Während wir eine neue Phase des israelischen Völkermords in Gaza erleben, versuchen diejenigen, die die Völkermord-Unterstützung der BRD mit auf den Weg gebracht haben, ihre vergangenen Taten und Worte zu überschreiben. Es scheint, als wären alle auf einmal in der Welt aufgewacht, die seit Oktober 2023 in Gaza herrscht: Bombardements, Vertreibung, Aushungern – der Versuch, ein ganzes Volk auszulöschen. Wobei diese Realität Palästina genau genommen seit mehr als 77 Jahren stets begleitet hat.
Nicht nur in Deutschland wird aktuell krampfhaft versucht, sich von den Aktionen Israels zu distanzieren, sondern auch zuletzt in Frankreich, Kanada und Großbritannien. Dort wurde Israels Vorgehen als „völlig unverhältnismäßige Eskalation“ bezeichnet.1 In Deutschland erleben wir einen Carlo Masala, Deutschlands Kriegshetzer Nummer eins, der das jüngste israelische Vorgehen in Gaza als „No-Go“ bezeichnet.2 Aber auch das links-liberale Spektrum stimmt mit ein: Im Freitag kann man nach eineinhalb Jahren des laufenden Völkermordes lesen, man müsse doch von Genozid sprechen.3 Die taz kommt zur Erkenntnis, dass kaum etwas in Deutschland so stark missbraucht werde wie der Antisemitismusvorwurf.4 Luisa Neubauer, die kürzlich noch gegen Greta Thunberg aufgrund deren Äußerungen zum Völkermord hetzte, sprach sich jetzt gegen Waffenlieferungen an Israel aus.5 Und auch die sächsische Linkspartei-Abgeordnete Juliane Nagel, die in Leipzig seit Jahren Stimmung gegen Antizionisten macht und vor nicht allzu langer Zeit noch Palästina-Demonstranten Plakate aus der Hand riss6, reiht sich ein: Sie postete kürzlich, dass man über das Töten und die Menschenrechtsverletzungen in Gaza sprechen müsse, und zwar nicht eines Tages, sondern jetzt.7
Sind alle plötzlich zu Völkermord-Gegnern oder gar Antizionisten geworden? Ganz sicher nicht. Es gibt verschiedene Gründe für den Schwenk: Einerseits sind relativierende Aussagen immer wieder Teil der medialen Kriegsführung. Während Feigenblätter ablenken sollen, ändert sich an den wesentlichen Tatsachen nichts. Andererseits kann aber auch die Brutalität, mit der Israel vorgeht, nicht länger geleugnet werden. Man kann sich nicht ein zweites Mal in der Geschichte damit herausreden, dass man von all dem nichts gewusst hätte. Das verhindert die Bildgewalt des vermutlich am besten dokumentierten und direkt im Netz sichtbaren Völkermordes. Zum anderen schwankt das gut errichtete Kartenhaus der Bedrohungslüge oder ist bereits in sich zusammengefallen: Denn mittlerweile hat (fast) jeder verstanden, dass Israel die Waffenstillstandsabkommen gebrochen hat. Dass Israel angreift. Dass Israel Gaza blockiert und ein ganzes Volk aushungern will.
Und natürlich ist da dann auch noch der Opportunismus dieser Kräfte. Nehmen wir die Linkspartei: Sie hat zuletzt zahlreiche junge Neumitglieder gewonnen, die nicht alle hinter Israel stehen. Diese will man nicht gleich wieder vergraulen, indem man in das Völkermord-Legitimationsgeheul eines Johann Wadephuls einsteigt – es reicht, dass man die größten Kriegskredite seit dem deutschen Faschismus sowie die Kanzlerwahl von Merz mit auf den Weg gebracht hat. Dies soll nicht die Arbeit von Palästina-Aktiven in der Linkspartei, das Kräfteverhältnis zu verschieben, in Abrede stellen. Doch dass die Partei jetzt, wo sich die herrschende Stimmung in Politik und Medien verschiebt, mit nur knapper Mehrheit für die Annahme der Jerusalemer Antisemitismus-Erklärung stimmt, ist sicher kein Zufall. Dieselbe Partei, die sich noch im November bei der Abstimmung über die `Antisemitimus-Resolution`, ein Instrument zur Repression und Verfolgung von Völkermord-Gegnern, enthielt – Enthaltung ist de facto Zustimmung.
Was fordern all jene, die sich jetzt so eifrig im Distanzieren von Israels Praxis versuchen? Fordern sie ein Ende der israelischen Besatzungs- und Apartheidspolitik? Ein Ende des Siedlerkolonialismus? Einen demokratischen Staat mit gleichen Rechten für alle? Fordern sie die Freisprechung all jener, die seit Oktober massivster Repression ausgesetzt sind? Oder gar, dass die BRD für ihre Beihilfe zum Völkermord tatsächlich verurteilt wird? Die Antwort auf all diese Fragen ist ein klares Nein. Was sie fordern, ist eine Besatzung, Vertreibung und Ermordung mit Augenmaß. Ihr Problem ist nicht der Völkermord, ihr Problem ist, dass dieser zu brutal, zu hässlich und unübersehbar – schlicht zu ehrlich – geführt wird. Sie wollen suggerieren, dass Siedlerkolonialismus und Apartheid ohne Unterdrückung, Besatzung und Völkermord möglich seien. Dass es das eine ohne das andere geben könne. Sie legitimieren das Existenzrecht Israels weiterhin mit ihrer antisemitischen Grundhaltung, nämlich der Gleichsetzung aller Juden mit Israel. Sie personifizieren die Brutalität mit Netanjahu und seiner Regierung und verdecken damit die wahren Gründe für den Völkermord: die Kontinuität des jahrzehntelangen Siedlerkolonialismus Israels.
Wir sollten unter keinen Umständen vergessen, wer der Völkermord-Unterstützung der BRD den Weg geebnet hat. Es waren die Kräfte, die Völkermord-Gegner als Antisemiten diffamierten, die für Waffenlieferungen stimmten oder sich enthielten. Es ist notwendig zu erkennen, wer aus welchem Motiv handelt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Personen ihre Ansichten ändern. Das können wir herausfinden, indem wir fragen: Du bist gegen das Vorgehen Israels in Gaza?! Bist du dann auch gegen die Waffenlieferungen an Israel? Bist du gegen den Siedlerkolonialismus? Bist du für die Rückgabe des gestohlenen Landes an alle Vertriebenen? Bist du für das völkerrechtlich verbriefte Recht der Palästinenser, Widerstand zu leisten?
Doch nicht zuletzt müssen wir den entstandenen Raum nutzen, um unsere Forderungen für ein Ende des Völkermordes stark zu machen. Um die Notwendigkeit eines freien Palästinas und eines demokratischen Staates mit gleichen Rechten für alle aufzuzeigen. Wir dürfen uns nicht vor den Karren derjenigen spannen lassen, die jetzt ihre Taten der letzten Jahre reinwaschen wollen. Im Gegenteil, wir müssen sie vor uns hertreiben und ihre Doppelmoral aufdecken. Juliane Nagel postete: Eines Tages werden schon alle immer dagegen gewesen sein. Das gilt für sie selbst genauso wie für alle anderen, die jetzt ihre Westen weiß waschen möchten.
Wir werden nicht vergessen, dass sie es waren, die den Völkermord mit ermöglicht haben: Mit Waffenlieferungen und politischer Rückendeckung für Israel. Mit Repression, Diffamierung und medialer Hetze. Mit Verdrehung, Instrumentalisierung und Schweigen.
7 Nagel teilte in ihrer Insta-Story einen Post von medico international: „Eines Tages werden alle schon immer dagegen gewesen sein. Vor aller Augen geht das Töten in Gaza weiter. Wer die Menschenrechte dort nicht verteidigt, wird sie auch hier verlieren. Sprich darüber. Nicht eines Tages. Jetzt.“ https://x.com/tuetenremo/status/192446565505661375 (Screenshot abrufbar)
Wir möchten über die mediale Begleitung des 8. Mai, aber auch über unsere persönlichen Erfahrungen rund um diesen Tag berichten. Dieser politische Bericht wertet nennenswerte Entwicklungen und teils krasse Einschränkungen aus verschiedenen Städten aus. Er soll aber auch die Erfolge und die Notwendigkeit antifaschistischer Gegenkultur hervorheben.
Geschichtsrevisionismus: Am Faschismus war auch die Sowjetunion schuld
Die Auffassung vom 8. Mai als Tag der Tragödie und der Niederlage scheint heute wieder voll im Trend zu liegen. Die Konservativen und Neofaschisten im Land wurden nie müde, sie aufrechtzuerhalten – jetzt dient sie zur Kriegsrhetorik. Wo deutsches Großmachtstreben wieder en vogue ist, kann es keinen Tag der Befreiung geben. Die faschistische Vergangenheit muss irgendwie abgeschüttelt werden. Sei es durch Instrumentalisierung, Stichwort „deutsche Verantwortung“, oder durch offenen Geschichtsrevisionismus.
Während die FAZ am 8. Mai verkündete, dass der Tag kein Grund zum Feiern sei und man sonst nur russische Narrative weiterspinnen würde[1], wurden im Deutschlandfunk die dunklen Seiten der Befreiung betont.[2] Schon eine Woche vorher verbreitete dieselbe Zeitung aus Frankfurt, dass die sowjetische Führung eine Mitschuld an den Millionen Toten während des Wehrmacht-Feldzuges tragen würde. Auch die Ausladung russischer Vertreter von Gedenkveranstaltungen wurde kommentiert: „Dass die russische Propaganda das als Missachtung der sowjetischen Opfer deutet – geschenkt.“[3]
Die Konrad Adenauer Stiftung rückte sich ihr Geschichtsbild ebenso zurecht. In einem Dossier zu 80 Jahren „Kriegsende“ heißt es: „Dass Hitlers Krieg in Europa zugleich die im Kreml‘ ungeliebte kapitalistische Weltordnung ins Wanken brachte, konnte Moskau nur recht sein.“[4]Auf einer von der Friedrich Ebert Stiftung unterstützten Konferenz in Kiew wurde am 8. und 9. Mai Asow-Oberfeldwebeln eine Bühne geboten und Propagandafilme der faschistischen OUN abgespielt.[5]
Repressionen am Tag der Befreiung in Berlin
Antifaschisten und Kriegsgegner, die sich hierzulande der Kriegsvorbereitung und dem Geschichtsrevisionismus entgegenstellen, sind schon seit mehreren Jahren zunehmendem Verfolgungsdruck ausgesetzt. Das zeigte sich vor allem an diesem 80. Jahrestag der Befreiung.
Das antifaschistische Gedenken in Berlin befindet sich nun schon zum dritten Jahr in Folge in einem Ausnahmezustand. Stefan Natke, Vorsitzender der DKP Berlin, wurde für das Tragen eines Georgsbändchens im Treptower Park verhaftet. Am gleichen Ort wurde die Junge Welt am Verteilen ihrer Zeitung gehindert. Ihr Vergehen? Auf der Titelseite war die Fahne der Sowjetunion abgedruckt. Symbole der sowjetischen Befreier waren per Allgemeinverfügung strikt untersagt. Auch Nachfahren von Rotarmisten, die Porträts ihrer Ahnen zum Gedenken mitbrachten, gerieten ins Visier der Polizei.
Auch linksliberale Medien wie die taz waren ganz vorne mit dabei, wenn es darum ging, diesen Repressionen die nötige mediale Rückendeckung zu geben: „Die wohl attraktivste Veranstaltung in diesem Jahr, frei von autoritären Putin-Fans oder auch Verschwörungsgläubigen, organisiert die VVN-BdA am Donnerstag.“[6] Was die taz nicht schreibt: Auf dieser Veranstaltung am historischen Platz der Bücherverbrennungen wurde antifaschistische Literatur beschlagnahmt. Das Rote Antiquariat, das mit einem Lastenrad voller Bücher erschien, wurde von fünf schwerbewaffneten Polizisten aufgehalten. Die Organisatoren von der VVN-BdA unterstützten das Verhalten der Polizei.
Kampf ums Gedenken in Dresden, Mannheim und Frankfurt
Auch außerhalb der Hauptstadt ist das Gedenken umkämpft. Es zeigt sich, dass viele Menschen mit den aktuellen Entwicklungen nicht einverstanden sind. Wir wollen auf drei weitere Erfahrungsberichte genauer eingehen.
So wurde beispielsweise in Dresden die Kontextualisierung des Denkmals für die Rote Armee abgeschlossen. Das Denkmal wurde 1993 an den Stadtrand versetzt. Jedes Jahr gedenken dort zahlreiche Antifaschisten und Osteuropäer den Opfern des Faschismus. Dieses Jahr konnten die rund 200 Teilnehmer die neu errichtete Tafel zur Kontextualisierung des Denkmals begutachten. Ein QR-Code führt auf die Website der Stadt: Das „unbequeme Gedenkobjekt“, wie es dort heißt, zeige „unverkennbar militaristische und idealisierende Darstellungen mit heroischem Pathos“. Auch Abrissforderungen wurden in der Vergangenheit immer wieder laut.
In Mannheim beteiligten wir uns an einem Gedenken für ermordete Zwangsarbeiter. Auf dem anschließenden Gedenkzug wurde ein palästinensischer Genosse von Antideutschen rassistisch beleidigt. Wir würden durch unsere Kufiyas provozieren, hieß es seitens der Zionisten, die dann die Demonstration verließen.
Zwei Tage später, am 10. Mai, wollten unsere Genossen einen Rundgang über die KZ-Gedenkstätte Sandhofen veranstalten. Diese wurde jedoch von Seiten der Gedenkstätte mit der Begründung abgesagt, die KO tätige „antisemitische, antiisraelische und antidemokratische Äußerungen“ und betreibe „Hetze und Propaganda“. Weiterhin würden wir den „gegen den Staat Israel und seine Bürger:innen gerichteten islamistischen Terror der verbrecherischen Hamas und ihrer Verbündeten nicht nur verharmlosen, sondern gar rechtfertigen und glorifizieren.“ Diese Anschuldigungen sind nicht nur falsch und unbelegt, sondern dienen auch dazu, von der deutschen Verantwortung am Genozid in Palästina abzulenken und pro-palästinensische Stimmen als antisemitisch zu diffamieren.
Da die Führung also abgesagt wurde und die Türen für uns verschlossen blieben, beschlossen wir, einen kleinen Stadtrundgang zur Geschichte des KZ und zum kommunistischen Widerstand gegen den Faschismus in Mannheim durchzuführen. Im Rahmen des Stadtrundgangs erfuhren wir mehr über die Geschichte der meist polnischen Zwangsarbeiter, die im KZ eingesperrt und zur Arbeit in den Benz-Werken gezwungen wurden.
In Frankfurt wurde aus der osteuropäischen Community heraus zum wiederholten Mal der Marsch des Unsterblichen Regiments organisiert. Das Unsterbliche Regiment ist eine Gedenkaktion aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Dort gedenken Familien ihren gefallenen Familienmitgliedern und tragen dafür dessen Bilder auf die Straßen. Der Demonstrationszug war sehr gut besucht, kraftvoll und stark. Wir brachten Bilder kommunistischer Widerstandskämpfer mit und beteiligten uns auf diese Weise am Marsch. Viele deutsche Antifaschisten und Linke blieben ihmallerdings fern – die antirussische Kriegspropaganda wirkt. Ein Trupp ukrainischer Faschisten wich der Demonstration nicht von der Seite. Sie verunglimpften das Unsterbliche Regiment als „Todesregiment“ und bezeichneten die Rote Armee als „Mörder und Invasoren“ auf ihrem Transparent.Dazu riefen sie mehrmals den Gruß der ukrainischen Faschisten „Slava Ukraini“ und stimmten später „Azov, Azov, Azov“ in Sicht- und Hörweite an. Später zeigten sie ein Transparent mit Bezug auf das Donbas-Bataillon. Dort tummeln sich zahlreiche Faschisten, die als Teil der Nationalgarde Zugang zu NATO-Waffen und Ausbildern haben.
Erinnerungskultur von Unten: antifaschistische Gegenkultur
In Chemnitz und Jena beteiligten wir uns an antifaschistischen Demonstrationen. Hier ist es wichtiger denn je, Anknüpfungspunkte zur antifaschistischen Bewegung zu suchen und den Zionisten nicht das Feld zu überlassen. Mit einer Filmvorführung an der Uni Jena (gezeigt wurde Rat der Götter) konnten wir anschließend eine produktive Diskussion über die ausbleibenden Entnazifizierungen und Enteignungen in der BRD führen.
Unsere Genossen in Frankfurt haben sich mit der lokalen Faschismusgeschichte beschäftigt. Ein Genosse hat hierfür einen Vortrag gehalten, welcher deutlich macht, dass die einflussreichsten faschistischen Entscheidungsträger der Stadt nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Weder der Oberbürgermeister, noch die Leiter der drei Konzentrationslager, noch der Polizeipräsident, noch die Aktionäre des IG-Farben-Konzerns (trotz eigenem KZ), noch 2999 von 3000 Frankfurter Gestapo-Funktionären waren in der BRD nach 1949 vor Gericht. Diese Kontinuitäten griffen wir in einem antifaschistischen Stadtrundgang, den wir gemeinsam mit vielen anderen Gruppen organisierten, auf.
Auch in Dresden organisierten unsere Genossen einen Stadtrundgang. Hier wurde noch einmal besonders deutlich, wie kontrafaktisch die Vereinzelung von Opfergruppen in der BRD-Geschichtsschreibung ist. Einen Tag vorher, am 9. Mai, kündigte die TU-Dresden unseren Genossen die Räumlichkeiten für einen Vortrag zu „Zeitenwende und Faschisierung“. Um gegen diese Maßnahme zu protestieren und den Vortrag trotzdem halten zu können, verlegten wir ihn auf eine Wiese. Der Vortrag wurde sehr gut besucht und positiv aufgenommen.
In Berlin beteiligten wir uns an der Kundgebung der DKP in Karlshorst, dem Ort der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. In einer Rede betonten wir auch hier den Zusammenhang von Kriegsvorbereitung gegen Russland und Faschisierung. Am 9. Mai organisierten wir eine Dauerkundgebung am Treptower Park und konnten viele gute Gespräche führen. Einen Tag später protestierten wir gemeinsam mit 2000 Kriegsgegnern lautstark gegen die Errichtung einer Rheinmetall-Fabrik im Wedding. Viele Redner stellten diesen konkreten Fall in den Kontext der Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Der Demonstrationszug wurde am Ende heftig von der Polizei angegriffen. Abends konnten wir mit der DKP-Pankow und unterstützt von der Gesellschaft für Deutsch-Russische Freundschaft e.V. eine Open-Air-Vorführung des sowjetischen Films „Ein Menschenschicksal“ auf die Beine stellen. Rund 120 bis 130 Personen nahmen an der Veranstaltung teil.
In Duisburg machten wir am 8. Mai mit einem Infostand und einer Kundgebung auf die aktuelle Kriegsvorbereitung gegen Russland als Motor der Faschisierung aufmerksam. Am darauffolgenden Wochenende putzten wir gemeinsam mit anderen Antifaschisten die Gräber von sowjetischen Zwangsarbeitern und ihren Kindern.
In Leipzig organisierten wir am 8.Mai einen Infostand vor der Deutschen Bank, die die fehlende Entnazifizierung der BRD verkörpert. Unter dem Motto „Antifaschismus heißt: Nein zum Krieg und seinen Profiteuren“ informierten wir Passanten zur Kontinuität der Kriegsprofiteure und Waffenproduktion in Leipzig. Dort hatten wir einen geteilten Eindruck: Einige Passanten sprachen sich sehr klar für mehr europäische Aufrüstung aus, weil man sich mit der Präsidentschaft Trumps nicht mehr auf die USA „verlassen“ könne. Andererseits gab es viele, die uns dafür lobten, sich gerade an diesem Tag gegen die Aufrüstung und auch mit Palästina-Flaggen aufzustellen.
Am 9. Mai führten wir einen antifaschistischen Stadtrundgang durch, der am Ehrendenkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten endete. Bei der mit DKP und KPD zusammen organisierten Gedenkveranstaltung nahmen etwa 60 Personen teil, darunter etwa die Hälfte russischsprachige Menschen verschiedener Nationalitäten (Ukrainer, Russen, Esten, Letten). Die russischsprachige Community Leipzigs hat für diesen Tag eine Wand mit Porträts der dort Begrabenen aufgestellt. Sie berichteten, dass diese Wand von der Stadtverwaltung nur für den 8. nicht jedoch für den 9. Mai genehmigt wurde und noch am Abend wieder abgebaut werden musste. Die von uns organisierte Gedenkveranstaltung wurde sehr positiv aufgenommen.
Kampf gegen den Krieg heißt: Gedenken politisieren!
Diese Umdeutungen, Repressionen und antideutschen oder banderafaschistischen Provokationen zeigen deutlich: Wir müssen das Gedenken politisieren! Ein zahnloses und verbürgerlichtes Gedenken nützt keinem etwas und spielt solchen Tendenzen noch mehr in die Hände. Es wird auch nicht dem Anspruch der Personen gerecht, die zu diesen Veranstaltungen kommen. Das Interesse an antifaschistischen Rundgängen, Vorträgen, Gedenkaktionen und Kulturveranstaltungen war sehr hoch.
Ein antifaschistisches Gedenken, das kein Wort über die Sowjetunion, den Genozid in Gaza oder den Krieg gegen Russland enthält, befindet sich aber auf Abwegen. Ein solches Gedenken macht sich mit den Leuten gemein, die Demonstrationen verbieten, Fahnen und Zeitungen zensieren oder Bücher beschlagnahmen. Den Kriegstrommlern und Geschichtsrevisionisten im Land kommt dieser „Antifaschismus“ gerade recht.
Auf den verschiedenen Veranstaltungen wurde noch einmal deutlich, dass sich viele Osteuropäer eingeschüchtert fühlen und ihnen (wieder) das Gefühl vermittelt wird, sich für ihre Herkunft schämen zu müssen. Man wüsste außerdem kaum noch, was man aktuell sagen darf.Eine Tendenz, die sich auch unter migrantischen Gemeinschaften aus anderen Ländern abzeichnet. Mit Grundrechtseinschränkungen und aggressivem Chauvinismus sollen Stimmen gegen Faschismus und Genozid zum Schweigen gebracht werden.
Was können wir daraus lernen? Der Kampf gegen Grundrechtseinschränkungen und Chauvinismus gehört zusammen. Wir müssen ihn auf der Straße und notfalls im Gerichtssaal führen. Dem staatlich erzeugten Anpassungsdruck zu folgen und ungemütlichen Themen auszuweichen, entpuppt sich als Farce, weil es ein Schweigen über so viele Kontinuitäten und Verbrechen bedeutet. Wenn Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus Russland, zunehmender Einschüchterung und Stigmatisierung ausgesetzt sind, wenn antifaschistische Erinnerungskultur kriminalisiert wird, während die größte Aufrüstung seit Hitler beschlossen wird, dann ist das Allerletzte, was dieses Land braucht, eine Linke, die aus Angst zu „Russland-Nähe“ auf Distanz geht oder sogar in die antirussischen Bedrohungslügen einsteigt.
