegen Venezuela, sein Volk und seine demokratisch gewählte Regierung! Wir fordern die Achtung der nationalen Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts Venezuelas! 

Solidarität mit Venezuela und seinem Volk!
Schluss mit den Kriegsprovokationen des US-Imperialismus!
Hoch die internationale Solidarität!

Geschichtsfälscher: Aus Geheimdokumenten über die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges

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Vorwort zur Neuausgabe 2025 

Die vorliegende Broschüre erschien 1948 erstmalig in der Sowjetunion und wurde anschließend in deutscher Übersetzung beim Dietz Verlag in der DDR veröffentlicht. Dem vorausgegangen war eine Veröffentlichung der USA, Frankreichs und Großbritanniens mit dem Titel Nazi-Soviet-Relations 1939-1941. Darin veröffentlichten die Westmächte verschiedene Dokumente des deutschen Außenministeriums von 1939 bis 1941 – die dieser Phase vorangegangenen Jahre blieben jedoch unerwähnt. Die Westmächte versuchten so, die eigene Verantwortung für das Erstarken des deutschen Kriegskurses zu relativieren und die herausragende Rolle der Sowjetunion im Sieg über den Faschismus herunterzuspielen. Darauf reagierte das sowjetische Informationsbüro, das den hier vorliegenden Text verfasste und ihm den treffenden Titel Geschichtsfälscher. Aus Geheimdokumenten über die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges gab.

In der DDR und Sowjetunion war die vorliegende Broschüre zentral für die Befassung mit der eigenen Geschichte. Sie war die Entgegnung auf den Versuch der westlichen Imperialisten, die Geschichte umzudeuten und die eigene Unterstützung des deutschen Kriegskurses zu vertuschen. Seit 1990 konnte sich dieser Geschichtsrevisionismus dann jedoch fast unwidersprochen durchsetzen.

So manifestierte das EU-Parlament 2019 beispielsweise diese Geschichtsfälschung mit der Resolution Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas. Darin heißt es, „[…] dass der Zweite Weltkrieg, der verheerendste Krieg in der Geschichte Europas, als unmittelbare Folge des auch als „Hitler-Stalin-Pakt“ bezeichneten berüchtigten Nichtangriffsvertrags zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 23. August 1939 und seiner geheimen Zusatzprotokolle ausbrach, in deren Rahmen die beiden gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgenden totalitären Regime Europa in zwei Einflussbereiche aufteilten“ (Hervorhebung durch KO).[1]Polen sei zunächst „von Hitler und zwei Wochen später von Stalin überfallen“ worden. Die Sowjetunion habe „1939 einen Angriffskrieg gegen Finnland“ begonnen und „1940 Teile Rumäniens besetzt und annektiert […] und sich die unabhängigen Republiken Litauen, Lettland und Estland einverleibt“. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wären einige europäische Länder „von der Sowjetunion besetzt oder unter direktem sowjetischem Einfluss – und ihnen [blieben] Freiheit, Souveränität, Würde, Menschenrechte und sozioökonomische Entwicklung weiterhin versagt“.   

Diese Ausführungen, die an Geschichtsrevisionismus kaum zu überbieten sind, bilden das Fundament einer Erzählung, die seit 1945 vom Westen betrieben und insbesondere nach 1990 noch einmal massiv ausgeweitet wurde. Unter dem Schlagwort des Totalitarismus wird eine Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus/Kommunismus betrieben, die Sowjetunion, die in Wahrheit Opfer der faschistischen Aggressionspolitik war, zum Täter umgedichtet, während die imperialistischen Länder des Westens ihrer Verantwortung durch offene Unterstützung und Zusammenarbeit mit Nazi-Deutschland entlastet werden. 

In der vorliegenden Broschüre werden die Entwicklungen vor und während des Zweiten Weltkrieges eingeordnet und erklärt. Mit zahlreichen Belegen wird die enge Verflechtung insbesondere zwischen dem US-amerikanischen und deutschen Kapital nachgewiesen, die den Aufbau der deutschen Rüstungsindustrie erst möglich machte. Außerdem verfolgt eine gut aufbereitete Chronologie die zwischenstaatlichen Verträge europäischer Mächte mit Hitlerdeutschland. Vom Deutsch-Polnischen Nichtangriffsvertrag 1934, über das deutsch-englische Flottenabkommen 1935, bis zum Münchner Abkommen 1938 zwischen Deutschland, England, Frankreich und Italien, die der deutschen Besatzung der Tschechoslowakei den Weg bereitete. Zudem werden die von März bis Juli 1939 andauernden Beratungen zwischen Frankreich, England und der Sowjetunion geschildert, wobei die Westmächte nicht zu gleichberechtigten Garantien bereit waren und ein Abkommen scheiterte. Es wird erklärt, wie die Politik Großbritanniens und Frankreichs die Strukturen kollektiver Sicherheit Europas zersetzt, die Sowjetunion zunehmend isoliert und die deutschen Aggressionspläne nach Osten kanalisiert haben. Es ergibt sich ein deutliches Bild der Appeasementpolitik der Westalliierten gegenüber dem faschistischen Deutschland, das wohl am eindringlichsten in den Worten von Harry S. Truman selbst ausgedrückt wurde: 

„Wenn wir sehen, daß Deutschland gewinnt, so sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, so sollten wir Deutschland helfen, sollen sie nur auf diese Weise möglichst viele totschlagen.“[2]

Seit 1990 werden in Osteuropa unter der Losung der „Dekommunisierung“ Denkmäler, die an den Vernichtungskrieg der Nazis erinnern, zerstört, der antifaschistische Widerstand der Roten Armee als Aggression umgedichtet und kommunistische Symbole und Parteien verboten. Es handelt sich um Geschichtspolitik, nicht Geschichtswissenschaft. Nicht historische Tatsachen, sondern die Vermittlung einer bestimmten Position über die Geschichte ist ihr Zweck. Das beweist allein schon, dass es das EU-Parlament, wie auch nationale Parlamente sind, die mittels Resolutionen und Gesetzen Urteile über die Geschichte sprechen. Schulbücher, Lehrpläne, Gedenkstätten und finanziell umfangreich ausgestattete Projekte zur politischen Bildung sorgen für die nötige Verbreitung und ständige Wiederholung der antikommunistischen Geschichtsbilder. Es ist einer über Jahrzehnte hollywoodähnlichen Verzerrung (z. B. über die Landung der US-Streitkräfte in der Normandie) zu verdanken, dass nach Umfragen im Westen entweder den USA oder Großbritannien der größte Anteil am Sieg über Nazideutschland zugesprochen wird.[3] 

Damals wie heute verfolgt diese Art Geschichtserzählung bestimmte politische Ziele. Es geht darum, die Ursachen und Hintergründe des Zweiten Weltkrieges zu vernebeln, die jeweils nationale historische Rolle aufzupolieren und jegliche Alternativen zur weltweiten westlichen Vorherrschaft und zum Kapitalismus zu delegitimieren. Mehr noch: Es wird eine aktive Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Geschichtspolitik für die Westmächte nötig, weil sie die Legitimationsgrundlage ihrer aggressiven Haltung gegen die Sowjetunion und das sozialistische Lager bildete.  

Aber auch heute ist das Umschreiben der Geschichte notwendig, da die NATO den direkten Krieg gegen Russland vorbereitet und diesen bereits auf dem Rücken der Ukraine austragen lässt. So wie der Sowjetunion damals, muss heute Russland eine imperiale, aggressive Absicht „nachgewiesen“ werden, um die eigene Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit glauben zu lassen, man befinde sich in einer gerechten Verteidigung des liberalen Westens gegen die Aggression autokratischer Regime von außen. Auch eine Geschichtsklitterung über den Zweiten Weltkrieg bleibt für den gegenwärtigen Konflikt der NATO mit Russland entscheidend. Der 8. Mai wird vom Tag der Befreiung vom Faschismus (wie es 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker noch formuliert hatte) vermeintlich neutral zum „Kriegsende“ umbenannt. Gedenkveranstaltungen werden mit repressiven Mitteln politisch kontrolliert und im Sinne der Kriegspolitik gegen Russland instrumentalisiert.

Nicht zuletzt ist das Umschreiben der Geschichte des Zweiten Weltkrieges deshalb zentral, weil in der Ukraine offen denjenigen Kräften zur Macht verholfen wurde, die sich selbst in direkter Kontinuität der ukrainischen Nazikollaborateure stellen. Die stehenden Ovationen für den ukrainisch-kanadischen Veteranen der Waffen-SS im kanadischen Parlament 2023 stehen dafür beispielhaft. Der Bandera-Faschismus wurde in der Ukraine nach 2014 zur Staatsräson und die ukrainischen Faschisten im Westen zu patriotischen Verteidigern gegen Russland erklärt. Die Kriegsmobilisierung gegen Russland geht in der Ukraine wie im Westen und insbesondere in Deutschland Hand in Hand mit einer Rehabilitierung des Faschismus.  Zusätzlich wiederholen sich die Mechanismen der Geschichtsfälschung auch mit Blick auf die konkrete Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine: Entkontextualisierung, willkürliche Auswahl einzelner Fakten, Halbwahrheiten und Lügen. Eine Erklärung der Ursachen und der Blick auf konkrete Interessen unterbleibt zugunsten eines simplifizierten Gut-Böse-Schemas. 

Die Motivation, die Broschüre Geschichtsfälscher. Aus Geheimdokumenten über die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges neu herauszugeben, geht insofern unmittelbar von der gegenwärtigen Kriegspolitik Deutschlands und der NATO gegen Russland aus. Der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) äußerte im April 2025: „Russland wird immer ein Feind für uns bleiben.“[4] Der Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) orientiert auf deutsche Kriegstüchtigkeit bis 2029, 90 Jahre nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen. Sich dieser aggressiven Kriegspolitik der Bundesrepublik und ihrer westlichen Partner entgegenzustellen, ist die Aufgabe der Stunde. Die Geschichte zu kennen, ist dabei unerlässlich.

Die Originalausgabe wurde für die Neuauflage entsprechend der neuen deutschen Rechtsschreibung lektoriert. Wir haben zudem zur Illustration thematisch passende Zeichnungen des sowjetischen Karikaturisten Boris Jefimow sowie eine aus der ägyptischen Zeitschrift Al-Ithnayn wa al-Dunya im Text eingefügt.

Kommunistische Organisation, August 2025


Die Vorgeschichte der Veröffentlichung der Dokumente

Ende Januar 1948 veröffentlichte das Staatsdepartement der USA unter Mitwirkung des englischen und des französischen Außenministeriums eine Sammlung von Berichten und verschiedenen Tagebuchaufzeichnungen diplomatischer Beamter Hitlers und versah sie mit der geheimnisvollen Überschrift „Nazi-Soviet Relations 1939—1941“ (Nazistisch-sowjetische Beziehungen 1939—1941). 

Wie aus dem Vorwort zu diesem Sammelband hervorgeht, kamen die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs schon im Sommer 1946 überein, die von den amerikanischen und englischen Militärbehörden in Deutschland beschlagnahmten Archivmaterialien des deutschen Auswärtigen Amtes aus den Jahren 1918—1945 zu veröffentlichen. Dabei fällt der Umstand auf, dass die veröffentlichte Sammlung nur Materialien enthält, die sich auf die Jahre 1939—1941 beziehen. Dagegen hat das Staatsdepartement Materialien, die auf die vorhergehenden Jahre, insbesondere auf die Münchener Periode Bezug haben, nicht in seinen Sammelband aufgenommen, also der Weltöffentlichkeit vorenthalten. Das ist natürlich kein Zufall und geschieht in einer Absicht, die mit objektiver und gewissenhafter Einstellung zur historischen Wahrheit nichts gemein hat.

Um die Veröffentlichung dieser einseitigen Sammlung ungeprüfter und willkürlich ausgewählter Aufzeichnungen von Hitlerbeamten auch nur irgendwie vor der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen, setzte die englische und amerikanische Presse die frei erfundene Behauptung in Umlauf, „die Russen hätten den Vorschlag des Westens, gemeinsam einen vollständigen Bericht über die Nazidiplomatie zu veröffentlichen, abgelehnt“.

Diese Erklärung englischer und amerikanischer Kreise entspricht nicht den Tatsachen.

In Wirklichkeit verhielt sich die Sache folgendermaßen. Als im Sommer 1945 in der Auslandspresse Meldungen auftauchten, in England werde mit Vorbereitungen zur Veröffentlichung in Deutschland erbeuteter Dokumente begonnen, da wandte sich die Sowjetregierung an die Regierung Großbritanniens und drang darauf, dass sowjetische Sachverständige zur gemeinsamen Sichtung und Herausgabe der von den englischen und amerikanischen Truppen erbeuteten deutschen Dokumente herangezogen werden. Die Sowjetregierung erachtete die Herausgabe solcher Dokumente ohne gegenseitiges Einvernehmen für unzulässig und konnte außerdem die Verantwortung für die Veröffentlichung von Dokumenten ohne sorgfältige und objektive Prüfung nicht übernehmen, da eine Publikation der erwähnten Materialien ohne diese elementare Voraussetzung die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der Antihitlerkoalition nur verschlechtern könnte. Das Foreign Office jedoch lehnte den Sowjetvorschlag ab, wobei es sich darauf berief, die Sowjetregierung habe den Austausch von Kopien der erbeuteten Nazidokumente verfrüht angeregt.

Bekannt ist auch, dass die amerikanische Delegation dem Politischen Direktorat des Kontrollrats für Deutschland am 6. September 1945 einen Entwurf von Direktiven für die Behandlung der deutschen Archive und Dokumente unterbreitete. Dieses Projekt sah vor, dass ein für ganz Deutschland einheitliches Verfahren bei der Sammlung und Aufbewahrung der Archivdokumente festgelegt werde und dass die Vertreter der Mitgliedstaaten der Organisation der Vereinten Nationen das Recht erhielten, Einblick in diese zu nehmen. Außerdem war die Möglichkeit vorgesehen, Kopien von den Dokumenten anzufertigen und sie zu veröffentlichen. Dieser Antrag wurde in vier Sitzungen des Politischen Direktorats erörtert, aber auf Ersuchen der Engländer und Amerikaner zurückgestellt unter dem Vorwand, ihnen lägen keine Anweisungen vor. Nachdem dann der Vertreter der USA erklärt hatte, die US-Regierung arbeite an einem neuen Vorschlag und bitte, das eingereichte Projekt als ungültig zu betrachten, wurde die Frage von der Tagesordnung des Politischen Direktorats abgesetzt.

Die Behauptung, die Sowjetregierung habe eine Beteiligung an den Vorbereitungen zur Veröffentlichung der deutschen Archivmaterialien abgelehnt, ist demnach eine Unwahrheit.

Gleichzeitig mit der Veröffentlichung der erwähnten Sammlung setzte in den USA und den von ihnen abhängigen Ländern wie auf ein Zauberwort eine neue Hetze und zügellose Verleumdungskampagne ein, die den 1939 zwischen der UdSSR und Deutschland abgeschlossenen Nichtangriffspakt, der sich angeblich gegen die Westmächte gerichtet hatte, zum Gegenstand hat. 

Somit kann kein Zweifel darüber aufkommen, welchen Zweck man in den USA mit der Veröffentlichung von Dokumenten über die Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland in den Jahren 1939—1941 in Wirklichkeit verfolgte. Man will die Ereignisse nicht objektiv darstellen, will vielmehr ein entstelltes Bild der wirklichen Ereignisse liefern, Lügen und Verleumdungen über die Sowjetunion verbreiten und dem internationalen Einfluss, den sie als wahrhaft demokratische und aufrechte Kämpferin gegen die aggressiven und antidemokratischen Kräfte genießt, Abbruch tun.

Dieses perfide Vorgehen entspringt Anschauungen über das Wesen der interalliierten Beziehungen, wie sie für die regierenden Kreise der angelsächsischen Länder typisch sind. Diesen Anschauungen gemäß wird, anstatt ehrliche und aufrichtige Beziehungen zwischen den Verbündeten zu pflegen, anstatt gegenseitiges Vertrauen zu hegen und einander Beistand zu leisten, eine Politik betrieben, in deren Rahmen alle Mittel einschließlich der Verleumdung angewandt werden, um den Bundesgenossen zu schwächen, ihn egoistisch auszunutzen und die eigene Position auf seine Kosten zu stärken.

Nicht unbeachtet bleiben darf auch das Bestreben der regierenden US-Kreise, mit Hilfe ihrer Verleumdungskampagne gegen die UdSSR den Einfluss der progressiven Elemente im eigenen Lande, die für eine Verbesserung der Beziehungen zur UdSSR eintreten, zu untergraben. Der gegen die progressiven Elemente in den USA geführte Schlag hat zweifellos auch den Zweck, ihren Einfluss im Hinblick auf die im Herbst 1948 stattfindenden Präsidentenwahlen zu schwächen. Die Sammlung enthält eine Fülle von Dokumenten, die von den diplomatischen Beamten Hitlers in den geheimsten Gemächern der deutschen diplomatischen Kanzlei fabriziert wurden. Allein schon dieser Umstand hätte eine Warnung sein müssen vor einer einseitigen Verwendung und Veröffentlichung dieser Dokumente, die selbst höchst einseitig und tendenziös sind, die Ereignisse vom Standpunkt der Hitlerregierung darstellen und den Zweck haben, diese Ereignisse in einem für die Hitlerfaschisten günstigen Licht erscheinen zu lassen. Darum eben war die Sowjetregierung seinerzeit gegen eine einseitige Veröffentlichung der deutschen Beutedokumente ohne sorgfältige gemeinsame Prüfung. Selbst die amtliche französische Presseagentur France Presse musste zugeben, dass die Art und Weise, wie die Materialien von den drei Regierungen ohne Wissen der Sowjetunion veröffentlicht worden sind, „nicht völlig der normalen diplomatischen Prozedur entspricht“.

Trotz alledem war die englische Regierung damit nicht einverstanden. Die amerikanische, englische und französische Regierung schreckten, als sie sich auf die einseitige Veröffentlichung deutscher Dokumente einließen, nicht vor einer Geschichtsfälschung zurück, um die Sowjetunion, die die Hauptbürde des Kampfes gegen die Hitleraggression getragen hat, zu verleumden. Diese Regierungen haben damit die volle Verantwortung für die Folgen einer derart einseitigen Handlungsweise auf sich geladen. Unter solchen Umständen hält sich die Sowjetregierung für berechtigt, ihrerseits Geheimdokumente über die Beziehungen zwischen Hitlerdeutschland und den Regierungen Englands, Frankreichs und der USA zu veröffentlichen, die in die Hände der Sowjetregierung gelangt sind und die die genannten Regierungen der Öffentlichkeit vorenthalten haben. Sie halten diese Dokumente versteckt und wollen sie nicht veröffentlichen. Wir aber sind der Meinung, dass sie nach allem, was vorgefallen ist, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müssen, damit es möglich wird, der historischen Wahrheit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Sowjetregierung verfügt über wichtige Dokumente, die von den Sowjettruppen bei der Niederwerfung Hitlerdeutschlands erbeutet worden sind. Ihre Veröffentlichung wird dazu beitragen, den Verlauf der Vorbereitungen und der Entwicklung der Hitleraggression sowie des zweiten Weltkrieges ins rechte Licht zu rücken. 

Derselben Aufgabe dient auch die vom Informationsbüro der Sowjetunion beim Ministerrat der UdSSR veröffentlichte historische Richtigstellung „Geschichtsfälscher“. Die diesbezüglichen Geheimdokumente werden in allernächster Zeit veröffentlicht werden.

I. Wie die Vorbereitung der deutschen Aggression begann

Die amerikanischen Fälscher und ihre englisch-französischen Helfershelfer versuchen den Eindruck zu erwecken, als hätte die Vorbereitung der deutschen Aggression, die in den zweiten Weltkrieg ausmündete, erst im Herbst 1939 begonnen. Wer aber, außer absolut naiven Menschen, die jeder aufgebauschten Sensation ein williges Ohr leihen, kann heutzutage auf diese Angel anbeißen? Wer wüsste nicht, dass Deutschland mit der Vorbereitung des Krieges sofort nach dem Machtantritt Hitlers begann? Wer wüsste ferner nicht, dass das Hitlerregime von den deutschen Monopolistenkreisen mit voller Billigung des in Großbritannien, Frankreich und den USA regierenden Lagers errichtet wurde?

Um zum Kriege rüsten und sich die neuesten Waffen verschaffen zu können, musste Deutschland seine Schwerindustrie, vor allem das Hüttenwesen und die Rüstungsindustrie des Ruhrgebiets, wiederherstellen und weiterentwickeln. Nach seiner Niederlage im ersten imperialistischen Krieg konnte Deutschland, dem das Joch des Versailler Vertrages auferlegt war, dies nicht in kurzer Frist mit eigenen Kräften bewerkstelligen. Die Vereinigten Staaten von Amerika leisteten dem deutschen Imperialismus hierbei weitgehende Unterstützung.

Wer wüsste nicht, dass die amerikanischen Banken und Trusts mit vollem Einverständnis der Regierung in der Zeit nach Versailles Milliarden von Dollar in der deutschen Wirtschaft anlegten, bzw. sie Deutschland in Form von Krediten gewährten, die zur Wiederherstellung und Weiterentwicklung des deutschen Kriegspotentials verwendet wurden?

Die Periode nach Versailles brachte in Deutschland bekanntlich ein ganzes System von Maßnahmen, die darauf abzielten, die deutsche Schwerindustrie, insbesondere das deutsche Kriegspotential wiederherzustellen. Eine große Rolle spielte hierbei der sogenannte Dawes-Reparationsplan für Deutschland, mit dessen Hilfe die USA und England die deutsche Industrie von den amerikanischen und britischen Monopolen abhängig zu machen gedachten. Der Dawesplan ebnete den Weg für den verstärkten Zufluss ausländischen — vorwiegend amerikanischen — Kapitals und seine Verankerung in der deutschen Industrie. Das Ergebnis war, dass schon 1925 ein Aufschwung der deutschen Wirtschaft einsetzte, der durch den intensiven Prozess der Neuausrüstung des Produktionsapparates bedingt war. Gleichzeitig erfolgte ein starkes Ansteigen des deutschen Exports, der 1927 den Stand von 1913 erreichte, während er, was Fertigwaren anbelangt, diesen Stand (in Preisen des Jahres 1913) sogar um 12 Prozent überschritt. In sechs Jahren, von 1924—1929, flossen 10—15 Milliarden Mark langfristige und über 6 Milliarden Mark kurzfristige ausländische Kapitalanlagen nach Deutschland. Einigen Quellen zufolge war der Umfang der Kapitalinvestitionen noch bedeutend größer. Dies führte zu einer gigantischen Verstärkung der deutschen Wirtschaftsmacht, besonders des Kriegspotentials. Von ausschlaggebender Bedeutung waren hierbei die amerikanischen Kapitalanlagen, die nicht weniger als 70 Prozent der Summe aller langfristigen Anleihen ausmachten.

Man kennt sehr wohl die Rolle, die bei der Finanzierung der deutschen Schwerindustrie, bei der Anknüpfung und Ausgestaltung engster Verbindungen zwischen der amerikanischen Industrie und der deutschen Industrie die amerikanischen Monopole spielten, an deren Spitze die Familien DuPont, Morgan, Rockefeller, Lamont und andere Industriemagnaten der USA stehen. Die führenden amerikanischen Monopole waren mit der Schwerindustrie, den Rüstungskonzernen und den Banken Deutschlands aufs engste verbunden. Der führende amerikanische Chemiekonzern DuPont de Nemours, der einer der größten Aktionäre des Automobiltrusts General Motors war, und die Imperial Chemical Industries, der britische Chemietrust, standen in engen industriellen Beziehungen zu dem deutschen Chemiekonzern IG-Farbenindustrie, mit dem sie 1926 ein Kartellabkommen über die Aufteilung der Weltmärkte für den Absatz von Schießpulver abschlossen. Präsident des Vorstands der Firma Rohm & Haas in Philadelphia (USA) war vor dem Krieg ein Kompagnon des Chefs derselben Firma in Darmstadt. Nebenbei gesagt, treibt der ehemalige Direktor dieses Konzerns, Rudolf Müller, jetzt in „Bizonien“ sein Wesen und spielt eine bedeutende Rolle in den führenden Kreisen der Christlich-Demokratischen Union (CDU). Von 1931 bis 1939 kontrollierte der deutsche Kapitalist Schmitz, Vorsitzender der IG-Farbenindustrie und Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Bank, die amerikanische Firma General Dyestuff Corporation. Nach der Münchner Konferenz von 1938 schloss der amerikanische Petroleumtrust Standard Oil einen Vertrag mit der IG-Farbenindustrie, durch den diese an den Profiten aus dem in den USA produzierten Flugzeugbenzin beteiligt wurde, wofür sie leichten Herzens darauf verzichtete, ihr synthetisches Benzin, von dem Deutschland damals für Kriegszwecke Vorräte anlegte, aus Deutschland auszuführen. Solche Verbindungen sind nicht nur für die kapitalistischen Monopole der USA kennzeichnend. Engste wirtschaftliche Beziehungen, die nicht nur von kommerzieller, sondern auch von militärischer Bedeutung waren, bestanden z. B. unmittelbar vor dem Krieg zwischen der Federation of British Industries (Vereinigung britischer Industrien) und der deutschen Reichsgruppe Industrie. Vertreter dieser beiden Monopolverbände veröffentlichten 1939 in Düsseldorf eine gemeinsame Erklärung, in der es u. a. hieß, der Zweck des Abkommens sei, „die möglichst vollständige Zusammenarbeit zwischen den Industriesystemen ihrer respektiven Länder zu gewährleisten“. Das geschah zu einer Zeit, da Hitlerdeutschland bereits die Tschechoslowakei verschlungen hatte. Kein Wunder, dass die Londoner Zeitung „Economist“ aus diesem Anlass schrieb: „Liegt nicht etwas in der Düsseldorfer Luft, was vernünftige Menschen von Sinnen bringen könnte?“[5]

Ein kennzeichnendes Beispiel der engen Verflechtung zwischen amerikanischem — aber auch englischem — und deutschem Kapital bietet die bekannte Schröderbank, in der der deutsche Stahltrust, die von Stinnes, Thyssen und anderen Industriemagnaten des Ruhrgebiets gegründete Vereinigte Stahlwerke AG, die führende Rolle spielte und die ihre Zentralen in New York und London hatte. In den Geschäften dieser Bank sprach Allen Dulles, der Direktor der Londoner, Kölner und Hamburger Schröders in New York — der Firma J. Henry Schröder Banking Corporation — ein entscheidendes Wort. Eine führende Rolle in der New-Yorker Zentrale dieser Bank spielte die bekannte Anwaltsfirma Sullivan & Cromwell, die von John Foster Dulles, dem jetzigen Hauptberater des Herrn Marshall, geleitet wird. Die Firma ist eng verbunden mit dem Rockefeller-Weltpetroleumtrust Standard Oil sowie mit der größten Bank der USA, der Chase National Bank, die in der deutschen Industrie riesige Kapitalien anlegten.

Sobald in Deutschland, in der Periode nach Versailles, der Inflation Einhalt geboten und die Mark stabilisiert worden war, ergoss sich, wie in dem 1947 in New York erschienenen Buch von R. Sasuly betont wird, buchstäblich ein Strom von Auslandsanleihen nach Deutschland. Von 1924 bis 1930 stieg die Auslandsschuld Deutschlands um mehr als 30 Milliarden Mark.

Mit Hilfe von ausländischem — hauptsächlich amerikanischem — Kapital wurde die deutsche Industrie, besonders die Vereinigte Stahlwerke AG, weitgehend rekonstruiert und modernisiert. Einige Anleihen flossen unmittelbar solchen Firmen zu, die bei der Neuaufrüstung die Hauptrolle spielten.[6]

Neben der englisch-deutsch-amerikanischen Schröder-Bank spielte bei der Finanzierung der Vereinigten Stahlwerke in diesen Jahren eine der größten New-Yorker Banken — Dillon, Read & Co. — zu deren Direktoren mehrere Jahre lang der jetzige USA-Verteidigungsminister Forrestal gehörte, eine führende Rolle.[7]

Eben dieser goldene Regen amerikanischer Dollars befruchtete die Schwerindustrie Hitlerdeutschlands, insbesondere die Rüstungsindustrie. Diese von den transatlantischen Monopolen in der Rüstungswirtschaft Hitlerdeutschlands angelegten Milliarden amerikanischer Dollar stellten das deutsche Kriegspotential wieder her und gaben dem Hitlerregime die Waffe in die Hand, die es zur Durchführung seiner Aggression nötig hatte.

In einer kurzen Zeitspanne schuf Deutschland, gestützt auf die finanzielle Hilfe hauptsächlich der amerikanischen Monopole, wieder eine starke Rüstungsindustrie, die imstande war, kolossale Mengen erstklassiger Kriegsmaterialien, viele tausende Panzer, Flugzeuge, Geschütze, Kriegsschiffe und andere Waffenarten von neuestem Typus herzustellen.

All das möchten die Geschichtsfälscher nicht mehr wahrhaben. Sie versuchen, sich vor der Verantwortung für ihre Politik zu drücken, die die Hitleraggressoren bewaffnete, den zweiten Weltkrieg entfesselte und zu einer in der Geschichte beispiellos dastehenden Kriegskatastrophe führte, die die Menschheit Millionen und aber Millionen Opfer gekostet hat. Es darf also nicht vergessen werden, dass die erste und wichtigste Voraussetzung der Hitleraggression die Wiedergeburt und Erneuerung der Schwerindustrie und der sonstigen Rüstungsindustrie Deutschlands war, die ihrerseits nur durch die direkte und weitgehende Finanzhilfe der herrschenden Kreise der Vereinigten Staaten von Amerika möglich wurde.

Aber das ist noch nicht alles.

Ein anderer entscheidender Umstand, der die Entfesselung der Hitleraggression förderte, war die Politik der regierenden Kreise Englands und Frankreichs, die als Politik der „Befriedigung“ Hitlerdeutschlands, als eine Politik der Abkehr von kollektiver Sicherheit bekannt ist. Heute muss es jedermann klar sein, dass eben diese Politik der regierenden Kreise Englands und Frankreichs, verkörpert in der Abkehr von kollektiver Sicherheit, in der Weigerung, der deutschen Aggression entgegenzutreten, in der Begünstigung der aggressiven Forderungen Hitlerdeutschlands, zum zweiten Weltkrieg geführt hat. 

Wenden wir uns den Tatsachen zu.

Schon bald nach Hitlers Machtantritt wurde dank der Bemühungen der Regierungen Englands und Frankreichs im Jahre 1933 in Rom ein „Pakt des Einvernehmens und der Zusammenarbeit“ (Pact of Accord and Co-operation) von vier Mächten — Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien — unterzeichnet. Dieser Pakt bedeutete einen Kuhhandel der englischen und der französischen Regierung mit dem deutschen und dem italienischen Faschismus, die schon damals aus ihren Aggressionsabsichten kein Hehl machten. Gleichzeitig bedeutete dieser Pakt mit den faschistischen Staaten die Abkehr von der Politik einer Festigung der Einheitsfront der friedliebenden Mächte gegen die aggressiven Staaten. Auf der damals tagenden Abrüstungskonferenz stand der sowjetische Antrag, einen Nichtangriffspakt und einen Pakt über die Definition des Angreifers zu schließen, zur Erörterung. Indem Großbritannien und Frankreich unter Umgehung der übrigen, an dieser Abrüstungskonferenz beteiligten Mächte, ihren Schacher mit Deutschland und Italien abschlossen, führten sie einen Schlag gegen die Sicherheit der Völker und die Erhaltung des Weltfriedens.

Bald darauf, im Jahre 1934, halfen England und Frankreich Hitler, die feindselige Einstellung des mit ihnen alliierten Polens der Barone zur UdSSR auszunutzen, wodurch der deutsch-polnische Nichtangriffspakt zustande kam, der eine bedeutsame Etappe in der Vorbereitung der deutschen Aggression war. Hitler brauchte diesen Pakt, um die Anhänger der kollektiven Sicherheit in Verwirrung zu bringen und an diesem Beispiel zu zeigen, dass Europa nicht kollektiver Sicherheit, sondern zweiseitiger Abkommen bedürfe. Dies ermöglichte es den deutschen Aggressoren, selbst darüber zu entscheiden, mit wem und wann sie ein Abkommen schließen und wen und wann sie überfallen wollen. Zweifellos war der deutsch-polnische Pakt die erste ernsthafte Bresche im Gebäude der kollektiven Sicherheit.

Dreister geworden, ergriff Hitler eine Reihe von Maßnahmen zur offenen Wiederherstellung der deutschen Streitkräfte, was bei den englischen und französischen Machthabern auf keinerlei Gegenwehr stieß. Im Gegenteil, schon bald, im Jahre 1935, wurde in London, wo Ribbentrop zu diesem Zweck eingetroffen war, ein englisch-deutsches Flottenabkommen geschlossen, worin Großbritannien der Wiederherstellung der deutschen Seestreitkräfte in einem Umfang zustimmte, der der französischen Kriegsmarine fast gleichkam. Außerdem erhielt Hitler das Recht, U-Boote mit einer Gesamttonnage zu bauen, die 45 Prozent der britischen U-Boot-Flotte gleichkam. In den gleichen Zeitraum fallen auch die einseitigen Akte Hitlerdeutschlands, die auf die Beseitigung aller anderen im Versailler Vertrag festgelegten Beschränkungen für das Anwachsen der Streitkräfte Deutschlands gerichtet waren und die bei England, Frankreich und den USA keinerlei Widerstand begegneten.

Die faschistischen Aggressoren wurden, angesichts der offenkundigen Vorschubleistung durch die USA, Großbritannien und Frankreich mit jedem Tage unersättlicher. Es ist selbstverständlich kein Zufall, dass Deutschland und Italien bei ihren militärischen Interventionen in Abessinien und Spanien damals leichtes Spiel hatten.

Nur die Sowjetunion betrieb konsequent und entschlossen ihre Friedenspolitik und verfocht die Prinzipien der Gleichberechtigung und Unabhängigkeit Abessiniens, das überdies Mitglied des Völkerbundes war, sowie das Anrecht der legitimen republikanischen Regierung Spaniens auf Unterstützung durch die demokratischen Länder in ihrem Kampf gegen die deutsch-italienische Intervention.

W. M. Molotow führte auf der Tagung des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR am 10. Januar 1936 anlässlich des italienischen Überfalls auf Abessinien Folgendes aus:

„Die Sowjetunion hat im Völkerbund ihre Treue für dieses Prinzip, das Prinzip staatlicher Unabhängigkeit und nationaler Gleichberechtigung aller Staaten, am Beispiel eines der kleinen Länder — Abessiniens — demonstriert. Die Sowjetunion hat außerdem ihre Beteiligung am Völkerbund dazu ausgenutzt, um ihre gegen den imperialistischen Aggressor gerichtete Linie praktisch durchzuführen.“[8]

„Der italienisch-abessinische Krieg zeigt, dass die Gefahr eines Weltkrieges immer größer wird, dass sie Europa immer mehr ergreift.“[9]

Was aber taten zu dieser Zeit die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs, vor deren Augen die faschistischen Räuber immer frecher und frecher mit ihren Opfern aufräumten? Sie rührten keinen Finger, um den deutschen und den italienischen Aggressor zu bändigen, um die mit Füßen getretenen Rechte der Völker zu verteidigen, um den Frieden zu wahren und den herannahenden zweiten Weltkrieg aufzuhalten.

Nur die Sowjetunion tat alles, was im Bereich der Möglichkeit lag, um den faschistischen Aggressoren den Weg zu versperren. Die Sowjetunion trat als Initiatorin und Vorkämpferin der kollektiven Sicherheit auf. Schon am 6. Februar 1933 schlug der Vertreter der Sowjetunion, M. M. Litwinow, in der Allgemeinen Abrüstungskommission vor, eine Deklaration anzunehmen, in der Aggression und Angreifer definiert werden. Bei ihrem Vorschlag, den Angreifer zu definieren, ging die Sowjetunion von der Notwendigkeit aus, im Interesse der allgemeinen Sicherheit und leichterer Verständigung über maximale Abrüstung den Begriff der „Aggression“ möglichst genau zu definieren, um „jedwedem Vorwand zu ihrer Rechtfertigung vorzubeugen“. Unter der Führung Englands und Frankreichs lehnte die Konferenz jedoch zu Nutz und Frommen des deutschen Aggressors diesen Vorschlag ab.

Allgemein bekannt ist der beharrliche und langwierige Kampf, den die Sowjetunion und ihre Völkerbundsdelegation unter Leitung M. M. Litwinows für die Aufrechterhaltung und Stärkung der kollektiven Sicherheit geführt haben. Während der ganzen Vorkriegszeit trat die Sowjetdelegation im Völkerbund für das Prinzip der kollektiven Sicherheit ein. Fast in jeder Sitzung, in jedem Ausschuss des Völkerbundes erhob sie ihre Stimme zur Verteidigung dieses Prinzips. Wie bekannt, blieb die Sowjetunion aber ein Rufender in der Wüste. Die ganze Welt kennt die Vorschläge der Sowjetdelegation über Maßnahmen zur Stärkung der kollektiven Sicherheit, die im Auftrag der Sowjetregierung Herrn Avenol, dem Generalsekretär des Völkerbundes, am 30. August 1936 mit dem Ersuchen unterbreitet wurden, sie im Völkerbund zur Erörterung zu stellen. Bekannt ist aber auch, dass diese Vorschläge in den Archiven des Völkerbundes begraben wurden, ohne dass irgendetwas unternommen worden wäre.

Es ist klar, dass England und Frankreich, die damals im Völkerbund die Führung hatten, den kollektiven Widerstand gegen eine deutsche Aggression ablehnten. Sie taten es, weil ihnen die kollektive Sicherheit bei der Durchführung ihrer neuen Politik der „Befriedung“ des deutschen Aggressors, einer Politik der Konzessionen gegenüber der Hitleraggression, hinderlich war. Natürlich musste eine solche Politik Deutschland noch aggressiver machen, aber die regierenden Kreise Englands und Frankreichs hielten das für ungefährlich, da man glaubte, die Hitleraggression, nachdem man Hitler durch Konzessionen im Westen befriedigt hatte, nach Osten lenken und sie als Waffe gegen die Sowjetunion gebrauchen zu können.

In seinem Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag der KPdSU(B) vom März 1939 sagte J. W. Stalin, als er die Ursachen für die Intensivierung der Hitleraggression erläuterte:

„Die wichtigste Ursache besteht darin, dass sich die meisten nichtaggressiven Länder und vor allem England und Frankreich von der Politik der kollektiven Sicherheit, von der Politik der kollektiven Abwehr der Aggressoren losgesagt haben, dass sie die Position der Nichteinmischung, die Position der Neutralität‘ bezogen haben.“[10]

Um den Leser irrezuführen und gleichzeitig die Sowjetregierung zu verleumden, behauptet der amerikanische Korrespondent Neal Stanford, die Sowjetregierung sei gegen die kollektive Sicherheit gewesen, M. M. Litwinow sei seines Postens als Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten enthoben und durch W. M. Molotow ersetzt worden, weil er eine Politik betrieben habe, die auf Stärkung der kollektiven Sicherheit abzielte. Etwas Törichteres als diese fantastische Behauptung ist kaum denkbar. Selbstverständlich hat M. M. Litwinow nicht seine private Politik, sondern die Politik der Sowjetregierung durchgeführt. Andererseits ist der Kampf für die kollektive Sicherheit allgemein bekannt, den die Sowjetregierung und ihre Vertreter, darunter auch M. M. Litwinow, während der ganzen Vorkriegszeit geführt haben.

Was die Ernennung W. M. Molotows zum Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten betrifft, so ist völlig klar, dass in der damaligen komplizierten Situation, als die faschistischen Aggressoren den zweiten Weltkrieg vorbereiteten und hierbei von Großbritannien und Frankreich, hinter denen die Vereinigten Staaten von Amerika standen, direkt gefördert und zum Krieg gegen die Sowjetunion angetrieben wurden, auf dem so verantwortungsvollen Posten des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten ein Politiker stehen musste, der erfahrener war und größere Popularität im Lande genoss als M. M. Litwinow.

Es war kein Zufall, dass die Westmächte einen Pakt über kollektive Sicherheit ablehnten. Damals entspann sich ein Kampf zwischen zwei Richtungen der internationalen Politik. Die eine Richtung war die des Kampfes für den Frieden, für die Organisierung der kollektiven Sicherheit und für die Abwehr der Aggression durch die vereinten Kräfte der friedliebenden Völker. Diese Richtung vertrat die Sowjetunion, die konsequent und standhaft die Interessen aller großen und kleinen friedliebenden Völker wahrnahm. Die andere Richtung lehnte die Organisierung der kollektiven Sicherheit und den Widerstand gegen die Aggression ab, was die faschistischen Länder unvermeidlich zu noch aggressiverer Tätigkeit anspornte und damit die Entfesselung des neuen Krieges begünstigte.

Aus alledem geht hervor, dass die historische Wahrheit in folgendem besteht: Die Hitleraggression wurde möglich, erstens, weil die USA Deutschland halfen, in kurzer Zeit eine militärische und ökonomische Basis für die deutsche Aggression zu schaffen und auf solche Weise diese Aggression bewaffneten, und zweitens, weil die regierenden Kreise Englands und Frankreichs durch ihre Abkehr von kollektiver Sicherheit die Reihen der friedliebenden Länder desorganisierten, die Einheitsfront dieser Länder gegen die Aggression zersetzten, der deutschen Aggression den Weg bereiteten und Hitler halfen, den zweiten Weltkrieg zu entfesseln.

Was wäre geschehen, wenn die USA nicht die Schwerindustrie Hitlerdeutschlands finanziert und wenn England und Frankreich sich nicht von der kollektiven Sicherheit abgewandt, sondern, im Gegenteil, gemeinsam mit der Sowjetunion eine kollektive Abwehr gegen die deutsche Aggression in die Wege geleitet hätten?

Hitler hätte dann für seine Aggression keine ausreichenden Waffen gehabt. Die Raubpolitik Hitlers wäre von einem Regime der kollektiven Sicherheit in die Zange genommen worden. Die Chancen der Hitlerfaschisten auf eine erfolgreiche Entfesselung des zweiten Weltkrieges wären auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Hätten aber die Hitlerfaschisten, trotz dieser für sie so ungünstigen Bedingungen, sich doch zur Entfesselung des zweiten Weltkrieges entschlossen, dann wären sie schon im ersten Kriegsjahr geschlagen worden.

Dies ist aber leider nicht geschehen, und zwar infolge der verderblichen Politik, die die USA, England und Frankreich während der ganzen Vorkriegszeit betrieben.

Eben sie sind daran schuld, wenn die Hitlerfaschisten den zweiten Weltkrieg, der fast sechs Jahre dauerte und Millionen Opfer verschlang, nicht ohne Erfolg entfesseln konnten.

II. Nicht Kampf gegen die deutsche Aggression, sondern eine Politik der Isolierung der UdSSR

Die weitere Entwicklung der Ereignisse zeigte noch deutlicher, dass die regierenden Kreise Englands und Frankreichs durch ihre Konzessionen und Vergünstigungen an die faschistischen Staaten, die sich 1936 zu dem als „Achse Berlin-Rom“ bekannten militärischen und politischen Block zusammengeschlossen hatten, Deutschland nur ermunterten und auf den Weg der Annexionen drängten.

England und Frankreich, die sich von der Politik kollektiver Sicherheit losgesagt hatten, bezogen die Position der sogenannten Nichteinmischung, von der J. W. Stalin sagte, man könnte:

„…die Politik der Nichteinmischung wie folgt charakterisieren: Jedes Land möge sich gegen die Aggressoren verteidigen, wie es will und wie es kann, wir scheren uns nicht darum, wir werden sowohl mit den Aggressoren als auch mit ihren Opfern Handel treiben. In Wirklichkeit bedeutet jedoch die Politik der Nichteinmischung eine Begünstigung der Aggression, die Entfesselung des Krieges und folglich seine Umwandlung in einen Weltkrieg.“[11] Dabei wies J. W. Stalin darauf hin, dass „das große und gefährliche politische Spiel, das die Anhänger der Nichteinmischungspolitik begonnen haben, für sie mit einem ernsten Fiasko enden kann.“ [12]

Schon im Jahre 1937 war es absolut klar, dass die Ereignisse einem von Hitler mit direkter Vorschubleistung Großbritanniens und Frankreichs angezettelten großen Krieg entgegentrieben. Die von den Sowjettruppen nach der Niederwerfung Deutschlands erbeuteten Dokumente des deutschen Auswärtigen Amtes enthüllen das wahre Wesen der Außenpolitik, die Großbritannien und Frankreich damals trieben. Wie aus den Dokumenten ersichtlich, bestand das Wesen der englischen und französischen Politik nicht im Zusammenschluss der Kräfte der friedliebenden Staaten zum gemeinsamen Kampf gegen die Aggression, sondern in Versuchen, die UdSSR zu isolieren und die Hitleraggression nach dem Osten, gegen die Sowjetunion zu lenken, wobei Hitler als Werkzeug für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt werden sollte. 

Die Machthaber Englands und Frankreichs kannten sehr wohl die Hauptrichtung der hitlerfaschistischen Außenpolitik, die von Hitler wie folgt definiert worden war:

„Wir Nationalsozialisten ziehen bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir brechen endlich mit der Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken. Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen.“[13]

Bis zur letzten Zeit pflegte man anzunehmen, dass die gesamte Verantwortung für die Münchener Verratspolitik den regierenden Kreisen Englands und Frankreichs, den Regierungen Chamberlains und Daladiers, zufällt. Die Tatsache, dass die USA-Regierung die Veröffentlichung der deutschen Archivmaterialien unternommen hat und die auf das Münchener Abkommen bezüglichen Dokumente aus ihrer Sammlung ausschloss, zeugt davon, wie sehr die Regierung der USA daran interessiert ist, die Helden des Münchener Verrats weiß zu waschen und dabei den Versuch zu machen, die Schuld auf die UdSSR abzuwälzen.