Redaktioneller Hinweis: Dieser Text ist im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine und der Imperialismusdiskussion entstanden. Wir haben 2022 beschlossen, uns kollektiv der Einschätzung des Charakter und der Vorgeschichte des Krieges zu widmen. Hierfür wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die sich u.a. mit den Interessen und der Politik des westlichen imperialistischen Block, mit Russlands Entwicklung sowie mit den Erkenntnissen der sozialistischen Arbeiterbewegung zum Imperialismus und der Bedeutung der Nationalen Frage beschäftigen.Veröffentlicht wurden in diesem Rahmen bereits Beiträge zur Kriegsvorbereitung der NATO, zur Unterwerfung der Ukraine, zu Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg, zur Entwicklung der Volksrepubliken, zur Entwicklung des russischen Kapitalismus, zum Verhältnis von Nationaler Selbstbestimmung und sozialistischer Revolution und zur Imperialismusschrift Lenins. Rückmeldungen können gerne per Mail an uns (redaktion@kommunistische-organisation.de) oder direkt an den Autor (kontakt@spectrumofcommunism.de) geschickt werden.
In der Debatte um den Charakter des Krieges in der Ukraine prallen innerhalb der kommunistischen Bewegung zwei konträre Positionen aufeinander. Die eine besagt, dass der Imperialismus als Epoche den ganzen Erdball umfasst. Die besitzenden Klassen der einzelnen Länder seien lediglich mehr oder weniger siegreich eingebunden. Es sei daher unlauter, von antiimperialistischen Staaten zu sprechen, sondern allenfalls von antiimperialistischen Bewegungen, die sich gegen die herrschenden Klassen der jeweiligen Länder richteten. Dagegen stehen Auffassungen, welche eine solche Ansicht als Äquidistanz verwerfen. Eine qualitative Gleichsetzung der führenden imperialistischen Zentren mit den Ländern des globalen Südens verwische die strukturelle Ausbeutung und Abhängigkeitsverhältnisse, die unhintergehbare Grenzen für jede revolutionäre Bewegung aufstellten. Eine solche Position mahnt zur konkreten Analyse der jeweiligen Kapitalistenklassen und zu einer Charakterisierung, aus der eine konkrete politische Haltung überhaupt erwachsen kann.
Eine Analyse der russischen Bourgeoisie1 setzt wie jede solche konkrete Charakteristik im Begriff ihres Gegenstandes bereits eine Einheit von Einheit und Differenz. Der Begriff der Bourgeoisie behauptet eine Einheit mit einer in jedem kapitalistischen Land vorhandenen und herrschenden Klasse, die mittels des Besitzes der Produktionsmittel anderen Klassen ihren Willen aufdrücken kann. Die Bestimmung des Russischen setzt wiederum die Differenz und ihre Besonderheit. Es macht nur Sinn, von einer explizit russischen Bourgeoisie auszugehen, wenn ihre soziale Formation sich strukturell von der anderer Länder unterscheidet. Bürgerlichen Wissenschaftler*innen fielen hier zuerst das historische Erbe oder besondere kulturelle Mentalitäten ein. Sie erklären aber nicht, warum sich ausgerechnet diese Mentalitäten durchgesetzt haben, oder warum ausgerechnet Peter I. als Vorbild genommen wird und kein Rurikidenzar oder Michael I.. Die Erklärung hierfür muss in den konkreten ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen Russlands gefunden werden und diese Besonderheiten müssen wiederum aus den gesellschaftlichen Entwicklungsgesetzen, wie sie von Marx und Engels gefunden wurden, ableitbar sein.
Die russische Bourgeoisie hat auf der einen Seite ein absolutes Handlungsimperativ im Kampf um die höchstmögliche Ausbeutung der Arbeiter*innen und in der größtmöglichen Monopolisierung des Profits und der (Boden)renten. Auf der anderen Seite besitzen einzelne Kapitalistenfraktionen innerhalb dieser ökonomischen Gesetze Freiheitsgrade, um ihre Imperative bestmöglich umzusetzen. Um ein so determiniertes Akkumulationsregime dauerhaft verfestigen zu können, bedarf die Bourgeoisie der Institution des Staates. Der Staat schreibt in seiner Verfassung nicht nur die für den Kapitalismus notwendige doppelte Freiheit der Arbeiter*innen und die Rechtssicherheit des Besitzes fest, sondern erlässt einen institutionellen Rahmen, welcher Klassen- und Klassenfraktionskämpfe in einer Art und Weise organisiert, dass sie ein gesetztes Akkumulationsregime nicht gefährden bzw. dessen Änderung ohne Gefährdung der hegemonialen Stellungen der führenden Kapitalisten strukturieren. Revolutionen und Zeitenwenden, die rein bürgerlich verbleiben, ersetzen dann nur ein Akkumulationsregime durch ein anderes. Jedes Akkumulationsregime wiederum geht eigene Verhältnisse zu anderen Staaten und dem Weltmarkt ein.
Aus dieser Betrachtung leitet sich das Wesen der Streitfrage der Internationalen Kommunistischen Bewegung ab, ob die russische Bourgeoisie bzw. ihre herrschenden, das gesamte Akkumulationsregime bestimmenden Fraktionen als Monopolbourgeoisie oder als Kompradorenbourgeoisie typologisiert werden können. Die Monopolbourgeoisie hat die fortgeschrittensten Produktionsmittel soweit zentralisiert, dass sie mit Finanzkapital und Staat verschmelzen und auf einem freien Weltmarkt ihre Konkurrenten durch Produktivitätsvorteile niederzuringen versuchen. Die Kompradorenbourgeoisie profitiert gegenteilig nicht von der Freiheit des Handels, sondern von einer politischen Kanalisierung des Handels, von der diese einen Handelsprofit generiert. Beide Typologien sind also durch eine ganz gegensätzliche Stellung zum Weltmarkt geprägt.
Die Aufgabe der folgenden wissenschaftlichen Untersuchung ist es nun, ausgehend von den politischen Erscheinungsformen, wie sie empirisch vorliegen und aus der Summe der einzelnen Daten und historischen Ereignisse hervorgehen, das Akkumulationsregime als Ensemble der ökonomischen Tendenzen und Gegentendenzen der kapitalistischen Gesetzlichkeiten zu identifizieren. Nur wenn das Zusammenspiel der ökonomischen Gesetze, ihre Tendenzen und die Anleitung in historischen Erscheinungsformen verstanden sind, kann eine auf den gesellschaftlichen Gesetzen basierende Charakterisierung der kapitalistischen Dynamik Russlands und damit eine bedingte wissenschaftliche Prognose abgegeben werden. Modelle oder Typologien helfen uns dabei, die Mannigfaltigkeit der Erscheinung systematisch abzuklopfen, auch wenn die feststellbare Realität nie im Modell aufgehen kann (was in der Definition eines Modells an sich begründet liegt). Daher verfolgt die vorliegende Arbeit ein zweischrittiges Verfahren, indem sie zuerst begriffliche Klarheit über die Modelle Kompradorenbourgeoisie und Monopolkapitalismus2 herstellt und dann plausibilitätsgeleitet die russische Bourgeoisie in ihrem historischen Verlauf und in ihrer aktuellen Ausprägung hin auf diese Modelle hin untersucht.
2. Begriffe
2.1. Kompradoren
Der Begriff der Kompradorenbourgeoisie hat im Laufe der letzten 100 Jahre sehr vielfältige Deutungen erfahren. Eine Definition dieser Klasse kann also nur sinnstiftend aus ihrer historischen Genese entwickelt werden, um den Vorzug der einen Bestimmung gegenüber einer anderen bewerten zu können.
Infobox: Methodik der Klassenanalyse Der historische Materialismus geht davon aus, dass die Produktion der Lebensgrundlagen einer Gesellschaft, die Verteilung ihrer Produkte und die Macht über die Reproduktion die wesentlichen Triebfedern der Ausbildung der Klassen darstellen. Karl Marx ging in den drei Bänden des Kapitals in der Darstellung von der abstrakten Ebene der Produktion über die vermittelnde Ebene der Zirkulation zur konkreten Ebene der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals über. Auf jeder dieser Ebenen erhalten die Klassen, in unserem Falle die Bourgeoisie, neue analytische Bestimmungen hinzu. Essentiell ist, dass ein konkreter Kapitalist (z.B. Khodorkowski oder Abramowitsch) je nach Darstellungsebene unterschiedliche und sogar widersprüchliche Stellungen einnehmen kann (Einheit von Einheit und Differenz, Widerspruch zwischen Wesen und Erscheinung). Allen Kapitalisten ist gemein, dass sie auf der Ebene der Produktion an der größtmöglichen Ausbeutung des Proletariats interessiert sind, unabhängig davon, wie sie auf konkreteren Formen erscheinen mögen. Auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion des Kapitals lässt sich die Bourgeoisie zum Beispiel an Hand der Revenue differenzieren. Während die produktiven Kapitalisten ihren Profit aus dem Mehrwert der Arbeitskraft ziehen, erhalten andere Teile der Bourgeoisie ihren Anteil an diesem Gesamtprofit. Wie hoch die jeweiligen Anteile sind, bestimmt sich zum einen durch die Kräfteverhältnisse der Fraktionen innerhalb der Bourgeoisie und zum anderen über die allgemeine Durchschnittsprofitrate. Darüber hinaus gab es auch andere wichtige Unterteilungen der Bourgeoisie. Rosa Luxemburg beispielsweise führte die Widersprüche zwischen Produktionsgüter- und Konsumgüterbourgeoisie im Rahmen der Marxschen Reproduktionsschemata zur Herleitung der imperialistischen Tendenzen des Kapitalismus zu Grunde. Auch die Beziehung zwischen produktiven und unproduktiven Kapitalisten ist in den letzten Jahrzehnten in die Diskussion gekommen. Grundlegend ist hier, dass die Steigerung der Arbeitsintensität und der sektorielle Mangel an Arbeitskraft dazu führen, dass die Arbeiter*innen immer weniger konkrete Arbeit der Reproduktion selbst übernehmen und diesen kommodifizieren müssen. Der reproduktive Sektor wächst und verschlingt einen immer größeren Anteil am produktiven Profit/Arbeitslohn. Eher in der bürgerlichen Ökonomie waren die Unterscheidungen zwischen einzelnen Erwerbszweigen, zwischen materieller und immaterieller Produktion oder zwischen Lenin unterteilte die Bourgeosie in mittlere und Großbourgeoisie, wobei die mittlere Bourgeoisie reaktionärer sei als die Großbourgeoisie.
Die historische Klasse der Kompradoren, die ihren Höhepunkt im China des 19. Jahrhunderts hatte, war eine Übergangsklasse, die aus der alten Beamtenaristokratie entwachsen war und zwischen dem kapitalistischen Weltmarkt und der feudalen bis semifeudalen Welt Chinas vermittelte. Bis zum Vertrag von Nanking waren sie eingebettet in das konfuzianisch geprägte Cohong-System, in welchem das Handelsmonopol bei den Beamten und dem Adel lag. In der Gesellschaftshierarchie besetzten die Kaufleute die unterste Stufe unter den ehrbaren Professionen. Als die Monarchie Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der sich weltweit bahnbrechenden ursprünglichen Akkumulation zunehmend an der Geldware Interesse fand, stellte sie eine Schicht der Handelsleute durch Beamtenposten oder Statusaufwertung in ihre Dienste (vgl. Hao 1970). Diese sollten den Warenhandel mit den europäischen frühkapitalistischen Mächten organisieren. Westliche Händler konnten nicht unmittelbar in China investieren oder Waren kaufen. Die Feudalstruktur, Sprachschwierigkeiten, das Fehlen eines funktionsfähigen Bankensystems und die Unkenntnis über politische Strukturen und Produktionsprozesse stellten unüberwindbare Hürden dar. Die Kompradoren waren das Bindeglied zwischen den europäischen Märkten und dem chinesischen Manufakturwesen, indem sie Waren beschafften, Gelder verwalteten, Erlaubnisse einholten, Kontakte verschafften und ihre Anteile sicherten. Vom reinen Personalverwalter bis zum fast eigenständigen Investor konnte die Rolle sehr vielgestaltig sein. Der Vertrag von Nanking (1842) als erster der Ungleichen Verträge führte zur Unabhängigkeit der Rolle der Kompradoren von der Staatsbürokratie. Formell öffnete der Vertrag den chinesischen Markt für europäisches Kapital bei damals einmalig niedrigen 5% Importzöllen. Rein praktisch jedoch dauerte es Jahrzehnte, bis die gesellschaftlichen Strukturen sich dergestalt gewandelt hatten, dass der Kapitalverkehr tatsächlich ohne Vermittlung der Kompradoren stattfinden konnte. Daher beschäftigte jeder westliche Unternehmer mindestens einen Komprador, der die traditionellen Hürden bewältigte. Dabei war neben den eher bescheidenen formellen Einkommen ein Squeeze aus Rentenbeteiligung, Zinsgeschäften, Unterschlagung und eigenem Unternehmertum die eigentliche Reichtumsquelle dieser Klasse.
Soziologisch waren die Kompradoren als andere als einheitlich. Während die kantonesischen Kompradoren eher traditionell orientiert waren und sich in die konfuzianische Gesellschaftslehre einzugliedern versuchten, orientierten sich beispielsweise die Kompradoren Shanghais an Europa und studierten an westlichen Universitäten wie Yale. Allen gemeinsam war trotz der weitreichenden Unterschiede die Vermittlungsrolle zwischen dem Weltmarkt und dem chinesischen Binnenmarkt. Innerhalb der chinesischen Gesellschaft traten sie den wenigen Proletariern als fungierender Teil der Ausbeuterklasse gegenüber, die Masse der Bauern hatte zu ihnen jedoch zunächst kein Verhältnis. Es waren eher die Vertreter des alten Systems, welche in den Kompradoren die Wegbereiter des Untergangs des Kaisertums erblickten.
Mit dem Vertrag von Nanking begann aber gleichfalls der Abstieg der Kompradoren. Natürlich hatten die westlichen Unternehmer keinesfalls ein Interesse daran, ewig die Extrarenten der Kompradoren von ihren Profiten abziehen zu müssen. Ständige Handelsvertretungen entstanden. Ein Bankenwesen, welches den Ansprüchen des Kapitals genügte, entwickelte sich. Und nicht zuletzt der Erste Weltkrieg trocknete die Kompradoren aus, als Investitionen in die Rüstung das Interesse Osthandel ablösten. Einige der Kompradoren wurden selbst „nationale“ Kapitalisten und wurden Parteigänger eines modernen bürgerlichen Staats. Ein anderer Teil nutzte seinen Reichtum und die bestehenden Kontakte, um informelle Herrscher einzelner Regionen zu werden, welche eigenständigen Handel mit den Kolonialmächten betrieben. Als Warlords bekämpften sie sowohl die bürgerlichen Nationalisten als auch die Kommunisten, weshalb diese in den ehemaligen Kompradoren einen gemeinsamen Feind erblickten. Was also Mao oder die Komintern in ihren Debatten als Kompradoren bezeichneten, war nicht eine ausgeprägte Klasse, sondern eines von mehreren Zerfallsprodukten einer Übergangsklasse, deren einst progressiver Charakter durch die schnelle Umwälzung der chinesischen Gesellschaft zwischen 1842 und 1912 in radikale Reaktion umschlug. In diesem Sinne hatte Mao vollkommen Recht, dass die Kompradoren gemeinsam mit den Grundbesitzern die reaktionärste und rückwärtsgewandteste Klasse der chinesischen Gesellschaft darstellten (Mao 1926). Ihr gesamte Existenz hing von der Monopolisierung des Handels mit den imperialistischen Ländern ab; ein Monopol, dass erst durch den Vertrag von Nanking und später durch die chinesische Nationalbewegung in Frage gestellt wurde. Die gewaltsame Aufrechterhaltung dieses Monopols entgegen den Ansprüchen eines modernen Nationalstaats stellte eine objektive Schranke der Produktivkraftentwicklung in China dar. Politisch legitimierte die Existenz der Kompradoren eine nationale Strategie der KPCh, die eine Zusammenarbeit mit den Guomindang einschloss.
Nun sind die Kompradoren zwar historisch konkret ein chinesisches Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts. Da der Begriff in den Debatten der Komintern jedoch zeitgleich mit der aufkommenden antiimperialistischen Strategie Einzug fand, wurde er recht schnell auf die Charakterisierung von Fraktionen der Bourgeoisie in anderen Ländern angewandt.3 Obwohl er nie allgemein definiert worden ist, ist das Überdauern des Begriffs in der Bewegung Beweis dafür, dass er ein real wahrnehmbares Element kolonialer, halbkolonialer und postkolonialer Akkumulationsregime abzubilden scheint.4 Es macht jedoch keinen Sinn, jeden Strang in der Debatte nachzuvollziehen, sondern es bleibt zu schauen, welche Elemente des Begriffs als Allgemeines überlebt haben. Die systematischste Definition stammt vom französischen Marxisten Nicos Poulantzas (1975).5 Seine zentralen Charakteristika sind die Vermittlerrolle zwischen nationalem und Weltmarkt, sowie die daraus folgende politische, ökonomische und kulturelle Subordination unter die imperialistischen Nationen auf Grund einer fehlenden eigenen Akkumulationsgrundlage (siehe Abbildung 2). Keine eigene Grundlage für die Akkumulation zu besitzen, bedeutet hier, dass sich der Komprador auch nicht um den Absatz auf dem einheimischen Markt sorgen muss. Während die „nationale Bourgeoisie“ entweder das Proletariat weitgehend befähigen muss, produzierte Konsumgüter auch kaufen zu können oder auf die eigene Fähigkeit, Produktionsmittel in Erwartung zukünftiger Profite zu erwerben, angewiesen ist – was die Produktion entwickelt -, kann sich der Komprador auf Grund seiner Vermittlerrolle auf die Kaufkraft des Auslands verlassen. Ohne die Abhängigkeit von einheimischer Nachfrage und im Bestreben, die Exportpreise zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit zu minimieren, ist diese Klasse am interessiertesten an der Überausbeutung6 des Proletariats (vgl. Frank 1974, 1978).
Wenn der Begriff der Kompradoren in kommunistischen und postkolonialen Diskursen einen so beträchtlichen Raum einnahm, kann man ihn nicht einfach beiseite schieben. Man muss das begriffliche Substrat des Begriffs herausarbeiten und untersuchen, ob sich dieses auf Fraktionen der heutigen Bourgeoisie anwenden lässt (siehe Abbildung 1). Mit der Anwendbarkeit entscheidet sich auch die Frage, ob es sich bei den Kompradoren um eine Klasse, eine Fraktion oder eine Erscheinung handelt.
Auf der Ebene der Produktion treten die Kompradoren den Proletariern als Teil der Bourgeoisie entgegen. Auf der Ebene der Zirkulation kann zwar ein Teil der Kompradoren Handelsprofite erzielen; diese sind aber nicht das Charakteristikum dieser historischen Formation. Die Herausbildung einer Kompradorenstellung ist im Gegensatz zur Monopolbourgeoisie keine Folge der freien Konkurrenz, sondern politischer, historischer oder ideologischer Natur. Ihre Revenue auf der Ebene der Reproduktion des Gesamtkapitals ist die der Rente; genauer der Monopolrente anstatt des Monopolprofits. Als Rentiersklasse weisen rentierstypische Revenueformen auf eine Kompradorenbourgeoisie hin, insbesondere hohe Dividenden7. Sie entziehen dem nationalen Markt somit Kapital zu Erweiterung der Produktion und behindern so die Akkumulation. In der jüngeren Theorietradition wird sie besonders in den extraktiven Sektoren gesehen, da sich der Boden samt Bodenschätzen sehr leicht monopolisieren lässt und Primärgüter häufig die einzigen auf dem Weltmarkt nachgefragten Waren der kapitalistischen Peripherie sind.
Politisch wirksam kann die Kompradorenbourgeoisie werden, wenn ihre Renten so hoch sind, dass sie eine innere Akkumulation eines Landes behindern. Dann tritt sie in Widerspruch zur nationalen/ inneren Bourgeoisie. Dieser Widerspruch kann durch hohe nationale Reinvestitionen der Kompradoren in den nationalen Markt geglättet werden. Die Kompradorenbourgeoisie erhält ihre Rente ja immerhin aus der globalen Wertschöpfung und ist daher an der größtmöglichen Ausbeutung des eigenen Landes interessiert (vgl. Artner 2023, S.8). bzw. resultiert ihre Rente aus den Extraprofiten über den ungleichen Tausch.
Begriffsgenese Kompradorenmodell
Indikatoren für das Vorherrschen einer Kompradorenbourgeoisie/-klasse wären hohe Dividenden, eine geringe Rekapitalisierung der Gewinne, der vorrangige Export von Primärgütern oder die Dominanz von Downstream-Exporten/ hohe Distanz zur Fertigware in den globalen Wertschöpfungsketten.
2.2. Abgrenzung zur Monopolbourgeoisie
Unabhängig davon, ob man dem dargestellten begrifflichen Substrat zustimmt oder es verwirft, werden die Kompradoren in der Praxis in erster Linie negativ bestimmt. Insbesondere in der Diskussion um den imperialistischen Charakter von Staaten kommt es weniger darauf an, den kompradorischen Charakter der dominanten Fraktionen der Bourgeoisie nachzuweisen als eher den nichtmonopolistischen Charakter der führenden Kapitalfraktionen in der Definition Lenins.
Dem Modell des Monopolkapitalismus liegt die Annahme zu Grunde, dass Produktivität nicht frei skalierbar ist. Nur hinreichend große Unternehmen könnten die neuesten Produktionsmethoden umsetzen und damit gemäß dem Marxschen Preisbildungsmechanismus Surplusprofite generieren, welche die Fortsetzung und Festigung der Monopolstellung erlauben (vgl. Hilferding 1955 [1923], S.263ff.). Um diese Unternehmensgrößen zu erreichen, genügen Einzelkapitale nicht. Aktiengesellschaften gründen sich. Finanz- und Industriekapital verschmelzen. Die Surplusprofite bilden die Grundlage des national nicht mehr anlegbaren Kapitals, das exportiert werden muss, um realisiert werden zu können (siehe Abbildung 4). Damit kommt es zum politischen Kampf um Ressourcen, Marktzugänge und Monopolerhalt zwischen den imperialistischen Nationen, der sich militärisch erstmals im Ersten Weltkrieg und seinen Vorgängerkriegen entlud. Die Surplusprofitgewinnung reproduziert sich dabei auf dem Weltmarkt durch die Unterschiede in der technologischen Entwicklung zwischen den Kapitalistenverbänden der einzelnen Staaten, die zu einer direkten Umverteilung des produzierten Werts über den Weltmarkthandel führen (vgl. Carchedi & Roberts 2021, S.12ff.). Jeder Kapitalistenverband bedient sich dabei ideologischer Rechtfertigungen für eine Verschiebung der Monopolmacht zu seinen Gunsten bzw. zur Verteidigung vor der imperialistischen Umverteilung. Da die Monopole mehrerer Nationen Kapital exportieren, kommt es zur gegenseitigen Durchdringung der Kapitale und das Verschmelzen zum transnationalen Kapital, was eine direkte Zuordnung von nationalen und Kapitalinteressen unterläuft und eine gegenläufige Tendenz zur Verschmelzung des Monopolkapitals und des Staates bildet8.
Begriffsgenese Monopolbourgeoisie Modell Monopolbourgeoisie
Ein Indikator für die Dominanz des Monopolkapitals wäre eine signifikant höhere organische Zusammensetzung9 oder Produktivität in einem kleinen Teil führender Unternehmen. Zu beachten ist hierbei, dass in der Rohstoffextraktion keine eigentlichen Industrieprofite erzielt werden, sondern (hauptsächlich) Grundrenten, deren Höhe sich an der Durchschnittsprofitrate orientiert. Eine hohe organische Zusammensetzung in diesem Bereich weist also nicht im klassischen Sinne auf eine monopolkapitalistische Bourgeoisie hin. Weiterhin wären eine upstreamende Stellung in den globalen Wertschöpfungsketten, hohe Reinvestitionsraten und ein hoher Anteil von Banken an den Anteilseignern kennzeichnend.
3. Die historische Genese der russischen Bourgeoisie
Zur Genese der russischen Bourgeoisie sind sechs Prozesse von Bedeutung. Die Entstehung erster bedeutender Vermögensunterschiede im Rahmen der Reformen unter Gorbachev, die Überführung des sozialistischen Eigentums in kapitalistisches über das Voucher-System, die Privatisierungswelle durch das Loans-for-Shares-Programm, die Formierung der Bourgeoisie durch staatlichen Druck von oben in der ersten Amtszeit Putins in Folge der Wirtschaftskrise 1998, die Verstaatlichungswelle ab 2003 und die Neuausrichtung in Folge der Sanktionen seit 2014. Alle diese Prozesse hatten Auswirkungen auf die Gruppe der Bourgeoisie, die landläufig als Oligarchen gekennzeichnet werden.
Die Oligarchen waren der Teil der Bourgeoisie, dem es gelang, die Unterschiede zwischen russischen und Weltmarktpreisen im Handel auszunutzen (vgl. Clarke 2007, S.58). Durch den – häufig illegalen – Erwerb von Lizenzen und Handelsrechten mit dem Weltkapital konnten diese Konkurrenten ausstechen und ganze Produktionszweige monopolisieren. Diese Fraktion entstammt dabei drei großen Quellen: der Partei-Nomenklatura, ehemaligen Schwarzmarkthändlern und den ehemaligen Fabrikdirektoren. Ruslan Dzarasov differenziert in Anlehnung an David Lane auch in die administrative Klasse und die Intelligentsia als Träger der sowjetischen Reformen (Dzarasov 2011, S.473).
Die ehemaligen Komsomolzen akkumulierten dadurch Kapital, dass die Jugendorganisation der KPdSU als eine der ersten Organisationen selbstfinanzierte Geschäfte betreiben durften. Durch Arbeitseinsätze gewonnene Einblicke in die Fabriken nutzten umtriebige Junggenossen, um Bewertungsunterschiede zwischen konvertiblen Rubeln und inkonvertiblen Rubeln zu erkennen und auszunutzen. Sie knüpften politische Kontakte zur Legalisierung dieser Grauzonenaktivität und während des Zusammenbruchs der KPdSU waren sie die Gruppe, die über diese Kontakte Zugriff auf ihr Dollarvermögen bekam, welches bis heute als verschollen gilt.
Die ehemaligen Fabrikdirektoren waren während der Sowjetzeit an den GOSPLAN gebunden, konnten aber durch diverse Mechanismen bereits in die eigene Tasche wirtschaften. Als die Verbindlichkeit des GOSPLAN gelockert wurde und die Direktoren mehr Eigenständigkeit bekamen, konnten sie diese Mechanismen ausbauen. Insbesondere im Rohstoffsektor, in dem bereits zu Sowjetzeiten Devisen zu erwirtschaften waren, versuchten die Fabrikdirektoren und die verbundenen Ministerialbeamten, die Konzerne in den eigenen Händen zu behalten. Das wohl eindrücklichste Beispiel ist Gazprom, bei dem sich das Gasministerium einfach die Form eines Konzerns gegeben hat, jedoch verstaatlichtes Land, Personal und gesellschaftliche Verpflichtungen aus der UdSSR übernahm (Rosner 2006, S.12f.).10
Die dritte Gruppe bis heute reicher Oligarchen entstammte dem Schwarzmarkthandel. Während ihre Tätigkeit bis zur Gorbachev-Zeit gänzlich illegal war und viele in den 80er Jahren hohe Haftstrafen verbüßten, bot die Erlaubnis zur Bildung von Kooperativen ihnen die Möglichkeit, ihre Geschäfte zu legalisieren. Dieser Teil der Bourgeoisie entstammt dem Handelskapital, das einzelne Marktimbalancen nutzte, um massive Handelsprofite zu erzielen und mit diesen dann in die Produktion einzusteigen. Insbesondere im Textil- (Jeans), Medien- und Elektronikmarkt war dieses Phänomen verbreitet. Zu ihnen zählen Smolensky, Gusinsky, Fridman oder Ivanishvili.
Fast alle russischen Oligarchen lassen sich auf eine dieser drei Gruppen zurückführen. Daneben gibt es noch ausländische Aktienanteile, die aber kaum am operativen Geschäft beteiligt sind, sowie kapitalistische Firmenneugründungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und bis heute bestehende Kooperativen, die sich formal in Besitz der Mitarbeiter*innen befinden. Diese Geschäfte sind jedoch alle zu klein, um maßgeblichen Einfluss auf die nationale Politik auszuüben und das Präsidialsystem der Russischen Föderation hat die Herausbildung einer politischen Sammlungsbewegung des Kleinkapitals verhindert. Der wesentliche Punkt, warum die Herkunft der Großbourgeoisie analytisch so bedeutsam ist, ist die Tatsache, dass sie nicht auf Grund der überlegenen Wettbewerbsfähigkeit ihre Bedeutung gewonnen haben, sondern durch die private Aneignung des während der Sowjetunion gesellschaftlich akkumulierten Reichtums, durch die Monopolisierung strategischer Handelspositionen und die Verflechtung von Beamten und Kapitalisten (vgl. Khanin 2013). Ihrer Position fehlt, was die Monopole im marxistisch-leninistischen Sinne in ihrer Genese hervorgebracht haben. Der wesentliche Unterschied der historischen Genese der Oligarchen im postsowjetischen Russland zur Monopolkapitalismustheorie ist, dass die Verschmelzung von Industrie- und Finanzkapital nicht Folge eines Akkumulationsprozesses war, sondern ein politisches Instrument zur Erlangung der Kontrolle über Exportindustrien.
Dies formte alle Teile der russischen Ökonomie. Die Industrieproduktion der Sowjetunion war sehr energieintensiv, da die Rohstoffe leicht verfügbar waren. Mit der Privatisierung der extraktiven Industrie wurde das zirkulierende Kapital in Form der Rohstoffe und Energieträger um ein Vielfaches auf Weltmarktniveau angehoben. Unter Nutzung der bisherigen Produktionsmethoden stiegen daher auch die Preise um ein Vielfaches, die Löhne jedoch nicht. Kapital zur Erneuerung der Produktionsanlagen, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, besaßen die Unternehmen nicht, da sie bis 1991 überhaupt kein Kapital akkumulierten11. Kredite von Banken waren kaum zu bekommen, da diese lieber im renditeträchtigen extraktiven Sektor investierten. Die Folge war eine starke Inflation, die Löhne und Sparguthaben entwertete. Die Inflation wiederum veranlasste viele russische Werktätige dazu, ihre während der Privatisierung erhaltenen Unternehmensanteile (Voucher), mit denen sie selbst sehr wenig anfangen konnten, billig zu verkaufen. Die Gegenmaßnahmen des Staates zur Kontrolle der Inflation, die Begrenzung der Menge des umlaufenden Geldes, bedeutete, dass viele staatliche Betriebe, teilweise sechs Monate lang, und der Staat seine Renten nicht zahlen konnte.
Das wiederum führte dazu, dass die staatlichen Institutionen wie Polizei, Armee, Betriebsführungen, Politiker oder Justiz so niedrige Löhne hatten, dass sie nicht nur anfällig für Korruption waren, sondern mitunter darauf angewiesen. Eigentum ist jedoch nur dort Eigentum, wo es geschützt werden kann. Mitunter trauten sich selbst die Gewinner der Privatisierung nicht, selbst bei rosigen Aussichten in ihre Betriebe zu investieren, da man jederzeit damit rechnete, das ergaunerte Vermögen schnell wieder zu verlieren. Kapital wurde im Ausland versteckt, statt investiert. Diese Rechtlosigkeit hinderte ausländische Investoren jedoch auch an direkten Übernahmen von Konzernen (vgl. Dzarasov 2011, S.478). Sie konnten zwar Geld investieren, um entsprechend Zinsen, Dividenden oder Firmenanteile an profitablen extraktiven Industrien zu sichern. Sie waren jedoch immer auf eine einheimische fungierende Klasse angewiesen, was klassisches Kompradorentum bedeutet. Diese Widersprüche kulminierten in der Wirtschaftskrise von 1998.
Als Putin an die Macht kam, waren große Teile der kompradorischen Oligarchie bereits geschwächt. Die Krise von 1998 hatte viele der Bankenkonstrukte und Holdinggesellschaften, auf denen der Reichtum der Oligarchen fußte, vom Markt gefegt. Diese zeitweilige Schwächephase der russischen Großbourgeoisie konnte Putin nutzen, um bedeutende Schaltstellen im Staat mit Vertretern der Geheimdienste, sowie der militärischen und zivilen Bürokratie zu besetzen (vgl. Lebsky 2019, S.94). Das innenpolitische Programm Putins lässt sich mit folgender Charakterisierung am besten zusammenfassen:
„Je größer die staatliche Autorität, desto größer die persönliche Freiheit. Demokratie ist die Diktatur des Rechts.“ (zit. nach Kotz & Weir 2007, S.274)
In eine konkrete Politik gegenüber der Großbourgeoisie wurde diese Parole mit dem informellen „Pakt des 28. Juli“ gegossen. Die wichtigsten verbliebenen Oligarchen verpflichteten sich, nicht mehr über den Kauf einzelner Beamter oder extralegale Aktivitäten Einfluss auf die Politik zu nehmen, versprachen, ihre Steuern entsprechend den Gesetzen zu entrichten und schluckten hohe Steuern auf den Rohstoffexport. Im Gegenzug sah Putin von einer progressiven Einkommensteuer oder von einer Strafverfolgung gegenüber der bis dato meist illegalen Geschäftspraktiken ab und akzeptierte so den Status Quo. Der Großteil der Oligarchen stimmte zu, da das fehlende staatliche Gewaltmonopol die Monopolrenten und sogar die Verfügungsmacht über das erworbene Eigentum gefährdete (vgl. Volkov 2002, S.155ff.) und weniger aus Furcht vor den mächtigen Siloviki, der bürokratischen Schicht aus ehemaligen Geheimdienstoffizieren, Veteranen der Yeltsin-Zeit und putinnahen Kreisen, die mit Putin mit der Rückgewinnung der Staatsmacht betraute (vgl. Pirani 2010, S.62ff.). Mit der Rückgewinnung des staatlichen Gewaltmonopols wurde überhaupt erst die Keimzelle für eine monopolistische Entwicklung Russlands gelegt, was im Vergleich zu den imperialistischen Kernländern in historisch sehr kurzer Vergangenheit liegt.
Putin beförderte dabei bis Mitte 2003 noch die privaten Konzentrationsprozesse, um im Anschluss viele der entstandenen konsolidierten Konzerne zu verstaatlichen oder in direkte Beteiligungen des Staates zu investieren. Die Nähe – sprich auch die Abhängigkeit – der Oligarchen zur Bürokratie wurde hierbei reziprok zur Privatisierung genutzt, was es mit Hilfe einer neu konsolidierten Staatsmacht Putin einfach machte, Druck auf die Oligarchen auszuüben. Exempel wurden an Berezovsky und Gusinsky statuiert, die beide ins Ausland emigrieren mussten. „Gaskönig“ Vyakhirev musste seinen Chefsessel bei Gazprom räumen und Khodorkovsky wurde der Prozess wegen Steuerhinterziehung gemacht. Die Verstaatlichung erfolgte entweder über den direkten Aufkauf von Unternehmensanteilen (in der Regel in profitablen Exportindustrien) oder über die Gründung von Gesellschaften des öffentlichen Rechts (in den Bereichen Forschung und Entwicklung). Damit beschnitt der Staat die relative Autonomie des Großkapitals massiv und subordinierte strategische Zweige unter die direkte Staatsmacht.
Putin versuchte somit, das Klassenbewusstsein der Bourgeoisie gewaltsam zu einem nationalen zu formieren. Die besitzende Klasse sollte wenigstens mit einem Teil der Renten in die Akkumulation des produktiven Kapitals investieren und den Verkauf strategischer Infrastruktur an das Ausland unterlassen. Im Gegenzug sollte damit ein Klassenkompromiss finanziert werden, in dem Löhne und Renten sicher waren und die Arbeiter*innen und Kleinbürger ein Mindestmaß an sozialen und ökonomische Rechten zugesichert wurde. Dieses Programm stand im Widerspruch zu den individuellen Oligarchen, die auf die Rechtlosigkeit und Korruption angewiesen waren. Diese durch Putin und die günstigen Weltmarktbedingungen forcierte Formierung einer nationalen erzeugte also Gegentendenzen, neue kompradorische Schlupflöcher und ist noch nicht vollständig abgeschlossen. Es ist die wesentliche Stütze des Herrschaftssystems Putins, zwischen den sich widersprechenden Interessen zu vermitteln.
4. Die russische Bourgeoisie
4.1. Struktur
Die absolute Größe der russischen Bourgeoisie lässt sich nur schwer abschätzen, da es keine kontinuierliche statistische Erhebung gibt, die Fluktuationen noch immer sehr stark sind und die Schwarzmarkt-Bourgeoisie mit eingerechnet werden müsste. Khanin gibt 2013 die Zahl der politisch einflussreichen Top-Oligarchen als abzählbar an, die Zahl der Einzelunternehmer (klassische Kleinbürger) mit zwei Millionen und die Zahl der Kapitalisten mit Arbeiter*innen auf 600.000. Der überwiegende Teil dieser 600.000 besitzt jedoch nicht ausreichend Arbeiter*innen, um alleine vom Mehrwert leben zu können (vgl. Khanin 2013, S.22ff.). Khanins Berechnungen zufolge machten allerdings die Unternehmer plus das fungierende Kapital (Manager, Werksleiter, Personalchefs, Einzelhändler, …) inklusive ihrer Angehörigen etwa 30% der russischen Bevölkerung aus, was in Umfragen dem Anteil der Menschen entspricht, die sich für liberale Reformen einsetzen.
Das Großkapital hielt sich vor der Invasion in der Ukraine zweifelsfrei bevorzugt im extraktiven Sektor, in der anschließenden primären Verarbeitung, im Bankenwesen und in den staatlich kontrollierten strategisch wichtigen Produktionszweigen (Aeroflot, Militärindustrie) auf (vgl. Rakhmanov 2014, S.44). Die Anzahl der Großkonzerne, also jener mit einem Umsatz von mindestens 500 Millionen Dollar, wuchs zwischen 1997 und 2007 von 20 auf 200 an (Pappe und Galukhina, 2009, S. 95ff.). Auffällig ist, dass die Reihenfolge der reichsten Kapitalisten sehr stark schwankt, was auf strukturelle Veränderungsprozesse hindeutet. Zudem konzentrierte sich das Kapital zunehmend in Unternehmensgruppen anstatt in Einzelbetrieben mit angeschlossener Geschäftsbank. Diese Geschäftsbanken sind auch charakteristisch für das Bankkapital, das entweder unter staatlicher Kontrolle steht oder als Hausbank der großen Konzerne und somit nicht als verallgemeinertes Finanzkapital agiert. Die größte private Bank Alfa-Group besitzt zum Beispiel nur 10% des Umsatzes der größten russischen Bank Sberbank (vgl. Corell 2022).12 Die Buchhaltung wurde zunehmend westlichen Standards angeglichen und die Unternehmensstrukturen an neue Managementsysteme angepasst. Allerdings blieben die kompradorisch an ihre Unternehmen gekommenen Kapitalisten im Wesentlichen an der Macht.13 Für das Jahr 2010 berechnete G. Tsagolov, dass unter den 500 reichsten Russen 257 klassische Kapitalisten und 243 durch Aufkauf des Sowjetvermögens reich gewordene Kapitalisten existierten. Je reicher die untersuchten Kapitalisten waren, desto mehr nahm der Anteil der zweiten Gruppe zu. Unter den Top 100 waren es 75%, unter den Top 50 84% und unter den Top 20 100%. (Tsagolov 2012, S.324). Stand 2013 beschrieb Khanin die russische Großbourgeoisie und ihr Verhältnis zu den anderen Fraktionen wie folgt:
„Die russische Bourgeoisie ist fragmentiert und heterogen, ihre einzelnen Teile vertrauen einander nicht und hassen sich sogar. Für einen erheblichen Teil des kleinen und mittleren Bürgertums sind die Oligarchen Diebe, die dem Staat riesiges Eigentum gestohlen haben. Auch die Oligarchen sind sich alles andere als einig: Sie zeichnen sich durch persönliche Feindseligkeiten, Herkunftsunterschiede, sowie politische und sektorale Widersprüche aus, die es ihnen zusammen mit der Illegitimität der meisten von ihnen erschweren, sich als unabhängige politische und soziale Akteure zu identifizieren. Auch die Versuche der Bourgeoisie, sich im Wahlkampf 2011 und 2012 politisch durchzusetzen, blieben so erfolglos, wie die Proteste im gleichen Zeitraum.“ (Khanin 2013, S.24)
Sieben der zehn größten russischen Firmen sind in staatlicher Hand (Stand 2021, RBK 2023). Dazu gehören Öl- und Gasunternehmen (Gazprom und Rosneft), sowie kritische Infrastruktur (RZD, Rosatom) und Großbanken (Sberbank, VTB, Rostec). Zu den größten privaten Unternehmen zählen Lukoil und Surguneftegas, die Handelsketten X5, Magnit und das nun kriselnde Norilsk Nickel. Unter den größten 100 Unternehmen haben zwischen 25% und 30% keine private Anteilseignermehrheit. Unter öffentlicher Kontrolle stehen neben den Infrastrukturunternehmen wie der Post, Aeroflot oder Telekommunikationsunternehmen auch die größten Hersteller von Militärtechnik. Zwischen 2000 und 2020 stieg der Anteil des öffentlichen Sektors am Bruttoinlandsprodukt von 31,2% auf 51,1% (Radygin & Abramov 2023, S.122). Zum Vergleich: der Anteil betrug 1992 noch 75%. Es ist hierbei zu beachten, dass der Staat in den deprivatisierten Unternehmen in aller Regel nur strategische Mehrheiten an Aktien zurückgekauft hat. Gleichzeitig werden die staatlichen Unternehmen darauf verpflichtet, Dividenden auszuschütten (zwischen 2006 und 2020 stieg der Anteil staatlicher Unternehmen an allen Dividenden von 9,7% auf 60%), welche direkt in den Staatshaushalt fließen. Mit jeder Dividendenausschüttung werden daher auch die privaten Aktionäre reicher, ohne, dass dieses Kapital im Unternehmen selbst akkumuliert werden könnte. Das Großkapital stimmt seine Interessen im „Russischen Verband der Industriellen und Unternehmer“ ab, die deshalb auch „Gewerkschaft der Oligarchen“ genannt wird.
Ein Grund, warum die politische Interessenvertretung der liberalen Bourgeoisie so unbedeutend ist, ist das fast vollständige Fehlen der mittleren Bourgeoisie. Denn es ist die mittlere Bourgeoisie, welche von der allgemeinen Freiheit des Marktes, dem flexiblen Zugriff auf Arbeit und geringen Einschränkungen bei der Vermarktung von neuen Waren profitiert, während weder eine kompradorische Bourgeoisie, noch das Monopolkapital eine generell freiheitliche Politik benötigt, sondern um die Wahrung ihrer Monopolstellungen auf Renten und Profite bemüht ist, für die man auch in Zöllen oder Restriktionen zeitweilig adäquate Mittel sehen kann. Die fast vollständige Auslöschung der mittelständischen Unternehmerlandschaft liegt historisch erstens im Einbruch der Binnennachfrage in den 90er Jahren und zweitens in der die anschließenden Marktöffnung für die produktiver arbeitende ausländische Konkurrenz begründet (vgl. Khanin 2013, S.17). Zwar konnte sich nach dem Verfall des Rubels ein Teil der mittelständischen Ökonomie retten, doch die wirtschaftliche Stabilisierung des Großkapitals in den 2000er Jahren ließ die mittlere Bourgeoisie erneut unter Druck geraten. 2006 wurden gerade einmal 7% des gesamten BIP durch mittelständische Unternehmen erwirtschaftet. Jeweils 21% wurden durch private Groß- und Kleinunternehmen beigetragen und 50% durch den „öffentlichen“ Sektor. Während die USA 2013 nur viermal mehr Milliardäre als Russland zählte, waren es über 52 mal mehr Kapitalisten mit einem Vermögen zwischen 30 Millionen und 999 Millionen Dollar (vgl. Rakhmanov 2014, S.53).
Von 11 Millionen kleinen Unternehmen wird die Hälfte in vollkommener Selbstständigkeit betrieben (vgl. Rosstat 2022, S.12). Den größten Teil machen hier Immobilienhändler (23%), Elektro- und Fahrzeugreparaturen (23%), sowie ein riesiger sonstiger Dienstleistungssektor aus. Diese Gruppe ist durch die Lohnentwicklung im produzierenden Gewerbe seit dem Ukrainekrieg massiv unter Druck geraten und befindet sich im Prozess der Proletarisierung. Im Schnitt kommt auf einen Eigentümer ein Arbeiter (vgl. Rosstat 2022, S.23). Doch selbst die als mittlere Unternehmen geführten Unternehmen kommen mit im Schnitt knapp über hundert Arbeiter*innen lediglich auf insgesamt 1,6 Millionen Beschäftige. Das ist weit weniger als die Hälfte der absoluten Beschäftigtenzahl in Deutschland, welches ein wesentlich kleinere Bevölkerung hat. Das Kleingewerbe tätigte im Vergleich zu den mittleren Unternehmen dreimal so hohe Investitionen, erzielte dreimal soviel Gewinn und zeichnete fast 97% aller Patente. Dass die mittleren Unternehmen ihre Stellung dennoch wahren können, liegt darin begründet, dass es sich bei den mittleren Unternehmen zumeist um Zulieferer mit einem einzigen Großkonzern als Abnehmer handelt.