Auch früher war schon zur Genüge klar, worin der Sinn der Münchener Politik Englands und Frankreichs in der Hauptsache bestand. Die in den Händen der Sowjetregierung befindlichen Dokumente aus dem Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes liefern jedoch zahlreiche zusätzliche Tatsachenangaben, die den wirklichen Sinn der Diplomatie der Westmächte in der Vorkriegszeit enthüllen und zeigen, wie mit dem Schicksal der Völker gespielt wurde, wie unverfroren man fremde Territorien verschacherte, wie die Weltkarte heimlich umgemodelt wurde, wie man die Hitleraggression anspornte und welche Anstrengungen aufgeboten wurden, um diese Aggression nach dem Osten, gegen die Sowjetunion, zu lenken.

Ein beredtes Beispiel dafür ist ein deutsches Dokument, worin ein Gespräch zwischen Hitler und dem britischen Minister Halifax, das in Gegenwart des deutschen Außenministers von Neurath am 19. November 1937 in Obersalzberg stattfand, aufgezeichnet ist.

Halifax erklärte, dass

„er (Lord Halifax) und andere Mitglieder der englischen Regierung davon durchdrungen wären, dass der Führer nicht nur in Deutschland selbst Großes geleistet habe, sondern dass er auch durch die Vernichtung des Kommunismus im eigenen Lande diesem den Weg nach Westeuropa versperrt habe und dass daher mit Recht Deutschland als Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus angesehen werden könne.“[14]

Im Namen des englischen Premierministers Chamberlain erklärte Halifax, es bestehe absolut die Möglichkeit, eine Lösung selbst für schwierige Probleme zu finden, wenn es Deutschland und England gelänge, eine Verständigung auch mit Frankreich und Italien zu erzielen.

Halifax sagte:

„Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Achse Berlin-Rom oder das gute Verhältnis London-Paris durch eine deutsch-englische Einigung in Mitleidenschaft gezogen würde. Nachdem durch eine deutsch-englische Einigung der Boden vorbereitet sei, müssten die vier großen westeuropäischen Mächte[15]gemeinsam die Grundlage schaffen, auf der ein dauernder europäischer Friede errichtet werden könne. Auf keinen Fall dürfe eine der vier Mächte aus dieser Zusammenarbeit herausgelassen werden, da in diesem Fall der bestehende Zustand der Unsicherheit kein Ende finden könne.“[16]

Halifax bot Hitler also schon 1937 im Namen der britischen Regierung den Anschluss Englands und zugleich auch Frankreichs an die „Achse Berlin-Rom“ an.

Hitler beantwortete diesen Vorschlag jedoch mit der Erklärung, es erscheine ihm sehr leicht, ein solches Viermächteabkommen zustande zu bringen, wenn von gutem Willen und liebenswürdiger Haltung zueinander die Rede sei, die Sache kompliziere sich jedoch, wenn Deutschland nicht als ein Staat behandelt werden solle, „der nicht mehr das moralische oder materielle Stigma des Versailler Vertrages an sich trage.“[17]

Der Aufzeichnung zufolge entgegnete Halifax hierauf:

„Die Engländer seien ein Volk der Realitäten und seien vielleicht mehr als andere davon überzeugt, dass die Fehler des Versailler Diktats richtiggestellt werden müssten. England habe ja auch in der Vergangenheit stets seinen Einfluss in diesem realistischen Sinne geltend gemacht. Er weise auf Englands Rolle bei der vorzeitigen Rheinlandräumung, bei der Lösung der Reparationsfrage ebenso wie bei der Wiederbesetzung des Rheinlandes hin.“[18]

Aus der Niederschrift der Unterredung zwischen Hitler und Halifax ersieht man weiter, dass die britische Regierung Hitlers Plänen, Danzig, Österreich und die Tschechoslowakei zu „erwerben“, billigend gegenüberstand. Nachdem Halifax mit Hitler über Fragen der Abrüstung und des Völkerbundes gesprochen und bemerkt hatte, diese Fragen bedürften weiterer Erörterung, erklärte er:

„Alle anderen Fragen könne man dahingehend charakterisieren, dass sie Änderungen der europäischen Ordnung beträfen, die wahrscheinlich früher oder später eintreten würden. Zu diesen Fragen gehöre Danzig und Österreich und die Tschechoslowakei. England sei nur daran interessiert, dass diese Änderungen im Wege friedlicher Evolution zustande gebracht würden und dass Methoden vermieden würden, die weitergehende Störungen, wie sie weder der Führer noch andere Länder wünschten, verursachen könnten.“ [19]

In dieser Unterredung wurde, wie man sieht, nicht einfach das Gelände sondiert, nicht bloß dem Gesprächspartner auf den Zahn gefühlt, wie die politische Notwendigkeit das zuweilen mit sich bringt, sondern ein Spiel abgekartet, eine geheime Verständigung der englischen Regierung mit Hitler über die Befriedigung der Annexionsgelüste Hitlers auf Kosten dritter Länder herbeigeführt.

In diesem Zusammenhang verdient die von dem englischen Minister Simon am 21. Februar 1938 im Parlament abgegebene Erklärung beachtet zu werden, dass Großbritannien niemals besondere Garantien für die Unabhängigkeit Österreichs gegeben habe. Dies war eine bewusste Lüge, da derartige Garantien in den Verträgen von Versailles und St. Germain gegeben worden waren. Auch der britische Premierminister Chamberlain erklärte damals, Österreich könne nicht auf irgendeinen Schutz von Seiten des Völkerbundes rechnen. Er sagte:

„Wir dürfen nicht versuchen, uns selbst irrezuführen, und noch weniger dürfen wir kleine Nationen zu dem Glauben verleiten, sie würden vom Völkerbund gegen Aggression verteidigt, und zu entsprechenden Handlungen verleiten, wo wir doch wissen, dass nichts dergleichen zu erwarten ist.“[20]

So munterten die Leiter der britischen Politik Hitler zu seinen annexionistischen Handlungen auf. In dem von den Sowjettruppen in Berlin erbeuteten deutschen Archiv findet sich ferner eine Niederschrift des Gesprächs, das Hitler und Henderson, der britische Botschafter in Deutschland, in Anwesenheit Ribbentrops am 3. März 1938 hatten.[21] Von allem Anfang an betonte Henderson in dieser Unterredung deren vertraulichen Charakter und schickte voraus, dass der Inhalt der Unterredung weder den Franzosen noch den Belgiern, weder den Portugiesen noch den Italienern mitgeteilt werden solle, denen nur gesagt werden sollte, die Unterredung sei die Fortsetzung der Unterhandlungen zwischen Halifax und Hitler gewesen und habe sich auf Fragen bezogen, die Deutschland und England beträfen. Henderson, der in dieser Unterredung im Namen der britischen Regierung auftrat, betonte,

„es handle sich um kein Handelsgeschäft, sondern um einen Versuch, die Grundlage für eine wahrhafte und herzliche Freundschaft zu Deutschland herzustellen, beginnend mit einer Besserung der Atmosphäre und endend mit der Schaffung eines neuen Geistes der freundschaftlichen Verständigung“[22]

Ohne gegen Hitlers Forderung, „Europa ohne Rußland zu vereinigen“, Einwände zu erheben, erwähnte Henderson, Halifax, der inzwischen Außenminister geworden war, habe sich bereits mit den territorialen Veränderungen, die Deutschland in Europa durchzuführen beabsichtige, einverstanden erklärt, und sagte:

„An einer solchen vernünftigen Regelung mitzuhelfen, sei das Ziel des englischen Vorschlags.“

Wie es in der Niederschrift heißt, erklärte Henderson in der gleichen Unterredung, dass Chamberlain „großen Mut bewiesen habe, indem er rücksichtslos internationale Phrasen wie kollektive Sicherheit und dergleichen demaskiert hätte…“

Henderson fügte hinzu: 

„Daher erkläre England seine Bereitschaft zur Bereinigung der Schwierigkeiten und richte an Deutschland die Frage, ob es auch seinerseits bereit sei.“[23]

Als Ribbentrop in die Unterredung eingriff, indem er Hendersons Aufmerksamkeit darauf hinlenkte, dass der englische Gesandte in Wien sich von Papen gegenüber in „dramatischer“ Form über die Ereignisse in Österreich geäußert habe, da beeilte sich Henderson, von der Erklärung seines Kollegen abzurücken und daran zu erinnern, „wie oft er, Sir Neville Henderson, selbst für den Anschluss eingetreten sei“.

Eine solche Sprache führte die englische Diplomatie in der Vorkriegszeit.

Gleich nach diesem Übereinkommen, am 12. März 1938, besetzte Hitler Österreich, ohne bei England und Frankreich irgendeinen Widerstand zu finden. Zu diesem Zeitpunkt erhob nur die Sowjetunion ihre warnende Stimme und rief abermals dazu auf, die Unabhängigkeit der von der Aggression bedrohten Länder durch kollektive Maßnahmen zu schützen. Schon am 17. März 1938 richtete die Sowjetregierung an die Mächte eine Note, worin sie ihrer Bereitschaft Ausdruck gab, „unverzüglich im Völkerbund oder außerhalb des Völkerbundes praktische Maßnahmen mit anderen Mächten zu erörtern“, die „das Ziel haben würden, der weiteren Entwicklung der Aggression Einhalt zu tun und die verstärkte Gefahr eines neuen Weltgemetzels zu beseitigen.“[24] Die Antwort der englischen Regierung auf die Sowjetnote zeugt davon, dass die englische Regierung nicht gewillt war, diesen Plänen der Hitleraggression Hindernisse in den Weg zu legen.

In der Antwort hieß es, eine Konferenz zwecks „koordinierter Aktion gegen Aggression würde nach Ansicht der Regierung Seiner Majestät nicht notwendigerweise eine so günstige Wirkung auf die Perspektiven des europäischen Friedens haben.“[25]

Das nächste Glied in der Kette der deutschen Aggression und der Vorbereitung zum Krieg in Europa war die Besetzung der Tschechoslowakei durch Deutschland. Auch dieser überaus wichtige Schritt zur Entfesselung des Krieges in Europa konnte von Hitler nur mit direkter Unterstützung Englands und Frankreichs getan werden.

Schon am 10. Juli 1938 meldete Dirksen, der deutsche Botschafter in London, nach Berlin, England habe

„den Ausgleich mit Deutschland zu einem seiner wesentlichsten Programmpunkte gemacht; es bringt darum Deutschland das Höchstmaß an Verständnis entgegen, das unter allen für die Kabinettsbildung in Frage kommenden Kombinationen englischer Politiker aufzubringen ist.“[26]

Dirksen schrieb, dass die englische Regierung

„sich in wesentlichen Punkten den von Deutschland vertretenen Leitsätzen angenähert hat: der Ausschaltung der Sowjetunion aus der Mitbestimmung der Geschicke Europas; der Ausschaltung des Völkerbundes bei derselben Aufgabe; der Zweckmäßigkeit zweiseitiger Verhandlungen und Verträge…“[27]

Dirksen teilte ferner nach Berlin mit, dass die englische Regierung bereit sei, für die „Befriedigung anderer gerechter Forderungen Deutschlands“ große Opfer zu bringen. 

Es hatte sich also tatsächlich zwischen der englischen Regierung und Hitler in ihren außenpolitischen Plänen ein weitgehendes Einvernehmen herausgebildet, worüber Dirksen in seiner Meldung nach Berlin so vielsagend berichtete.

Es erübrigt sich, an allbekannte Tatsachen zu erinnern, die sich bereits unmittelbar auf die Münchner Abmachung beziehen. Man darf aber nicht vergessen, dass am 19. September 1938, das heißt vier Tage nach dem Zusammentreffen Hitlers mit Chamberlain, der zu diesem Zweck per Flugzeug nach der Hitlerresidenz Berchtesgaden gekommen war, Vertreter der britischen und der französischen Regierung die tschechoslowakische Regierung aufforderten, Deutschland die hauptsächlich von Sudetendeutschen bewohnten tschechoslowakischen Gebiete abzutreten. Sie motivierten diese Aufforderung damit, es sei sonst unmöglich, den Frieden aufrechtzuerhalten und die Lebensinteressen der Tschechoslowakei zu wahren. Die britischen und französischen Gönner der Hitleraggression suchten ihren Verrat durch das Versprechen internationaler Garantien für die neue Grenze des tschechoslowakischen Staates zu bemänteln und als einen „Beitrag zur Befriedung Europas“ hinzustellen.[28]

Am 20. September beantwortete die tschechoslowakische Regierung die Vorschläge Englands und Frankreichs. Sie erklärte, „die Annahme solcher Vorschläge käme einer freiwilligen und völligen Verstümmelung des Staates in allen Richtungen gleich“. Die tschechoslowakische Regierung machte die englische und französische Regierung darauf aufmerksam, dass „eine Lähmung der Tschechoslowakei tiefgreifende politische Änderungen in ganz Mittel- und Südosteuropa zur Folge haben“ würde. 

Die tschechoslowakische Regierung erklärte in ihrer Antwort:

„Das Gleichgewicht der Kräfte in Mitteleuropa und in Europa überhaupt wäre zunichte gemacht; das würde weitgehende Folgen für alle anderen Staaten, besonders aber für Frankreich nach sich ziehen.“

Die tschechoslowakische Regierung wandte sich an die Regierungen Englands und Frankreichs „mit dem letzten Appell“, ihren Standpunkt zu revidieren, und hob hervor, dass dies nicht nur im Interesse der Tschechoslowakei läge, sondern auch im Interesse ihrer Freunde, im Interesse „des gesamten Friedenswerkes und einer gesunden Entwicklung Europas“.

Die Machthaber Englands und Frankreichs aber blieben unerbittlich. Am nächsten Tag richtete die englische Regierung eine Antwortnote an die tschechoslowakische Regierung, worin sie dieser nahelegte, ihre Antwort auf die ursprünglichen Vorschläge Englands und Frankreichs zurückzunehmen und „die Sache rasch und ernstlich zu erwägen“, ehe sie eine Situation schaffe, für die die englische Regierung keine Verantwortung übernehmen könne. Weiter hob die englische Regierung hervor, sie glaube nicht, dass das von der Tschechoslowakei angeregte Schiedsverfahren jetzt annehmbar sei. Sie könne nicht annehmen, hieß es in der britischen Note weiter, dass „die deutsche Regierung glaube, die Situation lasse sich im Wege eines Schiedsverfahrens bereinigen, wie die tschechoslowakische Regierung es vorschlägt“.

Zum Schluss enthält die britische Note die drohende Mitteilung an die tschechoslowakische Regierung, im Falle einer Ablehnung des britischen Ratschlages würde es ihr „freistehen, beliebige Maßnahmen zu ergreifen, die sie in einer sich später ergebenden Situation eventuell für angemessen erachtet.“ Eine Beratung Hitlers, Chamberlains, Mussolinis und Daladiers, die am 29. und 30. September 1938 in München stattfand, brachte den schmachvollen Handel zum Abschluss, der schon vorher von den Hauptbeteiligten am Komplott gegen den Frieden restlos abgekartet war. Über das Geschick der Tschechoslowakei wurde entschieden, ohne dass sie irgendwie zugezogen wurde. Vertreter der Tschechoslowakei wurden nur zu dem Zweck nach München berufen, die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den Imperialisten demütig abzuwarten.

Das ganze Verhalten Englands und Frankreichs ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der unerhörte Verrat der Regierungen Englands und Frankreichs am tschechoslowakischen Volke und an seiner Republik durchaus keine zufällige Erscheinung in der Politik dieser Staaten, sondern ein höchst wichtiges Kettenglied dieser Politik darstellte, die das Ziel verfolgte, die Hitleraggression gegen die Sowjetunion zu lenken.

Der wahre Sinn des Münchner Abkommens wurde gleich damals von J. W. Stalin aufgedeckt, der sagte, „man habe den Deutschen Gebiete der Tschechoslowakei als Kaufpreis für die Verpflichtung gegeben, den Krieg gegen die Sowjetunion zu beginnen.“[29] Das Wesen dieser damals von den regierenden Kreisen Englands und Frankreichs betriebenen Politik wurde von J. W. Stalin auf dem XVIII. Parteitag der KPdSU(B) im März 1939 mit folgenden Worten dargelegt:

„In Wirklichkeit bedeutet jedoch die Politik der Nichteinmischung eine Begünstigung der Aggression, die Entfesselung des Krieges und folglich seine Umwandlung in einen Weltkrieg. In der Politik der Nichteinmischung macht sich das Bestreben, der Wunsch geltend, die Aggressoren bei der Ausführung ihres dunklen Werkes nicht zu hindern, zum Beispiel Japan nicht zu hindern, sich in einen Krieg gegen China, noch besser aber gegen die Sowjetunion einzulassen, zum Beispiel Deutschland nicht zu hindern, sich in die europäischen Angelegenheiten zu verstricken, sich in einen Krieg gegen die Sowjetunion einzulassen, alle Kriegsteilnehmer tief in den Morast des Krieges versinken zu lassen, sie im Stillen dazu anzuspornen, dazu zu bringen, dass sie einander schwächen und erschöpfen, dann aber, wenn sie genügend geschwächt sind, mit frischen Kräften auf dem Schauplatz zu erscheinen und, natürlich, „im Interesse des Friedens“ aufzutreten, um den geschwächten Kriegsteilnehmern die Bedingungen zu diktieren.“[30]

Die demokratischen Kreise verschiedener Länder, darunter der USA, Großbritanniens und Frankreichs, nahmen das Münchner Abkommen mit Entrüstung und entschiedener Missbilligung auf. Wie diese Kreise auf den Münchner Verrat der Machthaber Englands und Frankreichs reagierten, geht schon aus Äußerungen hervor, wie sie zum Beispiel in einem in den USA erschienenen Buch „Die große Verschwörung“ von Sayers und Kahn enthalten sind. Die Verfasser schrieben in diesem Buch über München:

„Die Regierungen des nazistischen Deutschlands, des faschistischen Italiens, Großbritanniens und Frankreichs unterzeichneten das Münchner Abkommen. Die sowjetfeindliche Heilige Allianz, von der die Weltreaktion seit 1918 träumte, war endlich erreicht…

Nach Abschluss dieses Paktes stand die Sowjetunion ohne Bundesgenossen da. Das französisch-sowjetische Abkommen, der Grundpfeiler der europäischen kollektiven Sicherheit, war bedeutungslos geworden. Die tschechischen Sudetenländer wurden dem Deutschen Reich einverleibt. Das Tor nach dem Osten stand der Wehrmacht weit offen.“[31]

Die Sowjetunion war die einzige Großmacht, die in allen Phasen der tschechoslowakischen Tragödie als aktive Verteidigerin der Unabhängigkeit und der nationalen Rechte der Tschechoslowakei auftrat. Um sich vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, erklärten die Regierungen Englands und Frankreichs voll Heuchelei, sie wüssten nicht, ob die Sowjetunion ihren sich aus dem Beistandsvertrag mit der Tschechoslowakei ergebenden Verpflichtungen nachkommen werde. Sie sprachen aber wissentlich die Unwahrheit, denn die Sowjetregierung hatte sich in aller Öffentlichkeit bereit erklärt, zugunsten der Tschechoslowakei gegen Deutschland vorzugehen, im Einklang mit den Vertragsbedingungen, die ein gleichzeitiges Vorgehen Frankreichs zum Schutz der Tschechoslowakei vorsahen. Frankreich aber weigerte sich, seine Pflicht zu erfüllen. 

Ungeachtet dessen erklärte die Sowjetregierung unmittelbar vor Abschluss des Münchner Abkommens erneut, sie wünsche die Einberufung einer internationalen Konferenz zwecks praktischer Unterstützung der Tschechoslowakei und praktischer Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens. 

Als die Besetzung der Tschechoslowakei zu einer Tatsache geworden war und die Regierungen der imperialistischen Länder eine nach der anderen diese vollzogene Tatsache anerkannten, brandmarkte die Sowjetregierung in ihrer Note vom 18. März die Besetzung der Tschechoslowakei durch Hitlerdeutschland unter Beihilfe Englands und Frankreichs als einen Akt der Willkür, Gewalt und Aggression. In derselben Note betonte die Sowjetregierung, die Handlungsweise Deutschlands habe eine akute Gefahr für den allgemeinen Frieden geschaffen, sie habe „die politische Stabilität in Mitteleuropa verletzt, die Elemente der bereits vorher in Europa geschaffenen Unruhe verstärkt und die Völker in ihrem Sicherheitsgefühl erneut erschüttert.“[32]

Es blieb aber nicht bei der Preisgabe der Tschechoslowakei an Hitler. Die Regierungen Englands und Frankreichs unterzeichneten um die Wette weitgehende politische Abmachungen mit Hitlerdeutschland. Am 30. September 1938 unterzeichneten Chamberlain und Hitler in München eine Deklaration Englands und Deutschlands, in der es heißt:

„Wir haben heute eine weitere Besprechung gehabt und sind uns in der Erkenntnis einig, dass die Frage der deutsch-englischen Beziehungen von allererster Bedeutung für beide Länder und für Europa ist. Wir sehen das gestern Abend unterzeichnete Abkommen und das deutsch-englische Flottenabkommen als symbolisch für den Wunsch unserer beiden Völker an, niemals wieder gegeneinander Krieg zu führen. Wir sind entschlossen, auch andere Fragen, die unsere beiden Länder angehen, nach der Methode der Konsultation zu behandeln und uns weiter zu bemühen, etwaige Ursachen von Meinungsverschiedenheiten aus dem Wege zu räumen, um auf diese Weise zur Sicherung des Friedens Europas beizutragen.“[33]

Das war eine englisch-deutsche gegenseitige Nichtangriffsdeklaration.

Am 6. Dezember 1938 unterzeichneten Bonnet und Ribbentrop eine der englisch-deutschen ähnlichen französisch-deutsche Deklaration. In dieser Deklaration hieß es, die deutsche und die französische Regierung seien sich in der Erkenntnis einig, dass friedliche und gutnachbarliche Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Konsolidierung der Verhältnisse in Europa und für die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens seien und dass beide Regierungen alles daransetzen würden, um solche Beziehungen zwischen ihren Ländern aufrechtzuerhalten. In der Deklaration wurde konstatiert, dass es zwischen Frankreich und Deutschland keinerlei territoriale Streitfragen mehr gebe und dass die bestehende Grenze zwischen ihren Ländern endgültig sei. Zum Schluss heißt es in der Deklaration, beide Regierungen seien fest entschlossen, unbeschadet ihrer speziellen Beziehungen zu dritten Mächten in allen ihre Länder betreffenden Fragen miteinander Fühlung zu halten und für den Fall, dass diese Fragen in ihrer weiteren Entwicklung zu internationalen Komplikationen führen sollten, miteinander zu Rate zu gehen.

Dies war eine französisch-deutsche gegenseitige Nichtangriffsdeklaration.

Im Grunde hatten sowohl England als auch Frankreich durch den Abschluss dieser Vereinbarungen Nichtangriffspakte mit Hitler unterzeichnet.

In diesen Vereinbarungen mit Hitlerdeutschland tritt ganz klar das Bestreben der englischen und der französischen Regierung zutage, die Gefahr einer Hitleraggression von sich abzuwenden, in der Hoffnung, das Münchner und ähnliche Abkommen hätten der Hitleraggression bereits das Tor nach dem Osten, nach der Sowjetunion, geöffnet.

Auf diese Weise wurden die für eine „Einigung Europas ohne Rußland“ erforderlichen politischen Voraussetzungen geschaffen. Die Ereignisse trieben einer vollständigen Isolierung der Sowjetunion entgegen.

III. Die Isolierung der Sowjetunion — Der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt

Nach der Besetzung der Tschechoslowakei begann das faschistische Deutschland, sich ganz offen, vor den Augen der ganzen Welt, zum Kriege vorzubereiten. Von England und Frankreich ermuntert, ließ Hitler alle Rücksicht fallen und hörte auf, sich als Anhänger einer friedlichen Regelung der europäischen Probleme aufzuspielen. Die bewegtesten Monate der Vorkriegszeit brachen an. Schon damals war es klar, dass jeder Tag die Menschheit einer beispiellosen Kriegskatastrophe näherbrachte.

Wie war damals die Politik der Sowjetunion einerseits und die Politik Großbritanniens und Frankreichs andererseits beschaffen?

Der von den Geschichtsfälschern in den USA unternommene Versuch, einer Antwort auf diese Frage auszuweichen, zeugt lediglich von ihrem schlechten Gewissen.

Die Wahrheit ist die, dass England und Frankreich mit Unterstützung der regierenden US-Kreise auch in dem schicksalsschwangeren Frühjahr und Sommer 1939, als der Krieg vor der Tür stand, an ihrer früheren politischen Linie festhielten. Diese ihre Politik bestand in einer provokatorischen Aufhetzung Hitlerdeutschlands gegen die Sowjetunion, sie wurde zu betrügerischen Zwecken nicht nur mit pharisäischen Phrasen über die Bereitschaft, mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten, sondern auch mit mancherlei simplen diplomatischen Manövern verbrämt, durch die der wahre Charakter des gesteuerten politischen Kurses vor der öffentlichen Meinung der Völker verborgen werden sollte.

Zu diesen Manövern gehörten vor allem die Verhandlungen, die England und Frankreich 1939 mit der Sowjetunion anzubahnen beschlossen. Um die Öffentlichkeit zu täuschen, wollten die regierenden Kreise Englands und Frankreichs diese Verhandlungen als einen ernsthaften Versuch zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung der Hitleraggression hinstellen. Der spätere Gang der Ereignisse ließ jedoch ganz klar erkennen, dass England und Frankreich diese Verhandlungen von allem Anfang an nur als einen neuen Schachzug in ihrem Doppelspiel betrachteten.

Das war auch der Führung Hitlerdeutschlands klar, der der Sinn der von den Regierungen Englands und Frankreichs mit der Sowjetunion gepflogenen Verhandlungen selbstverständlich nicht verborgen blieb. Wie nämlich aus den von der Sowjetarmee bei der Niederwerfung Hitlerdeutschlands erbeuteten Dokumenten hervorgeht, schrieb zum Beispiel Dirksen, der deutsche Botschafter in London, über diese Verhandlungen in einem Bericht an das deutsche Auswärtige Amt am 3. August 1939:

„…hier war wohl das Gefühl vorherrschend, daß gegenüber einem wirklichen Ausgleich mit Deutschland die in den letzten Monaten ins Leben gerufenen Bindungen mit anderen Mächten nur Behelfsmittel seien, die hinfällig werden, wenn das allein wichtige und erstrebenswerte Ziel der Einigung mit Deutschland einmal wirklich erreicht sei.“

Diese Meinung wurde von allen deutschen Diplomaten, die die Situation in London beobachteten, entschieden geteilt. In einem anderen Geheimbericht nach Berlin schrieb Dirksen:

„England will sich durch Rüstungen und durch Bundesgenossen stark und der Achse ebenbürtig machen, aber es will gleichzeitig im Verhandlungsweg einen Ausgleich mit Deutschland suchen.“[34]

Die Verleumder und Geschichtsfälscher suchen diese Dokumente geheim zu halten, da diese die Situation in den letzten Vorkriegsmonaten schlaglichtartig beleuchten. Ohne eine richtige Beurteilung dieser Situation aber ist es unmöglich, die Vorgeschichte des Krieges, wie sie wirklich war, zu verstehen. Als England und Frankreich Verhandlungen mit der Sowjetunion anbahnten und Polen, Rumänien und einigen anderen Staaten Garantien gewährten, spielten sie mit Unterstützung der regierenden US-Kreise ein Doppelspiel, das auf eine Verständigung mit Hitlerdeutschland berechnet war, um dessen Aggression nach Osten, gegen die Sowjetunion zu lenken. Die Verhandlungen zwischen England und Frankreich einerseits und der Sowjetunion andererseits begannen im März 1939 und dauerten etwa vier Monate.

Wie der gesamte Verlauf dieser Verhandlungen mit aller Klarheit zeigte, strebte die Sowjetunion ein umfassendes und auf Gleichberechtigung fußendes Abkommen mit den Westmächten an, das Deutschland wenigstens noch im letzten Moment von der Entfesselung eines Krieges in Europa abhalten konnte, während die Regierungen Englands und Frankreichs, gestützt auf die Hilfe, die sie in den USA fanden, sich völlig andere Ziele steckten. Die regierenden Kreise Englands und Frankreichs, die es gewohnt sind, sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, bemühten sich auch diesmal, der Sowjetunion Verpflichtungen aufzuzwingen, die der UdSSR bei der Abwehr einer eventuellen Hitleraggression die ganze Bürde der Opfer aufgehalst hätten, während England und Frankreich sich durch keinerlei Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion gebunden hätten.

Wäre den Machthabern Englands und Frankreichs dieses Manöver geglückt, dann wären sie der Verwirklichung ihres Hauptziels, Deutschland und die Sowjetunion möglichst rasch zu einem Zusammenstoß zu treiben, ein gut Stück nähergekommen. Die Sowjetregierung durchschaute aber diese Absicht. Sie stellte in allen Phasen der Verhandlungen den diplomatischen Tricks und Winkelzügen der Westmächte ihre offenen und klaren Vorschläge gegenüber, die nur einem einzigen Ziel dienen sollten, nämlich dem Schutz des Friedens in Europa.

Es erübrigt sich, an alle Wechselfälle dieser Verhandlungen zu erinnern. Nur einige ganz wichtige Momente müssen wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Es genügt, auf die Bedingungen zurückzukommen, die die Sowjetregierung in diesen Verhandlungen stellte: Abschluss eines effektiven Paktes über gegenseitige Hilfe gegen die Aggression zwischen England, Frankreich und der UdSSR; Garantien Englands, Frankreichs und der Sowjetunion für die Staaten Zentral- und Osteuropas, einschließlich sämtlicher europäischer Nachbarstaaten der UdSSR; Abschluss eines konkreten Militärabkommens zwischen England, Frankreich und der UdSSR über Formen und Ausmaße einer unverzüglichen und wirksamen Hilfe, die im Falle des Überfalls von Aggressoren gegenseitig sowie den eine Garantie erhaltenden Staaten zu leisten ist.[35]

Auf der dritten Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR am 31. Mai 1939 führte W. M. Molotow aus, dass einige während dieser Verhandlungen gemachte englisch-französische Vorschläge das elementare Prinzip der Gegenseitigkeit und gleicher Verpflichtungen vermissen lassen, das für alle auf Gleichberechtigung fußenden Vereinbarungen unerlässlich ist.

„Die Engländer und Franzosen“, sagte W. M. Molotow, „die sich gegen einen direkten Angriff der Aggressoren durch Pakte über gegenseitige Hilfe untereinander und mit Polen Garantien verschafften und sich die Hilfe der UdSSR im Falle eines Angriffs der Aggressoren auf Polen und Rumänien zu sichern suchten, ließen die Frage offen, ob die UdSSR ihrerseits auf die Hilfe dieser Länder im Falle eines direkten Angriffs der Aggressoren auf die UdSSR rechnen könne, wie sie auch die andere Frage offenließen, ob sie bereit seien, an der Garantierung der an die UdSSR angrenzenden, im Nordwesten der Sowjetunion gelegenen kleinen Staaten teilzunehmen, wenn diese nicht in der Lage sein sollten, ihre Neutralität gegen den Überfall der Aggressoren zu behaupten. Es ergab sich somit eine benachteiligte Lage für die UdSSR.“

Selbst als die Vertreter Englands und Frankreichs vorgaben, sich für den Fall eines direkten Angriffs des Aggressors mit dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe Englands, Frankreichs und der UdSSR unter der Bedingung der Gegenseitigkeit einverstanden erklären zu wollen, knüpften sie daran eine Reihe von Vorbehalten, die diese Zustimmung illusorisch machten. Außerdem sahen die Vorschläge Englands und Frankreichs die Hilfe der UdSSR für diejenigen Länder vor, denen sie Garantieversprechungen gegeben hatten, sie ließen jedoch nichts über ihre eigene Hilfe für die Länder an der Nordwestgrenze der UdSSR, die baltischen Staaten, bei einem Überfall des Aggressors verlauten. Von diesen Erwägungen ausgehend, erklärte W. M. Molotow, die Sowjetunion könne keine Verpflichtungen hinsichtlich einer Gruppe von Ländern übernehmen, ohne dass den Ländern an der Nordwestgrenze der Sowjetunion dieselben Garantien gegeben werden.

Es sei noch an folgendes erinnert: Als Seeds, der britische Botschafter in Moskau, am 18. März 1939 beim Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten anfragte, wie sich die Sowjetunion im Falle einer Hitleraggression gegen Rumänien verhalten werde, über deren Vorbereitung den Engländern Meldungen vorlagen, und als die Sowjetunion die Gegenfrage stellte, was England unter solchen Umständen zu tun gedenke, wich Seeds einer Antwort aus und bemerkte, geographisch gesehen läge Rumänien der Sowjetunion näher als England. Vom ersten Schritt an trat also ganz klar das Bestreben der regierenden Kreise Englands zutage, die Sowjetunion durch bestimmte Verpflichtungen zu binden, sich selbst aber abseits zu halten. Diese simple Methode wurde dann während der ganzen Verhandlungen systematisch immer wieder angewandt. In Beantwortung der britischen Anfrage schlug die Sowjetregierung vor, eine Beratung von Vertretern der meistinteressierten Länder — nämlich Großbritanniens, Frankreichs, Rumäniens, Polens, der Türkei und der Sowjetunion — einzuberufen. Nach Ansicht der Sowjetregierung hätte eine solche Beratung die besten Möglichkeiten geboten, die wirkliche Sachlage zu klären und den Standpunkt aller Beteiligten festzustellen. Die britische Regierung antwortete jedoch, sie halte den Sowjetvorschlag für verfrüht.

Statt eine Konferenz einzuberufen, die es ermöglicht hätte, sich über konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Aggression zu einigen, schlug die britische Regierung der Sowjetregierung am 21. März 1939 vor, gemeinsam mit ihr sowie mit Frankreich und Polen eine Deklaration zu unterzeichnen, in der sich die Signatarregierungen verpflichten sollten, „einander darüber zu konsultieren, welche Schritte unternommen werden sollten, um gemeinsamen Widerstand zu leisten“ im Falle einer Gefahr für die „Unabhängigkeit irgendeines europäischen Staates“. Der britische Botschafter suchte die Annehmbarkeit seines Vorschlags nachzuweisen und legte besonderen Nachdruck auf den Umstand, dass die Deklaration recht unverbindlich formuliert sei. Es war völlig klar, dass eine solche Deklaration nicht als ernsthaftes Mittel zur Bekämpfung der von Seiten des Aggressors drohenden Gefahr dienen konnte. Die Sowjetregierung war jedoch der Meinung, selbst eine so wenig versprechende Deklaration könne einen gewissen Fortschritt in der Zügelung des Aggressors darstellen, und erklärte sich mit dem englischen Vorschlag einverstanden. Aber schon am 1. April 1939 teilte der britische Botschafter in Moskau mit, England sei der Meinung, dass eine gemeinsame Deklaration nicht mehr in Frage komme. Nach weiteren zweiwöchigen Verzögerungen machte der britische Außenminister Halifax der Sowjetregierung durch den Botschafter in Moskau den neuen Vorschlag, die Sowjetregierung solle erklären, dass

„im Falle eines Aggressionsaktes gegen irgendeinen europäischen Nachbar der Sowjetunion, der Widerstand leisten würde, auf den Beistand der Sowjetregierung, falls er erwünscht sein sollte, gerechnet werden könne“.

Der Kernpunkt dieses Vorschlags war, dass die Sowjetunion im Falle eines deutschen Aggressionsaktes gegen Lettland, Litauen, Estland und Finnland verpflichtet sein sollte, diesen Ländern Hilfe zu leisten, ohne dass England irgendwelche Beistandsverpflichtungen übernahm, das heißt, die Sowjetunion sollte sich allein in einen Krieg mit Deutschland einlassen. Was Polen und Rumänien betrifft, denen England Garantien gegeben hatte, so sollte die Sowjetunion auch ihnen gegen den Aggressor Hilfe leisten. Aber auch in diesem Falle wollte England keinerlei Verpflichtungen gemeinsam mit der Sowjetunion übernehmen, es behielt sich freie Hand vor und sicherte sich einen Spielraum für beliebige Manöver, ganz zu schweigen davon, dass Polen und Rumänien sowie die baltischen Randstaaten diesem Vorschlag zufolge keinerlei Verpflichtungen gegenüber der UdSSR übernehmen sollten.

Die Sowjetregierung wollte jedoch keine einzige Möglichkeit ungenutzt lassen, um eine Vereinbarung mit anderen Mächten über den gemeinsamen Kampf gegen eine Hitleraggression zu erzielen. Ohne die geringste Verzögerung machte sie der britischen Regierung einen Gegenvorschlag. Dieser Gegenvorschlag bestand darin, dass die Sowjetunion, England und Frankreich sich erstens gegenseitig verpflichten sollten, einander unverzüglich jeden, auch militärischen, Beistand zu leisten, falls gegen einen dieser Staaten eine Aggression unternommen wird; dass die Sowjetunion, England und Frankreich sich zweitens verpflichten sollten, den zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer gelegenen, an die Sowjetunion grenzenden Staaten Osteuropas im Falle einer Aggression gegen diese Staaten jeden, auch militärischen, Beistand zu leisten. Schließlich und drittens sollten die Sowjetunion, England und Frankreich sich verpflichten, in kurzer Frist Ausmaße und Formen des militärischen Beistands festzulegen, die jedem dieser Staaten in den beiden erwähnten Fällen zu leisten wären.

Das waren die wichtigsten Punkte des Sowjetvorschlags. Man erkennt unschwer den grundlegenden Unterschied zwischen dem Vorschlag der Sowjetunion und demjenigen Großbritanniens, da ja der Sowjetvorschlag tatsächlich wirksame Maßnahmen zum gemeinsamen Vorgehen gegen die Aggression enthielt.

Im Verlauf von drei Wochen traf keinerlei Antwort der englischen Regierung auf diese Vorschläge ein. Da dies in England zunehmende Beunruhigung hervorrief, sah die englische Regierung sich schließlich genötigt, ein neues Manöver zur Täuschung der Öffentlichkeit zu ersinnen. 

Am 8. Mai traf in Moskau die britische Antwort, genauer gesagt, der britische Gegenvorschlag ein. Wieder wurde der Sowjetregierung vorgeschlagen, eine einseitige Erklärung abzugeben, in der sie

„die Verpflichtung übernehmen würde, dass im Falle von Feindseligkeiten Großbritanniens und Frankreichs, die sich aus der Erfüllung dieser Verpflichtung“ (gegenüber Belgien, Polen, Rumänien, Griechenland und der Türkei) „ergibt, der Beistand der Sowjetregierung, falls erwünscht, unverzüglich greifbar sein und in evtl. zu vereinbarender Weise bzw. unter evtl. zu vereinbarenden Bedingungen gewährt werden würde“.

Auch in diesem Vorschlag handelt es sich um einseitige Verpflichtungen der Sowjetunion. Sie sollte sich zur Hilfeleistung an England und Frankreich verpflichten, die ihrerseits der Sowjetunion gegenüber absolut keinerlei Verpflichtungen im Hinblick auf die baltischen Republiken übernahmen. England schlug somit vor, die Sowjetunion in eine benachteiligte Lage zu versetzen, wie sie für jeden unabhängigen Staat unannehmbar und untragbar ist. Es ist leicht zu begreifen, dass der englische Vorschlag nicht so sehr für Moskau wie für Berlin bestimmt war. Man forderte Deutschland auf, die Sowjetunion zu überfallen, und gab zu verstehen, dass England und Frankreich neutral bleiben würden, vorausgesetzt, dass der deutsche Überfall über das Baltikum erfolgt.

Noch komplizierter wurden die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion, England und Frankreich am 11. Mai durch die Erklärung Grzibowskis, des polnischen Botschafters in Moskau, dass „Polen es nicht für möglich hält, mit der UdSSR einen Beistandspakt abzuschließen…“

Selbstverständlich konnte der Vertreter Polens eine solche Erklärung nur mit Wissen und Billigung der regierenden Kreise Englands und Frankreichs abgeben. Die Vertreter Englands und Frankreichs führten sich während der Verhandlungen in Moskau derart provokatorisch auf, dass sich selbst im regierenden Lager der Westmächte Leute fanden, die ein so plumpes Spiel scharf kritisierten. So schrieb Lloyd George im Sommer 1939 in der französischen Zeitung „Ce Soir“ einen schroffen Artikel gegen die Leiter der englischen Politik. Hinsichtlich der Ursachen der endlosen Scherereien, in denen die Verhandlungen Englands und Frankreichs mit der Sowjetunion versackt waren, schrieb Lloyd George, hier gebe es nur die Feststellung:

„Neville Chamberlain, Halifax und John Simon wünschen kein Übereinkommen mit Rußland.“

Was Lloyd George klar war, das war selbstverständlich den Führern Hitlerdeutschlands nicht minder klar, die sehr wohl begriffen, dass die Westmächte an eine ernsthafte Übereinkunft mit der Sowjetunion gar nicht dachten, sondern ein ganz anderes Ziel verfolgten, nämlich Hitler zum baldigsten Überfall auf die Sowjetunion anzutreiben. Man setzte ihm gewissermaßen einen Preis für diesen Angriff aus, indem man für den Fall eines Krieges mit Deutschland die Sowjetunion in die ungünstigste Lage versetzte. Zudem zogen die Westmächte die Verhandlungen mit der Sowjetunion endlos in die Länge und suchten die wesentlichen Fragen in einem Sumpf belangloser Zusatzanträge und zahlloser Varianten untergehen zu lassen. Jedes Mal, wenn von irgendwelchen realen Verpflichtungen die Rede war, gaben sich die Vertreter dieser Mächte den Anschein, als ob sie nicht begriffen, worum es sich handele.

Ende Mai machten England und Frankreich neue Vorschläge, die die frühere Variante in einigen Beziehungen verbesserten, aber die für die Sowjetunion wesentlich wichtige Frage einer Garantie für die drei an der Nordwestgrenze der Sowjetunion liegenden baltischen Republiken nach wie vor offenließen. Somit setzten die Machthaber Englands und Frankreichs, obgleich sie unter dem Druck der öffentlichen Meinung ihrer Länder in Worten gewisse Konzessionen machten, ihre frühere Linie fort und knüpften an ihre Vorschläge Vorbehalte, die diese Vorschläge, wie sie sehr wohl wussten, für die Sowjetunion unannehmbar machten.

Die Haltung der Vertreter Englands und Frankreichs während der Moskauer Verhandlungen war so ungeziemend, dass W. M. Molotow am 27. Mai 1939 dem britischen Botschafter Seeds und dem französischen Geschäftsträger Payart erklären musste, der von ihnen vorgelegte Entwurf eines Abkommens über gemeinsamen Widerstand gegen den Aggressor in Europa enthalte keinen Plan eines effektiven gegenseitigen Beistands der UdSSR, Englands und Frankreichs und zeuge nicht einmal von ernster Interessiertheit der britischen und der französischen Regierung an einem entsprechenden Pakt mit der Sowjetunion. Hierbei wurde geradeheraus gesagt, der englisch-französische Vorschlag lege den Gedanken nahe, dass den Regierungen Englands und Frankreichs weniger an einem Pakt selbst gelegen sei als vielmehr an Gesprächen über ihn. Es sei möglich, dass England und Frankreich diese Gespräche für irgendwelche Zwecke nötig hätten. Der Sowjetregierung seien diese Zwecke unbekannt. Die Sowjetregierung sei nicht an Gesprächen über einen Pakt interessiert, sondern am Zustandekommen eines wirksamen gegenseitigen Beistands der UdSSR, Englands und Frankreichs gegen eine Aggression in Europa. Die Vertreter Englands und Frankreichs wurden darauf aufmerksam gemacht, dass die Sowjetregierung nicht die Absicht habe, sich an Gesprächen über einen Pakt zu beteiligen, deren Zweck die UdSSR nicht kenne, und dass die britische und die französische Regierung solche Gespräche mit Partnern führen könnten, die sich hierzu besser eignen als die UdSSR.

Die Moskauer Verhandlungen zogen sich endlos hin. Die Ursachen dieser unstatthaften Verschleppung der Verhandlungen wurden in der Londoner „Times“ ausgeplaudert, in der geschrieben stand:

„Ein rasch und entschlossen zustande kommendes Bündnis mit Rußland könnte anderen Verhandlungen hinderlich sein…“[36]

Wenn die „Times“ von „anderen Verhandlungen“ sprach, so hatte sie offenbar die Verhandlungen im Auge, die der britische Überseehandelsminister Robert Hudson mit Dr. Helmut Wohlthat, einem Wirtschaftsberater Hitlers, über die Möglichkeit einer sehr großen englischen Anleihe an Hitlerdeutschland führte, von der noch die Rede sein wird. 

Außerdem führte bekanntlich, einer Pressemeldung zufolge, an dem Tage, als die Hitlerwehrmacht in Prag einmarschierte, eine Delegation der Federation of British Industries (Vereinigung der britischen Industrien) in Düsseldorf Verhandlungen über den Abschluss eines weitgehenden Abkommens mit der deutschen Großindustrie. 

Auffällig war auch der Umstand, dass Großbritannien mit der Führung von Verhandlungen in Moskau zweitrangige Personen beauftragte, wohingegen zu den Verhandlungen mit Hitler Chamberlain selbst, und das mehrmals, von England nach Deutschland gereist war. Wichtig ist weiter die Feststellung, dass Sir William Strang, der von England zu Verhandlungen nach der UdSSR geschickt worden war, keine Vollmacht besaß, irgendein Abkommen mit der Sowjetunion zu unterzeichnen.

Da die Sowjetunion verlangte, dass zu konkreten Verhandlungen über Kampfmaßnahmen gegen einen eventuellen Aggressor übergegangen werde, mussten die Regierungen Englands und Frankreichs sich bereit erklären, Militärmissionen nach Moskau zu entsenden. Diese Missionen waren jedoch ungewöhnlich lange nach Moskau unterwegs, und als sie eintrafen, da zeigte es sich, dass sie aus zweitrangigen Personen bestanden, die überdies nicht die Vollmacht besaßen, irgendein Abkommen zu unterzeichnen. Unter diesen Umständen waren die militärischen Verhandlungen ebenso fruchtlos wie die politischen. Die Militärmissionen der Westmächte gaben sofort zu erkennen, dass sie nicht gewillt waren, ernsthaft über Mittel und Wege eines gegenseitigen Beistands im Falle einer deutschen Aggression zu sprechen. Die sowjetische Militärmission ging davon aus, dass die UdSSR, da sie keine gemeinsame Grenze mit Deutschland besaß, England, Frankreich und Polen im Falle eines Kriegsausbruchs nur unter der Voraussetzung beistehen könne, dass den Sowjettruppen der Durchmarsch durch polnisches Territorium gestattet werde. Die polnische Regierung erklärte jedoch, sie werde eine militärische Hilfe der Sowjetunion nicht annehmen, und zeigte damit, dass sie eine Stärkung der Sowjetunion mehr fürchtete als die Hitleraggression. Polens Stellungnahme wurde sowohl von der englischen als auch von der französischen Mission unterstützt.