Diese Struktur liegt im Wesen des Zerfalls der großen Kombinate begründet (vgl. Dzarasov 2011, S.479). Die Kombinate, die in der Planwirtschaft ihre Berechtigung hatten, konnten mit ihrer breiten Palette an Produkten und groß angelegten Ausstoßmengen auf dem freien Markt nicht bestehen. Zunächst wurden sie von den Oligarchen während der Privatisierungsphase in wilden Portfolien ohne gemeinsamen Bezug gesammelt und im Zuge der Wirtschaftskrise 1998 als Einzelbetriebe wieder ausgestoßen.14 So wurden die Kombinate und Firmenamalgame durch eine neue Generation mittelgroßer Betriebe ersetzt, die entstandene Nischen füllten. Diese brauchten weniger Kapital, um profitabel wirtschaften zu können. Ihre Kapitalisten entstammten der ehemaligen ökonomischen und technischen Intelligentsia der Sowjetunion. Sie kannten die produktivsten Unternehmensbereiche, besaßen Patente und waren mit den Belegschaften vertraut. Anstatt von extraktiven Renten zu leben, erwirtschafteten sie produktiven Profit. Diese Klasse trägt Putin wirklich, denn sie profitiert von der nationalen Entwicklungsstrategie Putins und braucht politische Schutzpatronen gegen Angriffe der finanzstärkeren extraktiven Bourgeoisie.15 Gleichzeitig sind nicht wenige dieser Unternehmen in Integrierte Business-Gruppen eingebunden, die strukturell die alten Kombinats-Beziehungen widerspiegeln und so an die großen Konzerne binden. Daher kann aus dieser Fraktion der Bourgeoisie keine eigenständige politische Kraft erwachsen, wie sie in vielen zentral-kapitalistischen Ländern in Form rechtspopulistischer Bewegungen an der Tagesordnung sind.
Zusammenfassend zeichnet sich die russische Bourgeoisie durch sehr kleine und sehr reiche Elite, durch das fast vollständige Fehlen einer mittleren und einer großen Masse an kleiner und kleinster Bourgeoisie aus. Diese Struktur ermöglicht die Politik des Auspendelns der Rentiersinteressen des Großkapitals und der nationalistischen Sehnsüchte des kleinen Kapitals, die eines autokratischen Präsidenten als Richter bedarf.. Das liberale mittlere Kapital ist zu schwach, selbst die politische Führung zu übernehmen, auch wenn es Putin zögerlich herausfordert. Das Verhältnis der einzelnen Schichten und Fraktionen der Bourgeoisie untereinander ist dabei relativ komplex. Zum einen bringt der bevorzugte Zugriff auf das Bankkapital, sowie die politische Nähe zur Legislative und Exekutive die kleinen und mittleren Unternehmer gegen das Großkapital auf. Auf der anderen Seite haben beide Fraktionen Interesse an einer ausbalancierten Währungspolitik. Während ein Verfall der Währung zwar den Mittelstand für Importen schützt und Rohstoffexporte profitabler macht, sind die auf den russischen Markt angewiesenen Unternehmen auch von der Zahlungskraft des Proletariats abhängig, die nicht vollkommen von teuren Importen geschluckt werden darf. Daher ist politische Stabilität sowohl für das Großkapital als auch für das mittlere und kleinere Kapital ein wichtiges Pfand, dass keine trotz Differenzen mit der Regierungspolitik leichtfertig aufs Spiel setzen möchte.
4.2. Analyse ökonomischer Indikatoren
Investitionen
Egal nach welchen Maßstäben man das Investitionsverhalten der russischen Bourgeoisie beurteilt; das russische Kapital erweitert sich kaum und erhält sich bestenfalls.16 Die Investitionsquote liegt mit 22,7% zwar nur knapp unter dem Weltdurchschnitt (vgl. Weltbank 2023). Hierzu muss jedoch gesagt werden, dass die in den vergangenen Jahrzehnten ins Ausland transferierten Gelder nicht mit in das Bruttoinlandsprodukt eingerechnet werden, wodurch dieser Wert erheblich gedrückt würde. Die Hälfte aller Investitionen in Russland erfolgen aus Eigenmitteln, 20% aus Mitteln des Staates gegenüber 10% aus Bankkrediten (vgl. ROSSTAT 2022). In drei Bereichen haben die Investitionen in den letzten Jahren massiv zugenommen: Erdgas/Erdöl, Fertigung und Transport/Lagerung. Nun könnte man meinen, dass die hohen Investitionen in den produktiven Bereich auf eine zunehmend eigenständige Kapitalakkumulation hinausliefe. Allerdings sind die Hälfte dieser Investitionen im Ausbau der Verarbeitung extraktiver – insbesondere Gas- und Metallweiterverarbeitung – Produkte angesiedelt. Damit schöpfen russische Unternehmen zwar einen größeren Teil der Wertschöpfungskette ab, sie bleiben dennoch von letztendlichen Export der Produkte abhängig.
Infobox: zum marxistischen Investitionsbegriff
Investitionen bedeuten aus marxistischer Sicht die „Rückverwandlung des Profits oder Mehrprodukts in Kapital“ (MEW 26.3, S.267.f.) Die einmal erhaltene Revenue des Kapitalisten darf nicht stillstehen, möchte er nicht den Rest seines Lebens als Schatzbildner von den Früchten der Vergangenheit zehren. Damit würde er die Kontrolle über die Ware Arbeitskraft und einen Teil seiner gesellschaftlichen Macht verlieren. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen einfacher und erweiterter Reproduktion des Kapitals. Bei der einfachen Reproduktion wird nur der verbrauchte Anteil des Kapitals ersetzt und der komplette Mehrwert vom Kapitalisten durch Privatkonsum verzehrt. Bei der erweiterten Produktion wird das verbrauchte konstante und variable Kapital nicht nur ersetzt, sondern durch extensive oder intensive Ausweitung der Produktion erweitert. Das Gesetz der Konkurrenz zwingt Kapitalisten zur erweiterten Reproduktion, da die Modernisierung der Produktion durch die Konkurrenz die gesamtgesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit und somit beständig die Profite des Kapitalisten senkt. Dieser Konkurrenzeffekt kann allerdings ausgehebelt werden, wenn die Revenue nicht aus einem produktiven Unternehmerprofit besteht, sondern aus einer Rente, die von diesem unabhängig ist. Eine dieser Formen ist die Monopolrente, die in der besonderen Beschaffenheit des Bodens begründet liegt, z.B. indem unter ihm Erdöl oder Erdgas gespeichert sind. Da diese Bodenqualität begrenzt ist und die Konkurrenz keine Möglichkeit zum Zugriff hat, kann das Produkt mit Durchschnittsprofitrate verkauft werden, obwohl kaum vergegenständlichte Arbeit in der Ware enthalten ist. Der Wert der Ware bemisst sich unter den Bedingungen einer Monopolrente nicht mehr am Wert der vergegenständlichten Arbeit, sondern am Äquivalent vergegenständlichter Arbeit, um diese Ware durch eine andere zu ersetzen (ein Kampf, den wir in Deutschland unmittelbar durch die Politik einer Ersetzung von russischem Gas durch amerikanisches und andere Energiequellen hautnah erleben). Da die Rente im Besitztitel über den Boden begründet liegt, ist sie politisch häufig vakant. Eine Regierung kann das Recht auf den Bodenbesitz leichter entziehen, als dass ein Konkurrent ein Patent selbst umsetzt. Die Verschmelzung von politischer und ökonomischer Herrschaft liegt damit nicht mehr in der Größe der Monopolkonzerne begründet, sondern in der Herrschaft über den Boden. Die selbe Beobachtung, die Verschmelzung von nationaler Politik und den Interessen führender Fraktionen der Bourgeoisie, kann somit für einen monopolkapitalistischen Ansatz, wie für einen kompradorischen gemacht werden. Selbst die Profitraten sind die gleichen. Doch nur eine durch Produktivitätsvorsprung begründete Monopolstellung begründet eine monopolistische Kapitalkonzentration im Leninschen und Marxschen (MEW 23, S.619) Sinne. Um beide Ansätze voneinander entscheiden zu können, bedarf es daher einer Analyse, ob und welche Investitionen im produktiven Bereich und welche im extraktiven Bereich getätigt werden. Es ist weiterhin zu untersuchen, ob Investitionen nur vorhandene Produktionsmittel ersetzen, als nur der einfachen Reproduktion des Kapitals genügen, oder ob sie das Kapital erweitern. Drittens kann untersucht werden, was mit der Revenue überhaupt passiert.
Investitionen in die Infrastruktur – der Neubau von Handelswegen, Bürokratieabbau oder Digitalisierung – haben stattgefunden, sind jedoch nicht unproblematisch. Shirov verweist auf folgendes Problem: „Wenn dieser Prozess nicht durch den Prozess der erweiterten Reproduktion und Modernisierung der Basisbereiche von Wirtschaft und Industrie unterstützt wird, werden alle durch die Digitalisierung verursachten positiven Verschiebungen in der Kostenstruktur durch die negativen Auswirkungen des Wachstums importierter Waren und Dienstleistungen zunichte gemacht, da niedrigere Handels- und Transportkosten auch die Kosten für den Kauf importierter Produkte senken werden.“ (Shirov 2019, S.45) Das heißt, dass weder Investitionen in den Rohstoffsektor, noch in die Infrastruktur, die Erweiterung der Produktion in Russland unterstützen.
Russische Großkonzerne sind in der Regel Aktiengesellschaften. Aktienanteile rentieren sich für ihre Besitzer auf zwei verschiedene Arten. Entweder, indem das akkumulierte Kapital in Form von Assets im Unternehmen bleibt und dadurch der Börsenwert der Aktie gesteigert wird. Ein Anteil von 1% am Unternehmen, dass in der vorangegangenen Produktionsperiode noch über Kapitel von 1 Mrd. Rubel verfügte und sich von einem Profit von 20% neue Produktionsanlagen baut, wird in der folgenden Periode 1,2 Mrd. Rubel wert sein und anteilig auch die Aktie. Durch den Verkauf der Aktie kann dieser Gewinn dann für den Aktionär in Form einer Wertsteigerung der 1% um 2 Mio. Rubel privat nutzbar gemacht werden. Der zweite Weg ist die Ausschüttung von Dividenden. Hier reinvestiert das Unternehmen den Profit von 20% nicht, sondern schüttet die 200 Mio. Rubel anteilig an seine Eigner aus. Das Unternehmen reproduziert sich einfach und der Anleger hat 2 Mio. Rubel gleich in der Tasche. Je höher also die Dividenden, desto weniger Kapital wird produktiv akkumuliert und je mehr eine Firmenpolitik auf Kurssteigerungen setzt, desto mehr.
Relativer Dividendenweltmeister ist wenig überraschend seit Jahrzehnten unangefochten Russland. Die russische Sberbank war 2019 der drittgrößte und 2021 der viertgrößte absoluter Dividendenzahler der Welt (vgl. Janus Henderson Global Dividend Index 2021, S.14.) und hat erst 2023 eine neue Rekorddividende ausgeschüttet (vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten 2023). Größter Nutznießer ist hierbei der russische Staat, der über 51% der Anteile verfügt. Doch nicht nur die absoluten Dividenden zeigen das Problem auf. Shirov schreibt: „Das Verhältnis von Dividenden und Investitionen für private russische Aktiengesellschaften unter den Bedingungen des normalen Funktionierens der Fortpflanzungsprozesse liegt immer auf dem Niveau von 20-30%. Nach den Ergebnissen von 2017 und 2018 hat sich diese Zahl in Russland an 65% angenähert.“ (vgl. Shirov 2019, S.43). Die Dividendenzahlungen waren in der Vergangenheit so hoch, dass der Kreml im September 2022 sogar ein Gesetz erlassen musste, das diese auf 50% des Profits begrenzt und Reinvestitionen behördlich vorschreibt. Diese Investitionen dürften nur dann in andere Unternehmen fließen, wenn ein minimaler Anteil russischer nicht unterschritten wird (vgl. Noerr 2023).17 Dieser Erlass 618 ist ein deutliches Indiz dafür, dass der kompradorische Charakter von Teilen der russischen Bourgeoisie noch nicht überwunden ist. Monopolkapitalisten müsste man nicht gesetzlich vorschreiben, ihr Kapital zu akkumulieren. Nach diesem Parameter haben wir es in Russland also noch nicht mit einer gefestigten nationalen oder Monopolbourgeoisie zu tun. Doch selbst, wenn die Dividendenzahlungen beschränkt wurden, verwenden viele Unternehmen ihre Gewinne lieber zum Abbau von Schulden, anstatt für Investitionen.18 Das zeigt sich zum Beispiel im Anteil an Abschreibungen an der Investitionsfinanzierung.
Quelle: Shirov (2019). S.44
Wenn ein Unternehmen eine Investition tätigt, z.B. in Form von Maschinen oder Gebäuden, wird der Kaufpreis nicht in einem Jahr als Kostenfaktor verbucht, sondern über die Nutzungsdauer des Wirtschaftsguts verteilt. Die Abschreibung erfolgt dabei in der Regel linear, d.h. der Wertverlust wird gleichmäßig auf die Jahre der Nutzung verteilt. 94% aller Investitionen im verarbeitenden Sektor waren nur solche formale Verrechnungen anstatt real getätigter Investitionen, die statistisch im Mittel 20 Jahre zurück liegen. Das deutet auch an, wie alt das konstante Kapital in Russland eigentlich ist und dass es sich nicht auf dem aktuellen Stand der Technik befindet. Nur in der chemischen Industrie wurde der deutlich mehr real investiert als in den Büchern steht.
Das Geld, was nicht investiert wird, können die Kapitalisten natürlich nicht einfach verfressen. Es wird schon angelegt, aber nicht in Russland. Das wirft die Frage auf, ob es sich hier um einen Kapitalexport im imperialistischen Sinne oder Kapitalflucht handelt19. Beides lässt sich nur schwer trennen, da im modernen Kapitalismus mit Warenexport immer auch Kapitalexport verbunden ist, nämlich dann, wenn dem Importeur ein Kredit gewährt wird, was de facto immer der Fall ist (vgl. Götz 2011, S.84). Drei Theorien zur näheren Definition der Kapitalflucht haben sich daher herausgebildet: Erstens: das Kapital flieht, wenn es abnormal schnell aus einem Land abgezogen wird, da sich das Investitionsrisiko erhöht hat. Zweitens: Das Kapital nutzt illegale Wege aus einem Land. Drittens: Der Kapitalexport steht im Widerspruch zu einem normativen Anspruch des ideellen Gesamtkapitalisten.
Ein Blick auf die Entwicklung der russischen Zahlungsbilanz weist zwei solcher Anomalien auf: erstens die längere Phase nach dem Amtsantritt Putins und zweitens ein steiler Anstieg in Folge des Ukrainekriegs.
Zur genaueren Analyse schauen wir uns zunächst die Ziele russischer Investitionen im Ausland an. Nach den Daten der Bank of Russia (2021) führt Zypern die russischen Auslandsinvestitionen mit zwei Dritteln des Gesamtvolumens an. 47 Milliarden Dollar wanderten 2021 auf die kleine Insel, die nicht gerade für ihre hochproduktiven monopolkapitalistischen Unternehmen oder surplusausbeutbare Bodenschätze bekannt ist. Es folgen die Bermudas, Luxemburg und die Schweiz. Jedes dieser Länder erfuhr alleine mehr Kapitalimport als die gesamte GUS zusammen. 2009 lagen die Britischen Jungfraueninseln noch auf Platz 7 vor den USA (vgl. Dzarasov 2011, S.). Doch diese Statistiken sind nur ein Anhaltspunkt. Selbst die erfahrenen amerikanischen, britischen und EU-Inspekteure wissen nicht, wo ein Großteil der russischen Assets eigentlich liegt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieses Kapital ausgerechnet im Kontext der internationalen Verflechtung des Kapitals bei anderen monopolkapitalistischen Unternehmen liegt, also ein transnationales Kapital bildet. Ohne öffentliche Teilhaberschaft kann kein Stimmrecht geltend gemacht werden und wo wäre das Kapital sicherer vor Sanktionen als integriert in strategischen westlichen Unternehmen. Wenn das Geld jedoch weder in Russland produktiv, noch im Ausland produktiv verwendet wurde, dann wurde Kapital auch nicht im Leninschen Sinne exportiert, sondern vor dem Zugriff des Staates (und anderer Staaten) versteckt. Hinzu kommt, dass 2005 überhaupt das erste Jahr des modernen russischen Kapitalismus ist, in welchem netto mehr Kapital importiert wurde als exportiert. Es kann kaum im Sinne eines sinnvollen Leninschen Begriffs des Kapitalexports sein (vgl. Pappe 2009, S.100), den Kapitalabfluss in den 90er Jahren als einen solchen zu begreifen.
Die Kapitalakkumulation hat weder unter hohen noch unter niedrigen Ölpreisen stattgefunden. Aber vielleicht ist gar nicht der Wille des Kapitals das Problem, sondern der Zugang zu Krediten. Hier lässt sich feststellen, dass sich in der russischen Bourgeoisie hinsichtlich des Zugriffs auf Bankkapital eine Zweiklassengesellschaft aufgetan. „Die gesamte russische Wirtschaft ist in zwei ungleiche Teile geteilt: den ersten (kleineren) Teil, der Geld hat, aber nicht investieren kann, weil bereits investiert wurde und die Kapazitäten nicht ausgelastet sind, und den zweiten (großen) Teil, der investieren könnte, aber nicht kann aus finanziellen Gründen tun.“ (ebd. S.45). Drei Viertel aller Unternehmen hätten keinen Zugang zu einer Bankenfinanzierung. Investitionen werden zusätzlich dadurch blockiert, dass Aktien künstlich niedrig bewertet werden, indem vorher Insiderrenten über die Holding Gesellschaften abgezogen werden. Das behindert einerseits die Kapitalaquisation über Aktienverkäufe und zweitens werden Kredite auf Grund der geringeren Sicherheit teurer. Zusammenfassend muss man feststellen, dass in Russland keine erweiterte Reproduktion des Kapitals stattfindet, der Drang nach Kapitalexport daher keinen Motor besitzt und von einem monopolkapitalistischen Charakter der Bourgeoisie unter diesem Gesichtspunkt nicht gesprochen werden kann.
Produktivität
Um es gleich voranzustellen. In der bürgerlichen Forschung und Publizistik besteht kein Zweifel an der geringen Produktivität der russischen Ökonomie.20 Es ist auch nur logisch in Anbetracht des bereits beschriebenen erheblichen Investitionsdefizits in den letzten 30 Jahren. Dennoch lohnt ein Blick in die einzelnen Produktivitätsindikatoren. Ein erster prinzipieller Maßstab wäre die durchschnittliche Arbeitsproduktivität, die sich mit Hilfe des Bruttosozialproduktes durch die Anzahl der erwerbstätigen Personen ergibt. Hier liegt Russland bei einem Fünftel der USA und einem Drittel Deutschlands (vgl. Russland.Capital 2023). Die Zahl ist schon mal eine Marke, wenn auch mit Unzulänglichkeiten behaftet. Die Bedeutung von Importen in den USA kommt hier genauso wenig zum Ausdruck, wie die Tatsache, dass die extraktiven Industrien einen großen Teil des BIP erwirtschaften, aber nur einen geringen Teil der Arbeiter*innen beschäftigen. Das Medianunternehmen wird also einige Größenordnungen unter dem Durchschnittswert liegen. Außerdem hat die geringere Kaufkraft des Rubels natürlich einen Einfluss. Bereinigt ist der Unterschied zwischen Russland und den westlichen Staaten jedoch immer noch erheblich:
Quelle: Abdulov, Komolov & Dmitrijeva, S.89, Übersetzung der Ländernamen hinzugefüht, Kaufkraftbereinigtes Bruttosozialprodukt/ Arbeitsstunde im Jahr 2017
Betrachtet man das erwirtschaftete BIP pro Arbeitsstunde liegt Russland mit knapp 25 Dollar auf Platz 39 aller 42 OECD-Länder (ebd.).
Ein weiterer Aspekt der Entwicklung der modernen Produktivkraft ist die Robotisierung.
vgl. Atkinson 2018
Hier lag Russland mit 4 Robotern pro 100.000 Arbeiter*innen mit Indien gemeinsam auf dem letzten Platz von 27 untersuchten Ländern, abgeschlagen hinter Mexiko, Brasilien oder Thailand.
Infobox: Zum marxistischen Begriff der Produktivität
Der Begriff der Produktivität taucht zwar im Kapital häufig auf, wird jedoch nie richtig definiert. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass er einmal sowohl in der Sphäre der unmittelbaren Produktion gebraucht wird und im dritten Band auf der Ebene der Reproduktion des Gesamtkapitals. In der Produktion wird sie häufig als Maß der Produktivkraft bezeichnet. Die Produktivkraft wiederum gibt an, in welcher Arbeitszeit ein Gebrauchswert geschaffen werden kann. Nun geht es den Besitzern der Produktionsmittel jedoch nicht um eine Maximierung des Gebrauchswertes, sondern um eine Maximierung des Profits. Und dazu taugt die Erhöhung der Produktivkraft nur unter bestimmten Bedingungen. Wird in einem ganzen Produktionszweig die Produktivkraft erhöht, zum Beispiel mit gleicher Maschinerie zwölf statt sechs paar Schuhe pro Arbeiter*in produziert, dann halbiert sich auch der Wert der Schuhe, da der Wert nur die durchschnittlich notwendige menschliche Arbeitszeit ausdrückt. Sinkt diese um die Hälfte pro Paar Schuhe, halbiert sich auch der Wert der Ware. Nur, wenn es dem Einzelkapitalisten gelingt, eine Ware in weniger Zeit als die Konkurrenz zu produzieren, kann er durch den Verkauf der Ware zum bisherigen Preis einen Extramehrwert erhalten. Ökonometrisch stellt sich hier das Problem, dass Datenbanken selten Angaben über Gütermengen, Qualitäten und Herstellungszeiten erhalten. Da die Produktivität in der Regel durch eine Erneuerung der Maschinerie erzielt wird, müsste die darin vergegenständlichte Arbeit mit berücksichtigt werden. Für Planwirtschaft ist diese Problem relevant und lösbar, aber nicht für Marktwirtschaften. Zudem wird die Produktivität im ersten Kapitalband auch in Zusammenhang mit der Arbeitsintensität genannt, wobei diese die Dichte der konkreten Arbeit pro Gebrauchswert angibt und von der Produktivität als Gebrauchswert pro Zeit unterschieden ist. Auf der Ebene der Reproduktion des Gesamtkapitals spielt die Produktivität im Zusammenspiel der beiden Größen zur Berechnung der Profitrate – Mehrwertrate und organische Zusammensetzung eine Rolle: Die Profitrate steigt, wenn die Ausbeutung zunimmt und sie sinkt, wenn die tote, vergegenständlichte Arbeit im Vergleich zur lebendigen, wertbildenden Arbeit zunimmt. Da jeder Kapitalist jedoch bestrebt ist, die neueste Technologie zu nutzen, in der in der Regel sehr viel Arbeit vergegenständlicht ist, um sich durch Unterbietung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit einen Extramehrwert respektive Extraprofit zur sichern (vgl. MEW 25, S.60), nimmt tendenziell das konstante Kapital zu und die durchschnittliche Profitrate fällt in der Tendenz. Die Bedeutung der organischen Zusammensetzung als Maß der Produktivität hat Marx selbst hervorgehoben: „In der Tat drückt die Wertzusammensetzung des in einem Industriezweig angelegten Kapitals, also ein bestimmtes Verhältnis des variablen zum konstanten Kapital, jedesmal einen bestimmten Grad der Produktivität der Arbeit aus. Sobald also dies Verhältnis anders als durch bloße Wertänderung der stofflichen Bestandteile des konstanten Kapitals, oder durch Änderung des Arbeitslohns, eine Veränderung erfährt, muß auch die Produktivität der Arbeit eine Änderung erlitten haben, und wir werden daher oft genug finden, daß die mit den Faktoren c, v und m vorgehenden Veränderungen ebenfalls Änderungen in der Produktivität der Arbeit einschließen.“ (MEW 25, S.61) Die organische Zusammensetzung hat als Maß auch den Vorteil, dass sie das Transformationsproblem umgeht, da variables und konstantes Kapital beide vor der Realisierung der Warenwerts verausgabt werden.
Das letztendlich relevante Maß ist jedoch die Profitrate. Diese ist sozusagen die Produktivität des Kapitals. Kein Kapitalist unterlässt und tut etwas, wenn es nicht der Steigerung des Profits dient. Doch die Profitrate als Maß der Produktivität ist tückisch. Erstens berücksichtigen die bürgerlichen Statistiken nur die Preise und nicht die Arbeitswerte, wodurch es Verzerrungen bei großen intersektoralen Unterschieden kommen kann. Werte müssen erst realisiert werden und das Transformationsproblem wird relevant. Noch wichtiger ist das Problem, dass die Monopolrenten im Verkaufspreis verschwinden und somit von den Monopolprofiten im Preis nicht mehr zu trennen sind. Kausal wirken beide zwar anders, produktive Profite – monopolistische wie nichtmonopolistische – definieren die Durchschnittsprofitrate, während Monopolrenten diese sich nur an diesen orientieren oder durch politische Schutzmechanismen von der Marktpreisbildung entkoppelt sind. Und während die Monopolprofite jedoch durch einen tatsächlichen Produktivitätsvorsprung im Summe einer stärkeren Produktivkraft begründet werden, resultieren Monopolrenten aus der Verteilung der Bodenqualitäten und dem politischen Zugriff darauf. Die Profitrate alleine gibt also hier noch wenig Auskunft und muss durch zusätzliche Indikatoren der Produktivität interpretiert werden.
Die bürgerliche Ökonomie definiert die Produktivität ähnlich wie die Profitratengleichung von Marx als Output pro Input. Die Maßeinheiten können jedoch variieren. Rechnet man Produktivität als Summe aller Preise für Arbeit und Produktionsmittel und teilt diese durch die Summe als Verkaufspreise, erhält man das gleiche Ergebnis wie Marxens Profitrate unter der Bedingung das Preise und Werte übereinstimmen. Werden Stückzahlen, Arbeitsstunden, Kapazitäten oder ähnliches verrechnet, dann führt die wiederum auf Marxens Produktivkraftdefinition zurück. Im Folgenden sollen sowohl die marxistischen, als auch bürgerliche Produktivitätsindikatoren untersucht werden. Die marxistische Betrachtung der Produktivität über die Profitratenrechnung erweist sich als äußerst komplex, insbesondere in einem Land wie Russland. Innerhalb der Monopolrententheorie müsste Russland – abgesehen von den Sanktionen – über den IWF soweit in den Weltmarkt integriert sein, dass die globale Durchschnittsprofitrate auch maßgeblich für das russische Kapital ist. Nun haben wir es mit zwei Befunden zu tun. Die organische Zusammensetzung scheint in Russland eher unterdurchschnittlich zu sein. Eine Studie von Rumjanzew (2020) stellte organische Zusammensetzungen in Höhe von 400% bis 500% für den produktiven Sektor fest. Dieser Wert hinkt der durchschnittlichen organischen Zusammensetzung in den kapitalistischen Zentren um um 100% bis 200% hinterher (vgl. Carchedi & Roberts et al. 2021). Die Mehrwertrate liegt nach Berechnungen der World Labour Value Database mit durchschnittlich 120% wiederum weit über den Werten aus Westeuropa und den USA. Nach Berechnungen der Arbeiterpartei Russlands (ohne Jahr) liegt die Mehrwertrate in vielen extraktiven Unternehmen bei astronomischen 500-700%. Das Kapital selbst müsste also unheimlich produktiv sein. Die Profitrate müsste also weit über der globalen Durchschnittsprofitrate liegen und das internationale Kapital selbst bei hohen Risiken anziehen. Russland hätte schon lange den chinesischen Weg gehen können und mit Hilfe ausländischer Direktinvestitionen die Produktivkräfte steigern können. Doch warum ist das nicht so? Weil die Mehrwertraten noch nicht die Monopolrenten berücksichtigen. Die hohen Mehrwerte resultieren eben nicht aus einer hohen industriellen Produktivität, was die geringe organische Zusammensetzung andeutet, sondern weil die Schätze des Bodens nur die hohen Kosten des Auslands zur Ersetzung der russischen Rohstoffe widerspiegeln. Das Mittel der Bereicherung der Bourgeoisie ist die Marktbeschränkung, nicht die Marktöffnung, wie sie das Monopolkapital anstrebt. Man muss berücksichtigen, dass die stark aggregierten Daten nur bedingt aussagekräftig sind. Je nachdem, welche theoretischen Annahmen oder Datensätze zu Grunde gelegt werden, unterscheiden sich die berechneten organischen Zusammensetzungen und Mehrwertraten erheblich. Und selbst wenn sie tendenziell übereinstimmen, dann sind sie noch kein vollständiger Beleg für die angeführte Interpretation. Man muss also in den bürgerlichen Analyse der Produktivität Russland nach Indizien suchen, um die Theorie der Monopolrenten zu stützen oder zu verwerfen.
Ein weiteres wichtiges Maß für die Produktivität ist die Anzahl an Zweitjobs, die das russische Proletariat annehmen muss, um die Kosten für die Reproduktion ihrer Arbeit zu decken. Würde man diesen Aspekt vernachlässigen, dann würde die organische Zusammensetzung c/v wenig aussagekräftig sein, da v als der volle Wert der Ware Arbeitskraft definiert ist. Die bürgerliche Statistik würde immer so tun, als ob der volle Wert der Ware Arbeitskraft gekauft würde, obwohl dies nicht der Fall sein muss, z.B. wenn ein anderer Teil des Lohns an einer zweiten Arbeitsstelle verdient wird (vgl. MEW 25, S.67). Nach einer aktuellen Umfrage der VZIOM (2023) vom 7. Februar gaben 24% aller Russen an, neben ihrer Haupterwerbsquelle einer Nebentätigkeit nachzugehen, wobei der Wert für Männer sogar bei 31% liegt. 36% dieser Nebentätigkeiten werden auf dem Schwarzmarkt durchgeführt. Zusätzlich bauen 22% aller Russ*innen Lebensmittel im eigenen Garten an (30% der Frauen gegen 15% der Männer). In Deutschland gehen im Vergleich nur 9,6% einer Nebentätigkeit nach und nur 4,9% aller Vollbeschäftigten. Diese Werte verdeutlichen, dass in einem großen Teil der russischen Ökonomie die Ware Arbeitskraft nicht zu ihrem vollen Wert bezahlt wird und die Kosten für die Mittel der Reproduktion anderweitig gedeckt werden müssen. Da das variable Kapital somit nicht voll bezahlt wird, erscheint die organische Zusammensetzung als Maß der Produktivität statistisch höher als sie real ist. Da der Großteil der zusätzlichen Arbeit irregulär durchgeführt wird, taucht er auch nicht anderweitig in den ökonomischen Statistiken auf. Zudem ist anzunehmen, dass die Möglichkeiten der Steigerung der Arbeitsintensität unter diesen Bedingungen sehr begrenzt sind.
Die geringe Produktivität im Vergleich zu anderen Ländern lässt sich auch über Wertströme innerhalb des Theorierahmens des ungleichen Tauschs empirisch aufzeigen. Die für die Herausbildung des Monopolkapitals wichtigen Extraprofite resultieren aus der Differenz zwischen Wert und Preis im Marxschen Preisbildungsmechanismus. Die Schule des ungleichen Tausches hat dieses Modell auf den Weltmarkt angewandt und argumentiert, dass zwischen imperialistischen und peripheren Ländern ähnliche Wertströme vorhanden wären, wie zwischen nichtmonopolistischem und Monopolkapital. Andrea Ricci (2021) untersuchte diese Wertströme, indem er den Wert der Ware Arbeitskraft über Kaufkraftparitäten bestimmte.
Eigene Darstellung auf Grundlage der Daten Riccis
Riccis Studie zufolge gehört Russland zu den Exporteuren solcher Extraprofite auf Grund der niedrigen organischen Zusammensetzung der Ökonomie. Die 30%, die Russland 2019 an erarbeitetem Wert in die kapitalistischen Zentren transferiert hat, fehlen zur Akkumulation des Kapitals. Wenngleich natürlich anderweitig Kapital da wäre und es erstrangig am mangelnden Willen der Bourgeoisie liegt, dieses auch produktiv zu investieren, zeigt Riccis Studie, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen Russland und den USA/ Europa auf der Ebene des Welthandels gibt.
Es ist dabei nicht so, dass die russische Regierung nicht tätig würde, um die Produktivität zu steigern. Es gibt zahlreiche ambitionierte nationale Projekte, wie das Forschungszentrum in Skolkovo, mit denen der industrielle Rückstand aufgeholt werden soll. Der russische Staat stellt billige Kredite und Infrastruktur bereit. Er steht jedoch vor einem gewaltigen Dilemma. Für ausländisches Kapital ist Russland auf Grund der vergleichsweise hohen Lohnkosten zu unattraktiv, um Kapital in einem außen- und innenpolitisch relativ unsicheren Investitionsumfeld anzuziehen. Man müsste dort beginnen, wo China vor 30 Jahren begann, jedoch ohne, dass die Regierung so gefestigt wäre wie die KPCh. Das ist der Grund, warum die einfache liberale Erzählung, man brauche nur Rechtssicherheit für Investoren, weniger Staat und offene Märkte, nicht fruchtet. In China waren die selben „Missstände“ auch kein Problem, solange die Lohnkosten gering genug waren. Eine Deregulierung der Ökonomie wiederum begrenzt die Möglichkeiten einer konzentrierten Entwicklung und verschafft womöglichen Kompradoren wieder die Macht der Yeltsin-Zeit. Und wie dargestellt, ist das russische Kapital chronisch investitionsträge. Es ist bezeichnend, „dass nur 8 Prozent der russischen Unternehmen an Innovationen beteiligt waren, verglichen mit 41 Prozent in China, 51 Prozent in der Türkei und 64 Prozent in Indien.“ (Russland.Capital 2023). Obwohl die Bevölkerung gut ausgebildet ist und der russische Staat für das einheimische Kapital ein fast mustergültiges Investitionsklima für das einheimische Kapital schafft, gibt es für das russische Kapital offensichtlich keine Motivation, ihre Produktivität zu steigern. Der Öl-Analyst Stephen O’Sullivan begründete die Zurückhaltung langfristiger Investitionen, mit dem Unglauben der neuen Besitzer, ihre Unternehmen lange zu halten. (vgl. Wall Street Journal 2001). Jeder der Oligarchen hatte gegen das Gesetz verstoßen und die Angst vor einer entsprechenden Überprüfung der Oligarchen bestimmte die Investitionstätigkeit.
Auch die Kapitalverflechtung mit ausländischen Monopolisten konnte die Produktivität nicht steigern, da sie größtenteils in der Konsumgüterindustrie stattfand (Tabakindustrie, Lebensmittel wie Nestle und Kraft, Brauereien und Zellstoffe; vgl. Pappe 2019, S.118f.). Hier geht es nicht um die Produktionsmittel- oder High-Tech-Industrie, sondern um recht einfache qualitätssichernde Verfahren und Markeneinfluss. Es trägt daher wenig Wunder, dass die Tabakindustrie bis heute ihre Kontakte nach Russland nicht gekappt hat und die sanktionsbedingt abgewanderten Lebensmittelketten und Markenprodukte leicht durch russische Ersatzprodukte substituiert werden konnte. Zwar haben ausländische Konzerne auch in anderen Sektoren Aktienanteile russischer Firmen erhalten, etwa BP bei TNK oder e.on bei OGK-4, aber hier handelte es sich zumeist um stumme Teilhabe ohne Einfluss auf die Produktion. Russische Investitionen im Ausland wiederum rankten sich um symbolische Ressourcen, um die Rohstoffgeschäfte mit ausländischen Regierungen über bestehende Geschäftskontakte zu erleichtern.
Daher kommt dem Staat als Motor der Produktivitätsentwicklung eine entscheidende Rolle zu. Das wiederum bringt eine Reihe anderer Probleme mit sich. Die Investitionsmöglichkeiten des Staates sind letztendlich doch begrenzt. Es geht nicht um Milliarden, sondern um Billionen, die wahrscheinlich über die Jahre für eine globale Wettbewerbsfähigkeit benötigt würden. Um die nationalen Programme umzusetzen, ist man allerdings auf die Expertise der führenden Wirtschaftskreise angewiesen. Und genau die haben ja offensichtlich kein Interesse an Investitionen. Staatliche Gelder werden durch diese dann zwar abgegriffen, ohne aber tatsächlich eine Perspektive für globale Wettbewerbsfähigkeit anzustreben (vgl. Epstein 2019, S.114). Dieser Widerspruch zwischen der Unfähigkeit zur inneren und Unwilligkeit zur äußeren Entwicklung der Produktivkräfte kennzeichnet die Bourgeoisie unter der zweiten Amtsperiode Putins. Dieser Widerspruch wird sich auflösen müssen. Die Richtung ist jedoch noch unbestimmt.
Produktivität und Investitionen sind die beiden wichtigsten Indikatoren zur Klärung des nichtmopolistischen Charakters der dominanten russischen Bourgeoisie. Sie sprechen eine so eindeutige Sprache, das weitere Indikatoren wie die Einbindung in die globalen Wertschöpfungsketten später als Ergänzung hinzugefügt werden können, ohne dass sie am Resultat etwas änderten.21
5. Fallbeispiele
Allgemeine und historische Voraussetzungen, Tendenzen, Triebkräfte, Prozesse und Abhängigkeiten, wie bisher dargestellt, sind natürlich vordergründig wichtig. Das Salz in der Suppe ist jedoch der Nachvollzug der Genese all dieser Aspekte in den Biographien der russischen Großbourgeoisie. Die folgenden Fallbeispiele dienen daher der Plausibilisierung des bisher dargestellten. Auch wenn die Zahl der russischen Bourgeoisie abzählbar ist und eine Gesamtdarstellung aller relevanten Figuren durchaus leistbar wäre, überstiege eine solche den Umfang und die Leseerwartung des hier vorliegenden Textes. Jedoch wurden hier zwei Skizzen herausgesucht, die als prototypisch für die einzelnen Unternehmertypen angesehen werden können und deren Wesen als pars per toto nach dem Lesen der systematischen Darstellung ins Auge springen sollte.
5.1. Vladimir Potanin
Vladimir Potanin, Eigentümer von Norilsk Nickel, ist heute der reichste Russe der Welt. Obwohl er als putinnah gilt und demnach den Krieg in der Ukraine unterstützte, wurde er von Sanktionsmaßnahmen bis Dezember 2022 ausgenommen. Erst ab 2024 hatte das Norilsk mit geschäftlichen Problemen zu kämpfen. Potanin gehört hier zu der Fraktion der Oligarchen, die aus der Parteinomenklatura der KPdSU entstammt (vgl. Hoffman 2011, S.298ff.). In der Sowjetunion arbeitete er wie schon sein Vater im Außenhandelsministerium und genoss Privilegien, wie ein gehobenes Wohnviertel mit reichem Warenangebot im Wohnviertel und Auslandsreisen. In Schule und Studium wurde er mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem früh vertraut gemacht, um auf seine Laufbahn vorbereitet zu werden. Während seiner Tätigkeit als Handelsmann für Phosphatdünger verschlug es ihn unter anderem auf die Halbinsel Kola, auf der das Norilsk-Bergbaukombinat angesiedelt war, dass 98% des sowjetischen Platins und 90% des Nickels förderte. Dieses Unternehmen sollte das Fundament des Aufstiegs Potanins als Oligarch werden. Im März 1990 gründete er mit dem Kapital von 20 Kleinanlegern das private Handelsunternehmen INTERROS. Zu etwa gleicher Zeit geriet die staatliche Handelsbank der Sowjetunion INTERNATIONALE BANK FÜR WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT in finanzielle Schwierigkeiten, da der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, zu deren Unterstützung die IBWZ eigentlich gegründet worden war, wegbrach und sich Vertragspartner nicht mehr an ihre Zahlungsverpflichtungen gebunden fühlten. In einem Brief, dessen genaue Herkunft bis heute ungeklärt ist, wurde Kund*innen geraten, ihr Geld lieber bei Potanins neu gegründeter UNEXIM-Bank anzulegen. Potanins neue Bank wurde in unerwarteter Geschwindigkeit von den Behörden genehmigt und gemeinsam mit Mikhail Prokhorov, der ein ehemaliges Führungsmitglied der IBWZ war, baute er eine der führenden Finanzinstitutionen der frühen russischen Föderation auf. Ihnen gelang es, 40 führende Exporteure – unter anderem von Erdöl und chemischen Produkten – als Kunden zu gewinnen. UNEXIM wurde professionell geführt und verband angemessene Korruptionstechniken mit moderner Logistik, wie dem Einsatz von Computern. Anders als andere Banken, die sich von Beginn an einfach nur bereicherten, berücksichtige UNEXIM die staatlichen Interessen Russlands und gewann so das Vertrauen der Kreise um Yeltsin.
Als der russische Staat Ende 1994 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, Löhne und Renten nicht mehr gezahlt werden konnten und Boris Yeltsins Zustimmungswerte im niedrigen einstelligen Prozentbereich lagen, interessierte sich dieser für einen Plan Potanins: das Loan-for-Shares-Programm. Der Plan entstammte eigentlich den beiden amerikanischen Investoren Boris Jordan und Steven Jennings, die in der ersten Hälfte der 90er Jahren zur Vermittlung für den Ausverkauf des fixen Kapitals von Betrieb zu Betrieb zogen. Diese schlugen vor, dem Staat Geld gegen die staatlichen Unternehmensanteile als Sicherheit zu verleihen und bei Nichtbegleichung diese einzubehalten. Die beiden witterten fette Beute, aber hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Potanin übernahm die Idee, kolportierte sie in den angesehenen Finanzkreisen Moskaus und präsentierte sie Ende März 1995 Yeltsin. Ein russisches Bankenkonsortium bot der Regierung 1,8 Milliarden Dollar an, fast genau die Summe, die auch die Regierung sich durch Privatisierungen erhoffte, um das Programm umzusetzen. Unterstützt wurde Potanin von Khodorkovsky und Smolensky. Unter den 40 zu privatisierenden Firmen waren daher auch NORILSK und YUKOS. Allerdings sollten ausländische Investoren anders als im ursprünglichen Plan ausgeschlossen werden. Geleitet wurden die Auktionen unter anderem von Potanins UNEXIM-Bank. Yeltsin wurde die Idee damit schmackhaft gemacht, dass er den Kredit bereits vor der Wahl bekam, die Versteigerungen aber erst nach der Wahl stattfinden sollten. So sicherte sich Yeltsin die Unterstützung des Finanzkapitals gegen seinen Kontrahenten Zyuganov von der KPRF, der sich gegen den Ausverkauf des Staates wandte.
Für nur 170 Millionen Dollar und damit nur 100.000 Dollar über dem Startpreis der Auktion sicherte er sich 38% des Nickelproduzenten NORILSK. Ein Angebot von Rossiisky Kredit über 355 Millionen US-Dollar wurde auf Grund technischer Einwände von Potanins Bank nicht zugelassen. Dieser Konzern sollte Potanins wichtigstes Standbein werden. Für 130 Millionen Dollar kaufte sich Potanin auch 51% des fünftgrößten russischen Ölkonzerns SIDANCO (wenn die Rede davon ist, dass Potanin es gekauft habe, dann bedeutet das genauer, dass seine Holding-Company INTERROS dies gekauft hat), wovon er 10% unmittelbar nach Ablauf des staatlichen Rückkaufrechts (und nach dem Erwerb weiterer 34% für 20 Millionen Dollar) für 484 Millionen US-Dollar an BP verkaufte. Ein solches Geschäft hat kein Kapital akkumuliert, sondern sich ungleicher Zugänge zum Unternehmen genutzt, um es unter dem tatsächlichen Wert des fixen Kapitals zu kaufen und dieses dann zu seinem regulären Marktpreis wieder zu verkaufen. Dies ist damit keinesfalls ein typisch monopolkapitalistischer Vorgang, sondern ein kompradorischer. SIDANCO ist auch ein hervorragendes Beispiel dafür, warum eine monopolkapitalistische Expansion im Russland der 90er Jahre scheiterte. Der Konzern versuchte unter der Führung von INTERROSS tatsächlich zu expanideren und kaufte zahlreiche petrochemische Betriebe, Pipelines und Raffinerien auf. Dazu verschuldete sich das Unternehmen massiv, wollte aber das hohe Zinsvolumen aus den hohen Grundrenten des Ölverkaufs bezahlen. Gleichzeitig hielt Potanin sich nicht an die Abmachung mit dem russischen Staat, 220 Millionen Dollar in in die Erneuerung des fixen Kapitals zu investieren (vgl. The Wall Street Journal 2001). Als der Ölpreis Ende der 90er Jahre drastisch einbrach, war SIDANCO nicht mehr in der Lage, seine Schulden zu begleichen und ging in Insolvenz. Während die großen ausländischen Investoren staatlich geschützt wurden, sanierte sich das Unternehmen auf Kosten der kleineren Gläubiger und des Verkaufs der Ölfelder, bevor SIDANCO 2001 komplett für 1,1 Milliarden Dollar an das russisch-britische Joint-Venture TNK-BP des Multimilliardärs Viktor Wekselberg verkauft wurde. Innerhalb von sechs Jahren konnte Potanin also alleine mit dem SIDANCO-Deal seine ursprünglich investierten 150 Millionen Dollar fast verzehnfachen. Potanin hat mit SIDANCO nichts weiter getan, als sich durch die Monopolstellung seiner UNEXIM-Bank die Anteile billig vom Staat zu kaufen und so teuer wie möglich zu verkaufen.