Im Verlauf der militärischen Unterhandlungen wurde ferner die Frage der zahlenmäßigen Stärke der Streitkräfte aufgeworfen, die von den Paktteilnehmern im Falle einer Aggression sofort eingesetzt werden sollten. Die Engländer nannten hierbei eine lächerliche Zahl: sie erklärten, dass sie fünf Infanteriedivisionen und eine mechanisierte Division ins Feld stellen könnten. Und diesen Vorschlag machten die Engländer in einem Augenblick, wo die Sowjetunion sich bereit erklärte, an der Front gegen den Aggressor 136 Divisionen, 5000 mittlere und schwere Geschütze, an die 10 000 Panzer und Kleinkampfwagen, mehr als 5000 Kampfflugzeuge usw. einzusetzen! Hieraus ersieht man, wie wenig die englische Regierung die Verhandlungen über den Abschluss eines militärischen Abkommens mit der UdSSR ernst nahm.

Die vorstehenden Angaben genügen, um die Schlussfolgerungen zu bestätigen, die sich von selbst ergeben. Sie lauten:

Die Sowjetregierung war während der ganzen Verhandlungen mit außerordentlicher Geduld bemüht, ein Übereinkommen mit England und Frankreich über gegenseitigen Beistand gegen den Aggressor auf Grundlage der Gleichberechtigung zustande zu bringen, und zwar unter der Bedingung, dass der gegenseitige Beistand wirklich effektiv sei, das heißt, dass neben einem politischen Vertrag eine Militärkonvention unterzeichnet werde, in der die Ausmaße, Formen und Fristen des Beistands festgelegt werden, weil der gesamte vorherige Gang der Ereignisse genügend klar gezeigt hatte, dass nur ein solches Abkommen effektiv sein könnte und geeignet wäre, den hitlerfaschistischen Aggressor, der durch seine völlige Straflosigkeit und durch die Vorschubleistung der Westmächte viele Jahre lang verwöhnt worden war, zur Vernunft zu bringen;

die Haltung Englands und Frankreichs während der Verhandlungen mit der Sowjetunion bestätigte restlos, dass sie an ein ernstes Abkommen mit der UdSSR gar nicht dachten, da die Politik Englands und Frankreichs durch andere Ziele bestimmt war, die mit den Interessen des Friedens und des Kampfes gegen Aggression nichts gemein hatten;

die heimtückische Absicht der englisch-französischen Politik bestand darin, Hitler zu verstehen zu geben, die UdSSR habe keine Verbündeten, die UdSSR sei isoliert, Hitler könne die UdSSR überfallen, ohne zu riskieren, bei England und Frankreich auf Widerstand zu stoßen.

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die britisch-französisch-sowjetischen Verhandlungen mit einem Fiasko endeten. Dieses Fiasko war natürlich kein Zufall. Es wurde immer offensichtlicher, dass die Vertreter der Westmächte in ihrem Doppelspiel von vornherein das Scheitern der Verhandlungen beabsichtigt hatten. Die Sache war die, dass neben den offen geführten Verhandlungen mit der UdSSR die Engländer hinter den Kulissen Verhandlungen mit Deutschland pflogen und diesen Verhandlungen unvergleichlich größere Bedeutung beimaßen. 

Während die regierenden Kreise der Westmächte mit ihren Verhandlungen in Moskau vor allem danach strebten, die Öffentlichkeit ihrer Länder in Sicherheit zu wiegen und die Völker, die in den Krieg geschleift wurden, zu täuschen, waren die Verhandlungen mit den Hitlerfaschisten ganz anders geartet.

Das Programm der englisch-deutschen Verhandlungen war hinreichend klar formuliert worden durch den britischen Außenminister Halifax, der zu einer Zeit, wo seine Beamten die Verhandlungen in Moskau fortsetzten, an Hitlerdeutschland unzweideutige Aufforderungen richtete. Am 29. Juni 1939, in seiner Rede auf einem Bankett im Royal Institute of International Affairs, sprach Halifax die Bereitschaft aus, sich mit Deutschland über alle Fragen, „die heutzutage der Welt Besorgnis einflößten“, zu verständigen. Er sagte:

„In einer solchen neuen Atmosphäre könnten wir das Kolonialproblem, die Frage der Rohstoffe, der Handelsschranken, die Bereitstellung von ‚Lebensraum‘, die Einschränkung der Rüstungen und viele andere die Europäer betreffenden Streitfragen erörtern.“[37]

Erinnert man sich, wie die Halifax nahestehende konservative „Daily Mail“ schon 1933 das Problem des „Lebensraums“ behandelt hatte, als sie den Hitlerfaschisten vorschlug, der UdSSR „Lebensraum“ zu entreißen, so bleibt nicht der geringste Zweifel über den wirklichen Sinn der Halifaxschen Erklärung bestehen. Es war der offene Vorschlag an Hitlerdeutschland, sich über die Aufteilung der Welt und der Einflusssphären zu verständigen, der Vorschlag, alle Fragen ohne die Sowjetunion und hauptsächlich auf Kosten der Sowjetunion zu lösen. Noch im Juni 1939 begannen Vertreter Englands streng geheime Verhandlungen mit Deutschland, vertreten durch Wohlthat, den in London eingetroffenen Bevollmächtigten Hitlers für den Vierjahresplan; der britische Überseehandelsminister Hudson und der nächste Berater Chamberlains, G. Wilson, hatten mit ihm Unterredungen. Der Inhalt dieser Juniverhandlungen ist vorläufig noch in den Geheimfächern der diplomatischen Archive begraben. Im Juli jedoch machte Wohlthat in London einen neuen Besuch, und die Verhandlungen wurden wieder aufgenommen. Der Inhalt dieser zweiten Verhandlungsrunde ist jetzt bekannt aus den der Sowjetregierung zur Verfügung stehenden erbeuteten deutschen Dokumenten, die bald veröffentlicht werden sollen.

Hudson und Wilson machten Wohlthat und später auch dem deutschen Botschafter in London, Dirksen, den Vorschlag, geheime Verhandlungen über ein weitgehendes Abkommen einzuleiten, das auch Vereinbarungen über die Aufteilung der Einflusssphären in der ganzen Welt und über die Ausschaltung der Möglichkeit, sich „auf den gemeinschaftlichen Märkten totzukonkurrieren“, enthalten würde. Hierbei wurde vorgesehen, Deutschland den vorherrschenden Einfluss in Südosteuropa zuzugestehen. Dirksen teilte dem deutschen Auswärtigen Amt in seinem Bericht vom 21. Juni 1939 mit, dass von Wohlthat und Wilson erörterte Programm sich auf politische, militärische und wirtschaftliche Leitsätze erstrecke. Unter den politischen Fragen wurde neben einem Nichtangriffspakt auch einem Nichteinmischungspakt besondere Beachtung geschenkt, der die „Abgrenzung der Großräume der Hauptmächte, insbesondere also Englands und Deutschlands, in sich schließen solle“.[38]

Bei Besprechung der mit dem Abschluss dieser beiden Pakte zusammenhängenden Fragen versprachen die Vertreter Großbritanniens, ihre Regierung werde, falls diese Pakte unterzeichnet werden, die soeben Polen gewährten Garantien zurückziehen. Falls das englisch-deutsche Abkommen abgeschlossen werden sollte, seien die Engländer bereit, es den Deutschen zu überlassen, die Danziger Frage ebenso wie die Frage des Polnischen Korridors allein mit Polen zu entscheiden, und wollten sich verpflichten, in die Lösung dieser Frage nicht einzugreifen. Weiter bestätigte Wilson, wie aus den in Kürze zu veröffentlichenden Berichten Dirksens ebenfalls dokumentarisch hervorgeht, dass mit der englischen Garantiepolitik, falls die obengenannten Pakte zwischen England und Deutschland zum Abschluss kämen, faktisch Schluss gemacht werden würde. Dirksen bemerkte zu dieser Frage in seinem Bericht:

„Dann wäre Polen gewissermaßen mit Deutschland allein gelassen.“

Alles das bedeutete, dass die Machthaber Englands bereit waren, Polen von Hitler zerfleischen zu lassen, als auf dem Schriftstück mit den britischen Garantien für Polen die Tinte noch nicht getrocknet war.

Gleichzeitig wäre mit dem Abschluss des englisch-deutschen Abkommens das Ziel erreicht worden, das England und Frankreich sich gesteckt hatten, als sie Verhandlungen mit der Sowjetunion begannen, und es wäre noch leichter geworden, schnell einen Zusammenstoß zwischen Deutschland und der UdSSR herbeizuführen. Schließlich sollte das politische Abkommen zwischen England und Deutschland durch ein Wirtschaftsabkommen ergänzt werden, das eine geheime Abmachung über Kolonialfragen, die Verteilung der Rohstoffe, die Aufteilung der Märkte sowie eine große englische Anleihe für Deutschland enthalten sollte.

Den Machthabern Englands schwebte somit die lockende Aussicht vor, zu einem dauerhaften Abkommen mit Deutschland zu gelangen und die deutsche Aggression, wie man gern sagte, nach Osten zu „kanalisieren“, gegen Polen, das von ihnen soeben „Garantien“ erhalten hatte, und gegen die Sowjetunion.

Ist es danach verwunderlich, dass die Verleumder und Geschichtsfälscher diese Tatsachen sorgfältig verschweigen und zu unterschlagen suchen, Tatsachen, die von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Situation sind, in der somit der Krieg unausbleiblich wurde?

Zu dieser Zeit konnte nicht mehr daran gezweifelt werden, dass England und Frankreich nicht nur keine ernste Absicht hatten, irgendetwas zu unternehmen, um Hitlerdeutschland an der Entfesselung des Krieges zu hindern, sondern dass sie, im Gegenteil, alles taten, was in ihren Kräften stand, um durch geheime Verabredungen und Abmachungen und durch alle möglichen Provokationen Hitlerdeutschland auf die Sowjetunion zu hetzen.

Es wird keinem Falschmünzer gelingen, sei es in der Geschichte, sei es im Bewusstsein der Völker, die entscheidende Tatsache zu verdunkeln, dass die Sowjetunion unter diesen Umständen die Wahl hatte:

entweder zum Zwecke des Selbstschutzes den von Deutschland vorgeschlagenen Abschluss eines Nichtangriffsvertrags anzunehmen und dadurch der Sowjetunion noch für eine bestimmte Zeit den Frieden zu sichern, der vom Sowjetstaat für eine bessere Vorbereitung seiner Kräfte zur Abwehr eines eventuellen Aggressorenüberfalls ausgenutzt werden konnte,

oder den von Deutschland vorgeschlagenen Nichtangriffspakt abzulehnen und es dadurch den Kriegsprovokateuren aus dem Lager der Westmächte zu ermöglichen, die Sowjetunion sofort, in einer für sie unvorteilhaften Situation, in der sie völlig isoliert gewesen wäre, in einen bewaffneten Konflikt mit Deutschland hineinzuhetzen.

In dieser Situation sah sich die Sowjetregierung gezwungen, ihre Wahl zu treffen und einen Nichtangriffspakt mit Deutschland abzuschließen. Diese Wahl war in der damals entstandenen Situation ein umsichtiger und kluger Schritt der sowjetischen Außenpolitik. Dieser Schritt der Sowjetregierung entschied von vornherein in hohem Maße über den für die Sowjetunion und alle anderen freiheitliebenden Völker günstigen Ausgang des zweiten Weltkrieges.

Es wäre eine grobe Verleumdung, wenn man behaupten wollte, dass der Abschluss eines Paktes mit den Hitlerfaschisten zum außenpolitischen Plan der UdSSR gehört hat. Im Gegenteil, die UdSSR war dauernd bestrebt gewesen, zu einem Abkommen mit den nichtaggressiven Weststaaten gegen die deutschen und italienischen Aggressoren zu gelangen, um auf der Grundlage der Gleichheit die kollektive Sicherheit zu verwirklichen. Ein Abkommen aber ist ein Akt der Gegenseitigkeit. Während die UdSSR ein Abkommen über die Bekämpfung der Aggression anstrebte, lehnten England und Frankreich ein solches systematisch ab, da sie es vorzogen, eine Politik der Isolierung der UdSSR, eine Politik der Konzessionen an die Aggressoren, eine Politik der Ablenkung der Aggression nach dem Osten, gegen die Sowjetunion, zu treiben. Die Vereinigten Staaten von Amerika unterließen es nicht nur, einer solchen verhängnisvollen Politik entgegenzuwirken, sondern ließen ihr, im Gegenteil, jede Unterstützung angedeihen. Was die amerikanischen Milliardäre anbelangt, so legten sie auch weiter ihre Kapitalien in der deutschen Schwerindustrie an, halfen den Deutschen bei der Entwicklung ihrer Rüstungsindustrie und bewaffneten somit die deutschen Aggressoren, als ob sie sagen wollten: „Führt nur getrost Krieg, ihr Herren Europäer, führt Krieg mit Gottes Hilfe, indessen wir bescheidenen amerikanischen Milliardäre an eurem Krieg verdienen und Hunderte Millionen Dollar Extraprofit einstecken.“

Man begreift, dass der Sowjetunion angesichts einer solchen Sachlage in Europa nur der eine Ausweg blieb, den von den Deutschen vorgeschlagenen Pakt zu akzeptieren. Dies war von allen denkbaren Auswegen immerhin der beste. Wie die Sowjetunion 1918 infolge der feindseligen Politik der Westmächte gezwungen war, mit den Deutschen den Frieden von Brest-Litowsk abzuschließen, so sah sich die Sowjetunion genauso diesmal, im Jahre 1939, zwanzig Jahre nach dem Brester Frieden gezwungen, angesichts der gleichen feindseligen Politik Englands und Frankreichs einen Pakt mit den Deutschen abzuschließen.

Das Gerede aller möglichen Verleumder, die UdSSR hätte es sich trotzdem nicht erlauben dürfen, auf einen Pakt mit den Deutschen einzugehen, kann nur als lächerlich bezeichnet werden. Weshalb durfte Polen, das England und Frankreich zu Verbündeten hatte, 1934 mit den Deutschen einen Nichtangriffspakt abschließen, während die Sowjetunion, die sich in einer weniger günstigen Lage befand, 1939 einen solchen Pakt nicht abschließen durfte? Weshalb durften England und Frankreich, die den herrschenden Machtfaktor in Europa darstellten, 1938 gemeinsam mit den Deutschen eine Nichtangriffsdeklaration unterzeichnen, während die Sowjetunion, die infolge der feindseligen Politik Englands und Frankreichs isoliert war, sich auf einen Pakt mit den Deutschen nicht einlassen durfte?

Ist es denn nicht Tatsache, dass die Sowjetunion unter allen nichtaggressiven Großmächten Europas die letzte war, die sich zu einem Pakt mit den Deutschen bereit erklärte?

Gewiss, Geschichtsfälscher und sonstige Reaktionäre sind unzufrieden damit, dass es der Sowjetunion gelang, den sowjetisch-deutschen Pakt geschickt zum Ausbau ihrer Landesverteidigung auszunutzen, dass es ihr gelang, ihre Grenzen weit nach Westen vorzuverlegen und dem unbehinderten Vormarsch der deutschen Aggressoren nach Osten den Weg zu versperren, dass die Hitlertruppen ihre Offensive nach Osten nicht von der Linie Narwa—Minsk—Kiew beginnen konnten, sondern von einer Hunderte Kilometer weiter westlich gelegenen Linie, dass die UdSSR im Vaterländischen Krieg nicht verblutete, sondern aus dem Kriege als Sieger hervorging. Aber diese Unzufriedenheit gehört bereits in das Kapitel der ohnmächtigen Wut gescheiterter Politiker. Die wutschnaubende Unzufriedenheit dieser Herren kann nur als eine Demonstration der unbestreitbaren Tatsache aufgefasst werden, dass die Politik der Sowjetunion eine richtige Politik war und bleibt.

IV. Die Schaffung der ,,Ost“-Front, der Überfall Deutschlands auf die UdSSR, die Antihitlerkoalition und die Frage der interalliierten Verpflichtungen

Als die Sowjetunion im August 1939 den sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt abschloss, zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass Hitler über kurz oder lang die UdSSR überfallen werde. Diese Überzeugung erwuchs der Sowjetunion aus der politischen und militärischen Grundeinstellung der Hitlerfaschisten. Die praktische Tätigkeit der Hitlerregierung in der gesamten Vorkriegsperiode bestätigte diese Gewissheit.

Daher bestand die erste Aufgabe der Sowjetregierung darin, eine „Ostfront“ gegen die Hitleraggression zu schaffen, eine Verteidigungslinie an den westlichen Grenzen Bjelorußlands und der Ukraine anzulegen und auf diese Weise eine Barriere gegen den ungehinderten Vormarsch der deutschen Truppen nach dem Osten zu errichten. Zu diesem Zwecke war es notwendig, das westliche Bjelorußland und die westliche Ukraine, die von dem Polen der Barone 1920 annektiert worden waren, wieder mit Sowjetbjelorußland und der Sowjetukraine zu vereinigen und Sowjettruppen dorthin zu legen. Damit durfte nicht gezögert werden, denn die schlecht ausgerüsteten polnischen Truppen erwiesen sich als widerstandsunfähig, die polnische Armeeführung und die polnische Regierung befanden sich bereits auf der Flucht; und da die Hitlertruppen keinem ernsten Widerstand begegneten, hätten sie die bjelorussischen und ukrainischen Gebiete besetzen können, bevor noch die Sowjettruppen dort angelangt wären.

Am 17. September 1939 überschritten Sowjettruppen auf Befehl der Sowjetregierung die sowjetisch-polnische Vorkriegsgrenze, besetzten das westliche Bjelorußland und die westliche Ukraine und begannen dort mit dem Bau von Verteidigungsstellungen

längs der Westgrenze der ukrainischen und bjelorussischen Gebiete. Diese Linie war im Wesentlichen identisch mit der auf der Versailler Konferenz der Alliierten festgesetzten, in der Geschichte als „Curzonlinie“ bekannten Linie.

Einige Tage später schloss die Sowjetregierung gegenseitige Beistandspakte mit den baltischen Staaten. Es war vorgesehen, nach Estland, Lettland und Litauen Garnisonen der Sowjetarmee zu legen und in diesen Ländern sowjetische Flugplätze und Flottenstützpunkte zu schaffen.

Auf diese Weise wurde das Fundament der „Ost“-Front geschaffen.

Es war nicht schwer zu begreifen, dass die Schaffung der „Ost“-Front ein bedeutsamer Beitrag nicht nur zur Sicherung der UdSSR, sondern auch zu der gemeinsamen Sache der friedliebenden Staaten war, die gegen die Hitleraggression kämpften. Nichtsdestoweniger beantworteten die englisch-französisch-amerikanischen Kreise in ihrer überwiegenden Mehrheit diesen Schritt der Sowjetregierung, den sie als Aggression qualifizierten, mit einer wütenden Antisowjetkampagne. Es fanden sich allerdings auch Politiker, die genügend Scharfblick besaßen, um den Sinn der sowjetischen Politik zu begreifen und die Schaffung der „Ost“-Front als richtig anzuerkennen. Unter diesen steht an erster Stelle Herr Churchill, der damals noch Marineminister war. Am 1. Oktober 1939 erklärte dieser in einer Rundfunkrede nach verschiedenen unfreundlichen Ausfällen gegen die Sowjetunion:

„Dass die russischen Armeen auf dieser Linie stehen, ist für die Sicherheit Rußlands gegen die deutsche Gefahr absolut notwendig. Jedenfalls sind die Stellungen bezogen und die Ostfront ist geschaffen, die anzugreifen das nazistische Deutschland nicht wagt. Als Herr v. Ribbentrop in der vorigen Woche nach Moskau gerufen wurde, da geschah das, damit er von der Tatsache erfahre und Notiz nehme, dass den Absichten der Nazis auf die baltischen Staaten und die Ukraine ein Ende gesetzt werden muss.“

Während es an den westlichen Grenzen der UdSSR, in beträchtlicher Entfernung von Moskau, Minsk und Kiew, um die Sicherheit der UdSSR mehr oder minder befriedigend bestellt war, ließ sich von der Nordgrenze der UdSSR nicht das gleiche sagen. Hier standen, kaum 32 Kilometer von Leningrad entfernt, finnische Truppen, deren Offizierkorps in seiner Mehrheit auf Hitlerdeutschland orientiert war. Die Sowjetregierung wusste sehr wohl, dass die mit den Hitlerfaschisten eng verbundenen und in der finnischen Armee sehr einflussreichen faschistischen Elemente der führenden Kreise Finnlands danach trachteten, sich Leningrads zu bemächtigen. Man konnte es nicht als Zufall betrachten, dass Hitlers Generalstabschef Halder schon im Sommer 1939 nach Finnland reiste, um die Spitzen der finnischen Armee zu instruieren. Es war schwerlich daran zu zweifeln, dass die führenden Kreise Finnlands mit den Hitlerfaschisten verbündet waren und dass sie Finnland zu einem Aufmarschgebiet für den Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR machen wollten.

Kein Wunder deshalb, dass alle Versuche der UdSSR, sich mit der finnischen Regierung über eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu verständigen, erfolglos blieben. Die Regierung Finnlands lehnte alle freundschaftlichen Vorschläge der Sowjetregierung, durch die die Sicherheit der UdSSR, insbesondere Leningrads, gewährleistet werden sollte, einen nach dem anderen ab, obgleich die Sowjetunion sich bereit zeigte, Finnlands legitime Interessen zu berücksichtigen. Die finnische Regierung verwarf den Vorschlag der UdSSR, die finnische Grenze auf der Karelischen Landenge um einige Dutzend Kilometer zurückzuverlegen, obgleich die Sowjetregierung sich bereit erklärte, Finnland als Gegenleistung ein doppelt so großes Gebiet Sowjetkareliens abzutreten. Die finnische Regierung verwarf ferner den Vorschlag der UdSSR, einen gegenseitigen Beistandspakt abzuschließen, und zeigte damit, dass die Sicherheit der UdSSR von Seiten Finnlands nicht gewährleistet war.

Durch diese und ähnliche feindseligen Handlungen und durch Provokationen an der sowjetisch-finnischen Grenze entfesselte Finnland den Krieg mit der Sowjetunion. Die Resultate des sowjetisch-finnischen Kriegs sind bekannt. Die Grenzen der UdSSR im Nordwesten, insbesondere im Raum Leningrads, wurden vorverlegt, und die Sicherheit der UdSSR wurde gefestigt. Dies spielte eine wichtige Rolle bei der Verteidigung der Sowjetunion gegen die Hitleraggression, da Hitlerdeutschland und seine finnischen Helfershelfer ihre Offensive im Nordwesten der UdSSR nicht unmittelbar vor Leningrad starten konnten, sondern auf einer Linie beginnen mussten, die fast 150 Kilometer nordwestlich davon lag. 

W. M. Molotow erklärte in seiner Rede auf der Tagung des Obersten Sowjets der UdSSR am 29. März 1940, dass

„die Sowjetunion, die die finnische Armee geschlagen hatte und die volle Möglichkeit besaß, ganz Finnland zu besetzen, dies nicht tat und keinerlei Kontribution als Entschädigung für ihre Kriegsausgaben verlangte, wie das jede andere Macht getan hätte, sondern ihre Wünsche auf ein Minimum beschränkte…Wir haben uns außer der Gewährleistung der Sicherheit Leningrads, der Stadt Murmansk und der Murmansker Eisenbahn keinerlei andere Ziele in dem Friedensvertrag gestellt.“

Bemerkt werden muss, dass die englisch-französischen Dirigenten des Völkerbundes, obgleich die regierenden Kreise Finnlands durch ihre gesamte Politik gegenüber der UdSSR Hitlerdeutschland in die Hände arbeiteten, sofort auf die Seite der finnischen Regierung traten, die UdSSR durch den Völkerbund zum „Aggressor“ erklären ließen und dadurch den von den finnischen Machthabern begonnenen Krieg gegen die Sowjetunion offen billigten und unterstützten. Der Völkerbund, der die Schmach auf sich geladen hatte, die japanischen, deutschen und italienischen Aggressoren begünstigt und angespornt zu haben, stimmte auf Befehl der englisch-französischen Machthaber gehorsam für eine gegen die Sowjetunion gerichtete Resolution, durch die die UdSSR demonstrativ aus dem Völkerbund „ausgeschlossen“ wurde.

Damit nicht genug, ließen England und Frankreich der finnischen Militärkamarilla in dem von den finnischen Reaktionären entfesselten Krieg gegen die Sowjetunion jede mögliche Unterstützung zuteilwerden. Die regierenden Kreise Englands und Frankreichs hörten nicht auf, die finnische Regierung zur Fortsetzung der Kriegshandlungen aufzuhetzen. Die englisch-französischen Machthaber belieferten Finnland systematisch mit Waffen und rüsteten energisch zur Entsendung einer 100.000 Mann starken Expeditionsarmee nach Finnland. In den drei Monaten, die seit dem Ausbruch des Krieges verstrichen waren, lieferte England, wie Chamberlain am 19. März 1940 im Unterhaus erklärte, Finnland 101 Flugzeuge, über 200 Geschütze, Hunderttausende Granaten, Fliegerbomben und Panzerabwehrminen. Gleichzeitig teilte Daladier der Deputiertenkammer mit, Frankreich habe Finnland 175 Flugzeuge, etwa 500 Geschütze, über 5000 Maschinengewehre, 1 Million Granaten und Handgranaten und verschiedene andere Kriegsmaterialien zukommen lassen.

Man kann die damaligen Pläne der britischen und der französischen Regierung nach einem Memorandum beurteilen, das die Engländer am 2. März 1940 den Schweden überreichten und worin es hieß:

„Die alliierten Regierungen erkennen, dass Finnlands militärische Lage verzweifelt wird. Nach sorgfältiger Erwägung aller Möglichkeiten sind sie zu dem Schluss gelangt, dass die Entsendung alliierter Truppen das einzige Mittel ist, Finnland effektive Hilfe zu leisten, und sie sind bereit, solche Truppen zu schicken, sobald Finnland darum ersucht.“[39]

Wie Chamberlain am 19. März 1940 im englischen Parlament erklärte, wurden damals

„die Vorbereitungen für die Expedition mit höchster Geschwindigkeit betrieben, und die Expeditionsarmee war Anfang März abfahrbereit… zwei Monate vor dem Termin, den Feldmarschall Mannerheim für ihre Ankunft angesetzt hatte.“

Chamberlain fügte hinzu, dass diese Truppen 100.000 Mann stark waren. Gleichzeitig bereitete auch die französische Regierung ein erstes Expeditionskorps in Stärke von 50.000 Mann vor, das über Narvik nach Finnland gesandt werden sollte. Und diese kriegerische Aktivität entfalteten die englisch-französischen Machthaber in dem Augenblick, als England und Frankreich an der Front gegen Hitlerdeutschland keinerlei Aktivität zeigten und dort der sogenannte „komische Krieg“ geführt wurde!

Die militärische Unterstützung Finnlands gegen die Sowjetunion war aber nur Teil eines weiterreichenden Plans der englisch-französischen Imperialisten. Das schon erwähnte „Weißbuch“ des schwedischen Außenministeriums enthält ein Dokument, das von dem schwedischen Außenminister Günther stammt. In diesem Dokument heißt es, „die Entsendung dieses Truppenkontingents gehörte zum Gesamtplan des Überfalls auf die Sowjetunion“ und dieser Plan „wird am 15. März gegen Baku und noch früher über Finnland in Aktion treten.“[40]

In seinem Buche „De Gaulle dictateur“ (Der Diktator de Gaulle) schrieb Kerillis über diesen Plan Folgendes:

„Entsprechend diesem Plan, dessen Grundzüge mir M. Paul Reynaud[41] in einem kurzen Brief, den ich aufbewahrt habe, entwickelte, würde ein motorisiertes Expeditionskorps, das über Norwegen in Finnland gelandet werden sollte, es bald zuwege gebracht haben, die desorganisierten Horden Rußlands über den Haufen zu werfen und auf Leningrad zu marschieren…“[42]  

Dieser Plan wurde in Frankreich von de Gaulle und General Weygand ausgearbeitet, der damals die französischen Truppen in Syrien kommandierte und prahlerisch erklärte, er werde „mit einigen Verstärkungen und 200 Flugzeugen den Kaukasus besetzen und in Rußland eindringen wie das Messer in die Butter‘“.

Bekannt ist auch der von dem französischen General Gamelin 1940 ausgearbeitete Plan für Kriegshandlungen der Engländer und Franzosen gegen die UdSSR, worin auf Bombenangriffe gegen Baku und Batum besonderer Wert gelegt wurde. Die Vorbereitung der englisch-französischen Machthaber zum Überfall auf die UdSSR war in vollem Gange. In den Generalstäben Englands und Frankreichs wurde eifrig an Plänen für einen solchen Überfall gearbeitet. Diese Herren wollten, anstatt gegen Hitlerdeutschland Krieg zu führen, einen Krieg gegen die Sowjetunion vom Zaun brechen.

Diese Pläne sollten jedoch keine Verwirklichung finden. Finnland wurde zu diesem Zeitpunkt von den Sowjettruppen niedergeworfen und zur Kapitulation gezwungen, trotz aller Bemühungen Englands und Frankreichs, seine Kapitulation zu verhindern.

Am 12. März 1940 wurde der Friedensvertrag zwischen der Sowjetunion und Finnland unterzeichnet. Damit war die Sache der Landesverteidigung der UdSSR gegen die Hitleraggression auch im Norden, im Raum Leningrads, verbessert und die Verteidigungslinie um 150 Kilometer nordwärts Leningrads bis einschließlich Wiborg vorverlegt.

Aber das bedeutete noch nicht, dass die Bildung einer „Ost“-Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer bereits beendet war. Mit den baltischen Staaten waren Pakte abgeschlossen, aber dort befanden sich noch keine Sowjettruppen, die die Verteidigung übernehmen konnten. Das Moldaugebiet und die Bukowina wurden formell wieder mit der UdSSR vereinigt, aber auch dort standen noch keine Sowjettruppen, die die Verteidigung übernehmen konnten. Mitte Juni 1940 rückten Sowjettruppen in Estland, Lettland und Litauen ein. Am 27. Juni des gleichen Jahres hielten Sowjettruppen auch in der Bukowina und im Moldaugebiet, die Rumänien dem Sowjetland nach der Oktoberrevolution entrissen hatte, ihren Einzug.

Auf diese Weise wurde die Bildung der gegen die Hitleraggression gerichteten „Ost“-Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer vollendet.

Die führenden Kreise Englands und Frankreichs, die die UdSSR wegen der von ihr geschaffenen „Ost“-Front auch weiterhin als Aggressor beschimpften, schienen sich keine Rechenschaft darüber abzulegen, dass die Schaffung dieser „Ost“-Front einen einschneidenden Umschwung in der Entwicklung des Krieges gegen die Hitlertyrannei und zugunsten des Sieges der Demokratie bedeutete.

Sie begriffen nicht, dass es sich nicht um Beeinträchtigung oder Nichtbeeinträchtigung der nationalen Rechte Finnlands, Litauens, Lettlands, Estlands und Polens handelte, sondern darum, durch Organisierung des Sieges über die Hitlerfaschisten die Verwandlung dieser Länder in eine rechtlose Kolonie Hitlerdeutschlands zu verhindern. 

Sie begriffen nicht, dass es sich darum handelte, dem Vormarsch der deutschen Truppen überall, wo das nur möglich war, Schranken zu setzen, starke Verteidigungsstellungen anzulegen und dann zum Gegenangriff überzugehen, die Hitlertruppen zu schlagen und dadurch diesen Ländern eine freie Entwicklung zu ermöglichen.

Sie begriffen nicht, dass es andere Wege zum Sieg über die Hitleraggression nicht gab.

Handelte die englische Regierung richtig, als sie während des Krieges ihre Truppen nach Ägypten schickte, obwohl die Ägypter protestierten und manche Elemente in Ägypten sogar Widerstand leisteten? Sie handelte unbedingt richtig! Dies war ein höchst wichtiges Mittel, um der Hitleraggression den Weg nach dem Suezkanal zu verlegen, Ägypten vor Anschlägen Hitlers zu schützen, den Sieg über Hitler zu organisieren und damit zu verhindern, dass Ägypten eine Hitlerkolonie wurde. Nur Feinde der Demokratie oder Verrückte können behaupten, dass diese Handlungen der englischen Regierung in diesem Falle eine Aggression darstellten.

Handelte die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika richtig, als sie ihre Truppen in Casablanca landen ließ, obwohl die Marokkaner protestierten und die Petainregierung in Frankreich, deren Gewalt sich auch auf Marokko erstreckte, direkten militärischen Widerstand leistete? Sie handelte unbedingt richtig! Dies war ein überaus wichtiges Mittel, einen Widerstandsstützpunkt gegen die deutsche Aggression in unmittelbarer Nähe Westeuropas zu schaffen, den Sieg über die Hitlerwehrmacht zu organisieren und damit die Voraussetzung für die Befreiung Frankreichs von dem hitlerfaschistischen Kolonialjoch zu schaffen. Nur Feinde der Demokratie oder Verrückte konnten diese Handlungen der amerikanischen Truppen als Aggression bezeichnen.

Das Gleiche muss von den Handlungen der Sowjetregierung gesagt werden, die bis Sommer 1940 die „Ost“-Front gegen die Hitleraggression organisierte und ihre Truppen möglichst weit nach Westen von Leningrad, Moskau und Kiew verlegte. Dies war das einzige Mittel, dem ungehinderten Vormarsch der deutschen

Truppen nach dem Osten den Weg zu verlegen, starke Verteidigungsstellungen zu schaffen und dann zum Gegenangriff überzugehen, um gemeinsam mit den Verbündeten die Hitlerwehrmacht zu schlagen und damit zu verhindern, dass die friedliebenden Länder Europas, darunter Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen, zu Hitlerkolonien wurden. Nur Feinde der Demokratie oder Verrückte konnten diese Handlungen der Sowjetregierung als Aggression qualifizieren.

Daraus folgt jedoch, dass Chamberlain, Daladier und ihre Umgebung, die diese Politik der Sowjetregierung als Aggression qualifizierten und den Ausschluss der Sowjetunion aus dem Völkerbund bewirkten, wie Feinde der Demokratie bzw. wie Verrückte handelten.

Daraus folgt ferner, dass die jetzigen Verleumder und Geschichtsfälscher, die in Gemeinschaften mit den Herren Bevin und Bidault ihr Wesen treiben und die Schaffung der „Ostfront“-Verteidigungslinie gegen Hitler als Aggression qualifizieren, ebenfalls wie Feinde der Demokratie bzw. wie Verrückte handeln.

Was wäre geschehen, wenn die UdSSR nicht schon vor dem Überfall Deutschlands, weit westlich von den alten Grenzen der UdSSR, eine Verteidigungslinie geschaffen hätte, wenn diese Front nicht auf der Linie Wiborg-Kaunas-Bialystok-Brest-Litowsk-Lwow verlaufen wäre, sondern längs der alten Grenze Leningrad-Narva-Minsk-Kiew?

Das hätte der Hitlerwehrmacht die Möglichkeit gegeben, Hunderte Kilometer Raum zu gewinnen und die deutsche Front um 200 bis 300 Kilometer Leningrad, Moskau, Minsk und Kiew näher zu rücken, es hätte den Vormarsch der Deutschen in das Innere der UdSSR bedeutend beschleunigt, den Fall Kiews und der Ukraine schneller herbeigeführt, die Besetzung Moskaus durch die Deutschen zur Folge gehabt, zur Besetzung Leningrads durch die vereinten Kräfte der Deutschen und der Finnen geführt und die UdSSR gezwungen, zu einer langwierigen Verteidigung überzugehen, sodass die Deutschen die Möglichkeit erhalten hätten, im Osten etwa 50 Divisionen für eine Landung auf den britischen Inseln und zur Verstärkung der deutsch-italienischen Front im Raum Ägyptens freizubekommen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die englische Regierung dann nach Kanada hätte evakuiert werden müssen und dass Ägypten und der Suezkanal unter Hitlers Herrschaft geraten wären. Aber das ist noch nicht alles. Die UdSSR wäre gezwungen gewesen, einen großen Teil ihrer Truppen von der mandschurischen Grenze an die „Ostfront“-Verteidigungslinie zu verlegen, um ihre Verteidigung zu verstärken, und dies hätte es den Japanern ermöglicht, in der Mandschurei an die 30 Divisionen freizubekommen und sie gegen China, gegen die Philippinen, gegen Südostasien überhaupt und schließlich gegen die amerikanischen Streitkräfte im Fernen Osten einzusetzen.

All das hätte dazu geführt, dass der Krieg mindestens zwei Jahre länger gedauert hätte und dass der Zweite Weltkrieg nicht 1945, sondern erst 1947 oder noch etwas später beendet worden wäre.

So war es um die Frage der „Ost“-Front bestellt.

Inzwischen nahmen die Ereignisse im Westen ihren Lauf. Im April 1940 besetzten die Deutschen Dänemark und Norwegen. Mitte Mai drangen die deutschen Truppen in Holland, Belgien und Luxemburg ein. Am 21. Mai stießen die Deutschen bis zum Ärmelkanal vor und riegelten die Alliierten in Flandern ab. Ende Mai räumten die englischen Truppen Dünkirchen, verließen Frankreich und begaben sich nach England. Mitte Juni fiel Paris. Am 22. Juni kapitulierte Frankreich vor Deutschland. Hitler hatte somit alle und jegliche gemeinsam mit Frankreich und England abgegebenen Nichtangriffsdeklarationen in den Staub getreten. Das war der völlige Bankrott der Befriedungspolitik, der Politik der Abkehr von kollektiver Sicherheit, der Politik der Isolierung der UdSSR.

Es war klargeworden, dass England und Frankreich durch die Isolierung der UdSSR die Einheitsfront der freiheitshebenden Länder zerschlagen hatten, schwächer geworden waren und nun selbst isoliert dastanden.

Am 1. März 1941 besetzten die Deutschen Bulgarien.

Am 5. April unterzeichnete die UdSSR einen Nichtangriffspakt mit Jugoslawien.

Am 22. Juni des gleichen Jahres überfiel Deutschland die UdSSR.

Italien, Rumänien, Ungarn und Finnland traten auf Seiten Deutschlands in den Krieg gegen die Sowjetunion ein.

Die Sowjetunion begann den Freiheitskrieg gegen Hitlerdeutschland.

Die verschiedenen Kreise Europas und Amerikas nahmen eine unterschiedliche Haltung zu diesem Ereignis ein.

Die von Hitler unterjochten Völker atmeten erleichtert auf, weil sie erkannten, dass Hitler sich zwischen zwei Fronten, der Westfront und der „Ostfront“, das Genick brechen werde.

Die regierenden Kreise Frankreichs waren schadenfroh und zweifelten nicht daran, dass „Rußland in kürzester Frist geschlagen werden“ würde.

Ein prominentes Mitglied des US-Senats, der jetzige US-Präsident Herr Truman, erklärte am Tage nach dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR:

„Wenn wir sehen, dass Deutschland gewinnt, so sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, so sollten wir Deutschland helfen, sollen sie nur auf diese Weise möglichst viele totschlagen.“[43]

Eine ähnliche Erklärung gab 1941 in Großbritannien der damalige Minister für Flugzeugindustrie, Moore Brabazon, ab, der sich dahin äußerte, soweit Großbritannien in Betracht komme, wäre der beste Ausgang des Kampfes an der Ostfront die gegenseitige Erschöpfung Deutschlands und der UdSSR, wodurch England die Möglichkeit erhalten würde, die dominierende Stellung einzunehmen. Diese Äußerungen waren ohne Zweifel bezeichnend für die Stellungnahme der reaktionären Kreise der USA und Großbritanniens. Aber die ganz überwiegende Mehrheit der Völker Englands und Amerikas war für die UdSSR und forderte gemeinsame Sache mit der Sowjetunion zum erfolgreichen Kampf gegen Hitlerdeutschland. Als Ausdruck dieser Gesinnung ist die Erklärung des britischen Premierministers, Herrn Churchill, zu betrachten, der am 22. Juni 1941 erklärte:

„Die Gefahr für Rußland ist auch eine Gefahr für uns und für die Vereinigten Staaten, ebenso wie die Sache jedes Russen, der für Heim und Herd kämpft, die Sache der freien Menschen und der freien Völker in jedem Teil des Erdballs ist.“

Den gleichen Standpunkt gegenüber der UdSSR bezog die Regierung Roosevelts in den USA. Damit war der Grundstein gelegt für die englisch-sowjetisch-amerikanische Koalition gegen Hitlerdeutschland. Die Antihitlerkoalition steckte sich das Ziel, das Hitlerregime zu zerschlagen und die von Hitlerdeutschland unterjochten Völker zu befreien. Trotz der Verschiedenheit in der Ideologie und dem Wirtschaftssystem der einzelnen verbündeten Staaten wurde die englisch-sowjetisch-amerikanische Koalition zu einem mächtigen Bündnis der Völker, die ihre Kräfte im Befreiungskampf gegen den Hitlerfaschismus vereinigten. Natürlich gab es auch damals, während des Krieges, in einigen Fragen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verbündeten. Bekannt ist zum Beispiel, von welcher Bedeutung die Meinungsverschiedenheiten in so wichtigen Fragen waren wie die Eröffnung der zweiten Front, die Verpflichtungen der Verbündeten, die Frage ihrer moralischen Pflichten voreinander.

Die Geschichtsfälscher und alle möglichen Verleumder klammern sich an diese Meinungsverschiedenheiten, um entgegen sonnenklaren Tatsachen zu „beweisen“, dass die UdSSR im Kampf gegen die Hitleraggression kein treuer und aufrichtiger Verbündeter war noch sein konnte. Aber da der gemeinsame Kampf gegen Hitlerdeutschland und die Haltung der UdSSR in diesem Kampf keinerlei Unterlagen für eine solche Beschuldigung bieten, so wenden sie sich der Vergangenheit — der Vorkriegszeit — zu und behaupten, die Vertreter der Sowjetunion hätten sich 1940 bei den Berliner „Verhandlungen“ mit Hitler unehrenhaft und nicht wie Verbündete benommen. Sie versichern, bei den Berliner „Verhandlungen“ seien ruchlose „europäische Teilungspläne“, territoriale Ansprüche der Sowjetunion „südlich der Sowjetunion in Richtung Indischer Ozean“, „Pläne“ hinsichtlich der Türkei, Irans, Bulgariens und andere „Probleme“ zur Sprache gekommen und entschieden worden. Die Verleumder bedienen sich zu diesem Zweck der Berichte deutscher Botschafter und anderer Hitlerbeamter, aller möglichen Notizen und deutschen Entwürfe irgendwelcher „Protokolle“ und ähnlicher „Dokumente“.

Was aber ist in Wirklichkeit in Berlin vor sich gegangen? Es muss gesagt werden, dass die sogenannten „Berliner Verhandlungen“ von 1940 in Wirklichkeit nichts anderes waren als eine Antwortvisite W. M. Molotows auf die beiden Besuche Ribbentrops in Moskau. Die Unterhandlungen betrafen hauptsächlich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland. Hitler bemühte sich, sie zur Grundlage eines weitreichenden Abkommens zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu machen. Die Sowjetunion umgekehrt nutzte sie dazu aus, die Einstellung Deutschlands zu sondieren und auf den Zahn zu fühlen, ohne die Absicht zu haben, irgendein Abkommen mit den Deutschen zu schließen. In diesen Unterredungen meinte Hitler, die Sowjetunion sollte sich einen Ausgang nach dem Persischen Meerbusen verschaffen, indem sie Westiran und die iranischen Erdölfelder der Engländer an sich brächte. Er sagte ferner, Deutschland würde der Sowjetunion behilflich sein können, ihre Ansprüche an die Türkei zu regulieren, eine Korrektur des Meerengenvertrages von Montreux eingeschlossen, wobei er die Interessen Irans absolut ignorierte, die Interessen der Türkei dagegen angelegentlich verteidigte, offensichtlich weil er diese als seinen gegenwärtigen oder doch jedenfalls künftigen Verbündeten betrachtete. Was die Balkanländer und die Türkei anbelangt, so betrachtete Hitler diese als eine Einflusssphäre Deutschlands und Italiens.

Aus diesen Unterhaltungen zog die Sowjetregierung folgende Schlüsse: Deutschland legt keinen Wert auf Beziehungen zu Iran; Deutschland ist nicht mit England verbunden und hat auch nicht die Absicht, eine solche Bindung einzugehen — folglich kann die Sowjetunion an England einen verlässlichen Verbündeten gegen Hitlerdeutschland finden; die Balkanstaaten sind entweder bereits gekauft und in Satelliten Deutschlands verwandelt (Bulgarien, Rumänien, Ungarn) oder unterjocht, wie die Tschechoslowakei, oder aber sie stehen vor ihrer Unterjochung, wie Griechenland; Jugoslawien ist das einzige Balkanland, auf das man als künftigen Verbündeten des Antihitlerlagers rechnen kann; die Türkei ist entweder schon durch enge Bande mit Hitlerdeutschland verbunden oder hat doch die Absicht, eine solche Bindung einzugehen. Nach diesen nützlichen Schlussfolgerungen pflegte die Sowjetregierung keinerlei Unterredungen mehr über die dargelegten Fragen, obgleich Ribbentrop die Sache wiederholt in Erinnerung brachte. Wie man sieht, sondierte die Sowjetregierung die Stellungnahme der Hitlerregierung, fühlte ihr auf den Zahn, ohne dass diese Schritte zu irgendeinem Abkommen führten oder führen konnten.

Ist es zulässig, dass friedliebende Staaten den Standpunkt eines Gegners in dieser Weise sondieren? Das ist unbedingt zulässig. Es ist sogar nicht nur zulässig, sondern zuweilen auch eine direkte politische Notwendigkeit. Notwendig ist nur, dass die Sondierung mit Wissen und Zustimmung der Verbündeten geschieht und dass die Resultate der Sondierung den Verbündeten mitgeteilt werden. Die Sowjetunion hatte damals jedoch keine Verbündeten, sie war isoliert und deshalb leider nicht in der Lage, die Resultate der Sondierung den Verbündeten mitzuteilen.

Bemerkt werden muss, dass eine ähnliche, wenn auch anrüchige Sondierung des Standpunkts Hitlerdeutschlands von Vertretern Englands und der USA unternommen wurde, als der Krieg bereits im Gange war, als die Antihitlerkoalition, bestehend aus England, den Vereinigten Staaten von Amerika und der UdSSR, bereits geschlossen war. Das geht aus Dokumenten hervor, die von den Sowjettruppen in Deutschland erbeutet worden sind. Aus diesen Dokumenten ist zu ersehen, dass im Herbst 1941 sowie in den Jahren 1942 und 1943 in Lissabon und in der Schweiz hinter dem Rücken der UdSSR Verhandlungen zwischen Vertretern Englands und Deutschlands und später zwischen Vertretern der USA und Deutschlands über die Frage eines Friedensschlusses mit Deutschland gepflogen wurden.

In einem dieser Dokumente- einer Beilage zu einem Bericht Ernst Weizsäckers, Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt- wird der Verlauf solcher Verhandlungen dargelegt, die in Lissabon im September 1941 gepflogen wurden. Aus diesem Dokument ersieht man, dass am 13. September ein Sohn Lord Beaverbrooks, Max Aitken, ein Offizier der englischen Armee, der später Mitglied des englischen Parlaments wurde, als Vertreter Englands mit dem Ungarn Gustav von Köver, der im Auftrag des deutschen Außenministeriums operierte, zusammentraf, wie aus einem Schreiben W. Krauels, des deutschen Generalkonsuls in Genf, an Weizsäcker hervorgeht.

Bei diesen Unterhandlungen stellte Aitken rundheraus die Frage:

„Wäre es nicht möglich, den bevorstehenden Winter und das Frühjahr dazu zu benutzen, um hinter den Kulissen die Möglichkeiten eines Friedens zu erörtern?“

ndere Dokumente sprechen von Verhandlungen zwischen Vertretern der Regierungen der USA und Deutschlands, die im Februar 1943 in der Schweiz stattfanden. Für die USA führte diese Verhandlungen der Sonderbeauftragte der USA-Regierung, Allen Dulles (der Bruder John Foster Dulles), der unter dem Decknamen „Bull“ figurierte und „unmittelbare Aufträge und Vollmachten des Weißen Hauses“ hatte. Sein Gesprächspartner von deutscher Seite war Fürst M. Hohenlohe, der den regierenden Kreisen Hitlerdeutschlands nahestand und unter dem falschen Namen „Pauls“ als Vertreter Hitlers fungierte. Das Dokument, worin diese Verhandlungen dargelegt sind, verwahrte der hitlerfaschistische Sicherheitsdienst (SD).

Wie aus diesem Dokument ersichtlich, wurden in der Unterredung wichtige Fragen berührt, die Österreich, die Tschechoslowakei, Polen, Rumänien, Ungarn und, was besonders wichtig ist, einen Friedensschluss mit Deutschland betrafen. A. Dulles (Bull) erklärte in dieser Unterredung:

„Nie wieder dürften Nationen wie Deutschland durch Not und Unrecht zu verzweifelten Experimenten und Heroismus getrieben werden. Der deutsche Staat müsste als Ordnungs- und Aufbaufaktor bestehen bleiben, eine Aufteilung desselben oder Loslösung Österreichs käme nicht in Frage.“

Hinsichtlich Polens erklärte Dulles (Bull), 

„durch eine Vergrößerung Polens nach dem Osten hin und die Erhaltung Rumäniens und eines starken Ungarns einen sicheren Riegel gegen den Bolschewismus und den Panslawismus befürworten zu müssen.“[44]

Weiter wird in der Niederschrift dieser Unterredung bemerkt:

„Er (Bull) ging mehr oder weniger auf eine staatliche und industrielle europäische Großraumordnung ein und sah in einem föderativen Großdeutschland (ähnlich den USA) und mit einer an dieses angelehnten Donaukonföderation den besten Garanten für Ordnung und Aufbau in Zentral- und Osteuropa.“ [45]

Dulles (Bull) erklärte außerdem, er erkenne die Ansprüche der deutschen Industrie auf die führende Rolle in Europa vollauf an. Man kann nicht umhin, zu bemerken, dass die Engländer und die Amerikaner diese Sondierung ohne Wissen und Zustimmung ihres Verbündeten, der Sowjetunion, unternahmen und dass die Sowjetregierung nicht einmal nachträglich über die Resultate dieser Sondierung informiert wurde. 

Das konnte bedeuten, dass die Regierungen der USA und Englands in diesem Fall versuchten, Verhandlungen mit Hitler über einen Separatfrieden anzubahnen. Es ist klar, dass eine solche Haltung der Regierungen Englands und der USA nur als Verstoß gegen die elementarsten Anforderungen an die Pflichten und Obliegenheiten von Verbündeten betrachtet werden kann.

Es ergibt sich also, dass die Geschichtsfälscher, die der UdSSR „Unaufrichtigkeit“ vorwerfen, hier ihre eigene Schuld anderen in die Schuhe zu schieben versuchen. 

Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass den Geschichtsfälschern und anderen Verleumdern diese Dokumente bekannt sind. Wenn sie nun diese Dokumente der öffentlichen Meinung vorenthalten und sich in ihrer Verleumdungskampagne gegen die UdSSR über sie ausschweigen, so geschieht das, weil sie die historische Wahrheit wie die Pest fürchten. 

Was die Meinungsverschiedenheiten über die Eröffnung der zweiten Front anbelangt, so zeigte sich hier, wie verschieden die Verbündeten die Verpflichtungen auffassen, die ihnen aus ihren gegenseitigen Beziehungen erwachsen. Das Sowjetvolk ist der Meinung, dass man einem Verbündeten, wenn er in Not gerät, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln beistehen muss, dass man den Verbündeten nicht als zeitweiligen Gefährten behandeln darf, sondern ihn als Freund behandeln, sich über seine Erfolge und sein Erstarken freuen muss. Die Vertreter der Engländer und Amerikaner teilen diese Meinung nicht, sondern halten eine solche Moral für eine Naivität. Sie gehen davon aus, dass ein starker Verbündeter gefährlich ist, dass ein Erstarken des Verbündeten nicht in ihrem Interesse liegt, dass man besser mit einem schwachen Verbündeten als mit einem starken zu tun hat, und dass man, wenn er dennoch erstarkt, Maßnahmen ergreifen muss, um ihn zu schwächen.

Jedermann weiß, dass die Engländer und die Amerikaner in dem englisch-sowjetischen Kommuniqué bzw. in dem sowjetisch-amerikanischen Kommuniqué vom Juni 1942 die Verpflichtung übernahmen, die zweite Front in Europa noch im Jahre 1942 zu eröffnen. Dies war ein feierliches Versprechen, wenn man will ein Schwur, der pünktlich eingehalten werden musste, um den Truppen der Sowjetunion, die in der ersten Periode des Krieges die ganze Last der Abwehr des deutschen Faschismus zu tragen hatten, Erleichterung zu verschaffen. Bekannt ist aber auch, dass dieses Versprechen weder 1942 noch auch 1943 eingelöst wurde, obgleich die Sowjetregierung wiederholt erklärte, die Sowjetunion könne sich mit einem Aufschub der zweiten Front nicht abfinden.

Die Politik des Aufschubs der zweiten Front war keinesfalls zufälliger Natur. Diese Politik wurde genährt durch die Bestrebungen der reaktionären Kreise Englands und der USA, die im Krieg mit Deutschland ihre eigenen, mit den Befreiungsaufgaben des Kampfes gegen den deutschen Faschismus nicht zu vereinbarenden Ziele verfolgten. Die völlige Zerschlagung des deutschen Faschismus gehörte nicht zu ihren Plänen. Sie waren daran interessiert, Deutschlands Macht zu untergraben, vor allem Deutschland als einen gefährlichen Konkurrenten auf dem Weltmarkt auszuschalten, wobei sie von ihren engstirnigen, eigennützigen Zielen ausgingen. Es gehörte dagegen durchaus nicht zu ihren Absichten, Deutschland und andere Länder von der Herrschaft der reaktionären Kräfte zu befreien, die ständige Träger der imperialistischen Aggression und des Faschismus sind, ebenso wie durchgreifende demokratische Umgestaltungen nicht zu ihren Absichten gehörten.

Gleichzeitig spekulierten sie auf eine Schwächung der UdSSR, sie hofften darauf, dass die UdSSR sich weißbluten, durch den zermürbenden Krieg für lange Zeit ihre Bedeutung als große und starke Macht einbüßen und nach dem Kriege von den USA und Großbritannien abhängig werden würde. Man begreift, dass die Sowjetunion eine derartige Haltung zu einem Verbündeten nicht als normal ansehen kann. Das gerade Gegenteil dieser Politik ist die von der UdSSR in den Beziehungen zu ihren Verbündeten befolgte Politik. Diese Politik zeichnet sich durch unverändert uneigennützige, konsequente und ehrliche Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen und durch die Bereitschaft aus, seinem Verbündeten stets kameradschaftliche Hilfe zu erweisen. Die Sowjetunion hat im vergangenen Krieg Beispiele einer solchen echten Haltung gegenüber anderen Verbündeten, ihren Waffengefährten im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, geliefert.

Hier ein Beweis.

Bekanntlich unternahmen die Hitlertruppen Ende Dezember 1944 an der Westfront, im Raum der Ardennen, eine Offensive, durchbrachen die Front und brachten die englisch-amerikanischen Truppen schwer in die Klemme. Nach der Behauptung der Alliierten wollten die Deutschen durch einen Schlag gegen Lüttich die erste amerikanische Armee zerschlagen, bis Antwerpen vorstoßen, die neunte amerikanische, die zweite britische und die erste kanadische Armee abschneiden und den Alliierten ein zweites Dünkirchen bereiten, um England zum Ausscheiden aus dem Krieg zu veranlassen. 

In diesem Zusammenhang richtete W. Churchill am 6. Januar 1945 an J. W. Stalin ein Schreiben folgenden Inhalts:

„Die Schlacht im Westen ist sehr schwer, und vom Oberkommando können jederzeit weitreichende Entschlüsse verlangt werden. Sie selbst wissen aus Ihrer eigenen Erfahrung, wie sehr besorgniserregend die Lage ist, wenn man nach vorübergehendem Verlust der Initiative eine sehr breite Front zu verteidigen hat. Für General Eisenhower ist es sehr erwünscht und notwendig, in allgemeinen Zügen zu erfahren, was Sie zu tun gedenken, weil sich das naturgemäß auf alle seine und unsere wichtigsten Entscheidungen auswirken wird. Laut einer eingelaufenen Meldung befand sich unser Emissär, Hauptmarschall der Luftstreitkräfte Tedder, gestern Abend, durch die Witterungsverhältnisse aufgehalten, in Kairo. Seine Reise hat sich sehr verzögert, nicht durch Ihre Schuld. Wenn er noch nicht bei Ihnen eingetroffen ist, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten, ob wir im Januar auf eine große russische Offensive an der Weichselfront oder an irgendeiner anderen Stelle rechnen können, und ebenso beliebige andere Momente, die Sie möglicherweise zu erwähnen wünschen. Ich werde diese streng vertrauliche Information außer Feldmarschall Brooke und General Eisenhower niemand mitteilen, und auch das nur unter Einhaltung strengster Diskretion. Ich betrachte die Sache als dringend.“

Am 7. Januar 1945 ließ J. W. Stalin an W. Churchill folgende Antwort ergehen:

„Am 7. Januar abends erhielt ich Ihr Schreiben vom 6. Januar 1945.

Leider ist der Herr Hauptmarschall der Luftstreitkräfte Tedder noch nicht in Moskau eingetroffen.

Es ist sehr wichtig, die Überlegenheit unserer Artillerie und Luftstreitkräfte gegen die Deutschen auszunutzen. Nur ist hierfür klares Wetter für die Luftstreitkräfte und das Ausbleiben von Bodennebeln erforderlich, die das Zielfeuer der Artillerie stören. Wir bereiten eine Offensive vor, aber das Wetter ist für unsere Offensive augenblicklich ungünstig. In Anbetracht der Lage unserer Verbündeten an der Westfront hat das Hauptquartier des Oberkommandos jedoch beschlossen, die Vorbereitungen in forciertem Tempo zu beendigen und spätestens in der zweiten Januarhälfte ohne Rücksicht auf das Wetter an der gesamten Zentralfront großangelegte Offensivoperationen gegen die Deutschen zu beginnen. Sie brauchen nicht daran zu zweifeln, dass wir alles tun werden, was nur getan werden kann, um den wackeren Truppen unserer Verbündeten zu helfen.“

In seinem Antwortbrief an J. W. Stalin schrieb W. Churchill am 9. Januar: 

„Ich bin Ihnen für Ihr ergreifendes Schreiben sehr verbunden. Ich habe es an General Eisenhower ausschließlich zu seiner persönlichen Kenntnisnahme weitergeleitet. Möge Ihr edles Beginnen von vollem Erfolg begleitet sein!“

In dem Wunsch, die Unterstützung der alliierten Truppen im Westen zu beschleunigen, beschloss das Oberkommando der Sowjettruppen, den Zeitpunkt der Offensive gegen die Deutschen an der sowjetisch-deutschen Front vom 20. Januar auf den 12. Januar vorzuverlegen. Am 12. Januar begann an der breiten Front von der Ostsee bis zu den Karpaten eine große Offensive der Sowjettruppen. Es wurden 150 Sowjetdivisionen mit gewaltigen Mengen Artillerie und Flugzeugen in Bewegung gesetzt, die die deutsche Front durchbrachen und die deutschen Truppen Hunderte Kilometer zurückwarfen. Am 12. Januar stellten die deutschen Truppen an der Westfront, darunter die fünfte und sechste Panzerarmee, die zu einem neuen Vorstoß antreten sollten, ihre Offensive ein; sie wurden im Laufe von 5-6 Tagen von der Front zurückgenommen und nach dem Osten, gegen die angreifenden Sowjettruppen, geworfen. Die Offensive der deutschen Truppen im Westen war zum Scheitern gebracht.

Am 17. Januar 1945 schrieb W. Churchill an J. W. Stalin:

„Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihr Schreiben und außerordentlich froh, dass Luftmarschall Tedder auf Sie einen so günstigen Eindruck gemacht hat. Im Namen der Regierung Seiner Majestät und aus tiefstem eigenen Herzen möchte ich Ihnen unseren Dank und unsere Glückwünsche aussprechen anlässlich der gigantischen Offensive, die Sie an der Ostfront begonnen haben. Ihnen ist jetzt zweifellos bekannt, welche Pläne General Eisenhower verfolgt und in welchem Maße ihre Verwirklichung durch die Störungsoffensive Rundstedts aufgehalten wurde. Ich bin gewiss, dass die Kämpfe an unserer ganzen Front ununterbrochen weitergehen werden. Die britische 21. Heeresgruppe unter dem Befehl Feldmarschall Montgomerys ist heute im Raum südlich Roermond zum Angriff angetreten.“

In dem an die Sowjettruppen gerichteten Befehl J. W. Stalins vom Februar 1945 heißt es über diese Offensive der Sowjettruppen:

„Im Januar dieses Jahres hat die Rote Armee an der ganzen Front von der Ostsee bis zu den Karpaten auf den Feind einen Schlag von beispielloser Wucht niedersausen lassen. An einer 1200 Kilometer breiten Front zerbrach sie die starken Verteidigungsstellungen der Deutschen, an denen diese mehrere Jahre lang gearbeitet hatten. Im Verlauf ihrer Offensive warf die Rote Armee den Feind durch rasche und meisterhafte Operationen weit nach Westen zurück.

Die Erfolge unserer Winteroffensive haben vor allem dazu geführt, dass sie die Winteroffensive der Deutschen, die sich die Besetzung Belgiens und des Elsaß zum Ziel setzten, zum Scheitern gebracht und es den Armeen unserer Verbündeten ermöglicht haben, ihrerseits zur Offensive gegen die Deutschen überzugehen und damit ihre Offensivoperationen im Westen mit den Offensivoperationen der Roten Armee im Osten zu verbinden.“

So handelte J. W. Stalin.

So handeln wahre Verbündete im gemeinsamen Kampf.

Das sind die Tatsachen.

Natürlich heißen die Geschichtsfälscher und Verleumder eben deshalb Fälscher und Verleumder, weil sie vor den Tatsachen keinen Respekt haben. Sie ziehen es vor, mit Klatsch und Verleumdungen zu tun zu haben. Es besteht jedoch kein Grund, daran zu zweifeln, dass diese Herren schließlich doch gezwungen sein werden, die allgemein bekannte Wahrheit einzusehen, dass Klatschereien und Verleumdungen vergehen, Tatsachen aber bestehen.

SOWJETISCHES INFORMATIONSBÜRO


[1]                Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. September 2019 zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas.

[2]                Zitiert nach vorliegender Broschüre, Seite XXX.

[3]                YouGov: „Who did the most to defeat the Nazis?“, April 2025.

[4]                Thomas Fasbender: „Künftiger Außenminister Wadephul: ‘Russland wird immer ein Feind für uns bleiben’“, 28.04.2025, Berliner Zeitung.

[5]                Zitiert nach Corwin D. Edwards, Economic and Political Aspects of International Cartels (Ökonomische und politische Aspekte der internationalen Kartelle), 1947.

[6]                Richard Sasuly, „IG Farben “, Boni and Gaer, New York 1947, S. 80.

[7]                Vergleiche Stock Exchange Year Book, London 1925; Who’s Who in America; Who’s Who in American Finance, Banking and Insurance; Moody’s Manual of Railroads and Corporation Securities; Poor’s Manual, 1924—1939.

[8]                W. M. Molotow, Artikel und Reden 1935/1936, S. 176, russ.

[9]                Ebenda, S. 177.

[10]              J. Stalin, Fragen des Leninismus, Dietz Verlag, Berlin 1961, S. 687.

[11]              Ebenda.

[12]              Ebenda, S.690.

[13]              A. Hitler, „Mein Kampf“, München 1936, S. 742. 

[14]              „Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges“, Bd. I, Moskau 1948, S.17/18.

[15]              Gemeint sind Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien.

[16]              Ebenda, S. 18/19.

[17]              Ebenda, S. 19/20.

[18]              Ebenda, S. 23.

[19]              Ebenda, S. 34/35.

[20]              „Times“ vom 23. Februar 1938, S. 8. 

[21]              Vergleiche „Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges“, Bd. I. 

[22]              Ebenda, S. 53. 

[23]              Ebenda. 

[24]              „Iswestija“ vom 18. März 1938.

[25]              Note des Foreign Office vom 24. März 1939.

[26]              „Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges“, Bd. II, Moskau 1948, S. 31. 

[27]              Ebenda.

[28]              Correspondence respecting Czechoslovakia (Korrespondenz betr. Die Tschechislowakei), September 1938, London 1938, cmd 5847, S. 8/9.

[29]              J. Stalin, „Fragen des Leninismus“, S. 690.

[30]              Ebenda, S. 687/688.

[31]              Michael Sayers/Albert E. Kahn, „Die große Verschwörung“, Berlin 1949, S. 316/317.

[32]              „Iswestija“ vom 20. März 1939.

[33]              „Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges“, Bd. I, S. 291/292. 

[34]              „Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges“, Bd. II, S. 181. 

[35]              Siehe „Geschichte der Diplomatie“, Bd. III, Moskau 1947, S. 780.

[36]              Siehe Michael Sayers/Albert E. Kahn „Die große Verschwörung“, S. 320/321.

[37]              Halifax, E.F., „Speeches on Foreign Policy“ (Reden über Außenpolitik), London 1940, S. 296.

[38]              „Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges“, Bd. II, S. 67.

[39]              Note der britischen Gesandschaft vom 2. März 1940. Svenska Utrikes Departementets Vita Bok (Weißbuch des schwedischen Außenministeriums), Stockholm 1947, S. 120. 

[40]              „Aide-memoire Günthers vom 2. März 1940“, ebenda, S. 119.

[41]              Damals Mitglied der französischen Regierung. 

[42]              Henri de Kerillis, „De Gaulle dictateur“, Montreal 1945, S. 363/364. 

[43]              „New York Times“ vom 24. Juni 1941.

[44]              „Unterredung Pauls- Mr. Bull“, aus den deutschen Archivdokumenten.

[45]              Ebenda.

Stoppt den Krieg gegen Russland!

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Milliarden für die Aufrüstung, US-Mittelstreckenraketen in Wiesbaden und Wiedereinführung der Wehrpflicht: Deutschland bereitet sich auf den Krieg vor. Der Feind ist klar benannt und heißt Russland. Während manche Politiker offen davon sprechen, den Krieg nach Russland zu tragen (Roderich Kiesewetter, CDU), schlagen andere moderatere Töne an und wollen die „Verteidigungsfähigkeit“ Deutschlands stärken. Spätestens seit dem Afghanistan-Krieg ist klar, was dies meint: Während Deutschland sich damals noch am Hindukusch „verteidigen“ musste, macht es das heute in der Ukraine und morgen in Moskau.

Wer bedroht hier eigentlich wen?

Für die deutschen Medien und die Politik gibt es seit 2022 nur den „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands“. Die von Russland genannten Gründe, wie die Bedrohung durch die NATO, werden in der deutschen Öffentlichkeit ausschließlich als Lüge verhandelt. Dabei ist offensichtlich, wer den Krieg in der Ukraine befeuert und vorbereitet hat: Es war die NATO, die ihr Einflussgebiet seit 1990 immer weiter Richtung Osten ausgedehnt hat; zuletzt sollte die Ukraine in das Kriegsbündnis eingegliedert werden. Waffenkontrollverträge, wie z. B. der INF-Vertrag, wurden einseitig aufgekündigt, und geforderte Sicherheitsgarantien für Russland blieben aus.

Die Militärmanöver gegen Russland haben in den letzten zwanzig Jahren um ein Vielfaches zugenommen, und die ukrainischen Streitkräfte wurden de facto in NATO-Strukturen eingegliedert.

Heute wird der Krieg in der Ukraine fast ausschließlich mit Waffen der NATO bestritten, die Ausbildung ukrainischer Soldaten findet in NATO-Staaten statt und die Berichte von offiziellen NATO-Strukturen in der Ukraine häufen sich. Die Expansion Deutschlands nach Osten ist nicht neu. Russland ist aufgrund seiner hohen Rohstoffvorkommen, seines großen Absatzmarktes und seiner Investitionsmöglichkeiten seit jeher für deutsche Großbanken und Monopolkonzerne interessant. 1990 stand mit dem Ende der Sowjetunion der Weg nach Osten wieder offen. Das EU-Projekt der Östlichen Partnerschaft entstand und sollte die deutsch-europäische usweitung absichern. Wenn also von der „Verteidigungsfähigkeit“ Deutschlands und der NATO esprochen wird, ist damit die Ausdehnung deren Einflussbereiche gemeint. Russland steht dieser usdehnung im Weg und wird somit selbst zum Kriegsziel. Was Verteidigung genannt wird, ist eigentlich Angriff. Dies ist wichtig zu verstehen, denn die aktuelle Militarisierung und Kriegsvorbereitung werden mit der Lüge einer angeblichen Bedrohung Russlands legitimiert und vollstreckt.

Zeitwende und Kriegsvorbereitung

Während Olaf Scholz den Begriff der Zeitenwende prägte, verkündete Boris Pistorius, dass wir bis 2029 kriegstüchtig werden müssen. Die Waffenlieferungen und die Waffenproduktion sind in den letzten drei Jahren enorm angestiegen. Waffenschmieden wie Rheinmetall fahren Milliardengewinne ein und der taat stellt hohe Subventionen für neue Waffentechnologien zur Verfügung. Waffensysteme, für die aktuell noch das Know-How fehlen, werden aus dem Ausland besorgt. So sollen ab 2026 US-Mittelstreckenraketen in der Nähe von Wiesbaden stationiert werden, die mit einer Reichweite von 2500 km direkt Moskau treffen könnten. Da man nicht nur Waffen, sondern auch Personenmaterial benötigt, soll die Wehrpflicht wieder eingeführt werden. Mit dem neuen Wehrdienst wurde bereits ein Schritt in diese Richtung unternommen. Neben den durchgeführten Militärmanöver, die den Kriegsfall gegen Russland üben, wurde eine dauerhaft stationierte Brigade der Bundeswehr in Litauen beschlossen, um die „NATO-Ostflanke zu stärken“ (Pistorius).

Um die Kriegsvorbereitung zu finanzieren, muss weiter umverteilt werden: Die Reallöhne sinken, im sozialen Bereich wird gespart und künftig sollen Sozialleistungen wie das Bürgergeld, das ohnehin schon unter Armutsgrenze liegt, weiter gekürzt werden. Aber auch Maßnahmen zur Zwangsarbeit, Arbeitszeitverlängerung und eine Einschränkung des Streikrechts sind entweder geplant oder bereits umgesetzt.

Krieg nach außen und nach innen

Der Krieg wird nicht nur nach außen vorbereitet, auch nach innen werden die Töne härter. In den letzten drei Jahren wurden viele Aktive, die gegen den Kriegskurs und die deutsche Unterstützung des Völkermordes in Gaza protestieren, mit Anzeigen und Strafen überzogen. Neben der juristischen Verfolgung hetzen die Medien und trommeln für den Krieg. Die Hetze trifft neben Aktivisten vorrangig russischsprachige Menschen, Migranten und Muslime. Anti-slawischer und anti-muslimischer Rassismus werden im Sinne der Kriegsführung geschürt. Außerdem war und ist Faschismus ein Mittel zur Vorbereitung und Durchführung von Krieg. Das zeigte bereits der Zweite Weltkrieg, der in Deutschland von den Faschisten vorbereitet und geführt wurde. Einige Jahrzehnte später spielen auch in der Ukraine faschistische Akteure wie Swoboda oder das Asow-Bataillon eine wichtige Rolle und werden in der deutschen Öffentlichkeit als Helden gefeiert.

Laut Umfragen stehen viele Menschen dem Kriegskurs der sogenannten Zeitenwende kritisch gegenüber. Große und nachhaltige Proteste bleiben jedoch aus. Bei vielen Menschen kann man Rückzug, Gleichgültigkeit oder Zynismus beobachten – scheinbar in der Hoffnung, so von der drohenden Kriegsgefahr verschont zu bleiben. Dabei ist klar: Der Krieg wird in Deutschland vorbereitet, er wird die ganze Gesellschaft mit einbeziehen und er muss hier gestoppt werden. Leider sind mittlerweile auch viele linke und ehemals friedensorientierte Akteure in den aktuellen Kriegskurs eingebunden worden. So ist beispielsweise die Linkspartei von einer Anti-Kriegs-Haltung abgerückt. Auch die meisten Gewerkschaftsfunktionäre stützen den Kriegskurs, stimmen Waffenlieferungen und dem Umbau zur Kriegswirtschaft zu.

Gegen die deutsche Unterstützung des Völkermordes in Palästina hat sich in den letzten Jahren jedoch eine aktive Protestbewegung herausgebildet, die starker Hetze und Repression ausgesetzt ist. Aktuell haben sich die bisherige Friedens- und die Palästina-Bewegung noch zu wenig miteinander verbunden, doch hier liegt eine wichtige Aufgabe für uns. Es ist nötig, über die Hintergründe und Mittel der Kriegspolitik sowie die Kriegsvorbereitung gegen Russland aufzuklären und dagegen aktiv zu werden. Wir müssen alternative Medien- und Bildungsangebote bekannter machen, die Notwendigkeit von Organisierung aufzeigen und konkrete Handlungsansätze wie z. B. in den Gewerkschaften oder der Palästina-Bewegung verbreiten. Unsere Losungen dabei müssen sein: Russland war und ist nicht unser Feind. Die Bedrohung sind die NATO, die USA und Deutschland, die den Ukraine-Krieg vorbereitet haben. Die Zeitenwende hat das Ziel, Deutschland in großem Stil riegsfähig zu machen. Dieser Krieg ist ein Krieg gegen Russland, und diesen zu stoppen, ist unsere aller Aufgabe.

Stoppt den Völkermord in Palästina! Stoppt den Krieg gegen Russland!

Nein zum Krieg heißt Nein zur NATO!


Aimé Césaire über Kolonialismus, Faschismus und die Entzivilisierung Europas (1950)

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Im Jahr 1950 erschien erstmals Aimé Césaires Essay Discours sur le colonialisme, der 1955 in erweiterter Form neuherausgegeben und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Darin rechnete Césaire radikal mit dem Kolonialismus ab, der von den Herrschenden in Westeuropa damals noch immer offen verteidigt und propagiert wurde.

Césaire wurde 1913 auf der Karibikinsel Martinique geboren, die bis heute unter französischer Herrschaft steht und von einer weißen, von den früheren Sklavenhaltern abstammenden Elite dominiert wird. 1935 trat er der Kommunistischen Jugend und 1945 der Kommunistischen Partei (KPF) bei.

Als antikolonialer Dichter, Schriftsteller, Denker und Politiker prägte Césaire das afro-karibische Bewusstsein. Gemeinsam mit Léopold Sédar Senghor – Dichter und erster Präsident des unabhängigen Senegal – und Léon-Gontran Damas – aus Französisch-Guayana stammender Schriftsteller – gilt er als Mitbegründer der „Négritude“. Er unterrichtete auch den ebenfalls von Martinique stammenden Frantz Fanon, in dessen Buch Schwarze Haut, weiße Maske von 1952 Césaires Einfluss stark zum Ausdruck kommen soll. Fanons Freundin und Biografin Alice Cherki schätzt allerdings ein, dass dieses Werk, obwohl 1952 „revolutionär“ und bis heute für die Postcolonial Studies zentral, Fanon selbst rückblickend nicht sonderlich wichtig gewesen sei.1 Zudem galt Fanon später als Kritiker der „Négritude“. Césaire wiederum weigerte sich, ein Vorwort für Die Verdammten dieser Erde zur verfassen.2

1945 wurde Césaire als Mitglied der KPF zum Bürgermeister der Hauptstadt Martiniques und zum Abgeordneten in die französische Nationalversammlung gewählt.

In seinem zunächst als Ansprache an das Parlament verfassten Essay setzte Césaire u. a. Kolonialismus und Faschismus in Beziehung zueinander. Wenige Jahre nach der Befreiung Europas vom Faschismus geißelte er die Inkonsequenz eines Antifaschismus, der nicht zugleich auch antikolonialistisch war. Die Nazi-Barbarei war seiner Meinung nach eine Art „Bumerang“: Europa entzivilisiere sich in den Kolonien durch die dort ausgeübte Brutalität selbst – bis es die kolonialistische Gewalt schließlich gegen sich selbst wende. Diese Theorie wurde als „Bumerang-Effekt“ bezeichnet und von weiteren Intellektuellen, Theoretikern und Historikern aufgegriffen.3 Wir veröffentlichen hier den entsprechenden Auszug aus Césaires Essay, der nicht nur als zeithistorisches Dokument gelesen werden, sondern auch zum Reflektieren über die heutigen Zustände und die aktuellen Entwicklungen – das neokoloniale Weltsystem, den Aufstieg der radikalen Rechten im Westen, den Genozid in Gaza, den grassierenden Geschichtsrevisionismus und die Vorbereitungen auf einen Dritten Weltkrieg – anregen sollte.

Auf Deutsch erschien der gesamte Essay erstmals 1968 beim Wagenbach-Verlag. Eine neu übersetzte Ausgabe wurde 2017 vom Berliner Alexander Verlag herausgegeben. Der folgende Textauszug wurde von uns aus dem Englischen übersetzt.

Redaktion der Kommunistischen Organisation

Kolonisierung und Zivilisation?

Bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema besteht die häufigste Gefahr darin, in gutem Glauben Opfer einer kollektiven Heuchelei zu werden, die Probleme geschickt verdreht, um die dafür angebotenen verabscheuungswürdigen Lösungen besser legitimieren zu können.

Mit anderen Worten: Das Wesentliche ist hier, klar zu sehen, klar zu denken – das heißt gefährlich zu denken – und die unschuldige Ausgangsfrage klar zu beantworten: Was ist Kolonisierung im Grunde genommen? Sich darüber zu einigen, was sie nicht ist: weder Christianisierung, noch ein philanthropisches Unterfangen, noch der Wunsch, die Grenzen der Unwissenheit, der Krankheit und der Tyrannei zurückzudrängen, noch ein Projekt, das zur größeren Ehre Gottes unternommen wird, noch ein Versuch, die Herrschaft des Rechts auszuweiten; ein für alle Mal zuzugeben, ohne vor den Konsequenzen zurückzuschrecken, dass die entscheidenden Akteure hier der Abenteurer und der Pirat, der große Kolonialwarenhändler und der Reeder, der Goldgräber und der Kaufmann, Appetit und Gewalt sind, und hinter ihnen der unheilvolle Schatten einer Zivilisationsform, die sich an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte aus inneren Gründen gezwungen sieht, den Wettbewerb ihrer antagonistischen Ökonomien auf die ganze Welt auszudehnen.

Wenn ich meine Analyse fortsetze, stelle ich fest, dass die Heuchelei jüngeren Datums ist; dass weder Cortez4, der Mexiko von der Spitze des großen Teocalli aus entdeckte, noch Pizzaro vor Cuzco5 (geschweige denn Marco Polo vor Cambuluc6) behauptete, er sei der Vorbote einer höheren Ordnung; dass sie töteten; dass sie plünderten; dass sie Helme, Lanzen und Habgier hatten; dass die sabbernden Apologeten später kamen; dass der Hauptschuldige in diesem Bereich die christliche Überheblichkeit ist, die die unehrliche Gleichung Christentum = Zivilisation, Heidentum = Barbarei aufgestellt hat, aus der nur abscheuliche kolonialistische und rassistische Konsequenzen folgen konnten, deren Opfer die Indianer, die gelben Völker und die N*g*r7 sein sollten.

Nachdem dies geklärt ist, gebe ich zu, dass es gut ist, verschiedene Zivilisationen miteinander in Kontakt zu bringen; dass es ausgezeichnet ist, verschiedene Welten zu vermischen; dass eine Zivilisation, die sich in sich selbst zurückzieht, unabhängig von ihrem besonderen Genius verkümmert; dass Austausch für Zivilisationen Sauerstoff ist; dass das große Glück Europas darin besteht, ein Kreuzungspunkt gewesen zu sein, und dass es, weil es der Ort aller Ideen war, der Sammelbecken aller Philosophien, der Treffpunkt aller Gefühle, der beste Ort für die Umverteilung von Energie.

Aber dann stelle ich die folgende Frage: Hat die Kolonialisierung wirklich Zivilisationen miteinander in Kontakt gebracht? Oder, wenn Sie so wollen, war sie von allen Möglichkeiten, Kontakte herzustellen, die beste? Ich antworte mit Nein.

Und ich sage, dass zwischen Kolonialisierung und Zivilisation eine unendliche Distanz besteht; dass aus all den kolonialen Expeditionen, die unternommen wurden, aus all den Kolonialgesetzen, die erlassen wurden, aus all den Memoranden, die von allen Ministerien verschickt wurden, kein einziger menschlicher Wert hervorgegangen ist.

Zunächst müssen wir untersuchen, wie Kolonialisierung funktioniert: wie sie den Kolonisator entzivilisiert, ihn im wahrsten Sinne des Wortes verroht, entwürdigt, in ihm verborgene Instinkte, Habgier, Gewalt, Rassenhass und moralischen Relativismus erweckt; und wir müssen aufzeigen, dass jedes Mal, wenn in Vietnam8 ein Kopf abgeschlagen oder ein Auge ausgestochen wird und man dies in Frankreich hinnimmt, jedes Mal, wenn ein kleines Mädchen vergewaltigt wird und man dies in Frankreich hinnimmt, jedes Mal, wenn ein Madagasse9 gefoltert wird und man in Frankreich diese Tatsache akzeptiert, die Zivilisation eine weitere Last auf sich nimmt, eine allgemeine Regression stattfindet, eine Gangrän einsetzt, ein Infektionsherd entsteht; und dass am Ende all dieser Verträge, die gebrochen wurden, all dieser Lügen, die verbreitet wurden, all dieser Strafexpeditionen, die toleriert wurden, all dieser Gefangenen, die gefesselt und „verhört” wurden, all diese Patrioten, die gefoltert wurden, am Ende all des Rassenstolzes, der geschürt wurde, all der Prahlerei, die zur Schau gestellt wurde, ein Gift in die Adern Europas injiziert worden ist und langsam, aber sicher der Kontinent in die Barbarei schreitet.

Und dann, eines schönen Tages, wird die Bourgeoisie durch einen schrecklichen Bumerang-Effekt10 geweckt: Die Gestapo ist beschäftigt, die Gefängnisse füllen sich, die Folterknechte stehen um die Folterbänke herum, erfinden, verfeinern, diskutieren.

Die Menschen sind überrascht, sie sind empört. Sie sagen: „Wie seltsam! Aber egal – es ist nur Nazismus, das geht vorbei!“ Und sie warten und hoffen und verbergen vor sich selbst die Wahrheit, dass es sich um Barbarei handelt, um die höchste Barbarei, die krönende Barbarei, die alle alltäglichen Barbareien zusammenfasst; dass es sich um Nazismus handelt, ja, aber dass sie, bevor sie seine Opfer wurden, seine Komplizen waren; dass sie den Nationalsozialismus geduldet haben, bevor er ihnen aufgezwungen wurde, dass sie ihn freigesprochen, vor ihm die Augen verschlossen, ihn legitimiert haben, weil er bis dahin nur gegen nicht-europäische Völker angewendet worden war; dass sie diesen Nationalsozialismus gepflegt haben, dass sie für ihn verantwortlich sind und dass er, bevor er das gesamte Gebäude der westlichen, christlichen Zivilisation in seinen blutroten Fluten versenkt hat, aus allen Rissen sickerte, triefte und tropfte.

Ja, es wäre lohnenswert, die Schritte Hitlers und des Hitlerismus klinisch und detailliert zu untersuchen und dem so angesehenen, so humanistischen, so christlichen Bourgeois des 20. Jahrhunderts zu offenbaren, dass er, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen Hitler in sich hat, dass Hitler in ihm wohnt, dass Hitler sein Dämon ist, dass er inkonsequent ist, wenn er gegen ihn wettert. Was er Hitler nicht verzeihen kann, ist nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen, nicht die Erniedrigung des Menschen als solchen, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen und die Tatsache, dass er in Europa kolonialistische Methoden angewandt hat, die bis dahin ausschließlich den Arabern in Algerien, den „Kulis” in Indien und den „N*gg*rn” in Afrika vorbehalten waren.

Und das ist das, was ich am Pseudo-Humanismus so sehr ablehne: dass er viel zu lange die Rechte des Menschen eingeschränkt hat, dass sein Verständnis dieser Rechte eng und fragmentarisch, unvollständig und voreingenommen war – und immer noch ist – und alles in allem erbärmlich rassistisch.

Ich habe viel über Hitler gesprochen. Weil er es verdient: Er ermöglicht es, die Dinge im großen Zusammenhang zu sehen und zu begreifen, dass die kapitalistische Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Phase unfähig ist, ein Konzept der Rechte aller Menschen zu etablieren, genauso wie sie sich als unfähig erwiesen hat, ein System individueller Ethik zu etablieren. Ob man es will oder nicht: am Ende der Sackgasse, die Europa darstellt – ich meine das Europa von Adenauer, Schuman11, Bidault12 und einigen anderen – steht Hitler. Am Ende des Kapitalismus, der seine Zeit überleben will, steht Hitler. Am Ende des formalen Humanismus und der philosophischen Entsagung steht Hitler.

Und so kann ich nicht umhin, an eine Aussagen zu denken: „Wir streben nicht nach Gleichheit, sondern nach Herrschaft. Das Land einer fremden Rasse muss wieder ein Land von Leibeigenen, von Landarbeitern oder Industriearbeitern werden. Es geht nicht darum, die Ungleichheiten zwischen den Menschen zu beseitigen, sondern sie zu vergrößern und zu einem Gesetz zu machen.“

Das klingt klar, hochmütig und brutal und versetzt uns mitten in eine heulende Wildheit. Aber lassen Sie uns einen Schritt zurücktreten.

Wer spricht hier? Ich schäme mich, es zu sagen: Es ist der westliche Humanist, der „idealistische“ Philosoph. Dass er Renan13 heißt, ist Zufall. Dass die Passage aus einem Buch mit dem Titel La Réforme intellectuelle et morale stammt, das in Frankreich kurz nach einem Krieg geschrieben wurde, den Frankreich als Krieg des Rechts gegen die Macht dargestellt hatte, sagt viel über die bürgerliche Moral aus:

„Die Erneuerung der minderwertigen oder degenerierten Rassen durch die überlegeneren Rassen ist Teil der göttlichen Ordnung für die Menschheit. Bei uns ist der einfache Mann fast immer ein deklassierter Adliger, seine schwere Hand ist besser für das Schwert als für das Handwerkszeug geeignet. Anstatt zu arbeiten, entscheidet er sich für den Kampf, das heißt, er kehrt zu seinem ursprünglichen Stand zurück. Regere imperio populos (die Völker mit Macht regieren, KO), das ist unsere Berufung. Verbreitet diese alles verzehrende Tätigkeit über Länder, die wie China lautstark nach ausländischer Eroberung schreien. Machet die Abenteurer, die in der europäischen Gesellschaft für Unruhe sorgen, in ein ver sacrum14, eine Horde wie die der Franken, Langobarden oder Normannen, und jeder Mann wird seine richtige Rolle finden. Die Natur hat ein Volk von Arbeitern geschaffen, das chinesische Volk, das über eine wunderbare Handfertigkeit und fast keinen Ehrgefühl verfügt; regiert es mit Gerechtigkeit, erhebt von ihm als Gegenleistung für den Segen einer solchen Regierung einen reichlichen Beitrag für das Eroberervolk, und es wird zufrieden sein; ein Volk von Ackerbauern, die N*g*r; behandelt sie mit Güte und Menschlichkeit, und alles wird sein, wie es sein soll; ein Volk von Herren und Soldaten, das europäische Volk. Reduziert man dieses edle Volk auf die Arbeit im Ergastulum (antike Sklaven-Werkstatt, KO) wie die N*g*r und Chinesen, dann rebelliert es. In Europa ist jeder Rebell mehr oder weniger ein Soldat, der seine Berufung verfehlt hat, ein Geschöpf, das für das heldenhafte Leben geschaffen ist und dem man eine Aufgabe stellt, die seiner Rasse widerspricht, ein armer Arbeiter, ein zu guter Soldat. Aber das Leben, gegen das unsere Arbeiter rebellieren, würde einen Chinesen oder einen Fellachen glücklich machen, da sie nicht im Geringsten militärische Wesen sind. Jeder soll das tun, wozu er bestimmt ist, und alles wird gut.“

Hitler? Rosenberg15? Nein, Renan.

Aber gehen wir noch einen Schritt weiter. Und es ist der langatmige Politiker. Wer protestiert? Niemand, soweit ich weiß, wenn M. Albert Sarraut, der ehemalige Generalgouverneur von Indochina, vor den Studenten der École Coloniale doziert und ihnen beibringt, es sei kindisch, die europäischen Kolonialunternehmen im Namen eines „angeblichen Rechts auf das Land, das man besetzt, und einer Art Recht auf strenge Isolation, die ungenutzte Ressourcen für immer in den Händen von Inkompetenten liegen lassen würde“, abzulehnen.

Und wer empört sich, wenn ein gewisser Hochwürden Barde16 uns versichert, dass die Güter dieser Welt, „wenn sie auf unbestimmte Zeit aufgeteilt blieben, wie es ohne Kolonisierung der Fall wäre, weder den Absichten Gottes noch den gerechten Forderungen der menschlichen Gemeinschaft entsprechen würden”?

Denn, wie sein Mitchrist Hochwürden Müller17 erklärt: „Die Menschheit darf und kann nicht zulassen, dass die Unfähigkeit, Nachlässigkeit und Faulheit der unzivilisierten Völker den Reichtum, den Gott ihnen anvertraut hat, auf unbestimmte Zeit brachliegen lässt, und ihnen dabei aufträgt, ihn zum Wohl aller einzusetzen.“

Niemand.

Ich meine keinen einzigen etablierten Schriftsteller, keinen einzigen Akademiker, keinen einzigen Prediger, keinen einzigen Kreuzritter für das Recht und die Religion, keinen einzigen „Verteidiger der menschlichen Persönlichkeit“.

Und doch sprach durch den Mund der Sarrauts und Bardes, der Müllers und Renans, durch den Mund all derer, die es für rechtmäßig hielten – und halten –, gegenüber nicht-europäischen Völkern „eine Art Enteignung für öffentliche Zwecke“ zugunsten stärkerer und besser ausgestatteter Nationen anzuwenden, bereits Hitler!

Worauf will ich hinaus? Auf diesen Gedanken: dass niemand unschuldig kolonisiert, dass niemand ungestraft kolonisiert; dass eine Nation, die kolonisiert, dass eine Zivilisation, die Kolonisierung – und damit Gewalt – rechtfertigt, bereits eine kranke Zivilisation ist, eine moralisch kranke Zivilisation, die unaufhaltsam, von einer Konsequenz zur nächsten, von einer Verleugnung zur nächsten, ihren Hitler, ich meine ihre Strafe, heraufbeschwört.

Kolonisierung: Brückenkopf in einem Feldzug zur Zivilisierung der Barbarei, aus dem jederzeit die reine und einfache Negation der Zivilisation hervorbrechen kann.