Völlig anders gelagert ist der Fall des eigentlichen Kerninvestments NORILSK. Das Unternehmen ist heute der größte Buntmetallproduzent Russlands und eines der zehn größten Privatunternehmen Russlands. Bereits wenige Jahre nach der Einführung der Marktwirtschaft machte das Unternehmen Profite und expandierte zum Beispiel durch die Übernahme des Goldproduzenten POLYUS. Nach dem Machtantritt Putins war NORILSK zusammen mit LUKOIL eines der ersten Ziele der Steuerfahndung und der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Privatisierung. Potanin drohte als erster die Inhaftierung. Die genauen Hintergründe, warum Potanin dieser entging, sind unklar, aber womöglich konnte er mit Putin einen Deal aushandeln, welcher den Konzern als wesentliches Element einer nationalen Industriestrategie betrachtete. NORILSK war verantwortlich für mehrere Umweltkatastrophen und tödliche Industrieunfälle. Putin drängte Potanin daher zu massiven Investitionen, was den Konzern mittlerweile zu einem besten Industriearbeitgeber und zu einem WWF-ausgezeichneten Unternehmen macht. Anders als andere Oligarchen finanzierte Potanin mit seinen Geldern wohltätige Stiftungen und leistete einen erheblichen Beitrag zur Winterolympiade in Sochi.
Möchte man Potanins Biografie zusammenfassen, zeigt sich, dass Potanin zeitlich und kontextabhängig mal als Komprador, mal als Monopolist auftritt. Während die Vorgänge, die zur Übernahme von NORILSK und SIDANCO führten, eindeutig kompradorischen Charakter tragen, verkörpert Potanin nach 2000 einen Prototypen des nationalen Monopolisten bis hin zur Imagepflege über wohltätige Institutionen.
5.2. Mikhail Khodorkovsky
Mikhail Khodorkovsky kann als das Gegenstück zur Biographie Potanins angesehen werden. Anders als Potanin ordnete sich Khodorkovsky nicht der nationalen Strategie unter und wurde als Oligarch von Putin abgesägt.
Khodorkovskys Karriere begann im Komsomol, den er an seiner Universität leitete. In dieser Funktion knüpfte er Kontakte mit mächtigen Reformern der KPdSU, die ihn in den ersten kapitalistischen Jahren Russlands protegieren sollten. Der Komsomol war auch eine der ersten Einrichtungen, die ausgiebigen Gebrauch von den Reformen Gorbachevs machten und den einzelnen Basisgruppen das Wirtschaften auf eigene Rechnung gestatteten. Es entstanden kommerzielle Diskotheken, Bars, Klubs, Cafes, Reisebüros und Verlagshäuser. Durch die Arbeitseinsätze hatte der Komsomol Kontakte in die Fabriken und übernahm die Spielzeugindustrie. Der Komsomol war auch die erste Organisation, die Aktien austeilte und Dividenden zahlte.
Aus diesem Kreis stammte Khodorkovsky und die ersten Projekte, in denen er die „Selbstfinanzierung“ wissenschaftlicher Projekte, die ersten marktwirtschaftlichen Keimzellen in der untergehenden Sowjetunion, managte. Hierbei lernte er, wie man über solche Geschäfte nicht-konvertible Rubel in die wesentlich wertvolleren konvertiblen Rubel „waschen“ konnte, um somit hohe Profite zu erzielen. Andere Komsomolzen machten es Khodorkovsky gleich, wodurch viele spätere Kapitalisten diesen Kreisen entstammten. Manche der Jungkommunisten bedienten sich hierfür an den Dollarvermögen der Partei, als diese zusammenbrach und später verboten wurde. In dieser Zeit war die Art, mit der Khodorkovsky seine Gewinne erzielte, mit keinerlei wertbildender Arbeit verbunden, sondern nur mit der unterschiedlichen Bewertung der beiden Währungen der Sowjetunion. Auf diese Weise verdienten junge Wissenschaftler für die gleiche Arbeit ein Vielfaches ihres regulären Gehalts, was zur Basis für seine späteren Kontakte wurde. Und er sammelte einen riesigen Bestand an nicht-konvertiblen Rubeln, die er auf dem Schwarzmarkt streute. Er nutzte verschiedenste Marktimbalancen für Produkte, die im Ausland billig zu erwerben und in der späten Sowjetunion teuer zu verkaufen waren, darunter auch viele Fälschungen. Mit seinem bisher ertauschtem Geld gründete er eine Bank, die nach mehreren Umbenennungen die MENATEP-Bank werden sollte. Das Geschäftsmodell war zunächst, sich billiges Geld vom Staat zu leihen, dieses gegen höhere Zinsen an (in der Regel staatliche) Firmen weiterzuverleihen. Mit diesem Geld und den staatlichen Genehmigungen wiederum wurde sie attraktiv für ausländische Investoren. Nach der ersten Privatisierungswelle des Staatseigentums über das Voucher-System wurde MENATEP zu einem der wichtigsten Käufer für die Unternehmensanteile. Anteile von über hundert Firmen aus allen Sektoren wanderten so in Khodorkovskys Besitz. Erst im Nachhinein ließ er sich von Beratern erklären, wie man unter solchen Bedingungen überhaupt Industrieunternehmen leiten könne. Khodorkovsky war der Ansicht, dass dies in Russland nicht funktionieren könne und fokussierte sich auf Öl. Kodorkovsky gewann Einfluss auf die Kreise um Yeltsin und seine MENATEP-Bank wurde hinter der UNEXIM-Bank Potanins zweitgrößter Auktionsbetreiber des Loans-for-Shares-Programms. Khodorkovsky hatte es wie viele andere auf den Ölkonzern YUKOS abgesehen und seine Bank hinderte die Konkurrenten daran, zu bieten. Khodorkovsky erwarb zunächst 45% für 159 Millionen Dollar und später 33% für Investitionszusicherungen in Höhe von 150 Millionen Dollar. Das Geld dabei kam von YUKOS selbst, zu dessen Präsidenten Murawlenko der neue Oligarch gute Kontakte besaß.
YUKOS war ein ganz klassisches kompradorisches Unternehmen, an dem nicht nur Khodorkovsky reich wurde. Die Produktionsfirmen des Konsortiums verkauften die Produktion zu niedrigen russischen Preisen an Vertriebsfirmen, die diese zu hohen Preisen auf dem Weltmarkt absetzten. Die Gewinne wanderten direkt auf ausländische Konten. Die ausländischen Banken und Unternehmen, die an diesem Geflecht beteiligt waren, halfen MENATEP mit günstigen Krediten und Insiderverkäufen durch die russische Finanzkrise 1998. Da ein Großteil dieser Aktivitäten ungesetzlich war, musste sich Khodorkovsky zudem auf einen Netzwerk an korrupten Beamten und Politikern stützen.
Nach dem Machtantritt Putins verweigerte sich Khodorkovsky der neuen Industriestrategie Putins. Er torpedierte 2002 eine abgestimmte Ölpreispolitik mit der OPEC durch eine Erhöhung der Produktion. Er sprach sich gegen westliche Investitionsbeschränkungen und für den Irak-Krieg aus. Und er fädelte einen Deal ein, mit dem 40% von YUKOS an EXXON übergegangen wären. Dies hätte den größten Devisenbringer Russlands unter direkte Kontrolle eines amerikanischen Unternehmens geführt. Den Deal, den Putin den Oligarchen vorgeschlagen hatte, Absehung von Strafverfolgung für politische Loyalität, wurde von Khodorkovsky ausgeschlagen und die russische Staatsanwaltschaft ermittelte gegen zahlreiche Firmen Khodorkovskys. Der Prozess an sich war fair. Die Vorwürfe waren berechtigt. Politisch brisant war lediglich die Nichtverfolgung anderer Oligarchen. YUKOS wurde mit Steuernachforderungen in den Ruin getrieben und als Treppenwitz der ganzen Geschichte von einer Strohfirma einer Strohfirma von Gazprom geschluckt. Khodorkovsky wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Die Verbindung zu zahlreichen Morden im direkten geschäftlichen Umfeld des Oligarchen wurden ihm dabei nicht nachgewiesen und zur Last gelegt. Erst 2015 ermittelte die russische Staatsanwaltschaft wegen eines Mordes an einem Bürgermeister gegen seinen Sohn. Im Dezember 2013 wurde er überraschend vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen und lebt von ca. 1,7 Milliarden Dollar, die er im Ausland gesichert hatte. Khodorkovsky geht in Fragen des Ukraine-Kriegs über die Forderungen der ukrainischen Regierungen zur Beendigung des Krieges hinaus und fordert neben einem Regime Change, und einer Sanktionierung der kompletten russischen Ökonomie auch hohe Reparationen von russischer Seite.
Khodorkovsky ist der Prototyp des russischen Kompradoren, der sich selbst als Teil einer transnationalen Bourgeoisie ohne Bindung an staatliche Industriepolitik sieht. Er kann bereits auf Grund dieser mangelnden Verschmelzung mit der Staatsmacht in Fragen der Industriepolitik nicht als Monopolkapitalist angesehen werden. Der gesamte Reichtum Khdorkovskys entstammt – abgesehen von der minimalen im Ölförderprozess vergegenständlichten Arbeit – nicht äquivalentem Tausch. Er hat sich real vollkommen unter das ausländische Kapital subsummiert, worauf der versuchte Verkauf von Exxon hinweist.
5.3. Die Oligarchen und der Krieg
Wenn die russische Invasion in der Ukraine als ein imperialistischer Krieg anzusehen wäre, dann müsste man annehmen, dass auch die dominanten Teile der Bourgeoisie hinter diesem Krieg stehen. Um einen Eindruck von der Stimmung des oligarchischen Teils der Bourgeoisie zu bekommen, kann man die Äußerungen der Kapitalisten betrachten, welche in der Notation der Moskauer Minchenko Consulting als Mitglieder des „Zentralkomitees 2.0“ geführt werden (vgl. Minchenko 2019, S.17). Unter dieser polemischen Bezeichnung werden Oligarchen verstanden, die eng mit Putin vernetzt sind und auf die das Consulting-Büro Putins Macht gestützt sieht. Insgesamt führt sie 17 Unternehmer aus dem extraktiven, produktiven und IT-Sektor auf. Man mag über die Gewichtung streiten, aber offensichtlich werden sie vom liberalen Bürgertum als besonders putintreu wahrgenommen.
Stahlmilliardär Vladimir Lisin, dessen Holding-Gesellschaft in Zypern sitzt, nannte die Invasion eine „unmöglich zu rechtfertigende große Tragödie“ (Business Insider 2023). Lisin war gerade erst dabei, neben der Primärgüterproduktion weitere Verarbeitungsschritte wie den Rohrhersteller John Maneely Company in sein Portfolio zu integrieren, war aber noch vom Ausland abhängig. Der als besonders putinnah geltende Oligarch (Gründer der USM-Holdung) Alisher Usmanov sagte, der Krieg werde niemandem nützen, er sei aber kein Politiker (KUN 2023). Oleg Deripaska rief über Telegram regelmäßig zum Frieden auf (Moscow Times 2022). Alexey Mordashov sagte: „Es ist schrecklich, dass Ukrainer und Russen sterben, Menschen Not leiden und die Wirtschaft zusammenbricht.“ (ebd.) Mikhail Fridman positionierte sich aus dem Ausland in einem Brief an seine Mitarbeiter gegen den Krieg und scheute sich in der Folge vor einer Rückkehr nach Russland. Der Eigentümer des größten russischen privaten Gasunternehmens Novatek Leonid Mikhelson forderte, „alle diplomatischen Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens zu unterstützen“ (ebd.). Aus Russland floh auch der größte LUKOIL-Aktionär Alekperov, um per Brief eine schnelle diplomatische Lösung zu fordern (Lenta 2022). Bereits 2014 sagte er, dass eine stabile Ukraine wichtiger sei als die Krim. Roman Abramovich wird gar eine aktive Rolle im Gefangeneaustausch zugeschrieben, da er das Vertrauen beider Seiten genieße (Strana 2022). Iskandar Makhmudov und Andrey Bokarev gelang es, ihre Geschäftskontakte nach Lettland aufrechtzuerhalten, was kaum mit einer kriegsstützenden Haltung zu vereinbaren wäre (Meduza 2022). Yandex-Gründer Arkady Vorozh war einer der Hauptleidtragenden von der Emigration russischer Programmierer. Über die Sanierungspläne auf Grund des Fachkräftemangels und der Sanktionen geriet er in Konflikt mit dem Kreml, der die größte russische Suchmaschine mit angeschlossenem sozialen Netzwerk in russischen Händen behalten wollte (The Bell 2022). Ebenfalls problematisch ist der Fall Vladimir Yevtushenkovs. Der russische Staatsbürger war eng mit der ukrainischen Führung unter Yanukovich vernetzt und wurde für seine anhaltenden Kontakte mit der Maidan-Regierung in Moskau sogar unter Hausarrest gestellt. Die EU setzte ihn lange nicht auf die Sanktionsliste, obwohl er eine Firma zum Bau russischer Militärdrohnen besaß. Nur die Ukraine beschlagnahmte sein Vermögen im Land, von dem er behauptete, keines mehr zu besitzen. Eine Befürwortung des Krieges ist von ihm nicht bekannt.
Vladimir Bogdanov (Surgutneftegas) und Suleiman Karimov (vielfältiger Investor und Senator in Dagestan) äußerten sich überhaupt nicht. Selbst der ideologisch als Musterpatriot und von Putin persönlich ausgezeichnet Stahlmagnat Viktor Rashnikov konnte sich nicht zu einer öffentlichen Stellungnahme zur Unterstützung der Militärintervention hinreißen lassen. Maximal Vladimir Potanins mantraartige Wiederholung, dass getan werden muss, was getan werden müsse, kann mit gutem Willen als Unterstützung gewertet werden (RBK 2023a). Potanin profitierte von einem Kauf von 35% der Tinkov-Gruppe, kurz nachdem dessen Besitzer Oleg Tinkov sehr scharf gegen den Krieg geäußert hatte und dennoch auf der EU-Sanktionsliste verblieb. Der gebürtige Ukrainer Viktor Vekselberg wies immerhin Beschuldigungen zurück, dass Russland im Krieg eskaliere und stellte den Krieg in den Kontext der hitlerfaschistischen Diktatur, unter der seine Vorfahren gelitten hätten. (News.ru 2022).
Von 17 besonders systemtragenden Oligarchen haben sich also sieben dezidiert gegen die Militäroperation ausgesprochen; bei drei weiteren verrät die politische Rolle die Ablehnung. Fünf äußerten sich gar nicht in den Medien zum Konflikt und nur zwei Oligarchen gaben öffentlich zu Protokoll, dass sie nicht gegen Putins Vorgehen sind. Wenn der Imperialismus zu einer gewissen Interessenkonvergenz zwischen Staat und Großkapital führen sollte, ist diese in Russland nicht zu finden. Nun mag man die Angst vor Sanktionen als Beweggrund der Oligarchen anführen. Aber erstens würde dies nichts anderes bedeuten, dass der bedeutendste Teil der russischen Bourgeoisie politisch und ökonomisch – und damit auch ideologisch – unter das ausländische Kapital subordiniert wäre. Und zweitens hat das Sanktionsregime Kriegskritik nicht durch Verschonung belohnt. 16 der 17 genannten Oligarchen wurden unabhängig von ihrer öffentlichen Haltung sanktioniert, solange sie an Assets, die mit dem Krieg in Verbindung standen, profitierten. Die Motivation für verlogene Kritik sollte also eher gering sein.
Welche Kapitalisten haben sich denn in der Umkehrprobe wirklich für den Krieg ausgesprochen bzw. Putins Narrative gestützt. Am blumigsten hat wohl der Leiter von Rosatom die Invasion begrüßt. Er stellte die Spezialoperation in eine Reihe mit den polnischen Invasionen des 17. Jahrhunderts, dem Napoleonischen Feldzug und dem Großen Vaterländischen Krieg (Strana Rosatom 2022). Rosatom ist hierbei ein Konzern, der tatsächlich fast die vollständige Wertschöpfungskette kontrolliert und Kapital ins Ausland exportiert, in dem beispielsweise in Ägypten, Bangladesch oder Indien mit Hilfe billiger Arbeitskraft moderne Anlagen gebaut werden.22 Dass dieser Konzern immer vollständig in Staatshand geblieben ist, zeigt erneut, dass die Bürokratie und nicht das private Kapital Treiber der Monopolisierung sind. Ansonsten kommen die Befürworter der Spezialoperation aus den Reihen des Teils der Staatsbürokratie, die – obgleich manche Anteilspakete besitzen – nicht als Kapitalisten fungieren.
6. Die Entwicklung der russischen Bourgeoisie seit 2022
Man wird bei einer Analyse der russischen Bourgeoisie auf der Höhe der Zeit nicht um die Frage herumkommen, welchen Einfluss die Spezialoperation und der anschließende Krieg in der Ukraine auf die Formierung der russischen Bourgeoisie bisher gespielt hat. Dieses Kapitel unterscheidet sich dabei ganz grundlegend von den vorangegangenen. Der Grund hierfür ist, dass alles bisher dargestellte geronnene Vergangenheit ist. Die Fakten stehen im Wesentlichen fest und die Entwicklung der russischen Ökonomie bis vor drei-vier Jahren ist weitestgehend evident. Es mögen Unterschiede in der Bewertung oder in der Einbettung in verschiedene Modelle vorliegen, aber über die heuristische Substanz herrscht weitestgehend Einigkeit. Das ist bei der Betrachtung der aktuellen Entwicklungen der russischen Bourgeoisie anders. Hier können wir die Entwicklung nur in Tendenzen und Gegentendenzen nachzeichnen, da es sich um unabgeschlossene Prozesse handelt. Um das klarzustellen. Es geht hier nicht nur um den Mangel und die Unsicherheit an Fakten oder Deutungen, auch wenn es hier bereits ausreichend Hürden gäbe. Die Wissenschaftskommunikation mit dem Westen ist weitestgehend abgeschnitten, sodass die Rosstat-Daten nicht extern evaluiert werden können. Marxistische Theoretiker sitzen in Russland in Haft oder sind von Haft bedroht, wenn sie kritisch zu den mit dem Krieg verbundenen ökonomischen Fragen Stellung nehmen. Westliche Darstellungen wiederum sind stark vom Vorurteil geprägt, die russische Ökonomie als weniger resilient zu schätzen, als sie sich bisher immer gezeigt hat. Und durch die notwendigen Schwarzmarktgeschäfte, sowie der Geheimhaltung der konkreten Ausgestaltung des russisch-chinesischen Technologietransfers und der militärischen Entwicklung fehlen entscheidende Einflussgrößen zur Bewertung der industriellen Entwicklung Russlands.
All das wäre schon genug, um den tendenziellen Charakter der folgenden Darstellungen zu begründen. Aber die russische Ökonomie wird dialektisch durch die Entwicklungen in den USA, China, Europa und Indien ganz maßgeblich bestimmt. Dominante Tendenzen können im Sande verlaufen, wenn die EU plötzlich wieder Gas importieren sollte oder die USA einen Technologietransfer nach Russland zulassen sollten. Eine Tatsache kommt uns bei der Betrachtung jedoch zur Hilfe. Die Prozesse haben noch keine revolutionäre Geschwindigkeit angenommen. Die meisten prägenden Entwicklungen haben bereits zwischen 2014 und 2017 begonnen und allenfalls an Geschwindigkeit zugelegt. Zum Beispiel war digitale Souveränität spätestens seit März 2017 ein Thema, um die digitale Bewegungsfreiheit der Opposition von Regierungswegen her einzuschränken (vgl. Ustyuzhantseva & Popova 2025). Russland hatte hier weniger Probleme mit dem Aufbau einer resilienten Struktur als mit der Abwanderung von IT-Spezialisten.
In der bürgerlichen Erzählung über den jüngsten russischen Kapitalismus gibt es drei wesentliche Stränge. Der erste ist der Einfluss der Sanktionen und die Debatte um den Erfolg oder Misserfolg eines russischen Militärkeynesianismus. Der zweite ist die globale Umorientierung Russlands vom Westen hin zu China, die unter anderem in der Belieferung mit kritischen Gütern deutlich wird:
Der dritte ist das Dilemma zwischen der rigorosen Zinspolitik und der Inflation, das sich in der Person der Zentralbankchefin Elwira Nabiullina personalisiert, die auf der einen Seite als erfolgreiche Managerin der russischen Ökonomie und Mutter der Resilienz gilt, deren straffe Zinspolitik jedoch zunehmend als Entwicklungshemmnis angesehen wird (Nievelstein 2025). Alle diese Motive werden intensiv diskutiert, wobei die Meinungen stark divergieren. Es ist hingegen übergreifender Konsens, dass sich die russische Ökonomie gegenüber den Sanktionen als robuster herausgestellt hat als noch 2022 erwartet, wobei die Nachhaltigkeit dieser Robustheit sehr unterschiedlich bewertet wird.
Wenn man man vom Konzept einer nationalen Bourgeoisie sprechen möchte, dann ist der Krieg mit geringen Zweifeln bisher ein Katalysator des Wandels der alten auf private Schatzbildung fokussierten Oligarchenfraktion zu einer nationalen geworden. Eine Trennung zwischen privaten Oligarchen, die von Putin nach seinem Machtantritt eingehegt wurden und Staatsoligarchen, die unter Putin die Kommandogewalt über die größten staatlichen Unternehmen übertragen bekamen, existiert so heute nicht mehr (Petrov 2024). Durch die Sanktionen ist insbesondere jener Teil der Bourgeoisie unter Druck geraten, der zuvor als Komprador tätig war und die Geschäftskontakte nach Russland kanalisiert hat. Durch das Einfrieren der Vermögen und dem Wegfall der Gasexporte in den Westen wurden diese nicht nur auf Druck aus Moskau, sondern aus Eigennutz an die Regierung geschmiedet (Yakovlev 2025). Die vom Westen mit den individuellen Sanktionen adressierten alten Oligarchen, die man gegen Putin wegen der Nichtverfügbarkeit von Ferrari und Gucci in Stellung bringen wollte, haben das Land mittlerweile verlassen. Assests der gegangenen ausländischen Kapitalisten wurden an Staats- oder Privatoligarchen aus dem näheren informellen Zirkel um Putin vergeben. Das Yandex-Imperium etwa wurde 2024 vom nach Israel ausgewanderten Arkady Volozh an ein Konsortium verkauft, das unter anderem LUKOIL besitzt und dem Potanin angehört. Der Aufbau einer mit den Staatsinteressen verschmolzenen Monopolbourgeoisie wurde durch den Krieg nochmals beschleunigt. Hier unterscheiden sich Fälle wie Kuchuksulfat oder FESCO (Mingazov 2022), wo auf Grund der nachträglichen Feststellung des unrechtmäßigen Erwerbs des Konzerns die Anteile nationalisiert wurden und Fälle, wie Roskhim als Holdinggigant in der chemischen Industrie, bei dem die putinnahen Brüder Rotenberg als Erstbieter bei Auktionen große Unternehmen konzentrieren konnten, die von ausländischen oder geflohenen Kapitalisten enteignet wurden (Business Vektor 2024). Letztes Jahr erklärte Putin vor dem Industriellen Verband, dass Verstaatlichungen nach individueller Prüfung erfolgen sollten, was so verstanden wird, dass niemand etwas zu befürchten hat, der Steuern zahlt und sich der nationalen Entwicklungsstrategie unterordnet. (Republic.ru 2024). Damit wird letztendlich der Großbesitz nicht mehr juristisch gesichert, sondern politisch.23 Vielleicht ist hier noch interessant, dass die Konglomerate, zu denen die meisten Großkapitale zusammengefasst sind, großenteils quasi-staatliche Aufgaben übernommen haben, wie den Aufbau von Forschungszentren (Zvezda), die Ausfüllung einer Nationalkultur (Gazprom), ökologische Dienstleistungen (Rosatom) oder gar Lobbyismus im Ausland (Rosneft). Damit setzt sich die oligarchische Kultur Potanins durch, die nicht mehr der individuellen Bereicherung allein dient, sondern der Verschmelzung ökonomischer und politischer Macht. Der Begriff der Siluviki als oligarchische Fraktion wird angesichts dieser Entwicklung zunehmend gegenstandslos, da sich diese fast ausschließlich auf Staatsposten zurückgezogen haben, während das Großkapital auf Grund ökonomischer, politischer und persönlicher Durchmischung langsam den Charakter eines entstehenden Monopolkapitals gewinnt. Die wesentliche Vermittlungsinstanz zwischen den Interessen des Großkapitals und der nationalen Strategie ist eine technokratische Elite geworden, deren Besetzung sich nach Maßgaben der Effizienz und nicht mehr nach persönlichen Beziehungen bestimmt. Die offene Frage ist, ob wir hier eher eine Umschichtung innerhalb der oligarchischen Fraktion der Bourgeoisie sehen oder tatsächlich eine nachhaltige Entwicklung hin zu einer Monopolbourgeoisie.