  1. Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Porträt, Hamburg (Edition Nautilus) 2001, S. 50f. ↩︎
  2. Ebd. S. 187. ↩︎
  3. Darauf geht auch ein Aufsatz zum Verhältnis über Faschismus und Kolonialismus aus unserem kürzlich erschienen Sammelband zum Faschismus ein. ↩︎
  4. Hernán Cortés (1485-1529) war spanischer Eroberer und Zerstörer des Aztekenreichs. ↩︎
  5. Francisco Pizarro González (1476/48-1541) war spanischer Eroberer und Zerstörer des Inkareichs. ↩︎
  6. Heute Peking/Beijing. ↩︎
  7. Zensur durch KO. ↩︎
  8. Der Essay entstand mitten im sog. Indochinakrieg (1946-54), in dem Vietnam, Laos und Kambodscha gegen die französische Kolonialherrschaft kämpften. ↩︎
  9. 1947-48 fand auf Madagaskar ein Aufstand gegen die französische Kolonialherrschaft statt, der brutal niedergeschlagen wurde. ↩︎
  10. Diese Formulierung stammt aus der englischen Übersetzung, im französischen Original und der deutschen Übersetzung von 1968 ist von einem „Gegenschlag“ die Rede. Der „Bumerang-Effekt“ hat sich aber, wie in der Einleitung erwähnt, international begrifflich etabliert. ↩︎
  11. Robert Schuman (1886-1963) war ein konservativer französischer Politiker. Im Juli 1940 stimmte er in der Nationalversammlung für die Einsetzung des Vichy-Regimes und bekleidete nach 1945 die Ämter des französischen Außenministers, des Finanzministers, des Ministerpräsidenten und des Präsidenten des Europäischen Parlaments.  ↩︎
  12. Georges Bidault (1899-1983) war in den 1940/50er Jahren u. a. vorsitzender der französischen Christlich-Konservativen, Ministerpräsident und Außenminister Frankreichs. Anfang der 1960er Jahre war er Mitglied der OAS, einer Terrrororganisation kolonialistischer Hardliner, die die Unabhängigkeit Algeriens mittels Anschlägen und eines Putsches verhindern wollte und dabei Tausende Menschen ermordete. ↩︎
  13. Ernest Renan (1823-92) war französischer bürgerlicher Philosoph, Historiker und Orientalist. Er war Verfechter des Kolonialismus und seine „Religionskritik“ richtete sich vor allem gegen Judentum und Islam, die er als fortschrittsfeindlich einstufte. Engels nannte ihn einen „armseligen Plagiator“ der deutschen Religionskritiker: https://www.marxists.org/archive/marx/works/subject/religion/book-revelations.htm. ↩︎
  14. „Heiliger Frühling“, bezeichnet einen antiken Brauch, junge Generationen in die Welt hinauszuschicken, um neue Gebiete zu erobern und Siedlungen zu gründen. ↩︎
  15. Alfred Rosenberg (1893-1946) war galt als Chefideologe und -rassentheoretiker der deutschen Faschisten.  ↩︎
  16. Unbekannt. ↩︎
  17. Unbekannt. ↩︎

Klage eingereicht: Kufiya-Verbot in der Gedenkstätte Buchenwald

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Ohne klare Positionierung gegen den Genozid in Gaza kann es keinen Antifaschismus geben!

Eilantrag gegen Kufiya-Verbot in Buchenwald: Aktivistin wehrt sich gegen Angriff auf antifaschistisches Gedenken – Gedenkstätte Buchenwald bleibt bei umstrittener Handreichung.

Alle Dokumente des Eilverfahrens finden sich auf der Website des Kufiya Netzwerks zum Nachlesen.

Einen Bericht zum Thälmann-Gedenken 2024, wo die Gedenkstätte Buchenwald erstmals Personen den Zutritt wegen Palästina-Shirts und Kufiyas verwehren wollte, findet ihr hier.

Einen Bericht von April 2025, als unserer Genossin der Zutritt zur Gedenkstätte verwehrt wurde, findet ihr hier.

Einen offenen Brief von uns an das Medium „Jung & Naiv“, bei dem der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Wagner, uns als KO öffentlich als Antisemiten diffamiert hat, findet ihr hier.

Eine Stellungnahme der KO zur Kriminalisierung des Roten Dreiecks bzw. Roten Winkels durch das Bundesinnenministerium findet ihr hier.

NATO: Past and Present of the Most Dangerous Organisation on Earth

Recording of event from 24th of June 2025 with Vijay Prashad.

The North Atlantic Treaty Organisation (NATO) claims that it is facing the greatest existential crisis in its nearly eighty-year history. As the Trump administration – on the surface – turned its back on Europe, the region’s leaders scramble to raise funds for the war in Ukraine and their own military buildup. Yet, there has been no concrete indication that the United States will either withdraw from that military instrument or seek to disband it.

NATO serves a wide range of purposes for the USA and its allies and has done so since it was founded in 1949. Bloody wars have consolidated the supremacy of the West: from Europe to Africa and Asia. Despite the rhetoric, Trump is following the ambit of the US elite’s overall approach: namely to maintain global power through instruments such as NATO and a pliant European state system. NATO will remain an instrument of Global North power regardless of the surface bumps that are inevitable in the period ahead. This is confirmed by NATO’s decision earlier this month to launch its largest arms buildup since 1990.

Vijay Prashad, director of the Tricontinental Institute for Social Research, will be present in person to present and discuss parts of the recently by the tricontinental published dossier: “NATO: The Most Dangerous Organization on Earth”. After taking a look at the history of NATO and its subjugation of the global South, we will talk about current developments, the NATO summit and NATO’s main mission: NATO’s China Challenge.

Diskussionsbeitrag: Krieg in der Ukraine

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Wir haben verschiedene Aktive aus der Kommunistischen Bewegung und der Friedensbewegung angefragt, ihre Position zu unseren kürzlich veröffentlichen Thesen zum Ukraine-Krieg darzulegen. Welche Fehler, Probleme und Lücken sehen sie in den Thesen? Welche Punkte finden sie richtig und besonders wichtig?

Ein paar dieser Rückmeldungen werden wir stückweise veröffentlichen. 

Gerne können auch weiterhin Beiträge mit einem Umfang von bis zu vier Seiten eingereicht werden unter:  redaktion@kommunistische-organisation.de


Von Yana Sawazkaja

Vor einiger Zeit hat die Kommunistische Organisation (KO) ihre Position zum Ukraine-Krieg in Form von 18 Diskussionsthesen veröffentlicht. Ich stand mit der KO in Austausch, als diese Thesen erarbeitet wurden, und teile die Position der KO im Allgemeinen. Ich finde, dass die KO, auch wenn sie an anderen Stellen vielleicht kritisiert werden kann, hervorragende Arbeit im antiimperialistischen Bereich leistet.

Einige Bemerkungen zu den Thesen.

Erstens finde ich die Darstellung der Situation richtig. Es wurde richtig erkannt, dass:

Die USA und auch die Bundesrepublik Deutschland haben in der Ukraine ein faschistisches Regime errichtet, das zum Krieg gegen Russland geeignet und bereit ist und von ihnen dazu aufgerüstet und in Abhängigkeit gebracht wurde.“

Dies steht im klaren Gegensatz zur offiziellen deutschen Propaganda, derzufolge die Ukraine „für ihre Freiheit kämpft“. Tatsächlich ist die Ukraine seit 2014 nicht frei, denn damals wurde eine klar prowestliche und profaschistische Regierung durch einen undemokratischen, von außen beeinflussten Putsch an die Macht gebracht. Für welche „Freiheit“ kann die Ukraine jetzt noch kämpfen? Für eine Freiheit, die sie nicht hat? Ich stimme den Thesen in ihren Hauptaussagen zu.

Besonders gut gelungen finde ich die Analyse Deutschlands. Tatsächlich kommt die Diskussion immer auf die Dichotomie zu sprechen: Entweder ist Deutschland ein Vasall der USA und kann selbstständig nichts tun, oder es ist ein gefährliches imperialistisches Raubtier, das mit dem Dritten Reich vergleichbar ist. Tatsächlich, wie im Teil IV richtig erkannt,  „die Lage des deutschen Imperialismus resultiert aus dem Widerspruch, eigenständige Interessen bei gleichzeitiger Unterordnung unter den US-Imperialismus zu verfolgen“.

Ebenso wurde richtig erkannt, dass die kommunistische Bewegung für diese Situation schlecht aufgestellt ist. Viele Organisationen haben die falsche Position der Äquidistanz (de facto eine pro-NATO-Position) eingenommen oder es kam zur Spaltung (KO selbst war keine Ausnahme).

Wo liegen aber die Ursachen für das Scheitern der Kommunisten? Wir können nur spekulieren, inwieweit die Äquidistanz-Position und die Leugnung der Imperialismus-Theorie Lenins (die sogenannte „Theorie der imperialistischen Pyramide“, die vor allem von der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) vertreten wird) tatsächlich eine eigenständige Entwicklung der kommunistischen Theorie war oder ob es sich dabei um eine von Agenten des Imperialismus eingespritzte Giftdosis handelt, die die kommunistische Bewegung weltweit zersetzt hat.

Es liegt auf der Hand, dass die theoretische Schwäche der kommunistischen Bewegung insgesamt dazu geführt hat, dass sich solche Theorien durchsetzen konnten. Und diese Schwäche besteht leider weiterhin, was auch für Organisationen mit antiimperialistischen Positionen gilt (wenn auch in geringerem Ausmaß als bei den Anhängern der „Pyramiden-Theorie“).

Das betrifft auch mich persönlich. Aus diesem Grund kann ich hier nur Fragen stellen und die Stellen zeigen, die auf diese theoretische Schwäche hinweisen könnten. Also die Stellen, an denen weiterer Forschungsbedarf besteht.

Insbesondere würde ich die hier die zwei Diskussionspunkte erwähnen.

  1. Die Thesen 3. Und 8. betreffen die Arbeiterklasse.

Die Kommunisten verstehen sich als Teil der Arbeiterklasse und als deren Vertreter.

Und zweifellos besteht das Interesse sowohl der russischen als auch der ukrainischen Arbeiterklasse darin, das faschistische Kiewer Regime zu beseitigen und sich vor dem imperialistischen Angriff des Westens zu schützen. Auch wenn die Arbeiterklasse dafür in den Krieg ziehen, Menschenleben verlieren und leiden muss.

Hier stellen sich zwei Fragen:

– Ist dieses Interesse spezifisch für die Arbeiterklasse oder betrifft es auch andere Teile der Bevölkerung, beispielsweise die Kleinbourgeoisie, die in der Ukraine besonders stark vertreten ist? Auch die mittlere Bourgeoisie hat Interesse daran. Eigentlich ja. Die russische mittlere Bourgeoisie ist, zum Beispiel, aktiv und initiativ an der Speziellen Militäroperation (SMO) beteiligt. Was das Großkapital betrifft, sind nur Prigozhin (bereits tot) und Ivanov (Diamantenabbau in Jakutien) an der SMO beteiligt.

Warum sprechen wir dann über die Arbeiterklasse und nicht über die Völker Russlands und der Ukraine?

Es ist bekannt, dass Lenin und Stalin sowohl über den Kampf der Arbeiterklasse als auch über den Kampf der unterdrückten Völker gegen den Imperialismus geschrieben haben. Die Verbindung zwischen diesen beiden Arten der Befreiungsbewegung sollte noch genauer erforscht werden. Betrachten wir Kuba als Beispiel: Der reine antiimperialistische Kampf, der nicht von der Kommunistischen Partei Kubas, sondern vom unterdrückten Volk (überwiegend Bauern) als Guerilla geführt wurde, ging erst dann in eine sozialistische Richtung, als die Sowjetunion die Revolution unterstützte. Deshalb spricht man in Lateinamerika vom „Castro-Kommunismus“. Bei dieser Art des Befreiungskampfes steht nicht der Arbeiterkampf im Vordergrund, sondern die nationale Befreiungsbewegung. Das revolutionäre Subjekt ist nicht die Arbeiterklasse, sondern das unterdrückte Volk als Ganzes.

Der Übergang zum Sozialismus findet nicht statt, weil die Arbeiter ihre Interessen durchsetzen, sondern weil nur sozialistische Reformen es dem Volk erlauben, sich effektiv gegen imperialistische Aggression zu schützen.

Dabei kann die kommunistische Partei sogar eine reaktionäre Rolle spielen. Ein Beispiel hierfür ist die Kommunistische Partei Venezuelas, die zwar die Regierung zurecht kritisiert, sich aber de facto auf die Seite der liberalen, pro-US-amerikanischen Opposition stellt.

Wie soll das in die kommunistische Theorie eingeführt und wie soll es beschrieben werden? Ich bin nicht in der Lage, das zu formulieren und möchte nur auf dieses Problem hinweisen.

Diese Problematik hat auch bestimmte Folgen.

Zitat:

die (russische, Anm. Autorin) Arbeiterklasse ist die einzige Klasse, die konsequent für die Verteidigung der nationalen Souveränität einstehen und kämpfen wird. Sie muss daher gestärkt werden. Ihr Interesse liegt in einer konsequenten antiimperialistischen Umwälzung zum Sozialismus. Das geht nur über die Stärkung der Kommunistischen Partei.

Die russischen Kommunisten stehen vor dem gleichen Problem wie ihre venezolanischen, belarussischen und anderen Genossen in Ländern, deren Bevölkerung gerade einen antiimperialistischen Kampf führt.

Nur Kuba, die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) und bedingt Vietnam, Laos und China haben dieses Problem nicht, denn dort ist die Regierung faktisch oder formal kommunistisch.

Wenn KO vorschlägt, die russische Kommunistische Partei als Arbeiterpartei zu unterstützen, welche Partei ist dann gemeint und welche politische Ausrichtung wird dabei vertreten?

Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die größte KP Russlands, ist im Parlament (Duma) vertreten. Ihre Führung und die meisten Verbände stehen voll und ganz an der Seite der Regierung. Sie wird dafür von den anderen Parteien kritisiert, da sie ihrer Meinung nach zu viel Unterstützung und zu wenig Kritik übt. Die KPRF ist keine klassische Partei der Arbeiterklasse. Es ist gut bekannt, dass die mittelständische und große Bourgeoisie dort stark vertreten ist (z.B. Muravlenko, Kulikov, Grudinin*). Programmatisch ist sie auch eher sozialdemokratisch ausgerichtet, da weder eine Revolution noch eine Diktatur des Proletariats vorgesehen sind. Außerdem ist die KPRF eine Sammelbewegung und nicht einheitlich. Es gibt viele Vertreter der KPRF in Regionalorganisationen, die in Wirklichkeit „Kriegsgegner“ (Leute, die die SMO ablehnen, Anm. der Redaktion) sind und der liberalen russischen Opposition nahestehen.

Die anderen Parteien (Russische Kommunistische Arbeiterpartei RKAP, Vereinigte Kommunistische Partei OKP, All-Unions Kommunistische Partei (Bolschewiki) VKPb) haben zwar klassisch marxistisch-leninistische Programme, sind aber zersplittert und zu klein, um die russische Arbeiterklasse zu vertreten.

Wen also sollte man stärken, wen unterstützen? Das ist nicht klar.

Die meisten russischen Kommunisten (wie z. B. die Linke Front (linke Sammlungsbewegung mit positivem Bezug auf den Sozialismus, Anm. Redaktion) oder die RKAP) vertreten die Position der „kritischen Unterstützung“, das scheint in dieser Situation richtig zu sein.
Aus Erfahrung kann ich jedoch sagen, dass „Kritik um jeden Preis“ dazu führt, dass Kommunisten Handlungen fälschlicherweise kritisieren, die tatsächlich militärisch, diplomatisch oder ökonomisch begründet sind. Oder die berechtigte Kritik wird in solchen Ausdrücken und in solch einem radikalen Ton geführt, dass sie faktisch ungewollt zu Propaganda gegen die SMO wird.

Schlimm ist dabei nicht nur, dass diese Kommunisten sich der Repression aussetzen, denn die russische Regierung mag Kritiker genauso wenig wie jede andere Regierung auch. Noch schlimmer ist, dass sie die Arbeiterklasse oder, eher gesagt, die Sympies der kommunistischen Bewegung falsch orientieren.

Noch problematischer wird es, wenn wir an unterdrückte Völker wie die Sahel-Länder oder die Palästinenser denken: Wo verläuft die Grenze zwischen „Arbeiterklasse“ und „Nicht-Arbeiterklasse“? Unterscheidet die israelische Bombe, wenn sie gerade massakriert, ob es sich um einen Arbeiter, einen Händler oder einen Bauern handelt? Zum Glück ist die Kommunistische Partei Palästinas nicht dogmatisch und unterstützt auch die Hamas, wenn es um die Rettung und Befreiung des Volkes geht. Wie soll das aber theoretisch begründet worden? Wo ist der Platz des klassischen Arbeiterkampfes an dieser Stelle?

Gerade darin liegt der Kern des theoretischen Problems: Wir sprechen, wie es im Marxismus üblich ist, vom „Kampf der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker“, reflektieren dies aber nicht weiter.

Keine Frage, die Verstaatlichung der nationalen Wirtschaft oder ein großer Einfluss des Staates sind für den nationalen Unabhängigkeitskampf unabdingbar. Aber ist das zwangsläufig das Ergebnis des „Kampfes der Arbeiterklasse“ im klassischen Sinne? Und ist das überhaupt Sozialismus? Das sind Fragen, die immer noch nicht beantwortet wurden.

So verfügt die Arbeiterklasse im modernen Russland kaum über Klassenbewusstsein und ist eine „Klasse an sich“. Ein ökonomischer Kampf findet nur sporadisch statt, ein politisches Klassenbewusstsein fehlt. Man kann natürlich über die Interessen der Arbeiterklasse sprechen, denn solche hat natürlich auch eine „Klasse an sich“. Wir können aber nicht erwarten, dass diese Klasse ihre Interessen als Klasse durchsetzt. Nur als Teil des von Abhängigkeit bedrohten Volkes handelt diese Klasse.

Noch komplexer ist die Situation im Donbass, wo die Arbeiterklasse einerseits durch Industriearbeiter (davon viele Bergleute) vertreten ist und ihre Interessen stärker als in Russland allgemein durch die Gewerkschaften durchsetzt. Andererseits ist dieser Kampf eng mit dem nationalen antifaschistischen Befreiungskampf verflochten, der ganz bewusst von der Arbeiterklasse geführt wird. Es wurde immer betont, dass der Kampf im Donbass „von Bergleuten und Traktorfahrern“ ausgeht. Von außen scheint es nahezu unmöglich zu verstehen, wo dieser Kampf tatsächlich den Interessen der Arbeiterklasse entspricht und an welcher Stelle die Menschen durch Demagogen oder gar ukrainische Agenten getäuscht werden.

Ich möchte hier nicht kritisieren, sondern darauf hinweisen, dass der Zusammenhang und das Zusammenspiel zwischen nationalem Befreiungskampf und Klassenkampf noch kaum erforscht und sehr komplex sind.

Ein zweites großes Thema betrifft die Situation im Westen. Es ist nicht zu übersehen, dass die herrschende Klasse der USA nicht mehr einheitlich handelt. Tatsächlich kann man bereits über die Spitze der herrschenden Klasse sprechen, die die globalen Prozesse steuert. In dieser Frage besteht jedoch Forschungsbedarf. Die grobe Teilung durch die Parteien der Demokraten und Republikaner bedeutet eine große Spaltung der herrschenden Klasse. Dies ist ein Anzeichen der allgemeinen Krise des Imperialismus, die sich insbesondere seit 2008 vertieft hat. Gerade seit dieser Zeit wird beispielsweise die Woke-Ideologie eingesetzt. Nach einigen Jahren ist die gesamte westliche Welt von dieser Spaltung geprägt. Auch in Deutschland bewegen sich die meisten herrschenden Parteien (die Grünen an vorderster Front) im Sinne der Demokratischen Partei, während die immer populärer werdende AfD (teilweise auch die CDU/CSU) sich an Trump orientiert. Der sogenannte „Kampf gegen Rechts“, der von der Regierung geführt wird, ist in Wirklichkeit der Kampf der Wokisten gegen den konservativen Imperialismus. Beide Ideologien führen zu unterschiedlichsten, aber gleichermaßen schrecklichen Folgen – nicht nur für die Arbeiterklasse, sondern für das gesamte Leben auf unserem Planeten.

Die Frage nach der Rolle der Kommunisten bzw. danach, wie sich die Unterdrückten in dieser Situation organisieren und wehren müssen, kann erst gestellt werden, wenn eine tiefgreifende Analyse der heutigen Situation vorliegt. Eine solche Analyse liegt bisher nicht vor.

Podcast #53 – Neues aus Russland mit Ulrich Heyden

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Mit dem Autor und Journalisten Ulrich Heyden kamen wir über aktuelle innen- und außenpolitische Entwicklungen in Russland ins Gespräch. Wir sprachen mit dem in Moskau lebenden Autor und Journalisten über aktuelle Entwicklungen in der russischen Gesellschaft und Politik sowie in den neuen russischen Gebieten. Außerdem sprachen wir über seine Zeit als Auslandskorrespondent beim Deutschlandfunk und anderen deutschen Leitmedien sowie über die Bewertung des Ukraine-Kriegs in der Kommunistischen Bewegung.

Thesen zum Krieg in der Ukraine (Audio)

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Die Thesen als Text sind auf unserer Website veröffentlicht.⁠

Wenn in diesen Thesen die Rede davon ist, dass die NATO Krieg gegen Russland führt, dann bedeutet das auch, dass dieser Krieg mit einem möglichen Abkommen in der Ukraine nicht beendet sein wird. Der große Krieg gegen Russland wird erst vorbereitet.

Wir halten mit den 18 Thesen über den Krieg in der Ukraine einen Zwischenstand unserer Diskussionen fest. Sie sollen zur öffentlichen Auseinandersetzung beitragen. Wer Kommentare, Kritiken oder Diskussionsbeiträge formulieren will, kann uns diese gern zusenden.

Faschismus und Kolonialismus – Faschismus als Kolonialismus?

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von Leon Wystrychowski

Wir veröffentlichen die einzelnen Kapitel und Abschnitte der Broschüre „Faschismus – Kommunistische und bürgerliche Analysen im Überblick“ als Fließtexte Online. Die gesamte Broschüre ist bereits auf der Website verfügbar.


Abstract: Der Text versucht, einen Einblick in die verschiedenen Analyseansätze und Debatten rund um die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Kolonialismus und Faschismus zu geben. Als zentrale inhaltliche Ebenen werden eingangs 1. die kolonialen Wurzeln des Faschismus, 2. die „klassische“ Kolonialpolitik, die von den Faschisten fortgesetzt wurde, 3. die faschistische Kolonialpolitik in Osteuropa und 4. die Wesensverwandtschaft oder gar -identität der beiden Phänomene ausgemacht. Anhand von Aussagen und Einschätzungen verschiedener politischer und akademischer Akteure verfolgt der Text die Auseinandersetzungen um diese Fragen von den 1930er Jahren bis in die Gegenwart. Obwohl er vor allem auf der Darstellungsebene bleibt, ordnet der Text die verschiedenen Aussagen in ihren jeweiligen historischen Kontext ein, zieht Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Diskurssträngen und argumentiert, inwiefern das Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Faschismus eine Bereicherung für das Verständnis des Phänomens Faschismus sein kann.

Zwischen 1936 und 1961 äußerten sich politische Akteure und Intellektuelle verschiedener Lager – von deutschen und palästinensischen Kommunisten bis Hannah Arendt, von Mahatma Gandhi bis Frantz Fanon – zu den Zusammenhängen zwischen Faschismus und Kolonialismus. Doch danach war lange wenig zu diesem Thema zu vernehmen. Erst in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten wurde es wieder, unter Einfluss der Postcolonial Studies, auf die wissenschaftliche – und zugleich politische – Tagesordnung gesetzt.

Diese Zusammenhänge berühren vor allem vier verschiedene Ebenen: Zunächst die „klassische Kolonialpolitik“ der faschistischen Regime vor allem gegenüber Afrika. Dann die Vernichtungs- und Eroberungspolitik in Osteuropa, die mit der „Notwendigkeit“ der Eroberung des „Lebensraums“ für das deutsche Volk legitimiert wurde und die in der Forschung in den letzten Jahren vermehrt in eine Reihe mit Kolonialkriegen gesetzt wurde. Und schließlich ist da die Frage nach den kolonialen Wurzeln und Kontinuitäten des Faschismus an sich: personell, ideologisch und vor allem die Herrschaftspraxis betreffend. Insbesondere der letztgenannte Aspekt wirft sogleich die Frage auf, ob der Kolonialismus eine Form des Faschismus ist. 

Der Text beginnt mit einem kurzen Überblick über die reale faschistische Kolonialpolitik am Beispiel Deutschlands und Italiens. Anschließend werden die Forschung und Debatte rund um das Thema Faschismus und Kolonialismus – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – anhand der vier ausgemachten Ebenen nacheinander dargestellt. Dabei sei vorweggeschickt, dass viele der hier behandelten Autoren die Begriffe Faschismus und Kolonialismus nicht immer konsequent und durchgängig in gleicher Weise verwendet haben. Erst recht gibt es unter den Autoren kein einheitliches Verständnis dieser beiden Phänomene. Ausgeklammert werden musste hier die letztlich strategische Frage nach den Zusammenhängen und Widersprüchen zwischen Antikolonialismus und Antifaschismus, obwohl sich einige der hier behandelten Autoren zu diesen Fragen kontrovers positioniert haben.

1. Faschistische Kolonialpolitik in Afrika

Die wichtigsten faschistischen oder proto-faschistischen Regime Europas – Italien, Deutschland, Spanien, Portugal und das Vichy-Regime – haben eine aktive Kolonialpolitik vor allem in Afrika betrieben.

Italiens Kolonialpolitik bezog sich in erster Linie auf Nord- und Ostafrika. Die Italiener schafften es bis zur Machtübernahme der Faschisten weder, das 1912 besetzte Libyen wirklich unter Kontrolle zu bringen, noch es in eine wirkliche Siedlerkolonie zu verwandeln. Zwar war die „Übergangsphase von Liberalismus zu Faschismus“ von weitgehenden Kontinuitäten in der Kolonialpolitik geprägt, weil man 1922-25 noch mit der Errichtung der uneingeschränkten faschistischen Diktatur beschäftigt war.[1] Trotzdem begann bereits ab 1923 ein Eroberungsfeldzug, der bald die Form eines Vernichtungskriegs annahm: Giftgas, Bombardements und Massenerschießungen gehörten genauso zur Praxis wie die systematische Vernichtung der Viehbestände, um den Libyern die Lebensgrundlage zu entziehen.[2] Darüber hinaus wurden rund 15 Prozent der Libyer in Konzentrationslager gesperrt, von denen nur eine Minderheit überlebte.[3] Auf diese Weise wurde Libyen bis 1931 „befriedet“. Im Zuge des italienisch-deutschen Nordafrika-Feldzuges 1940-43 kam es dann erneut zu Masseninternierungen, -vergewaltigungen, -morden und Plünderungen durch italienische und Wehrmachtssoldaten sowie Siedler, was übrigens von General Rommel, der bis heute in der BRD den Ruf eines „unideologischen Saubermanns“ genießt, mindestens gebilligt wurde.[4]

Am 3. Oktober 1935 überfiel Italien das Königreich Äthiopien. Für die meisten afrikanischen und einige europäische Historiker kennzeichnet dieses Datum den eigentlichen Beginn des Zweiten Weltkriegs.[5] Auch in diesem Krieg wurde die Zivilbevölkerung „gezielt gedemütigt, vertrieben, interniert und getötet“, es kam Giftgas in großem Stil zum Einsatz und die Lebensgrundlage der Äthiopier wurde „durch das Abbrennen ganzer Landschaften, die Bombardierungen und die Vergiftung der Viehherden“ systematisch zerstört.[6] Sowohl die Zerschlagung des Widerstands in Libyen und die folgende Einwanderung arbeitsloser Siedler dorthin als auch der Angriffskrieg auf Äthiopien „stärkten“ Gerhard Feldbauer[7] zufolge „den Masseneinfluss und die Stabilität des Regimes“ in Rom.[8]

In Deutschland wiederum unterstützten die Nazis die Forderung nach der „Rückgabe“ der 1919 abgetretenen Kolonien. In den Reihen der NSDAP fanden sich alte „Kolonialhelden“, wie etwa der an der Niederschlagung des Yihetuan-Aufstandes in China und am Völkermord an den Herero und Nama in Namibia beteiligte Franz Ritter von Epp. Dieser wurde nach 1933 zum Chef des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP und des Reichskolonialbundes (RKB) ernannt.[9]Insbesondere ab 1935 wurde die Kolonialpropaganda massiv forciert.[10] Diese war sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet. Die „Rückgabe“ der ehemaligen deutschen Kolonien wurde insbesondere gegenüber Großbritannien eingefordert. Zugleich stellten sich die Nazis als Vertreter der „weißen Rasse“ und als antikommunistisches Bollwerk Europas dar: Ihre Herrschaft in Afrika werde das „Rückgrat gegen die bolschewistischen Angriffe in den Kolonialländern“ sein, „mit günstiger Auswirkung für Europa.“[11] Bis 1941 stieg die Mitgliederzahl des RKB von 40.000 im Jahr 1933 auf 2 Millionen an.[12]

Schon vor Kriegsbeginn studierten die Nazis den Kolonialismus des faschistischen Italiens in Afrika aufmerksam.[13]Ende der 1930er Jahre begannen die ersten Planspiele für die Neuaufteilung Afrikas.[14] Parallel wurde bereits ein kolonialer Verwaltungsapparat aufgebaut. Dieses Unternehmen stand zwar strategisch immer hinter dem Endsieg im Ostfeldzug zurück – so wurden diese Aufbauarbeiten Ende 1941 zurückgefahren –, doch erst Anfang 1943, zwei Wochen nach der Niederlage bei Stalingrad, wurden sie vollends auf Eis gelegt.[15] Zunächst aber rückte ein deutsches Kolonialreich in Afrika mit dem Sieg über Frankreich im Sommer 1940 in scheinbar greifbare Nähe. Die IG Farben, die Deutsche Bank, das Oberkommando der Wehrmacht und das Auswärtige Amt arbeiteten Pläne für ein deutsches Herrschaftsgebiet aus, das von der afrikanischen West- bis zur Ostküste reichen und vor allem Französisch-Äquatorialafrika und Belgisch-Kongo umfassen sollte. Dabei ging es insbesondere um die Ausbeutung von Bodenschätzen.[16] Die Pläne entsprachen weitgehend jenen, die das Kaiserreich bereits während des Ersten Weltkriegs ausgearbeitet hatte.[17] Allerdings wurden sie mit Blick auf Italien, Spanien, Portugal und Vichy wiederholt angepasst und schließlich vorerst verworfen bzw. angesichts des bevorstehenden Krieges gegen die Sowjetunion zurückgestellt.[18] Stattdessen beutete Deutschland die unter Kontrolle Vichys stehenden Afrika-Kolonien aus.[19]

Die NS-Führung ließ keinen Zweifel daran, dass das Hauptobjekt ihrer Begierde, der von ihr so bezeichnete „Lebensraum“, in erster Linie in Osteuropa lag. Afrika dagegen könne „nur zusätzliche Ausbeutungskolonien für tropische Rohstoffe“ bieten.[20] Die „klassische“ Kolonialpolitik wurde entsprechend der Zerschlagung der Sowjetunion untergeordnet. Es gab während der ersten Jahre der Nazi-Herrschaft durchaus Streit um die Frage, inwiefern Kolonialambitionen in Afrika mit den Eroberungsplänen in Europa in Einklang zu bringen seien.[21] Zudem gab es Verfechter einer „peripheren Strategie“, der zufolge man sich zunächst auf die Ausschaltung Großbritanniens, insbesondere im Mittelmeerraum, konzentrieren sollte.[22] Diese beiden Konzepte – Eroberung von Kolonien und Sicherung des Mittelmeers – waren zum Teil miteinander verwoben und wurden von sich überschneidenden Macht- und Personenkreisen unterstützt, wobei es allerdings bei der „Mittelmeerstrategie“ nicht primär um koloniale Interessen in Afrika ging, sondern darum, London zu isolieren und den eigenen Erdölbedarf durch Zugriff auf die Quellen im Nahen Osten zu decken. Da es sich bei den Befürwortern dieser Strategie zwar „um eine ziemlich große, aber keineswegs dauerhafte, konsistente, einheitlich auftretende oder gar organisierte Fraktion“ handelte,[23] setzte sich letztlich die gerade auch von Hitler vertretene Strategie des „Kontinentalkrieges“ und der Fokussierung auf Osteuropa durch.

2. Faschistischer Kolonialismus

Dass die Faschisten rassistischen und kolonialistischen Vorstellungen anhingen und eigene koloniale Ziele verfolgten, war auch für Zeitgenossen kein Geheimnis: Indem er in seinem Buch über die britische Kolonialherrschaft in Afrika „solchen Quatsch“ wie „die Lehre der ‚Bürde des weißen Mannes‘, der ‚nordischen Überlegenheit‘“ oder „dem ‚Gottesgnadentum der Arier‘“ auflistete, stellte George Padmore[24] 1936 die Ideologie der deutschen Faschisten in eine Reihe mit anderen in Europa vorherrschenden Kolonialideologien. Zugleich betonte er, dass „Mussolini sich als Verfechter der weißen Rasse in Afrika ausgibt“.[25] M. N. Roy[26] machte zwei Jahre später deutlich: „Von seiner Geburt an war der Faschismus als internationales Phänomen offenkundig imperialistisch“,[27] womit er offensichtlich in erster Linie kolonialistisch meinte. Er wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Nazis schon immer Kolonien gefordert hatten und dass Mussolini deutlich gemacht habe, dass Italien sich Gebiete in Afrika und Asien unterwerfen wolle.[28] Seinen Landsleuten, die das Gerede der Nazis über „Arier“ missverstanden, machte er deutlich: „Faschistischer Arianismus ist der Kult der Überlegenheit der weißen Rasse.“[29] Die deutschen „Herrenmenschen“ seien als „gute Europäer“ und „Retter der Welt“ angetreten, um gemeinsam „mit den Briten „die Last des weißen Mannes“ zu teilen.“[30]

Beide waren mit diesen Einsichten nicht allein. Unter arabischen Intellektuellen und in der arabischen Presse etwa wurde die rassistische (einschließlich der antisemitischen), kolonialistische und imperialistische Ideologie des Faschismus immer wieder betont und verurteilt, und zwar sowohl von linker als auch von liberaler, nationalistischer oder islamischer Seite.[31] Die Nationale Befreiungsliga, die 1943 aus der Spaltung der Kommunistischen Partei Palästinas in eine jüdisch-zionistische und eine palästinensische Sektion hervorging, nannte den von den Nazis entfesselten Weltkrieg in ihrem Gründungspapier „die schrecklichste und aggressivste koloniale Bewegung, die die Menschheit je gesehen hat.“[32]

Zur Kolonialpolitik Nazi-Deutschlands wurden in den 1960er Jahren die ersten wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht. Den Vorreiter machte, wie so oft, die DDR: 1961 erschien ein Aufsatz von Horst Kühne über die „faschistische Rassentheorie im Dienst der Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus“ und im Jahr darauf ein Buch desselben Autors zum selben Thema.[33] 1965 erschienen ein Heft über die Afrika-Politik der IG Farben und ein Aufsatz über die Kolonialforderungen Nazideutschlands.[34] Die BRD zog 1963 mit einem Aufsatz und 1967 und 1969 mit je einer Monografie nach.[35] In den folgenden mehr als zwei Jahrzehnten erschienen verschiedene Aufsätze zur Kolonialpolitik Nazi-Deutschlands, sowohl in der DDR als auch in der BRD. In den DDR-Standardwerken zur Geschichte Afrikas und zur Geschichte der Araber wurde die Zeit des Zweiten Weltkriegs und insbesondere die Politik der faschistischen Mächte gegenüber diesen Regionen relativ ausführlich behandelt,[36] während die Jahre 1933-45 in den meisten westdeutschen Werken bis heute in wenigen Zeilen abgehandelt werden. 1993 wurde die bereits zwei Jahrzehnte zuvor fertiggestellte Dissertation des kameruneschen Historikers Alexandre Kum’a Ndumbe III. zur Afrika-Politik der Nazis auf Deutsch verlegt.[37] Seither erschienen einige weitere Aufsätze und seit den 2000er Jahren auch mehrere Bücher zur faschistischen Kolonial- und zur damit thematisch zwangsläufig eng verknüpften Afrika-, Araber- und Islampolitik.

Einige bürgerliche Historiker führen die strategische Fokussierung der faschistischen Führung Deutschlands auf den Osten und gegen die Sowjetunion in erster Linie auf die Person Hitlers und auf dessen ideologisches Programm zurück.[38] Gerade Klaus Hildebrand, der 1969 eine fast 1000 Seiten starke Studie zur Kolonialpolitik der NSDAP vorgelegt hatte, vertrat die These eines „Hitler’schen Programms“. An dieser Personen- und Ideologiefixierung wiederum wurde von marxistischer Seite scharfe Kritik geübt.[39] Aber auch Ndumbe III. warf Hildebrand vor, „die ökonomischen Faktoren […] zu wenig [zu] berücksichtig[en].“[40] Allerdings lieferte Hildebrand auch einen für eine materialistische Argumentation durchaus interessanten Hinweis, indem er betonte, dass zwar die verarbeitende und die chemische Industrie (insbesondere die IG Farben) sowie das Handelskapital ein unmittelbares ökonomisches Interesse an afrikanischen Kolonien gehabt hätten, die Schwerindustrie – mit Ausnahme der Krupp AG – dagegen kaum.[41]

Die Funktion der kolonialen Propagandakampagne ab 1935/36 wird in der Literatur relativ einhellig eingeordnet. Die folgende Auflistung stützt sich auf Kühne: Außenpolitisch wollte man mit den lautstarken revisionistischen Forderungen Großbritannien zum Einlenken gegenüber den deutschen Ambitionen in Osteuropa bewegen. Innenpolitisch diente die Kolonialpropaganda einerseits der Ablenkung vom durch die massive Aufrüstung verursachten sinkenden Lebensstandard der Bevölkerung. Andererseits und vor allem aber war sie ein wichtiges Mittel der ideologischen Kriegsvorbereitung. Darin lag eine Besonderheit: Das Problem war nämlich, dass die Briten als „nordisches Brudervolk“ galten und Rassismus hier also unbrauchbar war. Daher griff man in Berlin erneut zur Polemik gegen das „Versailler Diktat“ und die deutschen Kolonien in „fremder Hand“. Darüber hinaus sollte die Kolonialpropaganda das deutsche Volk auf einen weiteren kolonialen Raubkrieg einstimmen, diesmal in Europa selbst.[42]

Was die italienische Kolonialpolitik angeht, so kritisiert Francesco Filippi in einer kürzlich auf Deutsch erschienenen Arbeit, dass der eigene Kolonialismus im italienischen Diskurs zumeist auf den „Kolonialismus „Marke Mussolini““ verkürzt und die „Verantwortung Italiens […] auf die zwanzig Jahre der Mussolini-Herrschaft beschränkt“ bleibe.[43]Allerdings war der Angriffskrieg des faschistischen Italien 1935 auf Äthiopien letztlich das einzige italienische Kolonialunternehmen, das nicht de facto im Interesse des britischen Imperialismus lag und auch nicht mit London im Vorhinein abgestimmt war. Insofern ließe sich argumentieren, dass die italienischen Faschisten nicht nur die Kolonialpolitik der Liberalen fortgesetzt und in ihrer Brutalität auf die Spitze getrieben, sondern sie auch erstmals zu einem eigenständigen Projekt des italienischen Imperialismus gemacht haben. Das umso mehr, als Mussolini sein ostafrikanisches Imperium nun explizit gegen Großbritannien durchsetzen wollte, indem er von Libyen aus in Richtung Ägypten marschieren ließ, um den Sueskanal zu besetzen und Ägypten und den Sudan unter Kontrolle zu bringen.[44]Gabriele Schneider wiederum ging anhand der Kolonialpolitik der italienischen Faschisten der Behauptung von Historikern wie Renzo De Felice, Karl Dietrich Bracher oder Hildebrand nach, wonach der „Nationalsozialismus“ und der italienische Faschismus sich dadurch unterschieden, dass letzterer deutlich weniger rassistisch gewesen sei. Damit argumentieren sie zugleich gegen einen universellen Faschismus-Begriff.[45] Sie kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Rassismus zwar „nicht als ein konstituierendes Element“ des italienischen Faschismus angesehen werden könne, das spätere, sowohl mit der Kolonialpolitik in Libyen und dem Überfall auf Äthiopien als auch mit dem an Nazi-Deutschland orientierten antisemitischen Kurs zusammenhängende „Einschwenken auf rassenpolitische Prämissen – bei allen Unterschieden in Intensität und Ausprägung – wiederum die ideologische Affinität der deutschen und italienischen Diktatur“ durchaus beweise.[46]

Zuletzt ein paar Anmerkungen zur faschistischen Politik gegenüber den Arabern bzw. Muslimen: Dieses Thema ist aufgrund des gerade in Deutschland weit verbreiteten Geschichtsrevisionismus à la Benjamin Netanjahu, Matthias Küntzel, Amadeu-Antonio-Stiftung und Ruhrbarone von hoher Aktualität. 1965 erschien in der DDR eine Pionierarbeit von Heinz Tillmann zu „Deutschlands Araberpolitik im zweiten Weltkrieg“,[47] an die insbesondere der ehemalige DDR-Arabist und -Islamwissenschaftler Gerhard Höpp und das Zentrum Moderner Orient (ZMO) kritisch anschlossen. Höpp, das ZMO und einige andere Autoren konnten in den zwei Jahrzehnten, gestützt auf arabische Quellen, den Mythos widerlegen, wonach die Faschisten einen starken Einfluss oder auch nur besonders große Sympathie in den arabischen Ländern genossen hätten.[48] Wie oben erwähnt, waren sich viele Intellektuelle und Politiker über den rassistischen und imperialistischen Charakter der Faschisten im Klaren. Zwar bemühten sich Mussolini, Franco und Hitler tatsächlich zu verschiedenen Zeiten und mit verschiedenen Zielen – um ihre eigenen Kolonien ruhig zu halten, um die britische bzw. französische Kolonialherrschaft zu destabilisieren, um die feindlichen Armeen zu zersetzen oder um Truppen in Nordafrika, auf dem Balkan und in der Sowjetunion zu rekrutieren – um ein „pro-arabisches“ bzw. „pro-muslimisches“ Image. Doch insbesondere Italien, mit seinen Kolonialkriegen in Afrika, war unbeliebt.[49] Und auch Deutschlands großangelegte Propaganda in Nordafrika und der Versuch, arabische Einheiten aufzustellen, waren letztlich ein „Misserfolg“, wie David Motadel konstatiert.[50] Stefan Petke geht zudem davon aus, „dass die muslimischen Einheiten“, die Deutschland in kleinen Mengen in Nordafrika und in größeren in Osteuropa aushob, „in einer Tradition kolonialer Hilfstruppen gesehen werden müssen“, so wie sie in allen besetzten Gebieten von den Kolonialherren eingesetzt wurden, um, unter Zwang oder für ein kleines Gehalt, als Kanonenfutter zu dienen, harte oder gefährliche Arbeit zu übernehmen, die lokale Bevölkerung ruhig zu halten und die ortsfremden Besatzer zu führen.[51]

3. Koloniale Wurzeln des Faschismus

Aufmerksame Zeitgenossen in den verschiedenen Teilen der Welt – und gerade solche, die selbst von Rassismus und Imperialismus betroffen waren – hatten aber nicht nur einen geschärften Blick für die kolonialen Ambitionen der Faschisten. Roy etwa wies auch auf die ideologischen Wurzeln dieses faschistischen Kolonialismus hin. In seinem Buch über den Faschismus aus dem Jahr 1938 schrieb er im Kapitel über den „Herrenmenschen-Kult“: „Der unmittelbare politische Ausdruck“ dieses auf Nietzsche zurückgehenden Konzepts „war die Forderung des deutschen Imperialismus nach einem „Platz an der Sonne“ – das heißt koloniale Expansion“ noch zu Zeiten des Kaiserreichs. „Faschismus“ wiederum sei „die krasseste Manifestation derselben Philosophie der Macht und Raubtierhaftigkeit.“[52] Ähnlich urteilte 1940 auch W. E. B. Du Bois[53]: „Hitler ist der späte, rohe, aber logische Vertreter der Rassenphilosophie der weißen Welt seit der Berliner Konferenz von 1884.“[54]

Hannah Arendt, die bereits 1945/46 viel über den Zusammenhang zwischen Imperialismus, Kolonialrassismus und Antisemitismus geschrieben hatte,[55] untersuchte in ihrem 1951 erschienenen Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft den Imperialismus neben dem Antisemitismus als eine der beiden politischen und ideologischen Wurzeln des deutschen Faschismus. Ohne die von Marx, Hobson, Hilferding, Lenin und Luxemburg festgestellten ökonomischen Triebkräfte des Kapitalismus hin zum Imperialismus in Abrede zu stellen, benannte sie „den Versuch […], die Menschheit in Herren- und Sklavenrassen, in „higher and lower breeds“, in Schwarze und Weiße, in Bürger und eine „force noire“ […] einzuteilen“ als „die eigentliche politische Struktur“ des Imperialismus.[56] Dass dieser Rassismus also „die Waffe des Imperialismus“ sei, war Arendt zufolge „evident“ und letztlich eine „Binsenweisheit“.[57] Er habe schon „lange vor den Nazis […] große Teile der geistigen Welt des Abendlandes entscheidend bestimmt.“ Den Rassebegriff hätten „weder die Nazis noch die Deutschen entdeckt, er ist nur nie vorher mit solch gründlicher Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt worden.“[58] Diese letzte Formulierung klingt sehr nach Du Bois, ohne dass Arendt sich auf ihn bezogen hätte. Ideengeschichtlich leitet sie den deutschen Faschismus nicht direkt aus dem kolonialen, sondern aus dem „kontinentalen Imperialismus“ ab. Letzterer habe sich, weil ein Kind des späten 19. Jahrhunderts und auch „vielleicht weil er als eine Reaktion auf den Überseeimperialismus entstanden war, von vornherein an Rassebegriffen“ orientiert und sich die Rassentheorien „viel enthusiastischer und bewußter zu eigen gemacht.“[59] In Bezug auf die Ideologie ist der kontinentale Imperialismus also bildlich gesprochen der jüngere Bruder des überseeischen und der Nazi-Faschismus wiederum seine Ausgeburt. Hinzu kommt noch die „totalitäre Bürokratie“, die sich, im Gegensatz zu den Herrschaftsapparaten nicht-totalitärer Regime, „in alle Angelegenheiten der Bürger, private wie öffentliche, seelische wie äußere mit gleicher Konsequenz und Brutalität einzuschalten“ verstehe.[60] Sowohl der Rassismus als auch die Bürokratie seien „außerhalb Europas in Afrika, dem schwarzen Kontinent, experimentiert worden.“[61] Obwohl das Buch als ihr zentrales Werk gilt und weithin bekannt ist, findet diese Argumentation Arendts bis heute wenig Beachtung. Stattdessen wird es – und das dürfte sich die Autorin mit ihrer antikommunistischen und dann auch anti-antikolonialen Wende, die in diesem Werk offen zutage tritt, selbst zuzuschreiben haben –[62] in erster Linie als ein Manifest des „Anti-Totalitarismus“ (siehe Kapitel 3) und damit letztlich des liberalen Antikommunismus der Nachkriegszeit gefeiert.

Ein von verschiedenen Autoren behandelter Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Faschismus ist der sogenannte „Bumerang-Effekt“: Bereits 1936 schrieb Padmore über den Faschismus der Siedler in den britisch beherrschten Gebieten Afrikas.[63] Dabei stellte er fest, dass die Kolonien „der Nährboden für die Art faschistischer Mentalität“ seien, „die heute in Europa entfesselt wird“, weshalb der Kampf gegen den Faschismus in Europa mit dem Kampf gegen den Kolonialismus verbunden sei.[64] Im Jahr darauf erklärte auch Jawaharlal Nehru, wenn auch auf abstrakterer Ebene und ohne Verweis auf die Kolonialsiedler als treibende Kraft, dass Demokratie und Imperialismus inkompatibel seien: „das eine muss das andere schlucken.“ Daher müsse „das Imperium sich selbst liquidieren oder in den Faschismus abdriften.“[65] In seinem 1950 erstmals erschienenen Discours sur le Colonialisme schrieb Aimé Césaire[66] darüber,

„wie die Kolonisation daran arbeitet, den Kolonisator zu entzivilisieren, ihn im wahrsten Sinne des Wortes zu verrohen […] wenn in Vietnam ein Kopf abgeschlagen und ein Auge ausgestochen wird und in Frankreich nimmt man das hin, ein Kind vergewaltigt wird und in Frankreich nimmt man das hin, ein Madagasse hingerichtet wird und in Frankreich nimmt man das hin“.

Es handle sich bei diesem offen ausgelebten Rassismus um ein „Gift“, das „in die Adern Europas infiltriert“ werde und zur „Verwilderung des Kontinents“ führe. Die Faschisten profitierten davon und holten „eines schönen Tages“ zum „gewaltigen Gegenschlag“ in der Metropole selbst aus.[67] In der englischen Übersetzung wurde dieser „Gegenschlag“ mit „boomerang“ übersetzt, wodurch der Begriff des „Imperial boomerang“ geprägt wurde. Dieser findet sich bereits im Jahr darauf bei Arendt wieder, die von einer „große[n] Furcht vor dem Bumerangeffekt in den Mutterländern“ schrieb.[68]Sie erklärt allerdings auch, dass der „kontinentale Imperialismus“ aufgrund seiner räumlichen Nähe im Gegensatz zum überseeischen Kolonialismus „keiner Bumerangeffekte bedurfte, um die Konsequenzen imperialistischer Methoden und Herrschaftsvorstellungen unmittelbar in Europa selbst fühlbar zu machen.“[69] Albert Memmi[70] konkretisierte die These vom „Bumerang-Effekt“ 1957 weiter, indem er mit den Kolonialisten ein Subjekt ins Spiel brachte: Weil nämlich der Kolonialismus von der Metropole abhänge, neigten diese ihm zufolge dazu, reaktionäre Kräfte im „Mutterland“ zu unterstützen, die das Fortbestehen der kolonialen Herrschaft am ehesten gewährleisteten. Der „Kolonialfaschismus“ expandiere also nach Europa.[71] Zur Einordnung sei darauf hingewiesen, dass Padmore primär Afrika und Großbritannien, Nehru Indien, Spanien und Britannien vor 1945, Arendt vor allem Deutschland und Césaire wiederum Afrika, Vietnam und Frankreich und Memmi Algerien und Frankreich nach 1945 im Blick hatten. Memmis Buch erschien mitten im Algerienkrieg und am Vorabend des Putsches pro-kolonialistischer Militärs von 1958, der die Vierte Republik in Frankreich beendete.

Schon früh wurden Gemeinsamkeiten und Kontinuität zwischen dem Rassismus der Nazis und dem westlich des Atlantiks gezogen. C. L. R. James[72] verglich bereits in seinem Werk Die schwarzen Jakobiner[73] über die haitianische Revolution von 1791 die Abstammungsregelungen und die „Rassen“hierarchie in der Karibik mit jenen in Nazideutschland: Die Faschisten hätten den Deutschen „eine arische Großmutter ebenso wertvoll erscheinen [lassen], wie die Herrschenden von damals den M*latten einen karaibischen Vorfahr“,[74] das heißt einen zwar schwarzen, aber eben nicht einen versklavten afrikanischen, sondern einen frei geborenen karibischen Indigenen. James schrieb diesbezüglich, dass man diesen Rassen- und Abstammungswahn „nach der Zeit des Hitlerfaschismus besser verstehen“ könne.[75] Über die Südstaaten der USA schrieb A. Philip Randolph[76] 1943, dass diese Nazi-Deutschland in Sachen Rassismus in nichts nachstünden. Es gäbe „keinen Unterschied zwischen Hitler aus Deutschland und [Gouverneur] Talmadge aus Georgia oder […] [Senator] Bilbo aus Mississippi.“[77] Der jüdische Theologe Richard L. Rubenstein stellte 1987 fest: „Die Verbindung zwischen den genozidalen Siedlergesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts und dem Völkermord des 20. Jahrhunderts lässt sich in Adolf Hitlers „Lebensraumprogramm“ erkennen.“[78] Er zog insbesondere eine Linie von der Ausrottung der nordamerikanischen Ureinwohner zur Vernichtungspolitik der Nazis in Osteuropa, wobei er die Faschisten, ähnlich wie Roy und Du Bois, als eine Art noch brutalere Weiterentwicklung der Kolonialisten betrachtete: „In Hitlers Augen waren die Slawen dazu bestimmt, die Indianer Europas zu werden. Sie sollten vertrieben, entwurzelt, versklavt und notfalls vernichtet werden, um Platz für Deutschlands Überbevölkerung zu schaffen. Anders als die früheren Kolonisatoren machte sich Hitler keine Illusionen über den Völkermord eines solchen Unterfangens.“[79] 1995 wies auch Mark Mazower auf den „Wilden Westen“ als Vorbild für den Krieg der Nazis im Osten hin.[80] Seine damals erhobene „Forderung nach einer genaueren Untersuchung der kolonialen Wurzeln der nationalsozialistischen Politik verhallte“ jedoch „weitgehend ungehört.“[81] Ward Churchill[82] argumentierte zwei Jahre später gegen die These der „Singularität“ des Holocaust. Dabei kritisierte er nicht nur, dass der Völkermord an den europäischen Juden den Völkermord an den Slawen im westlichen Bewusstsein überdecke, sondern setzte beide in eine Reihe von Genoziden.[83] Dabei zeigte er auch Parallelen zwischen der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, indem er etwa eine Linie vom Kriegsrecht in der ersten britischen Kolonie Nordamerikas 1610 über die „Manifest Destiny“-Ideologie während der Westexpansion der USA bis hin zu Hitlers „Lebensraum im Osten“ zog.[84] 2008 arbeiteten Hermann Ploppa und 2010 Domenico Losurdo[85] u. a. die aus den USA stammenden rassistischen Ideologeme heraus, die Einfluss auf die Nazi-Ideologie hatten, wozu nicht zuletzt die Termini „Untermensch“ und „Endlösung“ und die damit zusammenhängenden politischen Konzepte zählten.[86] 2017 folgte die Studie des US-Juristen James Whitman, die nachwies, wie stark die Nürnberger Rassengesetze von der rassistischen US-Gesetzgebung beeinflusst waren.[87]

Sven Linqvists 1992 erstmals auf Englisch erschienener, international viel beachteter literarischer Streifzug durch die Geschichte der kolonialen Völkermorde führte ihn ebenfalls zum Massenmord der deutschen Faschisten. Er betont, dass der koloniale Genozid Ende des 19. Jahrhunderts quasi zur Norm gehörte: 

„Die Luft, die [der junge Hitler] und alle anderen Menschen im Westen in seiner Kindheit atmeten, war erfüllt von der Überzeugung, dass Imperialismus ein biologisch notwendiger Prozess ist, der nach den Naturgesetzen zur unvermeidlichen Vernichtung der niederen Rassen führt. Es war eine Überzeugung, die bereits Millionen Menschenleben gekostet hatte, bevor Hitler sie zu seiner höchst persönlichen Überzeugung machte.“[88]

Und auch der Holocaust folgt ihm zufolge demselben Muster wie die kolonialen Genozide:

„Die Nazis steckten den Juden einen Stern an ihre Mäntel und pferchten sie in „Reservaten“ ein – genau wie die Indianer, die Hereros, die Buschmänner, die Amandabele und all die anderen […] Sie starben allein, sobald die Nahrungsmittelversorgung der Reservate unterbrochen wurde.“[89]

2001 erschien auf Französisch die Studie Weiße Barbarei von Rosa Amelia Plumelle-Uribe. Sie zieht eine Linie von der Vernichtung der Indigenen Amerikas über die Versklavung der Afrikaner bis hin zum deutschen Faschismus. Sie bleibt allerdings nicht 1945 stehen, sondern schreibt die Geschichte anhand des Rassismus in den USA und des Apartheidregimes in Südafrika weiter. Sie spricht von einer dem Kolonialismus entsprungenen „Kultur der Vernichtung“: „Die Vorstellung, es gäbe minderwertige Menschen, die ausgelöscht werden können, war im gesamten europäischen Kulturraum verbreitet.“[90] Daher habe der „Übergang von der „weißen“ zur „arischen Rasse“ […] die bequeme Gewissheit, die bis dorthin alle Weißen aus ihrer Zugehörigkeit zur Herrenrasse bezogen“, zwar erschüttert.[91] Sie sei aber dennoch anschlussfähig gewesen.

Eine weitere, allerdings bislang wenig beachtete Kontinuität zwischen Kolonialismus und Faschismus ist die personelle: Franco etwa stieg während seines Einsatzes gegen die Rif-Republik unter Abdel Krim zum jüngsten General Europas auf und setzte die dort gemachten Erfahrungen auch während des Spanischen Bürgerkriegs ein.[92] Auch General Pétain war ab 1921 als Oberbefehlshaber an diesem Kolonialkrieg beteiligt. Der bereits erwähnte Franz Ritter von Epp wiederum setzte seine in den Kolonialkriegen in China und Namibia erlangten Kenntnisse in Aufstandsbekämpfung 1919 bei der Zerschlagung der Münchner Räterepublik und 1920 bei der Vernichtung der Roten Ruhrarmee ein. Hermann Görings Vater war oberster Kolonialherr in Deutsch-Südwestafrika und der in Alexandria geborene Rudolf Heß stammte aus einer kolonialen Kaufmannsfamilie und verbrachte seine Kindheit unter deutschen Siedlern in Ägypten. Inwiefern sich derartige persönliche Hintergründe und Erfahrungen bei verschiedenen faschistischen Funktionären niederschlugen und ob es dabei Auffälligkeiten und Muster gibt, bedarf weiterer Forschung. Während Mazower bereits 1995 auf den kolonialen Hintergrund mancher NS-Mediziner aufmerksam machte,[93] erschien eine entsprechende Studie erst kürzlich.[94]

4. Kolonisierung Osteuropas

1957 behauptete der bereits 1929 der NSDAP beigetretene westdeutsche Historiker Walter Schlesinger in Bezug auf den Terminus der „ostdeutschen Kolonisation“: „Unsere östlichen Nachbarvölker hören den Ausdruck nicht gern, weil sie im Zeitalter des Kolonialismus und Antikolonialismus ihn als für sich herabsetzend empfinden.“[95] Darin wurde er noch 1981 von Wolfgang Wippermann[96] bestätigt.[97] Artur Weigandt schrieb dagegen 2023:

„Der moderne Antirassist geht zwar auf die Kolonisierung Afrikas ein. Auf den nationalsozialistischen Traum jedoch, auf den ,Fall Barbarossa‘, den Kampf um den ,Lebensraum im Osten‘, geht er nicht ein. Aber auch das war Kolonialisierung. Dafür starben Millionen Osteuropäer.“[98]

Tatsächlich fällt allerdings auf, dass im sowjetischen und auch im DDR-Diskurs von einem kolonialen Charakter des Krieges gegen die Sowjetunion kaum die Rede war. Zwar wurde der Große Vaterländische Krieg als ein patriotisches und klassenübergreifendes Unternehmen propagiert. Im Nachhinein jedoch wurde (wieder) der Widerspruch zwischen Imperialismus und Sozialismus als zentraler Grund und als Wesen dieses Krieges betont. Es war zwar stets von einem „Vernichtungs-“ oder „Ausrottungskrieg“ die Rede, aber eine Parallele zu den Völkermorden in den Kolonien wurde in der Regel nicht gezogen.

Dabei machte bereits 1936 der aus einer jüdischen Familie stammende deutsche Kommunist Albert Norden deutlich: „Hitlers erträumte Kolonien liegen nicht nur in Afrika, sondern in Europa selbst.“[99] Ende Oktober 1939 warfen die KPD, die KPÖ und die KPČS der deutschen Führung vor, den Völkern Österreichs und der Tschechoslowakei „jedes Recht geraubt“ zu haben, „sie national [zu] unterdrücken und […] sie wie Kolonialvölker aus[zu]plündern.“[100] 1962 stellte Kühne fest: „Die faschistischen Okkupanten praktizierten in vieler Hinsicht bis in Einzelheiten diejenigen Thesen, die das Kolonialpolitische Amt der NSDAP seit Jahren für die künftige „Eingeborenenpolitik“ in Übersee propagiert hatte.“[101]Drei Jahre später bemerkte auch der westdeutsche Historiker Andreas Hillgruber, dass den Plänen der Nazis zufolge die Sowjetunion

„nicht nur wie die übrigen Teile Kontinentaleuropas in eine enge Abhängigkeit von der deutschen Führungsmacht gebracht, sondern auf die Stufe von Kolonialgebieten (zur wirtschaftlichen Ausbeutung und zur Besiedlung) herabgedrückt werden“ 

sollte. „Damit wurde eine im Zeitalter des Imperialismus bisher auf überseeische Räume beschränkte machtpolitische Zielsetzung auf Europa übertragen.“[102]

Wie Jürgen Zimmerer feststellt, hat auch die Wissenschaft den Expansionismus Nazi-Deutschlands nach Osteuropa lange

„nicht unter dem Blickwinkel der Kolonialgeschichte betrachtet, sei es, weil man instinktiv Kolonialismus bestimmten geographischen Regionen außerhalb Europas zuordnet, sei es, weil man ein verfehltes Bild des Kolonialismus vor Augen hat.“[103]

Und das, obwohl, wie er und auch Losurdo herausstellten, Hitler persönlich sich immer wieder positiv auf das britische Kolonialreich in Indien und Afrika als Vorbild bezog[104] und nach dem Überfall auf die Sowjetunion den Vernichtungskrieg im Osten mit dem Ausrottungsfeldzug gegen die nordamerikanischen Ureinwohner verglich, wobei er die Slawen wiederholt als „Eingeborene“ bezeichnete.[105] Zudem soll er im Oktober 1942 explizit davon gesprochen haben, „dass Deutschlands Kolonien nicht mehr in Afrika, sondern im Osten lägen.“ Dieser Diskurs blieb nicht auf das Führerhauptquartier beschränkt, wie Karsten Linne berichtet:

„[I]mmer mehr verbreitete sich die Ansicht, dass die besetzten Ostgebiete das neue „deutsche Kolonialland“ seien. Der Gebrauch der Ausdrücke „Kolonien“, „Kolonialland“ und „kolonial“ für die besetzten Ostgebiete hatte 1942 offensichtlich dermaßen überhand genommen“ und zu Verwirrung geführt, dass der Stabschef des Kolonialpolitischen Amts der NSDAP für seinen Bereich anordnete, „sie auf die Kolonisation in tropischen und subtropischen Überseegebieten zu beschränken.“[106]

Eine wirkliche Auseinandersetzung mit Osteuropa als Objekt kolonialistischer Diskurse und kolonialer Unterwerfung im Allgemeinen und in Bezug auf den faschistischen Ostfeldzug im Besonderen, die auch teilweise die Form einer Debatte annahm, kam erst in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten allmählich auf.[107] Hervorzuheben ist hier einerseits Losurdo, durch dessen gesamtes Werk sich das Thema Kolonialismus hindurchzieht, und andererseits die Arbeit Zimmerers, der ursprünglich aus der Afrika-Geschichtswissenschaft kommt.

Zimmerer stellte die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den Kolonialkriegen und dem Krieg in Osteuropa heraus: Vernichtungskrieg und Genozid, Rassismus und „Großraumpolitik mit der damit verbundenen „Ökonomie der Vernichtung“.“[108] Er bezieht sich in seiner Arbeit sowohl auf die Postcolonial Studies und die Siedlerkolonialismus-Forschung als auch auf die Forschung von Autoren, die als deren entschiedene Gegner auftreten, wie etwa Götz Aly und Saul Friedländer. Zugleich sind seine Beiträge wichtiger Teil und Bezugspunkt in einer politischen Debatte geworden, die von manchen bereits als „Neuer Historikerstreit“ bezeichnet wurde. Diese Auseinandersetzung nahm 2021 mit der Polemik des australischen Genozidforschers Dirk Moses gegen den „Neuen deutschen Katechismus“[109]Fahrt auf und spielte sich – von der politischen Linken in Deutschland weitgehend unbemerkt – zumeist in den Feuilletons deutscher Leitmedien ab.[110] Seit dem 7. Oktober 2023 ist diese Auseinandersetzung umso erbitterter geworden, als sie von staatlicher, medialer und institutioneller Seite zunehmend repressiv erstickt wird. Umso bemerkenswerter ist es, dass Zimmerers Buch von 2011 kürzlich als Open Access-Neuauflage erschienen ist. Ein Aufsatz aus diesem Buch über die „Geburt des „Ostlandes“ aus dem Geiste des Kolonialismus“ wurde zudem in dem 2024 veröffentlichten ersten deutschsprachigen Sammelband zum Konzept des Siedlerkolonialismus abgedruckt. Dieses wiederum soll laut den Herausgebern Ilan Pappe und Jürgen Mackert der „Ausklammerung siedlerkolonialer Theorie und Analysen aus dem wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs in Deutschland“ entgegenwirken und führt die besagte Ausklammerung klar auf die „Legitimation des siedlerkolonialen Apartheidstaates Israel“ sowie das bewusste Verschweigen der deutschen Kolonialgeschichte zurück.[111]

So wenig dieser „Neue Historikerstreit“ in der deutschen Linken Beachtung fand, so gründlich hat die bürgerliche Wissenschaft Losurdos Arbeit ignoriert. In Teilen der Linken dagegen genießt er heute einen gewissen Einfluss. Ob die Tatsache, dass Gerd Schumann dem „Generalplan Ost“ in seiner Einführung in das Thema Kolonialismus ein eigenes Kapitel gewidmet hat, auf Losurdo zurückzuführen ist, ist nicht klar – in der Literaturliste tauchen weder er noch Zimmerer auf. Jedenfalls fasst Schumann die Aussagen der beiden gut zusammen:

„Der Feldzug im Osten hatte die militärische Okkupation des gesamten europäisch-asiatischen Teils der Sowjetunion […] zum Ziel. Danach sollte eine auf totaler Unterjochung und Massenvernichtung basierende Kolonisierung umgesetzt werden: Der „Generalplan Ost“ sah in mehreren Varianten die Errichtung einer Siedlungskolonie unter rigoroser Anwendung der Nazi-Rassenpolitik vor.“[112]

5. Faschismus als Kolonialismus?

Die antirassistische und antikoloniale Literatur ist voll von Vergleichen zwischen Kolonialismus und Faschismus. Dabei gibt es selbstverständlich eine moralische Ebene, die vor allem auch daher rührt, dass der Terror der Nazis gerade auch von den Kolonialmächten bzw. dem politischen Westen als solcher anerkannt und verurteilt wurde. Hier setzt die Abwehr derer an, die sich vehement gegen eine welthistorische Kontextualisierung des Faschismus verschließen und jedem Ansatz, den Faschismus mit dem Kolonialismus in ein Verhältnis zu setzen, sofort die Relativierung der Nazi-Verbrechen vorhalten: Es gehe letztlich um „Opferkonkurrenz“.

Es gibt aber, das sollte der bisherige Text deutlich gemacht haben, auch eine analytische Ebene: Diese reicht, wie dargelegt, von der Offenlegung der kolonialistischen Wurzeln des Faschismus über die Darstellung der Parallelen und Gemeinsamkeiten zwischen den Kolonialverbrechen auf der einen und den Verbrechen der Faschisten in Afrika, West- und Osteuropa auf der anderen Seite bis hin zur Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern der Faschismus und der Kolonialismus von ihrem Wesen her verwandt oder gar identisch sind. Die letztgenannte Frage wurde meist gar nicht derart offen gestellt und häufig nur in Ansätzen beantwortet. Im Folgenden sollen Aussagen, die dahingehend verstanden werden können bzw. häufig so verstanden werden, auf ihren Gehalt geprüft werden.

In seinem bereits zitierten Buch von 1936 schrieb Padmore: „Soweit es die eingeborene Bevölkerung angeht, war Südafrika schon immer ein faschistischer Staat.“[113] Und auch in Kenia und Nigeria herrsche „Kolonialer Faschismus“.[114] Allerdings lässt er die Frage offen, ob in den drei genannten Ländern besonders brutale Kolonialregime herrschten oder ob er diesen Befund für auf alle Kolonien anwendbar hält. Im Jahr darauf zeigte auch Nehru in einer Rede in Solidarität mit der Spanischen Republik die Wesensverwandtschaft zwischen Kolonialismus und Faschismus auf: „Imperialismus und Faschismus sind im Wesentlichen eng verwandt und gehen ineinander über.“[115] In derselben Rede nannte er sie auch „Blutsbrüder“[116] und in einem anderen Text aus derselben Zeit bezeichnete er sie als „Zwillinge“.[117] „Manchmal“, so erklärte er weiter, 

„hat der Imperialismus zwei Gesichter – ein nationales, das die Sprache der Demokratie spricht, und ein koloniales, das an Faschismus grenzt. Letzteres dominiert und bestimmt letztlich die Politik. So sehen wir, dass in Großbritannien, egal ob konservative, Labour- oder ‚nationale‘[118] Regierung jede Regierung in Indien eine faschistische Uniform trägt.“[119]

Allerdings spricht Nehru stets von „an faschistisch grenzen“ oder einer „Tendenz zum Faschismus“.[120] Der Kolonialismus ist bei ihm also eher faschistoid als faschistisch.

Gandhi dagegen schrieb 1941 in einem Brief an den Mitherausgeber der Indian Times: „Ich behaupte, dass wir in Indien eine hitlerische Herrschaft haben, auch wenn sie mit milderen Begriffen verschleiert wird.“[121] 1942/43 stellte der von Gandhi stark beeinflusste Randolph die schwarze Bevölkerung in den USA gemeinsam mit den Völkern Asiens und Afrikas den imperialistischen Nationen Europas und den USA gegenüber, machte deutlich, dass ein Sieg über die faschistische Achse diesen Völkern keine Freiheit bringen werde, und betonte, wie bereits erwähnt, den Rassismus, den die US-Südstaaten und Nazi-Deutschland gemein hätten.[122] Bei den hier geschilderten Aussagen Randolph schlägt sich bereits ein strategisches Verhältnis zum Faschismus nieder, das in dieser Arbeit, wie eingangs erwähnt, nicht untersucht werden kann. Hier sei lediglich darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen den Rassismus und Kolonialismus der nicht-faschistischen Mächte zwangsläufig eine andere Form annehmen bzw. zurückgestellt werden musste, wenn mit den liberalen Rassisten und Kolonialherren eine Allianz gegen den Faschismus geschlossen werden sollte. Umgekehrt ging eine Gleichsetzung von Faschismus und Kolonialismus in den 1930er und 1940er Jahren häufig, wenn auch nicht zwangsläufig, mit einer Kritik an solchen Allianzen einher. 

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb Du Bois:

„Es gab keine Nazi-Gräueltaten – Konzentrationslager, massenhafte Verstümmelung und Mord, Schändung von Frauen oder grausame Entweihung der Kindheit –, die die christliche Zivilisation Europas nicht schon seit langem im Namen und zur Verteidigung einer überlegenen Rasse, die geboren wurde, um die Welt zu beherrschen, an farbigen Menschen in allen Teilen der Welt verübt hatte.“[123]

In sehr ähnlicher Weise heißt es in einem Text von Césaire aus dem Jahr 1948:

„Nazideutschland hat lediglich in kleinem Maßstab in Europa praktiziert, was die Westeuropäer Jahrhunderte lang gegenüber den Rassen praktiziert haben, die so mutig oder so unvorsichtig waren, ihnen über den Weg zu laufen.“[124]

In seinem Discours sur le Colonialisme hielt er den Europäern vor, dass sie Hitler vor allem „die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die N*g*r Afrikas ausgesetzt waren“, nicht verziehen.[125] Memmi bezeichnete den Kolonialismus 1957 als eine „Spielart des Faschismus“, denn: „Was ist der Faschismus anderes als eine Staatsform der Unterdrückung zum Nutzen einiger weniger?“ Und er stellte fest, dass „der gesamte administrative und politische Apparat der Kolonie keinen anderen Zwecken“ als eben diesem diene.[126] In Frantz Fanons[127] Die Verdammten dieser Erde, das Ende 1961 erschien, fragte der Autor rhetorisch: „Aber was ist der Faschismus auf der Ebene des Individuums und des Völkerrechts anderes als der Kolonialismus innerhalb eines traditionell kolonialistischen Landes?“ Einige Seiten später heißt es: „Vor kurzem hat der Nazismus ganz Europa in eine Kolonie verwandelt.“[128] Bald nach dem Erscheinen von Fanons letztem Werk wies Kühne darauf hin, dass die deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg „den unterworfenen Völkern Europas das gleiche Schicksal zugedacht hatten wie den Völkern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.“[129] Und Hildebrand charakterisierte 1969 das Programm Hitlers als ein Unternehmen, „Europa, die Wiege des Kolonialismus, mit Kolonialmethoden zu reorganisieren.“[130] Auch Plumelle-Uribe spricht von „Hitlers Anspruch, Europa selbst zu kolonisieren“.[131]

Padmore, Du Bois, Césaire, Memmi, Fanon, Kühne, Hildebrand und Plumelle-Uribe schreiben übereinstimmend explizit, dass der (deutsche) Faschismus letztlich koloniale Herrschaftsmethoden auf Europa angewandt habe. Auffällig ist dabei, dass nicht nur Césaire und Fanon in ihren politischen Essays, sondern auch die beiden Historiker Kühne und Hildebrand – im Gegensatz etwa zu Hillgruber – in ihren Formulierungen stark verallgemeinern, insofern sie von „Europa“ sprechen: Denn auch wenn das faschistische Deutschland letztlich fast ganz Europa besetzt hat, so waren Krieg und Okkupation im Westen doch ganz anders als im Osten: Im Westen waren beide „zivilisiert“ und lediglich Juden, Widerstandskämpfer und afrikanische Soldaten fielen Massakern der Faschisten zum Opfer. Der Ostfeldzug war, wie oben beschrieben, von Anfang an ein Ausrottungsfeldzug gegen die breite Bevölkerung. Zudem ist Hildebrands Rede von der „Wiege des Kolonialismus“ möglicherweise auf das Zarenreich, aber in keiner Weise auf die Sowjetunion anwendbar. Allerdings ließe sich wiederum argumentieren, dass Kolonialismus nicht zwangsläufig zum Völkermord ausartet. Ebenfalls als kolonial bezeichnet werden können etwa die ökonomische Ausbeutung der besetzten Gebiete im Westen durch Plünderungen im großen Stil, durch die Abgabe einer Art von „Schutzgeld“, durch die Degradierung zum billigen Lieferanten von Rohstoffen und Lebensmitteln inklusive eines formalisierten ungleichen Tauschs und nicht zuletzt durch das Einziehen von Millionen Zwangsarbeitern.[132] Zudem wurde nach dem Überfall auf die Sowjetunion auch im Westen die Besatzung repressiver und brutaler und steigerte sich mit jeder Niederlage zusehends.[133] Es gab jedoch keinen Rassismus gegen die Mehrheitsbevölkerung im Westen, der annähernd mit dem Antisemitismus, dem anti-slawischen Rassismus oder dem Kolonialrassismus vergleichbar gewesen wäre.

Daneben ähneln sich die Argumentationen Padmores, Césaire und Memmis in besonderer Weise, da sie nicht nur davon ausgehen, dass faschistische Ideologie und Herrschaftsform bereits lange in den Kolonien existierten, sondern alle drei gingen, von einem Rückwirken des Faschismus in den Kolonien auf die Metropolen aus. Fanon, der zumindest Césaires Text kannte, scheint sich für diesen Aspekt wenig interessiert zu haben. Er kritisierte bereits 1957 die Debatte in Frankreich darüber, „dass gegenwärtig in Algerien eine umfassende Enthumanisierung der französischen Jugend vor sich geht“ und „dass die französischen Wehrpflichtigen „dort den Faschismus erlernen““ als „Perversion der Moral“, weil „sich diese Humanisten nur für die moralischen Auswirkungen dieser Verbrechen auf die Seele der Franzosen interessieren.“[134]

1975 erschien mit der Dissertation von Peter Schmitt-Egner eine ideologiekritische Untersuchung über die kolonialen Ursprünge des Faschismus. Der Autor hat dabei den Versuch unternommen, das Phänomen des Rassismus als eine Form von falschem Bewusstsein direkt aus der kapitalistischen Produktionsweise abzuleiten,[135] in diesem Fall konkret aus den speziellen Produktionsverhältnissen in den Kolonien sowie dem ungleichen Tausch zwischen Kolonien und Metropolen. Einleitend stellt er fest, dass in der Kolonialideologie „schon alle entscheidenden Elemente der späteren faschistischen Ideologie ausgebildet“ seien.[136] Auch bezieht er sich eingangs neben Arendt u. a. auf Césaire und Fanon, bezeichnet den Kolonialismus zum Ende hin wiederholt als „Faschismus an der Peripherie“[137] und in einem weiteren Aufsatz beide als „Pendants“ zueinander.[138] Als soziale Träger des Rassismus in den Kolonien benennt Schmitt-Egner in erster Linie die kleinkapitalistischen und kleinbürgerlichen sowie die proletarischen und subproletarischen Siedler.[139] Ohne es explizit zu sagen, liegt für ihn darin wohl eine wesentliche Parallele zum Faschismus. Die eliminatorische Seite des Kolonialrassismus führt er ebenfalls auf die kapitalistische Verwertungslogik zurück:

„Denn wie steht es mit denjenigen Völkern, die „nicht zu gebrauchen“ und der Entfaltung des Kolonialsystems hinderlich sind, deren Arbeitskraft keinen „Wert“ darstellt, also auch nicht unter dem Wert gekauft werden kann, weil sie sich nicht einmal von ihren Produktionsmitteln trennen können oder ihre alten sozialen Organisationen die Umwandlung zum Lohnarbeiter nur in langen Zeiträumen zuläßt? Die Kolonialgeschichte gibt uns empirisch die Antwort: sie heißt Ausrottung, im besten Fall Zuweisung von Reservaten, die dann den Prozeß der „Erziehung zur Arbeit“ gewähren sollen.“[140]

Zudem beschreibt er die „innere Verwandtschaft“ zwischen der „kleinbürgerlichen Kolonialideologie als Siedlungsideologie“ und dem Antisemitismus in den Metropolen: In beiden Fällen gehe es um das „Primat der Arbeit“ – im Fall der Kolonien um die Arbeit der kleinen und mittleren Bauern – „gegenüber dem Kapital“, und zwar dem unproduktiven, als „raffend“ wahrgenommenen Bankkapital.[141] Es dürfte wohl an der – noch dazu extrem abstrakten – Theorielastigkeit von Schmitt-Egner Arbeit liegen, dass sie bis heute keine nennenswerte Beachtung gefunden hat.

Keiner der hier angeführten Autoren hat je behauptet, dass sich eine Analyse des Faschismus darin erschöpfen würde, ihn als eine Übertragung des Kolonialismus auf Europa zu begreifen. Zumal, wie wir wissen, die faschistische Herrschaftspraxis konkret von Land zu Land so stark differenzieren konnte wie die koloniale Herrschaft in den verschiedenen Kolonien. Häufig ging es den Autoren auch gar nicht so sehr darum, den Faschismus zu erfassen, als vielmehr umgekehrt den Kolonialismus als ein seinem Wesen nach faschistisches System zu entlarven. Den Einfluss des Kolonialismus auf die Metropole selber haben lediglich Nehru und Padmore angesichts des in Europa in den 1930er Jahren aufsteigenden Faschismus sowie Césaire und Memmi vor dem Hintergrund des Algerienkrieges und dessen Auswirkungen auf Frankreich in den Blick genommen. Letztlich geht der Ansatz, den Faschismus als auf die Metropolen angewandte kolonialistische Herrschaftsform zu betrachten, nicht weit über die historische Kontextualisierung des Faschismus als ein Produkt imperialistischer und kolonialistischer Gesellschaf, und über die Erkenntnis, dass insbesondere die deutschen Faschisten koloniale Methoden in Europa angewandt haben hinaus.

Anders sieht es aus, wenn man den Blick auf die Kolonien richtet und dort von einer letztlich faschistischen Herrschaft ausgeht. Denn dann drängt sich sofort Nehrus Erkenntnis auf, dass in Bezug auf die Kolonien alle bürgerlichen Parteien Faschisten sind – ob nun Konservative oder Sozialdemokraten. Diese Annahme sollte man nicht idealistisch missverstehen, also dahingehend, dass sie von einem „Blickwinkel“ abhängt. Vielmehr geht es ganz materialistisch um ein objektives Verhältnis, das diese politischen Akteure einnehmen. Insofern ist diese Erkenntnis eine Bereicherung für das Verständnis des dialektischen Verhältnisses zwischen Liberalismus und Faschismus als zwei Formen bürgerlicher Herrschaft, die sich zwar qualitativ unterscheiden und deren Vertreter durchaus im politischen Gegensatz zueinander stehen können, die aber eben zwei Seiten einer Medaille sind und sich in der Realität ergänzen und häufig ineinander übergehen. 

Dabei führt die These vom Kolonialismus als Faschismus eine räumliche Kategorie ein: Die bürgerliche Herrschaft kann in der Metropole liberal auftreten, während sie in der Peripherie faschistisch herrscht. Für dieses Verhältnis zwischen dem Westen und dem Trikont hat Losurdo – auch wenn er nicht von Faschismus spricht – den sich ursprünglich auf die Zustände in den USA beziehenden Begriff der „Herrenvolk-Demokratie“ geprägt.[142] Aus dieser Erkenntnis wiederum entspringen allerdings neue Fragen: Etwa die, ob es „bessere“ oder „schlechtere“ Kolonialherren, also „bessere“ oder „schlechtere“ Faschisten gibt. Diese Frage ist hochaktuell, wenn man nach Palästina blickt. Schließlich waren es die sozialdemokratischen Zionisten mit Ben Gurion an der Spitze, die während der Nakba 1947-49 Palästina von 800.000 Indigenen „säuberten“, die 1956 Ägypten überfielen und 1967 die arabischen Nachbarländer angriffen, ganz Palästina besetzten und erneut Hunderttausende Palästinenser vertrieben. Wenn also über einen drohenden Faschismus in Israel gesprochen wird, sollte bedacht werden, dass man auch argumentieren könnte, dass in Palästina bereits seit 1948 Faschismus herrscht. Zudem eröffnet die Perspektive des Kolonialismus als Faschismus bzw. der Unterstützung einer Kolonialmacht als eine (pro-)faschistische Außenpolitik einen eigenen Zugang zur Frage des „exportierten Faschismus“.


[1] Santarelli, Enzo: „The Ideology of the Libyan ‚Reconquest‘ (1922-1931)“. In: Santarelli, Enzo u. a. (Hrsg.): „Omar al-Mukhtar. The Italian Reconquest of Libya“, Darf Publishers, London 1986, S. 17. Vgl. Nagiah, Abdulhakim: „Italien und Libyen in der Kolonialzeit. Faschistische Herrschaft und nationaler Widerstand“. In: Frank, Sabine (Hrsg.); Kamp, Martina (Hrsg.): „Libyen im 20. Jahrhundert. Zwischen Fremdherrschaft und nationaler Selbstbestimmung“, Deutsches Orient-Institut, Hamburg 1995, S. 72f.

[2] Vgl. Künzi, Giulia Brogini: „Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg?“ Schöningh-Verlag, Paderborn 2006, S. 149f.

[3] Vgl. Ahmida, Ali Abdullatif: „Genocide in Libya. Shar, a Hidden Colonial History“, Routledge Press, London/New York 2021, S. 90.

[4] Vgl. Bernhard, Patrick: „Im Rücken Rommels. Kriegsverbrechen, koloniale Massengewalt und Judenverfolgung in Nordafrika, 1940-1943“, Autorenversion, 2019, S. 12-16.

[5] Vgl. Künzi, Giulia Brogini: „Der Wunsch nach einem blitzschnellen und sauberen Krieg. Die italienische Armee in Ostafrika (1935/36)“. In: Klein, Thoralf (Hrsg.); Schumacher, Frank (Hrsg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, S. 289.

[6] Ebd. S. 283. 

[7] Feldbauer (*1933) ist Historiker mit Schwerpunkt Italien und Vietnam. In den 1980er Jahren war er Diplomat der DDR in Algerien und im Kongo.

[8] Feldbauer, Gerhard: „Mussolinis Überfall auf Äthiopien. Eine Aggression am Vorabend des Zweiten Weltkriegs“, Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2006, S. 54.

[9] Vgl. Linne, Karsten: „Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika“, Ch. Links Verlag, Berlin 2008, S. 29.

[10] Vgl. Gründer, Horst (Hrsg.): „„…da und dort ein junges Deutschland gründen“. Rassismus, Kolonien und kolonialer Gedanke vom 16. bis zum 20. Jahrhundert“, dtv, München 1999, S. 218. Vgl. Ballhaus, Johanna: „Kolonialziele und -vorbereitungen des faschistischen Regimes 1933-1939“. In: Stoecker, Helmuth (Hrsg.): „Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkrieges“, Akademie-Verlag, Berlin, 1977, S. 281-91.

[11] Richtlinien des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP von 1937, zitiert nach Koop, Volker: „Hitlers Griff nach Afrika. Kolonialpolitik im Dritten Reich, Dietz Verlag, Bonn 2018, S. 72.

[12] Vgl. Hildebrand, Klaus: „Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919-1945“, Wilhelm Fink Verlag, München 1969, S. 700.

[13] Bernhard, Patrick: „Die „Kolonialachse“. Der NS-Staat und Italienisch-Afrika 1935 bis 1943“. In: Klinkhammer, Lutz (Hrsg.); Guerrazzi, Amedeo Osti (Hrsg.); Schlemmer, Thomas (Hrsg.): „Die Achse im Krieg 1939-1945. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939-1945“, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2010, S. 148-60. 

[14] Vgl. Eichholtz, Dietrich: „Das Expansionsprogramm des deutschen Finanzkapitals am Vorabend des zweiten Weltkrieges“. In: Eichholtz, Dietrich (Hrsg.); Pätzold, Kurt (Hrsg.): „Der Weg in den Krieg. Studien zur Geschichte der Vorkriegsjahre (1935/36 bis 1939)“, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1989, S. 28.

[15] Vgl. Ndumbe III., Kum’a: „Was wollte Hitler in Afrika? NS-Planungen für eine faschistische Neugestaltung Afrikas“, Verlag für Interkulturelle Kommunikation, Frankfurt am Main 1993, S. 240.

[16] Vgl. ebd. S. 50-57, 61.

[17] Vgl. „Kriegszieldenkschrift des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg vom 9. September 1914 (Auszüge)“. In: Kühnl, Reinhard (Hrsg.): „Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten“, PapyRossa-Verlag, Köln 2000, S. 23.

[18] Vgl. Loth, Heinrich: „Geschichte Afrikas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart Band 2. Afrika unter imperialistischer Kolonialherrschaft und die Formierung der antikolonialen Kräfte 1884-1945“, Akademie-Verlag, Berlin 1976, S. 237-40. Vgl. Autorenkollektiv: „Konzept für die „Neuordnung“ der Welt. Die Kriegsziele des faschistischen deutschen Imperialismus im zweiten Weltkrieg“, Dietz Verlag, Berlin 1977, S. 44.

[19] Vgl. Wystrychowski, Leon: „Die Rolle und Bedeutung der französischen Afrika-Kolonien für die deutsche Kriegswirtschaft 1940-44“ (Master-Arbeit), Bochum 2024, S. 51-79.

[20] So eine undatierte Einschätzung der SS, zitiert nach Koop: „Griff nach Afrika“, S. 139.

[21] Vgl. Linne: „Jenseits des Äquators“, S. 38-42.

[22] Vgl. Eichholtz, Dietrich: „Krieg um Öl. Ein Erdölimperium als deutsches Kriegsziel (1938-1943)“, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2006, S. 53-59.

[23] Ebd. S. 54.

[24] Padmore (1902-59) war Sozialist und Vorkämpfer des Panafrikanismus. 1928-34 war er Mitglied der Kommunistische Partei der USA bzw. der KPdSU, zwischenzeitlich aktiv in der Antiimperialistischen Liga und als Leiter des Negro Bureau der Roten Gewerkschaftsinternationale. Später war er als Berater Kwame Nkrumah tätig.

[25] Padmore, George: „How Britain rules in Africa“, Negro University Press, New York 1969, S. 4.

[26] Manabendra Nath Roy (1887-1954) stammte aus Bangladesh und war an der Gründung der Sozialistischen Partei (1917) und der Kommunistischen Partei Mexikos (1919) sowie der Kommunistischen Partei Indiens (1920) beteiligt. In den 1920ern brach er mit der kommunistischen Bewegung und begründete in den 1930er Jahren den „Radikalen Humanismus“. Unter Kommunisten ist er vor allem für seine Kritik an Lenins Entwurf zur nationalen und kolonialen Frage für den Zweiten Weltkongress der Komintern 1920 bekannt.

[27] Vgl. Roy, Manabendra Nath: „Fascism. Its Philosophy, Professions, and Practice“, D. M. Library, Kalkutta 1938, S. 148.

[28] Vgl. ebd. S. 147-51.

[29] Ebd. S. 73.

[30] Ebd. S. 45. 

[31] Vgl. Cao-Van-Hoa, Edmond: „„Der Feind meines Feindes …“. Darstellungen des nationalsozialistischen Deutschland in ägyptischen Schriften“, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 1990, S. 68, 81, 83-85, 87-89, 161f., 167. Vgl. Gershoni, Israel; Nordbruch, Götz: „Sympathie und Schrecken. Begegnungen mit Faschismus und Nationalsozialismus in Ägypten, 1922-1937“, Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2011, S. 53-56, 110, 119f., 124f., 131, 135, 137-39, 141-45, 147, 149-54, 157-59, 183-245. Vgl. Schumann, Christoph: „Symbolische Aneignungen. Anṭūn Saʿādas Radikalnationalismus in der Epoche des Faschismus“. In: Höpp, Gerhard (Hrsg.); Wien, Peter (Hrsg.); Wildangel, René (Hrsg.): „Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus“, Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2004, S. 157-80. Vgl. Wildangel, René: „Zwischen Achse und Mandatsmacht. Palästina und der Nationalsozialismus“, Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2007, S. 151-54.

[32] Zitiert nach Wildangel: „Feind der Menschheit“, S. 148.

[33] Kühne, Horst: „Die faschistische Rassentheorie im Dienst der Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus“. In: Göschler, Henry (Hrsg.): „Rassen, Rassen„theorie“ und imperialistische Politik. Fünf Beiträge zur Kritik der Rassen„theorie“, Dietz Verlag, Berlin 1961. Ders.: „Faschistische Kolonialideologie und zweiter Weltkrieg“, Dietz Verlag, Berlin 1962.

[34] Schmelzer, Janis: „IG-Farben stossen nach Afrika. Zur Kolonialgeschichte und kolonialen Tradition der IG-Farben-Nachfolgegesellschaften“, VEB Filmfabrik Wolfen, Bitterfeld/Wolfen 1965. Groehler, Olaf: „Kolonialforderungen als Teil der faschistischen Kriegszielplanung“. In: Zeitschrift für Militärgeschichte 5/1965, S. 547-62.

[35] Weinberg, Gerhard L.: „German Colonial Plans and Policies, 1938-1942“. In: „Geschichte und Gegenwartsbewusstsein. Festschrift für Hans Rothfels“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1963, S. 462-91. Schmokel, Wolfe W.: „Der Traum vom Reich. Der deutsche Kolonialismus von 1919-1945“, Sigbert Mohn Verlag, Gütersloh 1967. Hildebrand: „Weltreich“.

[36] Loth: „Geschichte Afrikas“. Rathmann, Lothar u. a. : „Geschichte der Araber. Von den Anfängen bis zur Gegenwart Band 3 und 4. Die arabische Befreiungsbewegung im Kampf gegen die imperialistische Kolonialherrschaft (1917-1945), Akademie-Verlag, Berlin 1974.

[37] Ndumbe III.: „Hitler in Afrika“.

[38] Vgl. Hildebrand: „Weltreich“, S. 767-75. Vgl. Linne: „Jenseits des Äquators“, S. 165-68.