Wenn es tatsächlich bereits eine wesentliche Veränderung des Kräfteverhältnisses der Bourgeoisie gibt, dann ist diese unterhalb der Oligarchen im mittleren Kapital zu suchen. Durch die Sanktionen, die zwischen 2014 und 2024 in zunehmendem Umfang und zunehmender Konsequenz verhängt wurden, wurde Russland vom westlichen Hightech-Sektor abgeschnitten, was insbesondere den Leichtbau und die Softwareentwicklung und -betreuung schwer getroffen hat. Dass sich Russland angesichts dieser harten Einschnitte als resilient erwiesen hat, kann entweder durch eine verstärkte nachgeholte importsubstituierende Industrialisierung erklärt werden oder durch neue Abhängigkeiten von China, vom Schwarzmarkt und dem Verschleiß der industriellen Grundsubstanz. Einige Indizien legen Tendenzen nahe.
So ist insbesondere die urbane Kleinkapitalistenklasse, die schmale Arbeiteraristokratie und die Intelligentsia – bisher die der Kern der Opposition – in den letzten beiden Jahren erstaunlich ruhig gegenüber der russischen Kriegspolitik geworden. Dies lässt sich nicht allein durch die Repression erklären, da diese auch 2022 schon massiv ausgeprägt war. Vielmehr deutet sich an, dass ausgerechnet sie auf der Seite der Gewinner der Kriegsökonomie stehen (vgl. Zvonovsky 2025), da es genau diese Teile der Gesellschaft sind, die westliche Handelsketten ersetzen, mit ihrer Expertise die vom Staat hofierten Start-Ups gründen und am stärksten an der Nachfrage nach Programmierern und hochgebildeten Industriearbeiter*innen verdienen.
Das kleine und mittlere Kapital profitiert dabei von den Krediten des Industriellen Entwicklungsfonds, der Kredite auf Grundlage von Experteneinschätzungen und der Kompatibilität mit nationalen Entwicklungszielen vergibt, anstatt personalisierter Patronagebeziehungen. Sektoriell gesehen sind die Metallverarbeitung und die Elektronik/Elektrik die großen Gewinner der Spezialoperation, während die Produktion von Haushaltsgeräten und der Automobil(teile)sektor zusammengebrochen sind (Simola 2023). Auffallend hoch sind die öffentlichen Investitionen im Bereich geistiges Eigentum, da insbesondere Software und Patente, die auf Grund der Sanktionen nicht mehr verfügbar waren, durch eigene Entwicklung ersetzt werden mussten (Simola 2024).
Quelle: Simola (2024). S.5.
Die so geförderten Kleinkapitalisten schneiden durchschnittlich auch wesentlich besser ab als andere Start Ups (vgl. Yakovlev, Freinkman, Ershova & Ahalian 2025). Das deutet auf eine Modernisierung der Förderungsstrukturen hin, während sich die Nachfrage nach dem Industriellen Entwicklungsfonds seit 2022 verdoppelt hat. Für die Dominanz technokratischer, statt personeller Lösungen spricht, dass der russische Staat verstärkt dazu übergegangen ist, nur das Risiko für Kredite zu übernehmen, während die eigentliche Finanzierung durch private Banken erfolgt (RBK 2025c). Viele Neugründungen, insbesondere bei Überschreiten einer gewissen Größe, stehen aber auch in finanzieller Kooperation mit den extraktiven oligarchischen Unternehmen, was erstmals zu Interessenkonvergenzen innerhalb breiterer Schichten der russischen Bourgeoisie führt. Dies kann durchaus als Tendenz verstanden werden, dass Russland in einen bürgerlich-liberalen Staat hinüberwächst, wie er in den USA und Westeuropa vorherrscht.
Gestützt wird diese These dadurch, dass die Forderung nach Abschaffung der Sanktionen mittlerweile selbst zu einem Interessenkonflikt innerhalb der russischen Bourgeoisie geworden ist. Es sind neben den extraktiven oligarchischen Unternehmen ausgerechnet die etablierten modernen Konzerne, die weltmarktfähig konkurrieren könnten, die unter den Sanktionen leiden. So schreibt Norilsk Nickel, einst Primus der russischen Ökonomie und einer der wenigen konkurrenzfähigen Unternehmen, seit dem Krieg rote Zahlen (Sorokina 2025). Chef Vladimir Potanin erbittet staatliche Hilfen, droht mit Abwanderung nach China und versuchte das Bild des russischen Unternehmers als Drehbuchautor eines Spielfilmes „Minute of Silence“ zu verbessern (Men Today 2025). Allerdings sehen nicht alle die allseitige Rückkehr Russlands auf den Weltmarkt unkritisch. Sanktionen wirken schließlich erst einmal nicht anders als unfreiwilliger Protektionismus (Libman 2025). Putin jedenfalls möchte den Marktzugang für ausländische Unternehmen selbst im Falle einer Aufhebung der Sanktionen nicht verschenken und kündigte strenge Regeln an. Der Verband der russischen Elektronikentwickler, die einen sich neu konstituierenden Mittelstand vertreten, schickte sogar ein Memorandum an den Regierungsvorsitzenden Mischustin, um das durch Sanktionen günstige Klima auch nach einer Lockerung zu erhalten (Pravo 2025) und die Abwerbung von Facharbeiter*innen für auf den russischen Markt zurückkehrende Unternehmen zu unterbinden. Angenommen, dass unter dem Druck der Sanktionen, die Importsubstitution tatsächlich kostspielig, nonlinear, aber doch erfolgreicher als alle Versuche seit Beginn der Putin-Ära ist, könnte eine frühzeitige Lockerung der Sanktionen sich allein als Rettungsanker für das alte Extraktionsregime als Basis der Herrschaft des Einigen Russlands erweisen. Doch vielleicht zwingt die Not. Kritische Stimmen verweisen darauf, dass in den letzten Jahren die importsubstituierende Substitution im Wesentlichen mit dem Staatsschatz finanziert wurde, der allmählich aufgebraucht sei. Aus dem laufenden Haushalt ließe sich in Zukunft nur Rüstung oder zivile Entwicklung finanzieren, nicht beides, wie bisher (Yakovlev 2025). Und dass die fehlenden Importe noch lange nicht voll substituiert werden können, deutet die Tatsache an, dass trotz einer strengen Geldpolitik (Ende Februar betrug der Leitzins 21%) die Inflation kaum eingedämmt wird. Den gestiegenen Löhnen steht nicht eine gleichsam gewachsene Menge an Waren und Dienstleistungen gegenüber. Die hohen Zinsen wirken sich wiederum negativ auf die Produktionskosten aus und dämpfen Investitionen in die sich entwickelnden neuen Industrien. Es ist hier eine offene Frage, ob die Tendenz zur Entwicklung einer loyalen breiteren Kapitalistenklasse oder das Absterben des kurzfristig entstandenen Unterbaus der Oligarchie dominierend ist (RBK 2025a).
Zu einer besseren Einordnung müssen wir uns aber auch den dialektisch mit der Bourgeoisie im Verhältnis stehenden Klassenantagonisten anschauen: das Proletariat. Hier könnte sich auf Grund des Arbeitskräftemangels der Trend hin zu einer besser organisierten Arbeiterschaft durchsetzen. Die Drohung, im Falle des Arbeitskampfes entlassen zu werden, ist nicht mehr so wirksam wie zu Zeiten hoher Arbeitslosigkeit. Insbesondere mit der Jugend wächst das erste Mal in der postsowjetischen Geschichte eine gesellschaftliche Gruppe heran, die von Armee, Rüstungsproduktion, aber auch den vielen Start Ups heiß umworben ist. Anders als die älteren Generationen haben sie keine lebendige Erinnerung an die Staatskrise der 90er mehr, was auf der einen Seite zu einer gewissen Anspruchshaltung führt, die sich liberal-sozialdemokratisch artikulieren lässt, bei denen die Überwindung der Krise unter Putin der Staatspartei aber auch keinen Kredit mehr bringt.
Auch die Einflüsse der Migration auf die Klassenformation des Proletariats sind äußerst eigentümlich. Migrant*innen sind vergleichsweise gut in den russischen Arbeitsmarkt integriert sind und weisen teils höhere Beschäftigungsquoten und Löhne auf als russische Arbeiter*innen (vgl. Privalko 2025). Der Großteil der migrierten Arbeiter*innen kommt dabei aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und hat demnach nur geringe Integrationsprobleme. Dazu bietet Russland attraktive Stellen in Sektoren an, wo Russland diese nicht selbst füllen kann und wo es in den GUS-Staaten kaum Angebote gibt. Damit entfallen Reibungspunkte. Mehr oder weniger verschmilzt die Arbeiter*innenklasse der ehemaligen Sowjetunion wieder etwas miteinander. Hinzu kommen migrantische Arbeiter*innen, etwa aus Indien, die unmittelbare Klassenkampfformen in den Alltag der Arbeiter*innen zurückbringen, während viele russische Arbeiter*innen sich bisher von den Gewerkschaften eher haben verwalten lassen haben. Eine offene Frage ist hier die nach der Binnenmigration in Russland. Zvonovsky (2025) etwa zeigte, dass es entgegen der westlichen Darstellungen keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Verschuldung und Kriegsdienst gibt. Vielmehr sei in Regionen, aus denen viele Soldat*innen kommen, signifikant viele neue Konten eröffnet worden. Das deutet an, dass prekäre Lumpenproletarier aus dem informellen Sektor durch das Geld der Armee die Voraussetzungen geschaffen haben, in den formellen Arbeitsmarkt einzutreten, aber auch Bildung und Ausbildung nachzuholen.
Zwei weitere Trends verdienen näherer Beachtung. Zum einen motiviert die Nachfrage nach Arbeiter*innen zunehmend auch Frauen zum Eintritt in die Fabriken. Das bedeutet aber auch, dass sie der nationale Konservatismus, die ideologische Grundlage des seit 25 Jahren regierenden Einigen Russlands, kein Zukunftsmodell mehr ist. Wenn die Frauen in den Schichtbetrieb gehen, braucht es Seniorenheime und Kindergärten. Woher das Geld für die Umstrukturierung kommen soll, ist fraglich. Der zweite Trend zeigt auf, dass das Wachstum an Industriearbeitsplätzen auf die Nachfrage nach Arbeitskraft im Handel drückt. Trotz finanzieller Anreize zur Selbstständigkeit, die 2017 geschaffen wurden, um Alternativen zur Arbeitslosigkeit zu bieten – ein Instrument, das mittlerweile kontraproduktiv geworden ist – sank die Zahl der formellen Kleinbürger in den letzten beiden Jahren, da die Durchschnittslöhne weit über den durchschnittlichen Erträgen aus der Selbstständigkeit liegen (RBK 2025b). Sollte die Tendenz auch hier länger anhalten, stehen die Zeichen ganz auf moderner Industriegesellschaft, in der Millionen von Klein- und Zwischenhändlern, deren prekarisierte Lebensweise immer wieder die populäre Basis autokratischer Regime wie im Iran bildet, absterben. Insgesamt zeichnet sich zwar keine revolutionäre Entwicklung ab, aber zumindest könnte sich hier eine starke Sozialdemokratie neu etablieren, die neben dem liberalen Bürgertum die zweite Säule eines institutionalisierten Parlamentarismus bildet.
Die Formation des Proletariats als Klasse für sich wird aber keinesfalls einfach sein. Ein den Klassenkampf prägender Aspekt ist, dass Russland einen enorm geringen Grad an Automatisierung besitzt. Sollte sich die Robotertechnik durch Lockerung der Sanktionen, Importe aus China und eigenen Forschungsergebnissen mittelfristig verbessern, kann zunehmende Automatisierung den Arbeitsmarkt auch wieder entlasten, sprich Lohndruck auf die Arbeiter*innenklasse ausüben (vgl. Foster 2024). Zur Wahrheit gehört weiterhin: selbst wenn die These von der Herausbildung einer nationalen Bourgeoisie stimmt; sie entsteht im Wesentlichen auf dem Rücken des Proletariats. Die Importbeschränkungen und der Rückgang der Produktion von Haushaltsgeräten, sowie einheimischen zivilen Kraftfahrzeugen, hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen Konsumkredite aufnehmen. Die Quote verschuldeter Russ*innen hat im letzten Jahr um 45% zugenommen, die Summe der Schulden nur um 20%, was darauf schließen lässt, dass es eher die kleinen Ausgaben sind, die trotz enorm hoher Zinsen nicht mehr aus den Ersparnissen oder von den laufenden Löhnen bezahlt werden können (vgl. Dialectic 2025). Hinzu kommt, dass die Renten nicht annähernd Schritt mit der Preisentwicklung halten, sodass immer mehr Familien aus der eigenen Tasche ihre Großeltern unterstützen müssen.
Unter der in Zeiten beschleunigter globaler Umbrüche natürlich gewagten Prämisse, dass die beobachtenden Tendenzen stabil sind, können also folgende Entwicklungen der russischen Klassengesellschaft seit der Invasion in der Ukraine beobachtet werden. Die Oligarchenfraktion entwickelt sich immer stärker zu einer mit den Staatsinteressen verschmolzenen nationalen Bourgeoisie, die auch staatliche Aufgaben wahrnimmt. Es entwickelt sich langsam ein industrieller Mittelstand, der technokratisch verwaltet wird anstatt auf Patronagebeziehungen angewiesen zu sein. Die Schicht des unproduktiven Kleinbürgertums schmilzt durch den Arbeitskräftemangel in der Industrie zusehends. Die Gestalt des Proletariats in Russland wird zwar heterogener, die ökonomischen Interessen aber immer homogener, wodurch die materielle Basis für eine Renaissance eines wenigstens ökonomischen Klassenbewusstseins gelegt ist.
7. Diskussion in der Internationalen Kommunistischen Bewegung
Der kompradorische Charakter der russischen Bourgeoisie und ihre Verlaufsform seit dem Machtantritt Putins ist in der internationalen kommunistischen Bewegung kontrovers diskutiert worden. Im Programm der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation heißt es etwa:
„Das eine Extrem bildete die sogenannte Klasse der strategischen Eigentümer, deren Basis zunächst Bank-, Spekulations- und Rohstoffexportkapital bildete. Wirtschaftlich ist es eng mit dem Westen verbunden und weist einen ausgeprägten Kompradorencharakter auf. Obwohl das nationale Kapital auf die Entwicklung der heimischen Wirtschaft ausgerichtet ist, verliert es seinen Klassencharakter nicht.“ (KPRF 2023)
In dieser Analyse erscheinen zwei Aspekte als bedeutsam. Zum einen betont die KPRF, dass es sich um einen kompradorischen Charakter der „strategischen Eigentümer“ handele, diese Klasse also nicht im Begriff der Kompradoren vollständig aufgehe. Zum anderen wird die kontrastierte nationale Bourgeoisie nicht als Bündnispartner, sondern als Bestandteil der feindlichen Klasse angesehen. In einem 2023 in der jungen Welt bzw. im Rotfuchs erschienen Text zum Standpunkt der Partei zum Ukraine-Krieg wird die Kompradoren-Bürokratie von den Oligarchen unterschieden. In einer Erklärung von 2006 wiederum wird die Kompradorenbourgeoisie ganz direkt für den Diebstahl von hunderten Milliarden an Volksvermögen verantwortlich gemacht, dass die Zerstörung der Armee, der Bildung und des Gesundheitswesens zur Folge gehabt habe. (vgl. KPRF 2006). Wesentlich radikaler in ihrem Urteil ist die Russische Kommunistische Arbeiterpartei (2010):
„Heute ist Russland ein bereits gebildetes bürgerliches Land halbkolonialen Typs, in dem die Kompradoren-Bourgeoisie dominiert und zur Aufrechterhaltung der Macht ein Regime nutzt, das den Weg der Faschisierung beschreitet. Ein charakteristisches Merkmal der neugeborenen Eigentümerschicht in Russland ist ihr krimineller Charakter und die deutlich erkennbaren Verbindungen zur alten Partei- und Staatswirtschaftsnomenklatura. Dies wird durch die Hauptmethode der Eigentums- und Kapitalbildung erklärt – die erzwungene Ausplünderung eines einzigen landesweiten Wirtschaftskomplexes unter dem Deckmantel der Privatisierung unter Verwendung von Positionen, Verbindungen, rechtlichen Formalitäten, Tricks und direkten Verstößen gegen bestehende Gesetze.“
Die Kompradorenbourgeoisie wird als die dominierende Fraktion der russischen Bourgeoisie dargestellt. Der kompradorische Charakter wird mit der Verbindung zur Verwaltung, der Bedeutung persönlicher Verbindungen und kriminellen Komponenten bei der Aneignung von Eigentum begründet. Den Übergangscharakter hin zu einer Monopolbourgeoisie bzw. zu einem imperialistischen Staat wird von der RKAP (ebd.) ebenso herausgestellt:
„Heute ist Russland zwar vom Westen abhängig, aber bereits weitgehend etabliert und befindet sich in der Phase der Weiterentwicklung zu einem imperialistischen Staat (zweiten Ranges) mit einem deutlich wachsenden Kapitalexport, obwohl der Import sehr groß ist. Die Bourgeoisie Russlands ist in vielerlei Hinsicht immer noch Komprador, aber das Wachstum des nationalen Kapitals (hauptsächlich Rohstoffe) und die Entstehung eigener (anders als die des Westens) Interessen führen zu einer widersprüchlichen Kombination von Komprador- und nationalen Merkmalen durch die russische Bourgeoisie , die es erlauben, in bestimmten Bereichen mit westlichen Ländern zu konkurrieren und gleichzeitig in partnerschaftlichen Beziehungen mit ihnen verbunden zu sein.“
Insbesondere linke Autoren zur russischen Bourgeoisie referenzieren häufig Ruslan Dzarasov und sein Konzept der Insiderrente. Dieser Begriff versucht das Phänomen zu beschreiben, dass der Zugriff auf die extraktiven Bodenrenten über enge Kontakte zur Bürokratie zustande kam und mit diesen fortbesteht oder fällt. Dass Dzarasovs Insiderrente stark mit der kompradorischen Monopolrente korrespondiert, bzw. nur eine Spezifizierung auf die russischen Verhältnisse darstellt, wurde von Dzarasov selbst expliziert.
„Es wurde gezeigt, dass die Businesselite Russland nur als Quelle ihres Reichtums betrachtet, während sie es vorzieht, im Westen zu leben. Dies korrespondiert mit Andre Gunder Franks Begriff der Lumpenbourgeoisie in Lateinamerika, die unfähig ist Entwicklung ihrer Länder in Gang zu setzen. Der Begriff der Insiderrente reflektiert die Stellung gegenwärtigen Russlands in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems […] Die kompradorische Natur unseres Großkapitals, welches typisch für Länder der kapitalistischen Peripherie ist, manifestiert sich im systematischen Export von Kapital in Form von festverzinsten Anlagen.“ (Dzarasov 2013, S.156)
Eine der lautesten Stimmen, welche das Kompradorentum als Charakteristikum der dominanten russischen Bourgeoisie sowie als analytische Kategorie ablehnt, ist die KKE. Dabei wendet sie weniger inhaltliche Kritik am Begriff an, sondern befürchtet, dass aus der Unterscheidung zwischen nationaler und Kompradorenbourgeoisie ein Bündnis zwischen Kommunist*innen und nationaler Bourgeoisie im Kampf um die nationale Souveränität begründbar sei (KKE 2023).24 Die KKE hat hier etwa die Theorien der noch bewaffneten FARC im Blick, die genau eine solche anti-imperialistische Strategie explizit verfolgten (vgl. Villar 2012). Schaut man sich jedoch die programmatischen Aussagen der KPRF und der RKAP zur Kompradorenbourgeoisie an, so versuchen sie lediglich die Besonderheit der russischen Klassenzusammensetzung mit allgemeineren Begriffen erklären zu wollen und heben den Klassencharakter der nationalen Bourgeoisien Russlands hervor.
8. Zusammenfassung
Die russische Bourgeoisie ist nicht nur besonders in dem Sinne, wie jede nationale Bourgeoisie durch ganz konkrete nationale Entwicklungsbedingungen gekennzeichnet ist. Sie ist einzigartig in ihrer Genese, die auf der unproduktiven Aneignung, Konzentration und Monopolisierung des produktiven Volksvermögens der Sowjetunion beruhte. Anders als andere Kapitalistenklassen der postsozialistischen Staaten wurde sie jedoch nicht durch einen Pol (wie die EU oder Russland) angezogen, der ihre Entwicklung formte, sondern sie stellte selbst diesen Pol dar. Innerhalb dieses besonderen Weges konnte sich erneut eine dominante Kapitalfraktion bilden, die den Charakteristika der Kompradoren sehr weitgehend entspricht, auch wenn Russland weder Kolonie noch Halbkolonie ist.
Die russische Bourgeoisie ist zwar durch Kapitalkonzentrationsprozesse gekennzeichnet und das Banken- ist mit dem Industriekapital stark verschmolzen. Diese Konzentration beruht aber auf der rein rechtlichen Aneignung bereits in staatlicher Hand akkumulierten Vermögens und nicht auf Produktivitätsvorsprüngen, wie sie eine Monopolbourgeoisie kennzeichnet. Diese Aneignungsprozesse beruhten auf der Verschmelzung von Handelskapital und Staatsbürokratie, wie sie für Kompradoren geradezu idealtypisch sind. Diese investierten kaum in Produktivkraftsteigerungen oder akkumulierten Kapital in Unternehmen, sondern wirtschafteten anders als moderne Monopolkapitalisten vorrangig in die Privattasche. Wenn wirklich nach monopolkapitalistischen Unternehmen suchen möchte, dann würde man wahrscheinlich nur bei LUKOIL, Rosatom und Norilsk Nickel fündig.