[39] Vgl. Eichholtz: „Expansionsprogramm“, S. 28. Ders.: „Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939-1945 Band 2“, Saur Verlag, München 1999, S. 449. Hass, Gerhart; Greiser, Ingeborg: „Zweiter Weltkrieg“. In: Berthold, Werner u. a. (Hrsg.): Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Handbuch, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1977, S. 355.

[40] Ndumbe III.: „Hitler in Afrika“, S. 32.

[41] Ebd. S. 140-56.

[42] Vgl. Kühne: „Faschistische Kolonialideologie“, S. S. 37-40, 42-46, 50-54.

[43] Filippi, Francesco: „„Aber wir haben ihnen doch Straßen gebaut!“ Das italienische Kolonialreich: Terror, Lügen und Vergessen“, Verlag Edition AV, Bodenburg 2024, S. 11.

[44] Vgl. ebd. S. 21, 27, 37f., 43-48, 52, 67-69.

[45] Vgl. Schneider, Gabriele: „Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936-1941, SH-Verlag, Köln 2000, S. 11, 

[46] Ebd. S. 270.

[47] Tillmann, Heinz: „Deutschlands Araberpolitik im zweiten Weltkrieg“, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1965.

[48] Zu nennen sind insbesondere: Achcar, Gilbert: „Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen“, Nautilus Verlag 2012. Cao-Van-Hoa: „Der Feind meines Feindes“. Gershoni; Nordbruch: „Sympathie und Schrecken“. Höpp; Wien; Wildangel: „Blind?“. Motadel, David: Für Prophet und Führer. Die Islamische Welt und das Dritte Reich, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017. Wagenhofer, Sophie: „„Rassischer“ Feind – politischer Freund? Inszenierung und Instrumentalisierung des Araberbildes im nationalsozialistischen Deutschland“, Klaus Schwarz Verlag, Berlin 2010. Wildangel: „Achse und Mandatsmacht“.

[49] Vgl. Cao-Van-Hoa: „Feind meines Feindes“, S. 162. Vgl. Gershoni, Israel: „„Der verfolgte Jude“. Al-Hilals Reaktionen auf den Antisemitismus in Europa und Hitlers Machtergreifung“. In: Höpp; Wien; Wildangel: „Blind?“, S. 68f. Vgl. Wildangel, René: „„Der größte Feind der Menschheit“. Der Nationalsozialismus in der arabischen öffentlichen Meinung in Palästina während des Zweiten Weltkrieges“. In: Höpp: „Blind?“, S. 123.

[50] Motadel: „Prophet und Führer“, S. 135.

[51] Petke, Stefan: „Muslime in der Wehrmacht und Waffen-SS. Rekrutierung, Ausbildung, Einsatz“, Metropol Verlag, Berlin 2016, S. 481.

[52] Roy: „Fascism“, S. 45. 

[53] William Edward Burghardt Du Bois (1868-1963) war ein schwarzer US-amerikanischer Historiker und Soziologe, Mitbegründer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und des Panafrikanismus. Außerdem galt er ab den 1920er Jahren als Bewunderer der Sowjetunion, hatte enge Kontakte zur Kommunistischen Partei der USA und trat ihr 1961 auch bei.

[54] Du Bois, W. E. B.: „Writing“, The Library of America, New York 1986, S. 1243.

[55] Vgl. Losurdo, Domenico: „Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte“, PapyRossa Verlag, Köln 2021, S. 147-50, 158

[56] Arendt, Hannah: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Band 2. Imperialismus“, Ullstein Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 18. 

[57] Ebd. S. 69.

[58] Ebd. S. 65.

[59] Ebd. S. 159.

[60] Ebd. S. 192. 

[61] Ebd. S. 105.

[62] Siehe Losurdo: „Westlicher Marxismus“, S. 150-69.

[63] Vgl. Padmore: „How Britain rules in Africa“, Negro University Press, New York 1969, S. 74, 129f.

[64] Ebd. S. 4. 

[65] Nehru, Jawaharlal: „Eighteen Month in India, 1936-1937. Being Further Essays and Writings“, Kitabistan, Allahabad 1938, S. 125/131. 1938 erschien bereits eine Zweitauflage des Buchs mit abweichender Seitennummerierung, daher werden hier jeweils beide angeführt.

[66] Césaire (1913-2008) stammte aus der französischen Karibik-Kolonie Martinique und war Schriftsteller und Politiker und einer der Begründer der „Négritude“. 1945-55 war er aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs.

[67] Césaire, Aimé: „Über den Kolonialismus“, Wagenbach Verlag, Westberlin 1968, S. 12.

[68] Arendt: „Elemente und Ursprünge“, S. 7.

[69] Ebd. S. 158.

[70] Memmi (1920-2020) war ein tunesischer jüdischer Soziologe. Er war in der tunesischen Unabhängigkeitsbewegung engagiert und beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit Rassismus und Kolonialismus.

[71] Memmi, Albert: „Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts“, Syndikat Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 67.

[72] Cyril Lionel Robert James (1901-89) war ein aus Trinidad stammender Schriftsteller, Kulturtheoretiker und Trotzkist. Seine Arbeiten waren zentral für die afro-karibische politische Theorie und Kultur. Sein Buch Die schwarzen Jakobiner wurde 1984 in der DDR verlegt.

[73] Die Erstauflage erschien 1938 und soll bereits Verbindungen zwischen Kolonialismus und Faschismus aufgezeigt haben. (Vgl. James, C. L. R.: „Die schwarzen Jakobiner. Toussaint Louverture und die Haitianische Revolution“, Dietz Verlag, Berlin 2022, S. 16.) Für diesen Aufsatz konnten aber nur die 1963 von James selbst überarbeitete und aktualisierte Neuauflage und deren beiden deutsche Übersetzungen herangezogen werden.

[74] James, C. L. R.: „Die schwarzen Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die Unabhängigkeitsrevolution in Haiti“, Pahl-Rugenstein, Köln 1984, S. 54f. Zensur durch L. W.

[75] Ebd. S. 53.

[76] Asa Philip Randolph (1889-1979) war ein schwarzer US-amerikanischer Sozialist, Gewerkschafter, Bürgerrechtsaktivist und Bewunderer Gandhis.

[77] Zitiert nach Kapur, Sudarshan: „Raising up a Prophet. The African-American encounter with Gandhi“, Beacon Press, Boston 1992, S. 112.

[78] Vgl. Rubenstein, Richard L.: „Afterword: Genocide and Civilization“. In: Wallimann, Isidor (Hrsg.); Dobkowski, Michael (Hrsg.): „Genocide and the Modern Age. Etiology and Case Studies of Mass Death“, Green Wood Press, New York/Westport/London 1987, S. 287f.

[79] Ebd. S. 288.

[80] Vgl. Mazower, Mark: „After Lemkin. Genocide, the Holocaust and History“. In: The Jewish Quarterly 5, 1995, S. 7.

[81] Zimmerer, Jürgen: „Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust“, LIT-Verlag, Berlin/Münster 2011, S. 140.

[82] Churchill (*1943) lehrte bis 2007 Ethnic Studies an der Universität vonColorado und war lange in der indigenen Bürgerrechtsbewegung in den USA engagiert. 

[83] Vgl. Churchill, Ward: „A little Matter of Genocide. Holocaust and Denial in the Americas 1492 to the Present“, City Lighters Publishers, San Francisco 1997.

[84] Vgl. ebd. S. 147.

[85] Losurdo (1941-2018) war ein italienischer kommunistischer Historiker und Philosoph. Einer seiner Schwerpunkte lag auf der Geschichte des Antikolonialismus im 20. Jahrhundert in Verbindung mit der kommunistischen Weltbewegung.

[86] Vgl. Losurdo, Domenico: „Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes?“, Kai Homilius Verlag, Berlin 2010, S. 38-59. Vgl. Ploppa, Hermann: „Hitlers amerikanische Lehrer. Die Eliten der USA als Geburtshelfer des Nationalsozialismus“, Liepsen Verlag, Steure 2008, S. 25-117, 167-284.

[87] Whitman, James Q.: „Hitlers amerikanisches Vorbild. Wie die USA die Rasengesetze der Nationalsozialisten inspirierten“, C. H. Beck Verlag, München 2018.

[88] Lindqvist, Sven: „Exterminate all the Brutes“, The New Press, New York 1996, S. 141.

[89] Ebd. S. 160.

[90] Plumelle-Uribe, Rosa Amelia: „Weiße Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis“, Rotpunkt Verlag 2004, S. 17f.

[91] Ebd. S. 168f.

[92] Vgl. Kunz, Rudibert; Müller, Rolf-Dieter: „Giftgas gegen Abd el Krim. Deutschland, Spanien und Marokko und der Gaskrieg in Spanisch-Marokko 1922-1927“, Rombach Verlag, Freiburg 1990, S. 32-34.

[93] Vgl. Mazower: „After Lemkin“, S. 6f.

[94] Elsner, Gine: „Freikorps, Korporationen und Kolonialismus. Die soziale Herkunft von Nazi-Ärzte“, VSA Verlag, Hamburg 2024.

[95] Schlesinger, Walter: „Die geschichtliche Stellung der mittelalterlichen deutschen Ostbewegung“. In: Historische Zeitschrift 183, 1957, S. 520.

[96] Wippermann (1945-2021) war ein Historiker, Faschismusforscher und Schüler Ernst Noltes. Er galt u. a. als linker Kritiker der „Totalitarismus“-Doktrin.

[97] Vgl. Wippermann, Wolfgang: „Der ‚deutsche Drang nach Osten‘. Ideologie und Wirklichkeit eines politischen Schlagwortes, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1981, S. 130.

[98] Weigandt, Artur: „Die Verräter“, Hanser Verlag, Berlin 2023, S. 78f.

[99] Zitiert nach Kühne: „Faschistische Kolonialideologie“, S. 40.

[100] Zitiert nach Bayerlein, Bernhard H.: „„Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Vom Ende der linken Solidarität: Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939-1941“, Aufbau Verlag, Berlin 2008, S. 185.

[101] Kühne: „Faschistische Kolonialideologie“, S. 40.

[102] Hillgruber, Andreas: „Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940-1941“, Bernard & Graefe Verlag für Wehrwesen, Frankfurt am Main 1965, S. 567.

[103] Zimmerer: „Von Windhuk nach Auschwitz“, S. 140.

[104] Vgl. Losurdo, Domenico: „Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen“, PapyRossa Verlag, Köln 2007, S. 134. Vgl. Zimmerer: „Von Windhuk nach Auschwitz“, S. 140.

[105] Vgl. Losurdo, Domenico: „Stalin und Hitler. Zwillingsbrüder oder Todfeinde?“ In: Koch, Christoph (Hrsg.): „Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt? Charakter, Bedeutung und Deutung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939“, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2015, S. 22.

[106] Linne: „Jenseits des Äquators“, S. 148.

[107] Vgl. Panagiotidis, Jannis; Petersen, Hans-Christian: „Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart“, Beltz Juventa Verlag, Weinheim 2024, S. 18-20. Vgl. Zimmerer: „Von Windhuk nach Auschwitz“, S. 141f.

[108] Ebd. S. 147. 

[109] Moses, A. Dirk: „Der Katechismus der Deutschen“, 2021, Online: www.geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen (zuletzt eingesehen am 5.5.2025).

[110] Vgl. Wystrychowski, Leon: „Der „Katechismus“-Streit: Politischer Kontext und (geschichts)wissenschaftliche Verantwortung“, 2023, Online: www.etosmedia.de/politik/der-katechismus-streit-politischer-kontext-und-geschichtswissenschaftliche-verantwortung(zuletzt eingesehen am 5.5.2025).

[111] Mackert, Jürgen (Hrsg.); Pappe, Ilan (Hrsg.): „Siedlerkolonialismus. Grundlagentexte des Paradigmas und aktuelle Analysen“, Nomos Verlag, Baden-Baden 2024, S. 5f.

[112] Schumann, Gerd: „Kolonialismus“, PapyRossa Verlag, Köln 2016, S. 70.

[113] Padmore: „How Britain rules“, S. 192.

[114] Ebd. S. 125, 129, 322.

[115] Nehru: „Eighteen Month“, S. 124/130.

[116] Ebd. S. 123/129.

[117] Ebd. S. 204/216.

[118] Gemeint sind die „große Koalitionen“ in Großbritannien 1931-40.

[119] Nehru: „Eighteen Month“, S. 124/130.

[120] Ebd. 

[121] Gandhi, Mahatma: „Collected Works Band 74“, Navajivan Press, Ahmedabad 1978, S. 17.

[122] Vgl. Kapur: „Raising up a Prophet“, S. 107-09, 112.

[123] Du Bois, W. E. B.: „ The World and Africa. An Inquiry into the Part which Africa has played in World History“, International Publishers, New York 1975, S. 23. 

[124] Zitiert nach Plumelle-Uribe: „Weiße Barbarei“, S. 316f.

[125] Césaire: „Über den Kolonialismus“, S. 12. Zensur durch den Autor.

[126] Memmi: „Der Kolonisator und der Kolonisierte“, S. 67.

[127] Fanon (1925-61) war Psychiater und gilt als einer der wichtigsten Theoretiker der antikolonialen Befreiung. Er stammte wie Césaire von Martinique und studierte auch bei ihm. 1953 ging er nach Algerien und schloss sich dort später der Befreiungsbewegung an.

[128] Fanon, Franz: „Die Verdammten dieser Erde“, Rowohlt Verlag, 1971, S. 69 Fußnote 8, S. 79.

[129] Kühne: „Faschistische Kolonialideologie“, S. 40.

[130] Hildebrand: „Weltreich“, S. 775.

[131] Plumelle-Uribe: „Weiße Barbarei“, S. 130.

[132] Für das Beispiel Frankreich vgl. Nestler, Ludwig; Schulz, Friedel: „Die faschistische Okkupationspolitik in Frankreich (1940-1944)“, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1990, S. 57-79.

[133] Vgl. ebd. S. 80-92.

[134] Fanon, Frantz: „Für eine afrikanische Revolution. Politische Schriften“, März Verlag 2022, S. 94.

[135] Eine interessante Parallele zu Moishe Poste, der dasselbe mit dem Antisemitismus, den er allerdings vom Rassismus unterschied, getan hat. Damit legte Poste die theoretische Grundlage für die sich als „Wertkritiker“ bezeichnenden Hardcore-„Antideutschen“ mit ihrem „strukturellen Antisemitismus“.

[136] Schmitt-Egner, Peter: „Kolonialismus und Faschismus. Eine Studie zur historischen und begrifflichen Genesis faschistischer Bewußtseinsformen am deutschen Beispiel“, Andreas Achenbach Verlag, Gießen/Lollar 1975, S. 5.

[137] Ebd. S. 123, 126.

[138] Ders.: „Wertgesetz und Rassismus. Zur begrifflichen Genesis kolonialer und faschistischer Bewußtseinsformen“, 1978, Online: www.trend.infopartisan.net/trd0505/t180505.html (zuletzt angesehen am 4.5.2025).

[139] Vgl. Schmitt-Egner: „Kolonialismus und Faschismus“, S. 43-45.

[140] Ebd. S. 46.

[141] Ebd. S. 106

[142] Vgl. Losurdo, Domenico: „Das 20. Jahrhundert begreifen“, PapyRossa Verlag, Köln 2013, S. 22f.

Kommunistische Standpunkte zur AfD: Kontroversen und Analysen

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Eine Bewegungsschau von Jakob Yasko

Die Alternative für Deutschland mobilisiert seit ihrer Gründung kontinuierlich Wähler und Anhänger. Mittlerweile liefert sich die Partei mit der CDU ein Rennen um den Platz 1 in den Wahlumfragen. Spätestens seit dem Einzug der Partei in den deutschen Bundestag im Jahr 2017 wird die Entwicklung der Partei aufmerksam verfolgt.

Angesichts der erstarkenden AfD unterstützten zahlreiche Kommunisten die Anti-AfD Proteste vom Frühjahr 2024. Im Rahmen der Bundestagswahl 2025 mobilisierten zahlreiche Kommunisten für die Wahl der Linkspartei als Stimme gegen die AfD. Andere stellten sich klar gegen diese Anti-AfD Proteste und warnten davor einer staatlichen Kampagne auf den Leim zu gehen. Manche sehen sogar eine Oppositions- und Friedenskraft in der Partei. Wir werden Zeuge einer völlig unterschiedlichen Praxis gegenüber der AfD.

Gleichzeitig ist die Frage nach der Einordnung der AfD wichtiger denn je. Der deutsche Imperialismus bereitet Krieg vor und schleift demokratische Grundrechte. Welche Rolle spielt in dieser Zeit die AfD für den deutschen Imperialismus?

Auch wir wollen uns stärker mit der AfD beschäftigen. Zu diesem Zweck stellen wir eine Bewegungsschau zur AfD zusammen. Die Bewegungsschau ist ein Mittel, welches wir häufiger im Rahmen unseres Klärungsprozesses nutzen, um die Positionen und Streitfragen in der Kommunistischen Bewegung zu erfassen – aber auch um auf bereits erarbeitete Wissensstände aufbauen zu können.

Wir wollen im Folgenden eine kompakte Übersicht zu den verschiedenen Analysen und Positionen zur AfD zusammenstellen.

Überblick

In der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und der DKP-Nahen Marx-Engels-Stiftung wird seit 2024 eine kontroverse Diskussion um die Einordnung der AfD geführt. Dementsprechend konnte der Parteivorstand, in seinen Leitgedanken zum 26. Parteitag, keine ausführliche Einschätzung zur Rolle der AfD liefern. Die Partei stellt sich allerdings klar gegen die AfD-Verbotsforderungen.

In der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ) entbrannte bereits 2017 eine Debatte um den Charakter der AfD. Im Fokus stand die übergeordnete Frage, was eine faschistische Partei ausmacht.

In seinem Buch zum Faschismus widmet sich der Kommunistische Aufbau (KA) auch der AfD. Sie charakterisieren die AfD als Sammlungspartei und parlamentarischen Arm des Neofaschismus. Dabei widmen sie sich vorrangig der Genese der Partei und ihren Netzwerken.

Der Freidenkerverband nimmt eine gegenteilige Position ein und bewertet die AfD als Oppositionskraft und Friedenspartei. Wer sich gegen sie stellt, befeuert autoritären Staatsumbau und Pseudo-Antifaschismus. 

Deutsche Kommunistische Partei

Die Leitgedanken der DKP für den 26. Parteitag im Juni 2025 sollen die zentralen Entwicklungen in Deutschland und der Welt zusammenfassen und zur Diskussion stellen. Im Fokus stehen die Kriegsvorbereitungen gegen Russland und China, samt ihrer Auswirkungen auf die deutsche Arbeiterklasse. Die AfD findet in den 10 Thesen nur am Rande eine Erwähnung. Der Parteivorstand konstatiert, dass die AfD zur Desorientierung von Friedenkräften beiträgt, indem sie zwar Anti-NATO Rhetorik betreibt, aber die NATO-Mitgliedschaft und Aufrüstungspolitik unterstützt.[1] Gleichzeitig trage der Pseudoantifaschismus bürgerlicher Parteien gegen die AfD zur Formierung der Gesellschaft bei. Der Kriegskurs läuft auch über vermeintliche Anti-AfD-Kampagnen, um vom wahren Gegner (dem Monopolkapital) abzulenken.[2]

Diese Einschätzung bekräftigt die Partei in ihrer Erklärung „Kein „Antifawashing“ für Kriegstreiber!“. Die DKP positioniert sich klar gegen die Forderungen nach einem AfD-Verbot: „Es handelt sich um Kriegstreiberparteien, die nun eine Art „Antifawashing“ betreiben, indem sie eine andere, von ihnen selbst hochgepäppelte Kriegstreiberpartei verbieten wollen.“ Verbotsinstrumente und -verfahren hätten sich historisch immer als Waffen in der Hand der Herrschenden gegen Kommunisten erwiesen. „Der antifaschistische Auftrag des Grundgesetzes ist im Artikel 139 immer noch enthalten. Nach ihm dürften neonazistische, faschistische Organisationen gar nicht erst existieren – dieser Auftrag wird von den Herrschenden seit 1949 nicht umgesetzt. Wer trotz dieser Nichtbeachtung weitere Instrumente zum Verbot von Organisationen schaffen will, hat nicht den Antifaschismus im Sinn, sondern die nächste Phase des reaktionär-militaristischen Staatsumbaus.“[3] Über derartige Anti-AfD Kampagnen verschaffe sich der Staat also Mehrheiten für Demokratieabbau und Einschränkungen.

Weitergehende Einschätzungen zur AfD findet man in der Bildungszeitung der Bildungskommission der DKP für das Jahr 2024. Sie trägt den Titel: Der Charakter des Faschismus Erfordernisse an die Analyse der faschistischen Gefahr in der heutigen Zeit. Auch hier betont die Partei einleitend: „Wer den Faschismus und die faschistische Gefahr verstehen will, darf sich nicht nur allein die AfD anschauen“.[4] Später wird die AfD als „eine bürgerliche, rechtskonservative Partei mit beachtenswert vielen Faschisten in ihren Reihen und Kontakten zu offen faschistischen Netzwerken im In- und Ausland“ charakterisiert. Sie könne wie die anderen Parteien auch vom Kapital genutzt werden.[5] Für eine umfangreichere Einschätzung der AfD verweist die Bildungskommission auf Ekkehard Lieberam, welcher schreibt: „wer heute von einer drohenden Abschaffung ,der Demokratie´ spreche, verkennt die Lage, übersieht die vorhandene Unfähigkeit vieler Linker, die bestehende bürgerliche Demokratie als vom Monopolkapital derzeit bejahte Form der Kapitalherrschaft zu erkennen und den in ihrem Rahmen stattfindenden Demokratieabbau zu kritisieren.[6] Die AfD strebe dazu, an der Seite der CDU in das aktuelle „Parteienkartell des Monopolkapitals“ aufgenommen zu werden – spätestens dann würde sie ihre Forderungen vergessen. Die Bildungszeitung kommt zu dem Schluss: „Sie (die AfD, Anm. Autor) wird das parlamentarische Regierungssystem nicht beseitigen, es jedoch deutlich weiter nach rechts in Richtung Rassismus und Zerstörung des Asylrechts ausrichten.“[7]

Aus Hamburg und Frankfurt wird zu dieser Einordnung Kritik formuliert. Die Frankfurter betonen, dass die AfD faschistische Kräfte sammeln und mobilisieren kann. Die DKP könne nicht so einfach davon ausgehen das sie ein „parlamentarisch-demokratisches System im Sinn“ hat: „Die Entstehungsgeschichte des Parteiprojekts AfD aus dem Umfeld der herrschenden Monopolbourgeoisie und die im Vergleich zu vielen früheren Versuchen zur Gründung einer solchen Partei bemerkenswerte Erfolgsbilanz dieses Unterfangens, lassen es unwahrscheinlich erscheinen, die Bourgeoisie würde geneigt sein, dieses Projekt aufzugeben.“[8] Die Hamburger kritisieren die Sicht auf die AfD als „westdeutsch und großstadtgeprägt“. In ländlichen Regionen würden AfD-Nahe Nazigruppen bereits gewaltsam gegen Linke, Arbeiter und Gewerkschafter vorgehen. Die Gruppe Hamburg kommt zu dem Schluss: „sollte die deutsche Bourgeoisie auf eine faschistische Herrschaftsvariante setzen wollen, so wäre die AfD durchaus eine geeignete Partei für die Umsetzung. Nicht als ausgereifte Lösung, aber als entwickelbarer Sprößling.“[9]

In der UZ (Unsere Zeit), der Wochenzeitung der DKP, entwickelte sich entlang dieser Kontroversen eine Debatte um Proteste gegen die AfD. Während sich der Parteivorsitzende Patrik Köbele für Proteste gegen den AfD-Bundesparteitag ausspricht,[10] stellt sich Christel Buchinger in einem Leserbrief dagegen[11]. Köbele betont den Rassismus, der von der Partei ausgeht und warnt vor dem faschistischen Flügel. Buchinger kritisiert, dass mit Demos gegen die AfD die Tatsache verwässert wird, wer gerade Krieg vorbereitet und das Land in die Faschisierung stürzt. Sie adressiert Köbele und schreibt: „Die butterweichen Erklärungen von Patrik Köbele, dass die Parteien des Kapitals die Hauptschuldigen an dem Vormarsch der AfD seien, sind einerseits nicht ausreichend und andererseits beteiligen sie sich sogar an dem Werfen von Nebelkerzen, die verhindern, dass der Hauptfeind im Lande erkannt wird.“ Außerdem hält sie fest, dass durch den Aufbau der AfD zum inneren Feind die Gesellschaft zum Autokratismus formiert wird. Dietrich Lohse[12] erachtet wiederum die Forderung nach einem AfD-Verbot als richtig. Kommunisten müssen in Anti-AfD Proteste hineinwirken und die Herrschenden entlarven.

Dieser Betonung des autoritären Staatsumbaus schließen sich Ulrich Schneider[13] und Arnold Schölzel[14] an. Sie schlussfolgern, dass die aktuelle Regierung bereits in weiten Teilen AfD-Politik betreibt.

Thomas Ehwald schreibt in einem Leserbrief das die AfD „rechts-bürgerlich-reaktionäre Inhalte mit Überlappungen zu Nazi-Positionen“ vertrete. Außerdem werde die Partei von den wichtigsten Kapitalfraktionen bekämpft und setze sich für Frieden mit Russland ein, was für faschistische Parteien untypisch sei.[15] Um gemeinsam mehr Klarheit über die Partei zu erlangen, müssten laut ihm folgende Fragen bearbeitet werden: „Verfügt die AfD über paramilitärische Strukturen vergleichbar der SA? Verfolgt sie ihre politischen Gegner mörderisch? Gibt es gegen Gegner gerichtete „Straßengewalt“? Bekämpft sie militant die Organisationen der Arbeiterbewegung? Ist die AfD im historischen Sinne „antisemitisch“?“[16]

Marx-Engels-Stiftung

Diese Diskussionen waren auch Gegenstand einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung im April 2024. Unter dem Titel „Faschismusgefahr und AfD“ referierten Jörg Lang, Ekkehard Lieberam, Jürgen Lloyd und Ulrich Schneider. Die Stiftung steht der DKP nahe,- entsprechend spielen alle Referenten auch eine wichtige Rolle für die Debatten in der Partei. Was waren die Kernaussagen und die zentralen Streitfragen?

Jörg Lang widmete sich in seinem Referat der AfD-Programmatik. Die rassistischen Potentiale der AfD würden dort zwar deutlich werden, aber aktuell noch nicht mit den Interessen des deutschen Monopolkapitals korrespondieren. Derzeit treffen die Forderungen der AfD vor allem in den Kreisen der nationalen und nicht-monopolistischen Bourgeoisie auf offene Ohren.[17] Gegenüber den Ampelparteien und der CDU, den Hauptkräften des Monopolkapitals, vertrete die AfD objektiv antiimperialistische Positionen in Fragen der NATO und des Ukraine-Krieges.[18] Die hauptsächliche Triebkraft für historischen Rückschritt und Tendenz zum Faschismus sei nicht die AfD, sondern die Politik der USA und ihrer Handlanger in Berlin.[19]

Ekkehard Lieberam stellt verschiedene Thesen zur Faschismusgefahr auf – in seiner 8. These vermerkt er bezüglich der AfD, dass sie eine rechte Scheinopposition darstelle, aber keineswegs faschistisch sei. Pläne zur Errichtung einer offenen Diktatur seien nicht erkennbar, auch wenn sich in der Partei einige Nazis tummeln. Ihre täuschende Friedensdemagogie sei kein alleiniges Merkmal von faschistischen Bewegungen, sondern normaler Bestandteil des kapitalistischen Politikbetriebes.[20]

Auch Jürgen Lloyd betont die Funktion der Desintegration und Bewusstseinsfälschung die der AfD inne liegt. Was sie von anderen Parteien abgrenze, sei allerdings die Fähigkeit „als Organisation zu fungieren, mit der sich das eben beschriebene Potential faschistischer Bewegungen sammeln und mobilisieren lässt.“[21] Genau darin liegt die Brauchbarkeit der AfD für das Monopolkapital, sie kann beide Herrschaftsbedarfe bespielen. Die Anti-AfD Proteste zielen dabei vorrangig auf die Formierung der Gesellschaft, nicht aber auf die dauerhaft wirksame Bekämpfung der AfD.[22] Lloyd äußert sich auch übergeordneten Frage wie eine Partei als faschistisch zu charakterisieren sei: „Die irrige Annahme, auch diese anderen Parteien könnten als Träger einer faschistischen Politik fungieren, beruht auf einem fehlerhaften Faschismusbegriff. Die Bezeichnung Faschismus dient dabei lediglich als Name für den Inhalt dieser oder jener besonders reaktionären Politik. Der Faschismus hat aber schlichtweg keine eigene inhaltliche Spezifik, da sein politischer Inhalt vollständig vom Imperialismus (resp. vom Monopolkapital) vorbestimmt ist. Unser Faschismusbegriff kennzeichnet stattdessen eine spezifische Form, in der dieser Inhalt unter bestimmten Bedingungen zur Durchsetzung gebracht werden soll. Und wir benötigen diesen Begriff zur Analyse dieser bestimmten Herrschaftsform. Die anderen Integrationsparteien sind mit ihrer Arbeitsweise, ihrer spezifischen Agitation, der von ihnen geschaffenen Basis und insbesondere mit dem Modus, wie sie diese Basis der Monopolherrschaft zur Verfügung stellen, so sehr mit den Methoden der „freiwilligen“ Integration verbunden, dass es schlicht effektiver wäre, eine neue Partei aufzuziehen, wenn es darum geht, eine faschistische Massenbasis zu generieren.“[23]

Zu guter Letzt widmen wir uns Ulrich Schneider. Er betont das schließlich selbst aus der Sicht der Herrschenden die AfD die Grenze zum offenen Faschismus überschreitet – der Fall sei also völlig klar: die AfD ist faschistisch.Die Partei stelle die Speerspitze der extrem Rechten, völkischen und nationalistischen Kräfte in Deutschland dar.Sie werde nicht zur Machtausübung benötigt, sondern zur politischen Integration und Rechtsverschiebung von Teilen der Bevölkerung.[24] Im Kampf gegen Faschismus und für demokratische Grundrechte, aber auch im Interesse breiter Bündnisse sei es unabdingbar Proteste gegen die AfD zu organisieren und ihr Wirken dort zurückzudrängen, wo es stattfindet. Auch die bundesweiten Anti-AfD Proteste könnten dafür Potentiale entfalten, solange man dort über die Machenschaften der Regierenden ebenso aufklärt.[25]

Kommunistischer Aufbau

„Faschismus – Terror, Funktion, Ideologie & antifaschistische Strategie“ nennen die Autoren vom Redaktionskollektiv Kommunismus ihr Buch, welches eine umfangreiche historische Aufarbeitung des Hitlerfaschismus als Bewegung und an der Macht bietet. Die Faschismustheorie und die Diskussionen rund um den Faschismus erscheinen im Text eher als Randnotizen. Dafür liefert auch eine Auseinandersetzung mit der AfD.

Die Partei wird in den Kontext der Neuen Rechten und der von Ihnen betriebenen Modernisierung des Faschismus gestellt. Die Neue Rechte und andere Faschisten arbeiteten seit 1945 in enger Verbindung zu Kreisen des Establishments an der Aufstellung einer faschistischen Partei. Sie neigten dabei aber auch immer wieder zur Konkurrenz untereinander.[26] Die AfD-Parteigründung markiere einen von vielen historischen Anläufen zum Wiederaufbau eines parlamentarischen Arms des Faschismus.[27]

Mit der internationalen Finanzkrise 2008-09 und der europäischen Schuldenkrise 2011, sowie der fortschreitenden „Sozialdemokratisierung“ der CDU unter Merkel sei ein historisches Moment entstanden, in dem die Projekte der Neuen Rechten auf prominente Unterstützung aus Teilen des rechtskonservativen Establishments gestoßen sind.[28] Die Autoren präsentieren die verschiedenen Strippenzieher hinter der AfD-Gründung: Think Tanks und Initiativen aus den Kreisen des Rechtskonservatismus und Neofaschismus, aber auch vermögende Kapitalisten mit dem nötigen Startkapital für den Parteiaufbau. Die Autoren nennen auch Verbindungen tief hinein in faschistische Terrorzellen.[29] Auch deutsche Geheimdienstmitarbeiter und rechte Militärs beteiligten sich am Gründungsprozess.[30]

Auf vier Seiten wird das Netzwerk aufgefächert, das sich in den frühen2010er Jahren hinter der AfD in Stellung brachte. Anschließend folgt ein ausführlicher personeller Überblick über die faschistische Bewegung und die AfD aufgestellt.[31]

Die Autoren sprechen anschließend von einem „Knäuel“, das sich an vielen Stellen nicht ganz entwirren lasse. Die faschistische Bewegung kennzeichne sich durch verschiedene, uneinheitliche Strömungen, die nur schwer zu unterscheiden sind.

Wesentlich ist für das Redaktionskollektiv, dass „die Dynamik der AfD seit 2013 die einer Vereinigung des faschistischen Lagers in einer Partei darstellt, sowie der Radikalisierung dieser Partei und der sie tragenden Strömungen.“[32] Ihre Aufstellung ermögliche der Partei gleichzeitig tief ins bürgerlich-konservative Lager hinein einflussreich zu sein. Die Autoren schließen mit der Bemerkung: „Die AfD ist deshalb als faschistische Partei, und zwar als die wichtigste offen auftretende faschistische Partei in Deutschland einzuschätzen.“[33]

Zur Rolle und Funktion der Partei, sowie zum Kurs der AfD, ihrer konkreten politischen Mission und ihrer Massenbasis findet man eher weniger. Im Fokus sind die Netzwerke und Verbindungen der AfD.

Kommunistische Arbeiterzeitung

In der Kommunistischen Arbeiterzeitung zeichnet sich bereits im Jahr 2017 eine Diskussion rund um den Charakter der AfD ab.

Die KAZ (Fraktion Für Dialektik in Organisationsfragen) widmet sich der Frage: Was sind Merkmale faschistischer Parteien? In ihrem Artikel betonen die Autoren die Beliebigkeit faschistischer Losungen und Aufrufe. Faschismus bedeute prinzipienloses anbiedern an die Herrschende Klasse. Also eine glaubhafte Option zur offen terroristischen Herrschaft zu verkörpern. Zu diesem Zweck machen sie sich aggressiven Antikommunismus und Chauvinismus zu eigen. Ihre Mittel sind der Terror aber auch die Einbindung über die Ideologie der Volksgemeinschaft oder Querfrontstrategien.

Die Autoren kommen zu dem Schluss: „Man kann Faschisten nicht nach ihren Worten, sondern vor allem nach ihrer Funktion in der Gesellschaft gegenüber den verschiedenen Klassen und Schichten beurteilen und entsprechend entlarven.“[34]

Der „ideologische Pragmatismus“ faschistischer Parteien zeige sich deutlich anhand der AfD und der CSU. Beide Parteien nutzen die Migrationskrise zur Hetze gegen Migranten und zur Mobilisierung einer Volksgemeinschaft gegen innere und äußere Feinde. Während die AfD die Aushöhlung demokratischer Rechte nur fordert, arbeitet die CSU ganz aktiv daran.

Die KAZ (Fraktion Kommunismus) geht hier in eine scharfe Kritik. In ihrem Artikel „Wie ernst ist die faschistische Gefahr – und wie ernsthaft ist die Auseinandersetzung darum?“ formulieren die Autoren ihre Einschätzung.

Mit solchen Maßstäben könne man jede bürgerliche Partei als faschistisch Charakterisieren. Der Artikel lasse „die jahrzehntelange Forschungsarbeit in den Instituten, Universitäten und Akademien der DDR beiseite, die zum Faschismus, zur faschistischen Bewegung und zu ihren Parteien geforscht haben.“[35] Es gelte die die Gründung und Herkunft, die Entwicklung der AfD und ihre Kooperationen im reaktionären und faschistischen Spektrum zu untersuchen.

Die Autoren rücken die Frage in den Fokus, wie und warum das Monopolkapital faschistische Bewegungen fördert. In diesem Sinne führen sie den Faschismustheoretiker Kurt Gossweiler an: „Dafür, die Demokratie zu beseitigen und die Arbeiterbewegung zu verfolgen, hätte es jedoch noch keiner neuen politischen Bewegung faschistischen Typs bedurft, dazu hätten allenfalls die staatlichen Gewaltorgane – Armee, Polizei, Justiz, – ausgereicht. Der Faschismus zeichnet sich jedoch als eine konterrevolutionäre politische Bewegung neuen Typs vor allem dadurch aus, dass er die Eigenschaften einer extrem terroristischen Bürgerkriegstruppe gegen die Arbeiterbewegung mit denen einer Organisation zur Gewinnung und Mobilisierung von Massen in sich zu vereinigen sucht.“

Man solle also keine schablonenhaften Merkmale für Parteien aufstellen, sondern sich den objektiven und subjektiven Faktoren widmen, die beim Machtantritt des Faschismus eine Rolle spielen. Der deutsche Imperialismus brauche für seine aktuelle (Artikel von 2018) Herrschaftsausübung den Faschismus nicht. Weder gibt es in der BRD eine faschistische Massenpartei, noch bräuchte es eine solche zwangsläufig für den Faschismus.

Laut den Autoren existiert zwar bereits eine breit aufgestellte faschistische Bewegung (NPD – heute: Die Heimat, Dritter Weg, verschiedene Medien, Teile des Militärs), aus diesen „sei aber aus subjektiven und objektiven Gründen noch keine faschistische Massenpartei hervorgegangen, sie ist auch noch keine faschistische Massenbewegung.“ Anstatt für Verwirrung und Faschismusverharmlosung zu sorgen in dem man der CSU den Stempel „faschistisch“ aufdrückt müsse die Wechselwirkung zwischen CSU, Kapital und faschistischer Bewegung besser nachvollzogen werden.

Die Autoren des Artikels stützen einen Großteil ihrer Einschätzungen aus einem Artikel aus dem Vorjahr. Unter dem Titel „Alternative für Deutschland – Eine Alternative für das Kapital – Nicht für uns!“ beschäftigen die Autoren sich u.a. mit der AfD-Gründung.

In diesem Ansatz zu einer AfD-Analyse nennen die KAZ-Autoren die fast genau die gleichen Netzwerke und Strukturen hinter der AfD wie das Redaktionskollektiv Kommunismus vom KA, aber kommen auf völlig unterschiedliche Schlussfolgerungen: Die AfD sei keine faschistische Partei, heißt es. Trotz einigen faschistischen Mitgliedern und einer ideologischen Nähe zu den historischen Wegbereitern des deutschen Faschismus mangele es der Partei an faschistischen und terroristischen „Banden und Bataillonen“.

Die AfD verfolge mit ihrer nationalistischen und chauvinistischen Linie den Auftrag einen starken Staat aufzubauen, die Gesellschaft zu militarisieren und Anhänger für reaktionäre und aggressive In- und Außenpolitik zu sammeln. Hinter der AfD steht ein bestimmter Teil des Finanzkapitals, der (noch) nicht faschistisch ist, einfach weil das in der aktuellen Situation gar nicht notwendig ist. Die AfD sei „aber Ausdruck einer wachsenden Bereitschaft bei Bedarf auf Faschismus zu setzen. Die Option des Faschismus wird somit diskussionsfähig gemacht und in die Öffentlichkeit getragen.“[36]

Die Autoren konstatieren abschließend: „Die Gefahr des Faschismus kommt von den aggressivsten Teilen des deutschen Finanzkapitals. Das zuletzt tumorartige Wachstum der AfD ist nicht Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Faschismus, wohl aber Ausdruck einer gewachsenen Bereitschaft dieser Teile des Finanzkapitals, auf kleinbürgerliche Schichten (inklusive Lumpenproletariat, Lumpenbourgeoisie) als sozialer Hauptstütze zu setzen statt auf die Arbeiteraristokratie mit ihren rechts-sozialdemokratischen Führern.“[37]

Diese grundlegend unterschiedliche Einschätzung der AfD scheint bis heute fortzubestehen. Eine gemeinsame Reihe zur AfD aus dem Jahr 2024 fokussiert sich darauf die AfD als Demokratie- und Arbeiterfeindliche Kriegspartei zu entlarven.

Freidenker Verband

Die Broschüre „Was ist Faschismus – Was ist Antifaschismus?“ der Freidenker versammelt verschiedene Artikel, die an vielen Stellen auch immer wieder auf die AfD eingehen.

Männe Grüß widmet sich beispielsweise der Frage nach der Triebkraft der Rechtsentwicklung im Land. Dies sei nicht die AfD selbst, sondern die deutsche Monopolbourgeoisie, die sich die Partei wiederum zur Nutze macht. In ihrer transatlantischen Bündnistreue stehe die AfD weder der CDU noch SPD und Grünen nach. Sie befinde sich somit genauso wie die anderen Parteien außerhalb des antifaschistischen Konsenses.[38]

Klaus Hartmann betont deutlich, dass es viel zu kurz greift die faschistische Gefahr an der AfD festzumachen. Auch antifaschistischen Protest gegen die AfD zu konzentrieren, führe ins Nichts. Man solle vielmehr die Hintermänner benennen und die Anhänger von AfD und Pegida zurückgewinnen. Man muss klarmachen das die AfD eine normale bürgerliche Partei sei, um ihr den Nimbus zu nehmen eine Alternative zu sein.[39] Im selben Artikel, sowie in verschiedenen Interviews (Janssen, Dehm, RT), betont Hartmann die Verwirrungen, die durch die Rechts-Links Zuordnungen entstehen und wie dieses Schema zu Irrationalismus führe. Die Grünen stünden in Fragen der Kriegspolitik bspw. weit rechts von der AfD.[40]

Im Zuge der Corona-Krise und der Zeitenwende Politik scheinen sich die Positionen aus den Kreisen des Verbandes zu verschärfen. Nicht nur in der UZ, auch unter den Freidenkern entflammt eine Debatte wie mit den Anti-AfD Protesten zu verfahren sei.

Dagmar Henn argumentiert, dass mit den Kampagnen gegen die AfD autoritärer Staatsumbau betrieben wird.[41] Die Demonstrationen aus dem Frühjahr 2025 bezeichnet sie als inhaltsleere Regierungsaufmärsche und als „transformierten Fackelmarsch mit Zensurforderungen“. Dort würden die soziale Frage und die Kriegsfrage keinerlei Rolle spielen. Wenn es darum gehen würde gegen rechts zu demonstrieren müsse man die CDU ins Visier nehmen. Ihr Programm stehe weit rechts neben dem der AfD.[42] Rainer Rupp schließt sich dem weitestgehend an: Die wahren Rechten würde aktuell Panzer gegen Russland liefern.[43]

Auch Dieter Dehm schaltet sich auf der Freidenker-Website ein: Die Bezeichnung der AfD als völkisch sei heiße Luft und treffe höchstens auf den extrem-zionistischen Kurs der Partei zu. In den Momenten wo die AfD zusammen mit Ampel und CDU dabei anpackt Sozialabbau oder Israelunterstützung zu gewährleisten verstumme eine solche Kritik seitens der Medien. Während Ampel und CDU auch ganz ohne Hilfe der AfD die Demokratie und die Arbeiterbewegung bekämpfen, fordere die AfD Frieden mit Russland.[44]

Im Zuge der vorgezogenen Bundestagswahl wurde in Teilen der Freidenker diskutiert, welche Für und Wider es für eine Wahl der AfD gibt. Frank Braun, Vorsitzender des Freidenker-Landesverbands Niedersachsen, kommt zu dem Resümee: „So ist die AfD heute, ob einem das passt oder nicht, diejenige politische Kraft, welche die Friedensfrage mit der sozialen Frage noch am deutlichsten in einen ursächlichen Zusammenhang bringt, so dass gerade für die sozial Schwächeren erkennbar wird: Weitere Milliarden für den NATO-Krieg in der Ukraine macht uns arm und kann sogar unseren Untergang bedeuten. Ein Erfolg der AfD bei den Bundestagswahlen kann das herrschende Altparteienkartell vor allem in Sachen ‚Kriegstüchtigkeit‘ schwächen. Ich kann davon ausgehen, dass dies die Hoffnung einiger Freidenker hier in Niedersachsen ist.“[45]

Auch Klaus Hartmann schlägt in diese Kerbe. Mit der Kritik am Corona-Regime und dem Einsatz für Frieden mit Russland würde die Partei linke Themen bespielen, die lange liegen geblieben sind. Hartmann schätzt diese Positionen als aufrichtig ein – ein Image als Friedenspartei dürfe man der AfD dennoch nicht durchgehen lassen. Die Partei stehe trotz alledem für Zionismus, NATO-Partnerschaft und Aufrüstung.[46]

Klaus Hartmann und Sebastian Bahlo (Vorsitzende des Freidenker Verbandes), schlossen sich mit Dagmar Henn, Dieter Dehm, Christel Buchinger und Ekkehard Lieberam einem Appel zur teilweisen Zusammenarbeit mit der AfD an: „Marxisten wollen für Frieden punktuell mit AfD“. Im Kampf um Frieden und Freundschaft mit Russland müssen man sich mit den vielen AfDlern die sich auch dafür einsetzen verbinden, anstatt sich durch falsche Links-Rechts Narrative spalten zu lassen, so die Unterzeichner.[47]

Ausblick

Abseits der personellen Aufstellung und der AfD-Programmatik muss erklärt werden, was eine faschistische Partei ausmacht. Diese übergeordnete Frage ist der entscheidende Ausgangspunkt und bleibt in den Diskussionen und Positionierungen häufig ungeklärt.

In Teilen der Friedensbewegung beginnt man in der AfD eine Chance zu sehen. Paradebeispiele sind das Interview zwischen Ulrike Guérot und Björn Höcke.[48] In der Praxis zeigen sich diese Auffassungen bspw. beim Dresdner Ostermarsch.[49] Die AfD sei eine Oppositionskraft die sich gegen Krieg und Aufrüstung stellen würde. Die Argumente der Freidenker sind bei weitem keine Nische. Gerade in ostdeutschen Städten kokettiert die AfD erfolgreich mit Teilen der Friedensbewegung. Die Querfront ist längst nicht mehr nur ein bürgerlicher Kampfbegriff, sondern vielerorts Realität. Sie schädigt die Friedensbewegung aktiv.

Nicht weniger schädlich ist jener Antifaschismus, welcher über Sozialabbau und Kriegsvorbereitung hinwegsieht und sich in staatstragender Manier gegen die AfD richtet. Dieser Antifaschismus stärkt nicht nur langfristig die Reihen der Neofaschisten, er gibt auch Rückendeckung für einen autoritären Staatsumbau, welcher der AfD mehr nützt als schadet.

Eine analytische Bearbeitung der AfD wird von entscheidender Bedeutung für den Friedenskampf und für eine antifaschistische Praxis sein.

Die Analysen der Kommunistischen Internationale und die wissenschaftlichen Untersuchungen aus den Instituten der DDR bieten dafür einen gewaltigen Wissensspeicher und Erfahrungsschatz. Dieser wird heutzutage weitestgehend missachtet oder nur schablonenhaft behandelt.

In den Reihen der DKP, der KAZ und der Marx-Engels-Stiftung wurden und werden sehr interessante Diskussionen geführt. Die Kontroversen und Streitfragen um die Einschätzung der AfD werden in der UZ besonders deutlich. Eine einheitliche und ausformulierte Einschätzung der AfD durch die DKP scheint in weiter Ferne. Dabei liefert sich die Partei ein Rennen um Platz 1 und biedert sich immer stärker und offener den Herrschenden in Deutschland an.

Die Positionen Lloyds und der KAZ, liefern in dieser Hinsicht einen Ansatzpunkt zur Auseinandersetzung mit der AfD, welcher sehr fruchtbar scheint: Bevor man sich im Wirrwarr aus Personal, Positionen und Machtkämpfen verliert, sollte man sich auf einer abstrakteren Ebene der Frage nach faschistischen Parteien und Faschismus/Faschisierung als Herrschaftsbedarf hinwenden.

Darüber hinaus muss eine Beschäftigung mit der AfD ihre historische Genese und Konsolidierung als Partei aufarbeiten. Ansätze dazu liefert der Kommunistische Aufbau in seinem Buch zum Faschismus. Die Autoren recherchierten Personennetzwerke in und um die AfD, welche zeigen sollen wie zersetzt diese Partei mit Neofaschisten ist. Dabei entmystifizieren sie auch den Gründungsmythos der AfD.

Auf dieser Ebene droht man sich allerdings schnell im Unwesentlichen zu verlieren. Es gibt dutzende AfD-Analysen und Artikel, welche Neofaschisten in der Partei entlarven.

Entscheidende Fragen sind: Was ist die politische Mission der Partei? Welchen Einfluss hat der Neofaschismus in der AfD? In welchem Verhältnis steht die AfD zum Monopolkapital? Welche konkrete politische Funktion erfüllt die Partei unter den Bedingungen der Kriegsvorbereitung und Aufrüstung? Auf welche Massenbasis stützt sich die Politik der AfD? Was bedeutet eine AfD in Regierungsverantwortung? An diesen Fragen hängen entscheidende Momente unserer Praxis.


[1] Parteivorstand der DKP (2024): Leitgedanken in Vorbereitung des 26. Parteitags: Zeitenwende des Imperialismus – Das Monopolkapital bereitet zur Verhinderung seines Abstiegs den Krieg vor, S.10.

[2] Ebd., S.6.

[3] Erklärung der DKP (30.1.2025): Kein „Antifawashing“ für Kriegstreiber!.

[4] Bildungskommission der DKP (2024): Der Charakter des Faschismus Erfordernisse an die Analyse der faschistischen Gefahr in der heutigen Zeit, S.3.

[5] Ebd., S.6.

[6] Ebd., S.7.

[7] Ebd.

[8] DKP Frankfurt (2024): Feedback zur Bildungszeitung, S. 6.

[9] DKP Hamburg (2024): Feedback zur Bildungszeitung, S. 3.

[10] Patrik Köbele (2024): Wem nützt die AfD, Wem nützt die AfD?.

[11] Christel Buchinger (2024): Wem nutzt der Protest gegen die AfD, Wem nutzt der Protest gegen die AfD?.

[12] Dietrich Lohse (2024): Forderung nach AfD-Verbot ist richtig, Forderung nach AfD-Verbot ist richtig.

[13] Ulrich Schneider (2024): Wozu bedarf es der AfD – bei der Bundesregierung?, Wozu bedarf es der AfD – bei der Bundesregierung?

[14] Arnold Schölzel (2025): AfD-Maßstäbe wirken, AfD-Maßstäbe wirken.

[15] Thomas Ehwald (2024): Analyse der AfD ist nötig, Analyse der AfD ist nötig.

[16] Ebd.

[17] Jörg Lang (2024): Zu Faschismus und Antifaschismus und zur Kriegsgefahr in der Etappe des heutigen Imperialismus; zur Programmatik der AfD; zu ihrer Rolle in der deutschen Politik und den herrschenden Medien, S.5. Zu finden unter: Faschismusgefahr und AfD.

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] Ekkehard Lieberam (2024): Kriegsvorbereitung, Faschismusgefahr und Demokratiefrage, S.6. Zu finden unter: Faschismusgefahr und AfD.

[21] Jürgen Lloyd (2024): AfD, Anti-AfD Proteste und Faschismusgefahr, S.2f. Zu finden unter: Faschismusgefahr und AfD.

[22] Ebd., S.3f.

[23] Llyod S.3

[24] Schneider (2024): Faschismusgefahr und AfD, S.2. Zu finden unter: Faschismusgefahr und AfD.

[25] Ebd., S.3f.

[26] Redaktionskollektiv Kommunismus (2023): Faschismus – Terror, Funktion, Ideologie & antifaschistische Strategie, S.183ff.

[27] Ebd., S. 188.

[28] Ebd., S. 188-192.

[29] Ebd.

[30] Ebd., S.214.

[31] Ebd.

[32] Ebd., S. 194.

[33] Ebd., S.193.

[34] KAZ (Ausrichtung Dialektik Organisationsfragen) (2017): KAZ – Was sind die Merkmale faschistischer Parteien?

[35] KAZ (Kommunismus) (2018): KAZ – Wie ernst ist die faschistische Gefahr – und wie ernsthaft ist die Auseinandersetzung darum?.

[36] KAZ (Kommunismus) (2017): KAZ – AfD (Alternative für Deutschland) – Eine Alternative für das Kapital – Nicht für uns!

[37] Ebd.

[38] Freidenker (2020): Was ist Faschismus – was ist Antifaschismus?, S.5f.

[39] Ebd., S.20.

[40] Ebenso in: Klaus Hartmann spricht Klartext: Deutsche Regierung ist rechts! – Deutscher Freidenker-Verband e.V.

[41] Dagmar Henn (2025): Neues vom „Faktenchecker“: Verfassungsschutz gut, AfD böse – Deutscher Freidenker-Verband e.V.

[42] Dagmar Henn (2024): „Lichtermeer gegen Rechts“ – nah am braunen Original – Deutscher Freidenker-Verband e.V.

[43] Rainer Rupp (2024): Was kann weiter „rechts“ sein als deutsche Panzer, die wieder auf Russen schießen? – Deutscher Freidenker-Verband e.V.

[44] Dieter Dehm (2024): Ein neuer deutscher Faschismus – kommt er wieder „völkisch“? – Deutscher Freidenker-Verband e.V..

[45] Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann (2025): Ist die Entscheidung wirklich so schwer? | Linke Zeitung

[46] Klaus Hartmann (2024): Wählen? Aber wen? Von Klaus Hartmann – Sicht vom Hochblauen

[47] Autorenkollektiv (2025): Marxisten wollen für Frieden punktuell mit AfD. Anstöße zum neuen Umgang mit „links“ und „rechts“, Marxisten wollen für Frieden punktuell mit AfD | Weltnetz.tv.

[48] Streitgespräch: Wohin steuert die AfD? // Dr. Ulrike Guérot & Björn Höcke – YouTube

[49] Oster-Friedensmarsch 2024 – Friedensinitiative Dresden

Über die Debatte zum Faschismus auf Export in Russland

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Wir veröffentlichen die einzelnen Kapitel und Abschnitte der Broschüre „Faschismus – Kommunistische und bürgerliche Analysen im Überblick“ als Fließtexte Online. Die gesamte Broschüre ist bereits auf der Website verfügbar.


Von Anastasia K.

In diesem Teil des Abschnitts zu internationalen Faschismus-Debatten, blicken wir auf die Debatten der Kommunisten in Russland mit dem Fokus auf die „Faschismus auf Export“-These und die verschiedenen Positionen dazu.

Vorab sei angemerkt, dass es keine klare Definition vom „Faschismus auf Export“ gibt. Das Ziel dieses Abschnittes ist es auch nicht, eine Definition festzulegen, sondern das deutsche Publikum auf diesen Strang der internationalen Faschismus-Debatte aufmerksam zu machen, um daran anknüpfen zu können. Von manchen der hier vorgestellten Debattenakteure wird der Begriff „Faschismus auf Export“ ganz pragmatisch als ein operativer Begriff verwendet, d.h. sie halten nicht am Begriff selbst fest, sondern an dem Inhalt, mit den sie den Begriff füllen:

„Es muss gesagt werden, dass einige unserer und ausländischer Genossen durch den Begriff „Faschismus für den Export“ verwirrt sind. Er erinnert einige an das Konzept des „Exports von Revolutionen“, das die Kommunisten nicht unterstützen. Jemand interpretiert ihn primitiv als echten Export, d.h. als Export des Faschismus. Zumal die Essenz nach der Übersetzung aus der großen bildhaften russischen Sprache für ausländische Genossen schwer zu begreifen sein mag. Wir klammern uns nicht an den Begriff, für uns ist er als publizistisches Bild entstanden. Wichtiger ist die Essenz des Phänomens selbst [Eigene Übersetzung].“[1]

Anhand von drei Beispielen beschäftigt sich dieser Text mit der Essenz des Begriffs „Faschismus auf Export“. Hierfür wurden Texte von Boris Fetisov, Michail Popov und der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei (RKAP) ausgewählt. Diese Akteure sind dem deutschen Publikum womöglich nicht geläufig. Jedoch formen sie die Debatte rund um den Begriff „Faschismus auf Export“ in der russischen kommunistischen Bewegung mit, oder prägen sie sogar. Andererseits fehlen hier noch wichtige Debattenakteure, wie die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF); somit deckt dieser Text die Debatte rund um den „Faschismus auf Export“ nicht vollständig ab. Nichtsdestotrotz sollte nach der Lektüre dieses Abschnitts deutlich werden, mit welchen Inhalten der Begriff gefüllt ist. Nach der Vorstellung und einer Zusammenfassung der Inhalte des „Faschismus auf Export“ wird anschließend auch die Kritik an dem Begriff erläutert.

An dieser Stelle sei noch vorangestellt, dass alle Akteure, die in verschiedenen Abschnitten zu Wort kommen, sich auf die gleiche Bestimmung des Faschismus stützen. Sie beziehen sich auf Dimitroffs Ausführungen auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale und die Thesen des XIII. Plenums des EKKI:

„Der Faschismus an der Macht, Genossen, ist, wie ihn das 13. Plenum des EKKI richtig charakterisiert hat, die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“[2]

Obwohl der theoretische Ausgangspunkt der Befürworter und Gegner der “Faschismus auf Export”-These derselbe ist, kommen sie in der Anwendung der Theorie dennoch zu unterschiedlichen Schlüssen. Einer der Gründe für die unterschiedlichen Positionen in der Frage, ob es einen exportierten Faschismus geben kann, lässt sich auf die Imperialismus-Debatte zurückführen, die in der kommunistischen Bewegung seit der Ausweitung des Ukrainekrieges im Jahr 2022 neuen Aufwind erhielt. In der Debatte um den Krieg in der Ukraine und Imperialismus haben sich zwei entgegengesetzte Positionen herauskristallisiert. Während die eine Seite der internationalen kommunistischen Bewegung, wie zum Beispiel die griechische KKE, davon ausgeht, dass nahezu alle Länder der Welt imperialistisch seien und hierfür das Bild der Pyramide verwendet wird, um das ökonomische, politische und militärische Ungleichgewicht sowie das Machtgefälle zwischen stärkeren und schwächeren Ländern zu erklären, erkennt die andere Seite, dass die Welt von wenigen imperialistischen Ländern aufgeteilt wurde und diese den schwächeren Ländern ihre politischen und ökonomischen Bedingungen aufzwingen können, notfalls mit militärischer Gewalt. Für weitere Ausführungen und Argumente der einen oder der anderen Seite zu diesem Thema, können Debattenbeiträge im Rahmen der Imperialismus-Diskussion ab dem Jahr 2022 herangezogen werden. Diese sind auf der Webseite der Kommunistischen Organisation (kommunistische-organisation.de) zu finden.

Welche Inhalte die „Faschismus auf Export“-These beinhaltet, wird im nächsten Abschnitt behandelt undzum Schluss nochmal zusammengefasst.

„Faschismus auf Export“ – Was ist das? Fetisov, RKRP, Popov

Wie im Kapitel I der Broschüre erwähnt wurde, findet man bereits erste Parallelen zur „Faschismus auf Export“-These im verabschiedeten Programm der KI auf dem VI. Weltkongress (1928).[3] Auch Reinhard Kühnl erwähnt den „exportierten Faschismus“ in seinem 1971 erschienenen Buch „Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus. Faschismus“:

„Das damit angesprochene Problem des ‘exportierten Faschismus’ wirft komplizierte Fragen auf, die bislang theoretisch nicht befriedigend gelöst sind. Es muss jedoch betont werden, daß es solche Regime seit langem gibt und daß sie sich vom Faschismus im hier entwickelten Sinne beträchtlich unterscheiden, wenn sich auch in der letzten Zeit ihr Terrorsystem ausgeweitet und verfeinert und ihre Funktion somit verändert hat, als sie nicht nur die sozialen Privilegien ihrer Oberklasse, sondern auch die ökonomischen und strategischen Interessen des amerikanischen Kapitalismus verteidigen.“[4]

In den 70er Jahren in der UdSSR gab es ebenfalls Gesellschaftswissenschaftler, die über „exportierten Faschismus“ geschrieben haben, wie zum Beispiel der Historiker Konstantin Ivanovich Zadorov. Er erklärt den “exportierten Faschismus”„exportierten Faschismus“ folgendermaßen: 

„Nachdem er [der Faschismus] in den Hochburgen des Imperialismus während des Krieges besiegt wurde, breitet er sich vor allem in den ehemaligen Kolonien und halbkolonialen Peripherien aus. Und hier tritt er in der neuen Rolle eines abhängigen Komplizen, eines Satelliten der imperialistischen Mächte auf (…). Was die Methoden der Machtergreifung in den Ländern dieser Region betrifft, so ist die moderne Phase vor allem durch den exportierten Faschismus gekennzeichnet. Er wird (mal offen, mal verdeckt) von außen in Gestalt von militärisch-terroristischen Regimen durch Regierungen aufgezwungen, die zu Hause (mehr oder weniger) die Merkmale der bürgerlichen Demokratie beibehalten. Die Hauptstütze dieser Regime ist das internationale Kapital und vor allem der US-Imperialismus. (…) Der exportierte Faschismus fungiert als Instrument des Neokolonialismus, um den Völkern der Entwicklungsländer das Diktat der imperialistischen Bourgeoisie aufzuzwingen. Der exportierte oder importierte Faschismus ist eine Kombination aus den Interessen des internationalen Imperialismus und der reaktionären lokalen Bürokratie und des Militärs.[eigene Übersetzung]“ (Zadorov 1975: 16-17/16-17 / Zitat entnommen aus Politsturm 2019)[5] [6]

An diesen Beispielen kann man erkennen, dass der Begriff „exportierter Faschismus“ kein neuer ist, der erst nach der Konterrevolution in der UdSSR entstand. Eine tiefere Recherche zu historischen Debatten zu dem Thema wäre notwendig und lohnenswert.  

Fetisov

Was die heutige Debatte um den „Faschismus auf Export“ angeht, so wird immer wieder von verschiedenen Quellen auf Boris Fetisovs (Arbeiterpartei Russlands & Fond der Arbeiterakademie) 2006 erschienenemgleichnamigen Artikel verwiesen. Geschrieben wurde dieser Text vor dem Hintergrund der Eindrücke erfolgreicher und versuchter Farbrevolutionen der USA in der Ukraine, Georgien, Kirgistan, Usbekistan und Aserbaidschan und der damit einhergehenden Sorge, dass Russland ebenfalls ein solches Schicksal zuteilwerden könnte. Dieser erste Aufschlag Fetisovs wurde in Form eines kurzen Artikels veröffentlicht.  

Den „Faschismus auf Export“ bestimmt Fetisov als den Faschismus in der außenpolitischen Praxis. Konkret geht es um die USA, deren Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg bereits faschistische Merkmale aufgewiesen habe. Als Beispiele nennt Fetisov den Rüstungswettlauf sowie die Bildung von Militärbündnissen in abhängigen Ländern, die durch wirtschaftlichen oder militärischen Druck sowie politische Einmischung entstanden seien.[7] Bis zur Konterrevolution konnten diese durch die UdSSR in Schach gehalten werden, aber danach seien sie zu ihrer vollen Blüte gekommen. Der Faschismus in der US-Außenpolitik habe sich durch den massiven Einsatz ihrer militärischen Vormachtstellung, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg erlangt und ausgeweitet hat, gezeigt. Durch ihre Vormachtstellung gelinge es den Vereinigten Staaten, in abhängigen Ländern proamerikanische Regime an die Macht zu bringen, sei es durch politischen oder wirtschaftlichen Druck, Unterstützung von militanten Putschen oder durch eigene militärische Aggression. Das Ziel bestehe darin, die national orientierte Bourgeoisie der jeweiligen Länderdurch eine Kompradorenbourgeoisie zu ersetzen. Ein verdecktes Agieren in der Außenpolitik, also das Verstecken hinter bürgerlich-demokratischen Werten, entfalle.  

RKAP

2012, auf der XIV. Versammlung der Kommunistischen und Arbeiterparteien in Beirut, stellte Viktor Tjulkin, damals der erste Sekretär des ZK der RKAP-KPSS, den Bericht der Partei vor. In diesem Bericht ging es zum einen um die Schwierigkeiten in der kommunistischen Bewegung innerhalb Russlands, vor dem Hintergrund der stattgefundenen Konterrevolution. Zum anderen ging es um die Beurteilung der außenpolitischen Situation. Hierzu gab die RKAP die Einschätzung ab, dass die USA an der Spitze des internationalen Imperialismus, nach der Konterrevolution in der UdSSR, an Aggressivität zugenommen habe. Während die USA und die NATO-Länder in ihrer innenpolitischen Verfasstheit Elemente einer bürgerlichen Demokratie behalten und linke Kräfte sich an den Wahlen beteiligen oder ihre Präferenzen bezüglich Präsidentschaftskandidaten äußern, treten dieselben Länder in ihrer Außenpolitik alle demokratischen Normen und das internationale Recht mit Füßen. Weiter hieß es in dem Bericht: „In seiner Außenpolitik verwendet der Imperialismus das Mittel der offenen Gewalt, des blutigen Terrors. Wir alle kennen die Reihenfolge der Ereignisse: Irak, Afghanistan, Jugoslawien, Libyen und heute Syrien.“
Die Aggression der imperialistischen Länder in Westasien schätzte die RKAP als die Ausbreitung eines Neofaschismus ein und lieferte damit zusammenhängend auch gleich ihre Definition der „Faschismus auf Export“-These: „Wir schätzen die Eskalation der Anspannung im Nahen Osten als Ausbreitung des Neofaschismus ein – des Faschismus auf Export, der unverdeckt ist, der alle Gesetze und Normen des internationalen Rechts ignoriert, der terroristischen imperialistischen Politik der Gewalt und der blutigen Lösung von Interessensfragen des weltweiten Imperialismus, dessen Kern das Finanzkapital ist [eigene Übersetzung].“[8]

Ein bemerkbarer Unterschied zu Fetisovs erstem Aufschlag ist, dass in dem Bericht der RKAP, neben den USA, auch die Länder der NATO als solche eingeschätzt werden, auf deren Außenpolitik die „Faschismus auf Export“-These zutrifft.  

Popov

Neben Fetisov wird auch Popov (APR-FAA) oftmals als einer der Popularisierer der „Faschismus auf Export“-These bezeichnet.

Wie auch bei den vorherigen Ausführungen greift Popov auf das Faschismus-Verständnis, das durch das XIII. Plenum des EKKI verabschiedete Resolution und deren Wiederholung durch Dimitroff auf dem VII.Kongress der Komintern zurück. Er betont, dass diese Definition nicht nur zu seiner Zeit richtig gewesen ist, sondern auch heute Gültigkeit hat, weil es das Wesen des Finanzkapitals (das heute einen größeren Einfluss als im 20. Jahrhundert habe) und des Imperialismus beschreibt. Dieses Wesen habe sich bis heute nicht verändert. Ausgehend davon, dass die reaktionärsten Teile des Finanzkapitals die Wurzel des Faschismus seien, ergänzt Popov, dass es nicht unbedingt das eigene Finanzkapital sein muss, welches hinter dem Faschismus stehe.[9]

Faschismus sei Antikommunismus und arbeiterfeindliche Politik und diene als eines der Mittel zur Rettung des Imperialismus.

Zentral dafür, was den „Faschismus auf Export“ von sonstiger imperialistischer Aggression unterscheide, ist der vorsätzliche Bruch des internationalen Rechts und der bürgerlichen internationalen Normen, die sich die bürgerlichen Staaten selbst gesetzt haben. Das stelle den Übergang zur offenen terroristischen bzw. faschistischen Diktatur des Finanzkapitals dar und mache den Faschismus als praktische Staatspolitikaus: 

Kennzeichnend für den Faschismus als Politik ist die Ablehnung demokratischer Institutionen und der Einsatz von offen terroristischen Formen der Staatspolitik. Heute bewahren die USA und die NATO-Staaten in ihrer Innenpolitik, wenn auch in reduzierter Form, Elemente der bürgerlichen Demokratie, aber in ihrer Außenpolitik missachten sie demokratische Normen. Der Imperialismus greift in seiner Außenpolitik, die integraler Bestandteil der von ihm ausgeübten bürgerlichen Diktatur ist, zunehmend zu Maßnahmen der offenen Gewalt und des blutigen Terrors [eigene Übersetzung].”[10]

Der offene Terrorismus in der Außenpolitik schließe jedoch die Wahrung der bürgerlichen Demokratie im Inneren des Landes nicht aus.

Von dem Faschismus als praktische Staatspolitik unterscheidet Popov den Faschismus als System ideologischer Überzeugungen. Dieser zeichne sich heute in der aktiven Bekämpfung des Kommunismus aus, zum Beispiel durch antikommunistische Gesetze oder die Versuche, entsprechend der Totalitarismustheorie, den Kommunismus mit dem Faschismus gleichzusetzen.  

Die angeführten Positionen zum “Faschismus auf Export” können folgendermaßen zusammengefasst werden. Der “Faschismus auf Export” geht von Ländern mit den am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Teilen des Finanzkapitals aus. Seit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere nach der Konterrevolution in der UdSSR haben sich die NATO-Länder mit den USA an ihrer Spitze zu diesen Ländern entwickelt.

Der “Faschismus auf Export” habe das allgemeine Ziel, die imperialistische Ordnung aufrechtzuerhalten, die durch Krisen und Revolutionen in Gefahr gebracht werden könnte.

Um die imperialistische Ordnung zu erhalten, werden unterschiedliche Vorgehensweisen gewählt, wie zum Beispiel die Unterstützung von Faschisten und anderweitigen Kollaborateuren in den Zielländern, die Farbrevolutionen entfachen oder gar Gewalt gegen unliebsame Gruppen anwenden, oder das Überschütten von unliebsamen Ländern und ihren Regierungen mit Terror, Gewalt und Kriegen. Hierbei brechen die Imperialisten jegliche Normen und Regeln ihrer eigenen Ordnung. In den imperialistischen Ländern, die zum Zwecke der Ordnungserhaltung in ihrer Außenpolitik den Faschismus „exportieren“, ist der Faschismus nicht zwangsläufig an der Macht. Diese Länder können durchaus im Inneren eine bürgerliche Demokratie aufrechterhalten.

Und was bedeutet der „Faschismus auf Export“ für die Arbeiterklasse der betroffenen Länder? Wenn die imperialistischen Staaten es schaffen, ihre arbeiterfeindlichen Marionettenregime in anderen Ländern aufzurichten, oder diese Länder durch Kriege in der Entwicklung zurückzuwerfen, so hat die Arbeiterklasse eine schwierigere Ausgangsbedingung für die Erkämpfung des Sozialismus.[11]

Für den Klassenkampf in den potenziell betroffenen Ländern bedeutet das, dass auch bürgerlich-nationale Kräfte, soweit das möglich ist, für den antifaschistischen Kampf eingespannt werden müssen: “Die kommunistische Bewegung muss sich auf der Grundlage der Interessen der Arbeiterklasse und der Schaffung günstigerer Bedingungen für die Entfaltung ihres Klassenkampfes den faschistischen Erscheinungsformen des Imperialismus entgegenstellen, so wie es die Parteien der Komintern und der Sowjetunion getan haben, die ein zeitweiliges Bündnis mit den antifaschistischen Mächten eingegangen sind, um den Faschismus schnell zu besiegen. Es wäre absolut unzulässig, diese historische Erfahrung und diese kommunistische Praxis zu ignorieren, oder zu unterschätzen. Der Faschismus muss unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der vitalen und langfristigen Interessen der Arbeiterklasse bekämpft werden. Dementsprechend müssen wir die bürgerlich-demokratischen Bewegungen gegen den Faschismus unterscheiden und, ohne die Aufgaben unseres Klassenkampfes aufzugeben, unterstützen und, wenn wir können, anleiten [eigene Übersetzung].”[12]

Kritik

Eine ausführlich niedergeschriebene Kritik an der „Faschismus auf Export“Export“- These, die sich vor allem an Popov abarbeitet, hat die Abspaltung der RKAP “Russische Arbeitsfront” niedergeschrieben. In ihrer dreiteiligen Textreihe „M.V. Popov und die „Arbeiterpartei Russlands“: Marxismus oder Revisionismus [eigene Übersetzung]“, verfasst durch Osin, widmen sie der These einen ganzen Artikel mit dem Titel „Über den ‘Faschismus auf Export’ und der faschistischen Gefahr in Russland [eigene Übersetzung]”.[13]

Sowohl die Gegner als auch die Befürworter der „Faschismus auf Export“Export“- These gehen vom Finanzkapital als Grundlage für den Imperialismus und Faschismus aus. Hier besteht also kein Dissens. Worin jedoch ein Dissens besteht, ist die Frage, welche Länder zu den Imperialisten gehören. Hieraus speist sich im Grunde der Knackpunkt der Kritik der Arbeitsfront Russlands an der These eines “exportierten Faschismus”. Die Argumentation der Arbeitsfront Russlands lautet wie folgt: Die Welt im imperialistischen Stadium zeichne aus, dass so gut wie alle Länder Monopole und Finanzkapital besitzen würden. Deshalb seien auch die meisten Länder imperialistisch und hätten das Potenzial, dass dort ein eigener Faschismus, beruhend auf dem eigenen Finanzkapital, an die Macht komme.[14] Es bedürfe also keinen „exportierten Faschismus“, damit in einem Land X der Faschismus an die Macht komme. Diese Argumentationsweise erkennt man beispielsweise an solchen Stellen: „Viertens: Die Unterstützung faschistischer Regime durch imperialistische Staaten erfolgte immer dort, wo die inneren Bedingungen für die Entstehung des Faschismus bereits gegeben waren. (…) Ungarn, Chile, Polen und die baltischen Staaten vor 1940 sind weniger bekannte, aber ebenso aussagekräftige Beispiele. In all diesen Ländern gab es keinen Exportfaschismus, sondern einen einheimischen Faschismus, der von externen Kräften unterstützt wurde. So war es auch im Spanischen Bürgerkrieg. Niemand kam auf die Idee, ihn als „deutsch-italienischen Exportfaschismus“ zu bezeichnen, obwohl die Achsenmächte die faschistischen Kräfte in Spanien unterstützten [eigene Übersetzung].“[15]

Die Arbeiterpartei Russlands erkennt also an, dass “imperialistische Staaten” faschistische Regime in anderen Ländern unterstützt haben, sieht darin aber keinen “Faschismus auf Export”. Dieser Sichtweise könnte die Annahme zugrunde liegen, dass mit dem Begriff “Faschismus auf Export” ein tatsächlicher Exportdes Faschismus aus dem Land Y in das Land Z gemeint wäre. Ein solches Verständnis vom “Faschismus auf Export” lässt sich jedoch weder bei Fetisov, RKAP, noch bei Popov finden.  Im Gegenteil, sie wenden sich sogar gegen ein solches Verständnis.[16]

Auch die Ukraine ist nach Auffassung der Arbeitsfront Russlands ein Land mit eigenem Finanzkapital. Der Faschismus in der Ukraine sei deswegen ein eigener, der lediglich von außen unterstützt und nicht von den westlichen Staaten exportiert wurde: „Und was ist mit der modernen Ukraine oder den baltischen Staaten heutzutage? Es ist genau das Gleiche. In diesen Ländern waren die inneren Bedingungen für die Entstehung des Faschismus schon lange gereift, die USA haben diesen Bedingungen und Kräften einfach geholfen, sich zu entwickeln, aber ohne innere Bedingungen hätten die USA keinen Erfolg gehabt [eigene Übersetzung].“[17]

In Bezug auf die US-Regime-Change-Politik, argumentiert,Osin von der Arbeitsfront Russlands, dass diese nichts mit „Faschismus auf Export“ zu tun habe, weil es nichts Neues sei, dass imperialistische Mächte innere Konflikte in anderen Ländern nutzen würden. Und dass es sich bei den Regime-Change-Operationenn nicht um „Faschismus auf Export“ handle, wird folgendermaßen erklärt: „Wenn es um den US-Imperialismus geht, exportieren die USA im Wesentlichen nicht den Faschismus nach außen, sondern installieren pro-amerikanische Marionettenregime in Ländern, die nicht in die Politik des US-Imperialismus passen. Aber ein pro-amerikanisches Marionettenregime ist nicht identisch mit einem faschistischen Regime[eigene Übersetzung].”[18]

Die Arbeitsfront Russlands sieht auch in der aggressiven Außenpolitik der USA keine besondere Aggressivität und schätzt diese als imperialistisch ein: „Allein die Einschätzung der expansionistischen politischen Linie des US-Imperialismus ist richtig, aber was hat das mit „Faschismus für den Export“ zu tun? Aggressive Außenpolitik ist allen imperialistischen Staaten eigen, und je stärker der imperialistische Staat ist, desto stärker ist die Verletzung des Völkerrechts und die Aggression durch ihn [eigene Übersetzung].“[19]

Die Arbeitsfront Russlands möchte also darauf hinaus, dass die imperialistische Aggression der USA nicht die Zuschreibung „faschistisch“ brauche. Es reiche aus, diese als imperialistisch zu beschreiben. Dem würde Popov folgendes entgegnen:

Gleichzeitig haben sie völlig Recht, wenn sie sagen, dass nicht jede Gewalt des Imperialismus Faschismus ist, dass es sogar zu Zeiten der UdSSR imperialistische Aggressionen gab. In der Tat haben imperialistische Mächte schon vor dem Aufkommen des Faschismus und nach seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg Interventionen und Kriege begangen: Es gab die Besetzung Palästinas, Syriens, des Libanon, 40 Prozent des Territoriums von Zypern wurden besetzt, der imperialistische Krieg in Korea wurde von der UNO entfesselt, es gab den imperialistischen Krieg in Vietnam. Es gab Hunderte von Verbrechen, die von den Imperialisten in Afrika, Lateinamerika und auch in Europa begangen wurden. Warum stufen wir diese Aggressionen nicht als Faschismus ein, aber nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der europäischen sozialistischen Länder haben wir diese Definition angenommen – „Faschismus für den Export“? Sie sagen, dass dies nicht die Existenz des „Exportfaschismus“ beweist, sondern die Aggressivität des Imperialismus, der immer reaktionärer wird. Um kurz zu antworten: Einige dieser Aggressionen bezeichnen wir als Faschismus, andere nicht, weil sie nicht unter die Definition des Faschismus fallen [eigene Übersetzung].“[20]

Ein inhaltlicher Dissens mit Popov besteht noch in der Interpretation der Aussage Lenins, dass die Außenpolitik eines Landes die Fortführung seiner Innenpolitik ist. Popov vertritt die Ansicht, dass ein Staat durchaus innenpolitisch eine bürgerliche Demokratie haben kann, während es eine faschistische Außenpolitik betreibt: “In der modernen Welt verwenden die meisten bürgerlichen Staaten in ihrer Innenpolitik verschiedene Formen der bürgerlichen Demokratie und verzichten auf die Ausübung einer Diktatur in offener terroristischer Form. Anders verhält es sich auf der internationalen Bühne, wo die Fortsetzung der Innenpolitik als internationale Politik betrieben wird. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hat der internationale Imperialismus, angeführt von den Vereinigten Staaten von Amerika, nicht nur seine Aggressivität gesteigert, sondern auch begonnen, sich offen über die Normen des Völkerrechts hinwegzusetzen und sogar die bürgerliche Gesetzlichkeit zu ignorieren [eigene Übersetzung].”[21]
 
Dem wird im Artikel der Arbeitsfront Russlands entgegnet, dass dies dem oben erwähnten Grundsatz Lenins widersprechen würde. Eine faschistische Außenpolitik könne es nur geben, wenn der Faschismus in einem Land an der Macht sei und innenpolitisch eingesetzt werde: „Man kann von der Manifestation von Elementen des Faschismus in der Außenpolitik der USA sprechen, die sich aus dem einen oder anderen Grund nicht so deutlich im Inneren des Landes manifestieren. Aber hier geht es nicht um den Export von Faschismus, sondern um die Fortführung der faschistischen Tendenzen des US-Imperialismus, die der inneren Ordnung dieses Landes innewohnen, nach außen [eigene Übersetzung].“[22]

Fazit

Die Debatte um den „Faschismus auf Export“ ist in der deutschen kommunistischen Bewegung noch nicht im vollen Gange. Die Gründe hierfür können an dieser Stelle nur Gegenstand von Spekulationen sein. Dieser Text hat hoffentlich dem Leser dabei geholfen, eine Vorstellung vom Diskussionsgegenstand zu bekommen und das Interesse für die weitere Beschäftigung damit geweckt. Interessant wäre sicherlich nicht nur die Betrachtung der aktuellen Debatte, sondern auch die Lektüre älterer Texte zum Thema Faschismus. Denn wie hier gezeigt wurde, tauchen die Inhalte der „Faschismus auf Export These“ auch schon bei Kühnl oder, wie im Kapitel „Die Faschismusdiskussion der Kommunistischen Internationale von 1922 bis 1935“ dieser Broschüre dargestellt, sogar auf dem VI. Weltkongress KomIntern auf.

Ziel der weiteren Beschäftigung mit der Debatte könnte sein, das Verhältnis zwischen dem „Faschismus auf Export“ und dem Imperialismus besser zu verstehen und eine klarere Bestimmung des Begriffs zu erarbeiten.


[1] RKRP: „Über den Faschismus auf Export“, 2022, Online: https://ркрп.рус/2022/03/17/про-фашизм-на-экспорт/ (aufgerufen: 03.05.2025).

[2] Dimitroff, Georgi: „Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und FaschismusFaschismus; ; Referate auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale“, 1935, Online: https://www.marxists.org/deutsch/referenz/dimitroff/1935/bericht/ch1.htm (aufgerufen: 03.05.2025).

[3] Siehe Abschnitt in der Broschüre zu “Faschistische Entwicklung und Faschismusdiskussion im Anfangsstadium”.

[4] Kühnl, Reinhard: „Formen bürgerlicher Herrschaft: Liberalismus, Faschismus“, Rohwolt Reinbeck bei Hamburg 1971, S. 164.

[5] Зародов, Константин Иванович: „Сущность неофашизма и некоторые вопросы тактики коммунистического движения“. In: Современный фашизм: его обличье и борьба с ним. Прага. 1975. 

[6] Politsturm: „К критике буржуазного профессора ч.1“, 2019, Online: https://politsturm.com/k-kritike-burzhuaznogo-professora-ch-1/ (aufgerufen.(aufgerufen: 03.05.2025).

[7] Vgl. Fetisov, Boris: „Фашизм   на   экспорт“, 2006, Online: https://rpw.ru/pt/12/Fetisov.html (aufgerufen:03.05.2025).(aufgerufen: 03.05.2025).

[8] RKRP: „Доклад Первого секретаря ЦК РКРП-КПСС на Международной встрече коммунистических и рабочих партий в Бейруте 22 – 23 ноября 2012“, 2012, Online: https://ркрп.рус/2012/11/25/доклад-первого-секретаря-цк-ркрп-кпсс/ (aufgerufen: 03.05.2025).

[9] Попов, Михаил Васильевич: „О  фашизме  на  экспорт“, Jahr unbekannt, Online: https://rpw.ru/public/fne.html (aufgerufen: 03.05.2025).

[10] Ebd.

[11] Vgl. ebd.

[12] Ebd.

[13] Осин Р. С.: „Часть 3. О «фашизме на экспорт» и угрозе фашизма в России. М.В. Попов и «Рабочая Партия России»: марксизм или ревизионизм?“, Jahr unbekannt, Online: https://rotfront.org/m-v-popov-i-rabochaya-partiya-rossii-ma-2/(aufgerufen: 03.05.2025).

[14] Vgl. ebd.

[15] Ebd.

[16] Vgl. ebd.

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] Попов, Михаил Васильевич: „О  фашизме  на  экспорт“, Jahr unbekannt, Online: https://rpw.ru/public/fne.html (aufgerufen: 03.05.2025).

[21] Ebd.

[22] Осин Р. С.: „Часть 3. О «фашизме на экспорт» и угрозе фашизма в России. М.В. Попов и «Рабочая Партия России»: марксизм или ревизионизм?“, Jahr unbekannt, Online: https://rotfront.org/m-v-popov-i-rabochaya-partiya-rossii-ma-2/(aufgerufen: 03.05.2025).

Podcast #52 – Neofaschismus in Ostdeutschland

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Niklas und Jakob widmen sich dem gegenwärtigen Erstarken rechter und neofaschistischer Kräfte. Sie spannen dazu einen Bogen von der DDR über die Neunzigerjahre. Wie wurde eine neofaschistische Bewegung in Ostdeutschland aufgebaut? Wie wurde der DDR-Antifaschismus zerschlagen?

Jakob hatte zum Thema bereits im April einen ausführlichen Beitrag bei uns veröffentlicht. Den findet ihr hier.

Diskussionsbeitrag: Krieg in der Ukraine

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Wir haben verschiedene Aktive aus der Kommunistischen Bewegung und der Friedensbewegung angefragt, ihre Position zu unseren kürzlich veröffentlichen Thesen zum Ukraine-Krieg darzulegen. Welche Fehler, Probleme und Lücken sehen sie in den Thesen? Welche Punkte finden sie richtig und besonders wichtig?

Ein paar dieser Rückmeldungen werden wir stückweise veröffentlichen. 

Gerne können auch weiterhin Beiträge mit einem Umfang von bis zu vier Seiten eingereicht werden unter:  redaktion@kommunistische-organisation.de


Von Jürgen Wagner

Ihr könnt euch ja denken, dass ich euch in vielen Dingen/Einschätzungen zustimme. Versteht das also bitte als solidarische Kritik, wobei ich jetzt nicht alle Aspekte des Textes aufgreifen kann, sondern nur einige Dinge, bei denen es m.E. den größten Dissens gibt. Weshalb ich auch gleich mit einem der m.E. grundlegendsten Punkte beginnen möchte, nämlich der postulierten Alternativlosigkeit des russischen Angriffs.

1.) Alternativlosigkeit

Ihr selbst argumentiert da etwas uneindeutig, wenn ihr einmal mehrfach Sachen in Richtung vor dem Hintergrund „sah“ Russland keine Alternative etc. schreibt (zwischen etwas so „sehen“ und objektiv so sein, ist ja ein Unterschied), ihr andererseits aber dann doch deutlich insinuiert, dass ihr den Krieg für gerechtfertigt haltet („Angriff aber gerechtfertigt sein könnte“, S. 6).

Begründet wird das wesentlich über solche Behauptungen: „Die Ukraine wurde aufgrund ihrer geographischen Lage immer als das zentrale Aufmarschgebiet für einen konventionellen Krieg gegen Russland gesehen.“ (S. 22)

Das halte ich bei allem Verständnis für die aggressiven Schritte des Westens für gewagt. Selbst wenn eine ukrainische Offensive auf Donbas/Krim bevorstand (wofür, wie ihr ja richtigerweise schreibt, es zumindest Anzeichen gab), teile ich die Einschätzung nicht, dass die notgedrungen erfolgreich gewesen wäre. Und vor allem teile ich nicht die Einschätzung, dass dies für Russland zu einer Lage von existenzieller Bedrohung geführt hätte (eine Gegenmaßnahme wäre z. B. der Ausbau der Nuklearstreitkräfte gewesen) – und nur das kann, wenn überhaupt, einen Krieg rechtfertigen, dem Hunderttausende (natürlich nicht allein, aber doch wesentlich ausgelöst durch den russischen Angriff und damit auch von Russland primär zu verantworten) zum Opfer fielen. Klar gibt es außerdem westliche Destabilisierungsversuche, auf die ihr verweist. Gegen die sich zur Wehr zu setzen, bedurfte es aber nicht eines Angriffs auf die Ukraine.

Das führt mich zum nächsten Kritikpunkt:

2.) Angriffskrieg vs. Selbstbestimmung vs. Völkerrecht

Ihr meint, vom „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands“ zu sprechen, spiele dem Imperialismus in die Hände – hmm, wenn etwas wahr ist, es zu verschweigen, nur weil andere, die mir nicht passen, das ebenso sagen, halte ich für keine tragfähige Strategie.

Ihr legt da außerdem m. E. ein extrem instrumentelles Verständnis des Völkerrechts an den Tag: Einmal verweist ihr darauf (m. E. falsch ausgelegt) auf ein „legitimes und völkerrechtlich verbrieftes Recht auf nationale Selbstbestimmung“ (S. 25) im Zusammenhang mit den sog. Volksrepubliken und bezieht euch damit klar auf das Völkerrecht und die Notwendigkeit dessen Einhaltung (auch wenn die Sache mit dem Selbstbestimmungsrecht vs. staatlichem Souveränitätsrecht m. E. nicht so klar ist, wie ihr das da seht).

Auf der anderen Seite aber haltet ihr es für falsch, den – aus meiner Sicht eindeutig völkerrechtswidrigen – Krieg als solchen zu bezeichnen.

Um die Aussage, ob ihr den Krieg selbst für völkerrechtswidrig haltet oder nicht, drückt ihr euch herum (ihr behandelt allenfalls implizit die Möglichkeit, es könne sich um einen Präventivkrieg gehandelt haben, was ich aber auch nicht haltbar finde). Haltet ihr den Krieg etwa für völkerrechtskonform?

Sich im einen Fall positiv auf das Völkerrecht zu beziehen, wenn es einem in den Kram passt, und das im anderen, wo dies nicht der Fall ist, einfach unter den Tisch fallen zu lassen bzw. dies sogar für kontraproduktiv zu erklären, finde ich schwierig.

So geht’s mir doch an einigen Stellen, dass ihr auf plausible Gegenargumente nicht eingeht bzw. sie ausblendet.

3. Ziele Russlands

Kategorisch schließt ihr aus, dass die Eroberung Kiews und die Einsetzung einer Marionettenregierung das russische Kriegsziel gewesen seien („Es gibt bis heute keine Anzeichen dafür, dass Russland mit dieser Operation eine gewaltsame Beherrschung und Ausbeutung des ukrainischen Staatsgebiets anstrebt.“ (S. 16).

Ich weiß, dass es dafür Argumente gibt, eindeutig lässt sich das so m. E. aber nicht sagen. Die These, der mit einigem Risiko und Verlusten behaftete Vormarsch auf Kiew sei ein reines Ablenkungsmanöver gewesen, halte ich ebenfalls kaum für plausibel.

Worum es euch dabei geht, ist ja eindeutig, jeden Verdacht im Keim zu ersticken, es könne sich beim russischen Angriff um eine imperialistische Aggression handeln.

Alles, was dafür spricht, wird mit m. E. wenig argumentativer Substanz abgebügelt, z. B. die anfänglichen Kriegsziele („Entwaffnung“, „Entnazifizierung“) oder dass sich die anfängliche Kriegsstrategie durchaus mit dem Ziel, die gesamte Ukraine erobern zu wollen, gedeckt haben könnte oder eben, dass es einflussreiche Personen in Russland gibt, die genau das befürworten. Das tut ihr mit einem wenig überzeugenden Satz unter Verweis auf eine objektive Sachlage ab, die ich nicht so eindeutig finde, dem sei halt nicht so („Anderslautende, großrussisch-chauvinistische Verlautbarungen bestimmter russischer Politiker und Denker sowie mögliche Entwicklungen in ferner Zukunft ändern an dieser aktuellen objektiven Sachlage nichts.“ (S. 21).

4. Cui bono

Wirklich gestolpert bin ich über den Satz: „Russlands Militäroperation im Interesse der Befreiung der Arbeiterklasse und unterdrückten Völker weltweit ist.“ (S. 19)

Ich bin aufgewachsen mit dem Satz „Arbeiter schießen nicht auf Arbeiter“, aber na ja.

5. USA und EU

Abschließend noch ein kleiner inhaltlicher Punkt, wenn ihr schreibt, ein „Bruch mit der NATO für Deutschland auf absehbare Zeit nicht möglich.“

So hätte ich lange auch argumentiert. Mit der – mutmaßlich dauerhaften – Übernahme der Republikaner durch die Tea Party und die deutlich anderen Kapitalfraktionen, die Trump und Konsorten unterstützen, scheint mir aber ein möglicher Bruch zumindest so plausibel wie noch nie zuvor. Wenn man sich z. B. ReArm-Europe genau anschaut, zielt das genau auf die Option, auch in offenen Konflikt zu den USA treten zu können.

Soweit mal ein paar Überlegungen meinerseits, hoffe, es ist nicht allzu wirr und ihr könnt was damit anfangen.