Wie die Kompradoren Chinas sind die Kompradoren Russlands jedoch nur eine Übergangsklasse. Der prägnanteste Ausdruck dieses Übergangscharakters ist unbestreitbar die Herrschaft Putins. Denn als Übergangsklasse ist die dominante Fraktion der russischen Bourgeoisie nicht in der Lage, ihre Werte ideologisch zu universalisieren und das eigene mit dem nationalen Interesse zu verschmelzen, sondern musste sich in Aushandlungsprozesse mit einer bürokratisch geprägten Staatsmacht begeben (vgl. Buzgalin et al. 2012, S.12). Putin versprach, den zumeist illegal erworbenen Reichtum der Oligarchen zu legalisieren, wenn diese ihn in einer nationalen Entwicklungsstrategie unterstützten. Diese bestand zunächst aus der Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols, der Steuersouveränität des Staates und der Konsolidierung der Sozialsysteme. In einem zweiten Schritt wurde der Staatsanteil in den Unternehmen – nicht zuletzt befördert durch die Finanzkrise 2008 – ausgebaut, jedoch in erster Linie, um durch hohe Dividenden zusätzlich den Staatshaushalt zu subventionieren und nicht Akkumulationsprozesse zu subventionieren. In der Folge ist der produktive Sektor der russischen Ökonomie international kaum wettbewerbsfähig und in der Lage, um Märkte zu kämpfen. Im Gegenteil hat sich eine ungeheure Importabhängigkeit für Produktionsmittel und technischen Konsumgütern ausgebildet, die erst mit den verschärften Sanktionen langsam rückläufig ist. Die nationale Strategie Putins hat sich somit ganz ohne Krieg ebenfalls als Hinderungsgrund für die ökonomische Entwicklung dargestellt.
In der Summe aller Indizien lässt sich daher feststellen, dass der kompradorische Charakter der Bourgeoisie Russlands sehr weitgehend erhalten geblieben ist und im Zuge des Krieges wirklich eine Tendenz zur langsamen Ausbildung einer Monopolbourgeoisie erkennbar werden. Nun wäre es aber, und darauf wollen die Vertreter der monopolkapitalistischen Entwicklung Russlands meist hinaus, ein Fehlschluss, dies in Analogie zum China der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts als Grund für ein nationales Bündnis aus Proletariat und innerer Bourgeoisie anzuführen. Diese Strategie wäre für Kommunist*innen obsolet, da sie bereits durch Einiges Russland bzw. ihren politischen Satelliten Gerechtes Russland vertreten wird. Dass Russland im marxistisch-leninistischen Sinne nicht imperialistisch ist, ist auch noch kein Urteil darüber, ob es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen anti-imperialistischen Verteidigungskrieg im engeren Sinne handelt oder ob der Krieg der Formierung einer angehenden imperialistischen Kapitalistenklasse dient. Dies wäre in den internationalen Beziehungen zwischen den direkten und indirekten Kriegsparteien zu bestimmen.
Nun ist alle Theorie grau und die Praxis ein grüner Garten. Können sich aus der Darstellung Ableitungen auf eine konkrete Politik zum Ukraine-Krieg oder zur Haltung gegenüber Russland anstellen? Eine solche Ableitung, die nur auf der hier vorgetragenen Darstellung fußt, muss zwangsläufig schief sein, da sie nur den Charakter der russischen Bourgeoisie nachgezeichnet hat, während Kleinbürger und das Proletariat nur angerissen wurden. Nur ein vollständiges Bild der Klassenverhältnisse in Russland könnte auch zu programmatischen Aussagen führen, die das Prädikat „wissenschaftlich“ auch verdienen. Die Darstellung hier leistet nicht nichts, aber ist doch nur einen Teil. Es sei aber daran erinnert: Die allererste Aufgabe aller Kommunist*innen, insbesondere in den imperialistischen Zentren, ist es, mit der eigenen Bourgeoisie fertigzuwerden. Die Kriegsbemühungen des deutschen Imperialismus müssen genauso aufgedeckt werden, wie dessen vorbereitetende Interventionen in der Ukraine spätestens seit der Orangenen Revolution. Die Beziehungen mit Verteter*innen des russischen Proletariats sind solidarisch zu führen und die Beweggründe der KPRF zur Unterstützung der Invasion in der Ukraine sollten zumindest bewusst gemacht werden, sowohl was die konkrete Situation im Donbass angeht als auch die Besonderheiten, denen eine kommunistische Partei unter den Bedingungen des Übergangsgesellschaft ausgesetzt ist.
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Anmerkungen
1Dieses Dossier ist im Wesentlichen 2022/23 im Rahmen der Arbeit einer Dissenzgruppe in der Kommunistischen Organisation zum Charakter der russischen Bourgeoisie entstanden, wobei es im Wesentlichen von einem Autor verfasst wurde. Nach einem Peer Review wurde das Dokument 2025 überarbeitet und um die Einschätzung der Entwicklung der russischen Bourgeoisie seit 2022 erweitert, allerdings nicht mehr im Rahmen der Gruppenarbeit.
2Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, Modelle wie Kompradoren oder Monopolbourgeoisie zu entwickeln, anstatt sich die russische Bourgeoisie, „wie sie ist“, anzuschauen. Dem ist aus drei Gründen zu widersprechen. Erstens besagt der historische Materialismus, dass sich grundsetzlich gesellschaftliche Gesetzlichkeiten feststellen lassen. Gesetzlichkeit kann ein gesellschaftliches Phänomen jedoch nur durch Wiederholbarkeit erlangen. Dabei ist es offensichtlich, dass eine jede konkrete Gesellschaft ihre historischen Besonderheiten aufweist, die zu Unterschieden zwischen konkreter Klasse und Modell führen. Das geht den Naturwissenschaften nicht anders. Daher sind Kategorien, Begriffe und Modelle, von denen auf Differenzen und Gemeinsamkeiten mit einer vorliegenden Realität geschlossen werden kann wichtige heuristische Werkzeuge, um Aussagen über Gesellschaften zu erlauben und auch Prognosen zu tätigen. Zweitens bieten Modelle einen Anker, nach was man überhaupt bei der Analyse einer Klasse suchen muss, um wesentliche Aussagen über sie zu treffen. Ein Darstellung aller Eigenschaften einer Klasse würde Wesentliches vom Unwesentlichen nicht trennen können. Und drittens wäre die Behauptung der Nichtanwendbarkeit eines Begriffs oder eines Modells ohne konkrete Untersuchung auch nur ein unbewiesenes Postulat. Der Anspruch dieser Untersuchung ist ein bescheidener. Durch Vergleich des konkreten Gegenstandes des Kapitalismus mit bereits in der Praxis relevanten Begriffen, können qualitative Aussagen über Potentiale der politischen Ökonomie Russlands getroffen werden. Ob der Begriff der Kompradorenbourgeoisie oder der Monopolbourgeoisie auf die russische Bourgeoisie oder Teile davon anwendbar ist und in welchem Ausprägungsgrad, soll erst festgestellt werden. Erst wenn die Analyse zeigt, dass die Begriffe, entweder die Begriffe an sich oder ein Verhältnis der Begriffe, nicht anwendbar sind, entsteht die Notwendigkeit eines neuen Begriffs.
3Während der Begriff der Kompradoren in den „Leitsätzen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“ und den „Ergänzungsthesen über die Nationalitäten- und Kolonialfrage“ von M.N. Roy auf dem II. Weltkongress 1920 noch nicht auftaucht, so wird hier doch bereits zwischen einer vom Ausland abhängigen und einer in nationale Befreiungskämpfen integrierten Bourgeoisie unterschieden. 1924 und 1926 bezeichnet der Begriff in den Resolutionen des EKKI noch eine ganz konkrete merkantile Fraktion der Bourgeoisie. 1928 wurde er dann das erste Mal in den Thesen zur revolutionären Bewegung in den kolonialen und semikolonialen Ländern dazu gebraucht, um eine historische Klassenformation zu beschreiben, allerdings als Teil der nationalen Bourgeoisie. Begrifflich wurde ihr eine „beheimatete Bourgeoisie“ gegenübergestellt (Degras 1971, S.538). In den 30er Jahren wurde die Unterscheidung aus taktischen Gründen verworfen, da man alle Teile der nationalen Bourgeoisien im Rahmen antifaschistischer oder antiinterventionistischer Bündnisse zu gewinnen suchte.
4 Sowohl die FARC in Kolumbien als auch die kubanischen Revolutionäre beschrieben Teile der Bourgeoisie als Kompradoren. In den politischen Einschätzungen über den Charakter Algeriens, der Türkei, der Philippinen, vieler arabischer Länder, Kenyas oder Mozambiques. Die Spaltung der Kommunistischen Partei Indiens und die Bewertung des Naxalitenaufstands verlief größtenteils entlang der Bewertung der indischen Bourgeoisie als Kompradoren (vgl. Basu 2021, S.1997).
5 „Was traditionell unter Kompradorenbourgeoisie verstanden wird, ist auf der einen Seite der Teil der Bourgeoisie, der keine eigene Grundlage für die Kapitalakkumulation besitzt, sodass er auf dem einen oder dem anderen Wege als einfacher Vermittler für das ausländische imperialistische Kapital fungiert (weshalb er auch häufig mit der „bürokratischen Bourgeoisie“ in Verbindung gebracht wird und welcher dreifach – ökonomisch, politisch und ideologisch – dem ausländischem Kapital untergeordnet ist.“ (Poulantzas 1975, S.71)
6„Die Kompradorenbourgeoisie produziert nicht, sondern konsumiert, was sie importiert und unterminiert damit ernsthaft die Kraft der öffentlichen Daseinsfürsorge wie Gesundheit oder Bildung, welche sich Jahr für Jahr verschlechtern. Die mafiös organisierte Oligarchie ist religiös neoliberal und hat keine Ambitionen in der Zukunft des Landes und seiner Bevölkerung. Sie ist räuberisch und parasitär, indem seine Ökonomie auf endemischer Korruption beruht (viele verursachte Korruptionsskandale betreffen wichtige strategische Sektoren der Wirtschaft, einschließlich des wichtigsten: dem Energiesektor). Sie ist vollständig dem internationalen System ökonomischer, politischer und militärischer Beherrschung untergeordnet, und präsentiert sich daher als wahrer Vermittler und nützlicher Türöffner des Imperialismus.“ (Hamouchene 2021, S.103).
7Während Marx den Grundherren noch sehr wesentlich vom Finanzkapitalisten unterschied, hat sich in der moderneren marxistischen Diskussion, insbesondere in der englischsprachigen, eine Gleichbehandlung von Zins und Rente eingebürgert. Dies ist auf der Ebene der Erscheinungen immerhin soweit berechtigt, als dass Marx die Grundrente in der Höhe des Zinsfußes erwartete. Da im Folgenden auf einige Werke der modernen marxistischen Literatur stark Bezug genommen wird, wurde trotz des bekannten Problems die Zins-Renten-Äquivalenz übernommen.
8Ob die Verschmelzung des globalen Kapitals zum transnationalen oder die Konkurrenz der nationalen Kapitalfraktionen untereinander die dominierende Tendenz ist, ist Inhalt der momentan geführten Diskussion in der kommunistischen Weltbewegung. Davon unterscheiden sich Auffassungen, nach welcher der Monopolbourgeoisie eine nichtmonopolistische Bourgeoisie entgegen, die in einer antimonopolistischen Strategie als Bündnispartner betrachtet wird, während die Strömungen, welche die transnationale Verflechtung der Kapitale hervorheben, die Herausbildung einer Weltbourgeoisie als Voraussetzung der Entstehung ihres revolutionären Counterparts, dem revolutionären Weltproletariat betrachten.
9Die organische Zusammensetzung kann durch den Anteil des konstanten Kapitals (Maschinen, Fabrikgebäude, Rohstoffe, etc.) am gesamten vorgeschossenen Kapital bestimmt werden, wobei darauf zu achten ist, dass die technische Zusammensetzung des Kapitals, der technische Entwicklungsstand des konstanten Kapitals, zwischen verglichenen Kapitalen ähnlich ist. Es macht natürlich wenig Sinn aus besonders niedrigen Löhnen oder einem verschwenderischen Umgang mit dem konstanten Kapital auf eine Monopolstellung zu schließen.
10Ebenso beruhte die weitestgehend unproblematische Zusammenlegung der russischen Atomindustrie, welche im heute 13. größten Konzern Russlands Rosatom mündete, auf der Kooperation und der Fachwissen der führenden Kader (vgl. Pappe 2009, S.173). Auch Surgutneftegas-Öl, Rosneft-Öl, sowie der Awtowas-Autokonzern und der Gaz-Autokonzern gehören zu diesen Unternehmen.
11 Vom fixen Kapital abgesehen und das wurde deutlich unter dem Markt bewertet. Während der Privatisierung wurden 29 russische Großkonzerne Schätzungen zu Folge zu 3% bis 5% ihres realen Marktpreises verkauft (vgl. Dzarasov 2011, S.475).
12Von einer unabhängigen Finanzoligarchie im Leninschen Sinne kann also nicht gesprochen werden.
13 Zu der Generation an Oligarchen, welche erst unter Putin in die Top-Führungskreise aufstieg, gehören z.B. Lisin (im Forbes-Rating 2012 belegte er den ersten Platz), Deripaska, Usmanov, Mordashev. R. Abramovich (vgl. Khanin 2013, S.23)).
14 So stieß Norilsk Nickel die Fluggesellschaft „Taymir“ ab.
15Da Russland durch seine Industrie nicht durch scharfe Zolle schützen kann, die gegenseitig mit Zöllen auf den ökonomisch wichtigen Export von Rohstoffen beantwortet würden, musste Putin auf eine innere Entwicklung der Industrie in Konkurrenz mit den westlichen High-Tech-Produkten setzen. Hierzu wurde ein Förderungsinfrastruktur, mit Risikoübernahmen für Start Ups, Banken für den KMU-Sektor, Forschungszentren wie in Skolkovo und Sonderwirtschaftszonen geschaffen. Insbesondere die Senkung der Einkommenssteuer auf progressionsfreie 13% im Jahr 2001, welche durch die Exportgewinne gegenfinanziert wurde und damit die extraktive Oligarchie belastete, sollte strukturell den Wirtschaftsstandort Russland stärken. Seit 2014 ist die nationale Entwicklungsstrategie auf Grund der Sanktionen, welche die Funktion der Schutzzölle übernahm, durch eine Politik der Importsubstitution ersetzt wurden, die aktuell in der Lage ist, auf einem mittleren Produktionsniveau das Land selbst zu versorgen, welches jedoch im High-Tech-Sektor immer noch nicht anschlussfähig an den Weltstandard ist.
16Eine ausführlichere Diskussion des Investitionsbegriffs bei Marx, siehe Anhang 3
17Man hätte auch die mit 15% niedrigen Steuern auf Dividenden (vgl. Deutschland 25-30%, Frankreich 30%, Ukraine 9% ;-)) anheben können, aber offensichtlich hielt man dieses Mittel für nicht hart genug, um die Bourgeoisie zu Investitionen zu bewegen.
18Ohne den Zinsdruck von Schulden fehlt der Bourgeoisie ein weiterer Anreiz, ihre Produktion auszudehnen. Auch den Banken hilft das größere verfügbare Barguthaben nichts, da sie den Schuldtitel genauso handeln könnten, wie den Bargeldbestand.
19Häufig werden bei der Definition des Kapitalexports im Sinne von Lenins Imperialismus-Theorie einige wichtige Faktoren vergessen. So sagt Lenin ganz, dass der „Kapitalexport […] in den Ländern, in die er sich ergießt, die kapitalistische Entwicklung [beeinflusst], die er außerordentlich beschleunigt.“ (LW 22, S.247). Lenin führt weiterhin aus, dass sich für das exportierende Land Vorteile aus diesem Export haben müsse. Zudem sei der Kapitalexport ein „Mittel, den Warenexport zu fördern.“ (LW 22, S.248)
20Zur Diskussion des marxistischen Begriffs der Produktivität, siehe Anhang 4
21Bereits der Fakt, dass Russland 2009 ein Verhältnis von 6:1 zwischen Vorwärts- und Rückwärtspartizipation hatte, lässt darauf schließen, dass eine GVC-Analyse nicht viel neues zu Tage fördert (vgl. OECD 2009, S.1)
22Dass Rosatom zu einem Global Player der Branche werden konnte liegt darin begründet, dass auf Grund der sicherheitspolitischen Relevanz nie für eine Privatisierung oder Entflechtung in Frage kam. Dass ausgerechnet der Konzern vom Tiefpunkt der Tschernobylkrise sehr schnell zu einem global führenden Unternehmen entwickelte, deutet das Potential der sowjetischen Konzernstrukturen an, kapitalistische Transformationen überstehen zu können und widerlegt die Notwendigkeit der Privatisierungen.
24Während die USA fälschlicherweise als immer noch koloniale Macht fehlinterpretiert würden, verkenne z.B. die World Anti-Imperialist Platform den monopolkapitalistischen Charakter Russlands und Chinas, die bei den damaligen G20 noch am Tisch gesessen hätten.
Die Tarifrunde für den öffentlichen Dienst ist am Montag mit der Annahme des Ergebnisses durch die Tarifkommission offiziell zu Ende gegangen. Zunehmende Arbeitsbelastung und unterfinanzierte Arbeitsbedingungen prägen den Alltag der 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Die Kommunen stehen vor der Herausforderung, den sozialen Abbau zu bewältigen, während die Forderungen nach mehr Personal und besseren Arbeitsbedingungen immer lauter werden. All dies prägte die zurückliegende Tarifrunde. Bis zum 9. Mai ließ ver.di in einer Mitgliederbefragung über das neue Ergebnis abstimmen. Nur eine knappe Mehrheit von 52,2 % stimmte für die Annahme.
Dem Tarifabschluss gingen Aktionen, Veranstaltungen und Streiks voraus. Zwei Genossen, Johannes und Michael, waren aktiv dabei. Wir haben mit ihnen über ihre Einschätzungen, die Situation im öffentlichen Dienst, dessen Funktion für die Kriegsvorbereitung und die Rolle der Gewerkschaftsführung gesprochen.
Wie sind die Bedingungen im öffentlichen Dienst und was waren die zentralen Themen und Forderungen in der Tarifrunde?
Michael: Grundsätzlich ist die Arbeitssituation im öffentlichen Dienst von struktureller Unterfinanzierung, Personalabbau und Arbeitsverdichtung geprägt. Seit Jahren sind steigende Belastung, unzureichende Entlohnung und mangelhafte Arbeitsbedingungen Alltag – von der Kinderbetreuung über die Pflege bis zur Verwaltung. Im Kern stehen wir vor einem gezielten Kaputtsparen öffentlicher Infrastruktur zugunsten kapitalistischer Profitinteressen, Privatisierungen und einer Umverteilung von unten nach oben. Nehmen wir als Beispiel Leipzig, eine stark wachsende Stadt mit verschiedenen sozialen Herausforderungen. Gerade eine solche Stadt ist auf einen gut funktionierenden öffentlichen Dienst angewiesen. Doch hier treten die Probleme besonders deutlich zutage: Im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamts waren im Frühjahr 2024 rund zehn Prozent der Stellen unbesetzt – mit gravierenden Folgen für Kinder und Familien, die auf Unterstützung angewiesen sind. Auch in den städtischen KiTas spitzt sich die Lage weiter zu. Die GEW wies im März 2024 darauf hin, dass die Krankheitsquote unter Erziehern in Sachsen deutlich gestiegen ist. In Leipzig ist die Personaldecke in vielen Einrichtungen so dünn, dass ein geregelter Betrieb kaum noch aufrechterhalten werden kann. Es ließen sich viele weitere Beispiele aus der Pflege oder dem öffentlichen Nahverkehr anführen.
Johannes: Die Forderungen für die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes wurden bereits seit Mitte letzten Jahres formuliert und unter den Aktiven diskutiert. Die Ergebnisse dieser Diskussion wurden an die Bundestarifkommission (BTK) übermittelt, die die finalen Forderungen beschloss. Zentrale Punkte waren: 8 % mehr Lohn (mindestens 350 Euro monatlich), drei zusätzliche freie Tage im Jahr und das sogenannte Meine-Zeit-Konto, ein Lebensarbeitszeitkonto. Die Laufzeit sollte 12 Monate betragen. Darüber hinaus ging es um die wöchentlichen Höchstarbeitszeiten im Rettungsdienst, Schichtzulagen bei Überstunden sowie Nacht- und Wechselschichten. Außerdem sollten die Bedingungen in Ost- und Westdeutschland weiter angeglichen werden, konkret in Bezug auf die Angleichung von Löhnen und Regelungen zur Kündigungsfrist.
Wie verliefen die Verhandlungs- und Streikrunden, und welches Ergebnis liegt letztlich auf dem Tisch?
J.: Die Berichte der BTK zeigen: Die Verhandlungen mit dem Bund und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) verliefen äußerst zäh. Schon in der ersten Runde erklärte die VKA die Forderungen der Beschäftigten für überzogen – ein Gegenangebot blieb aus. Auch in der zweiten Runde ignorierte sie sämtliche Forderungen. In Interviews deuteten VKA-Vertreter eine 36-monatige Laufzeit bei 0 % Lohnerhöhung an, teils mit „bis zu“ 2 % – schriftlich legten sie jedoch nichts vor. Statt freier Tage sollte die Arbeitszeit steigen. Auch in der dritten Runde blieb die VKA unbeweglich und rief zur sogenannten Schlichtung auf. Am Ende lagen 5,8 % Lohnerhöhung in zwei Schritten, 27 Monate Laufzeit, eine „freiwillige“ Erhöhung auf 42 Wochenstunden und ab 2027 ein zusätzlicher Urlaubstag auf dem Tisch. Zentrale Forderungen wie die Ost-West-Angleichung wurden abgelehnt. Das vollständige Ergebnis ist hier einsehbar.
M.: Das Ergebnis stellt eigentlich eine Kapitulation der Gewerkschaftsführung vor dem Druck von Regierung und kommunalen Arbeitgebern dar. Die Inflationsverluste der letzten Jahre werden nicht ausgeglichen, die lange Laufzeit blockiert künftige Kämpfe, und die faktische Arbeitszeitverlängerung ist ein enormer Rückschritt. Dabei war die Streikbereitschaft groß: In Leipzig legten Hunderte aus Kitas, der Straßenreinigung und der Stadtverwaltung die Arbeit nieder. Das Ergebnis ist ein Schlag ins Gesicht.
Wie schätzt ihr das Ergebnis – auch im Hinblick auf kommende Verhandlungen – ein?
J.: Eigentlich ist das Ergebnis eine absolute Katastrophe. Trotz Streikbereitschaft und Unzufriedenheit konnte kein Reallohnausgleich geschweige denn eine Reallohnerhöhung durchgesetzt werden. Die „freiwillige“ Arbeitszeiterhöhung auf 42 Stunden pro Woche ist ein Dammbruch. Hier wurde eine zentrale Errungenschaft der Arbeiterbewegung, der Acht-Stunden-Tag, zurückgedreht, was große Wirkung auf weitere Verhandlungen haben wird. Auch die Forderung nach einer Angleichung des Kündigungsschutzes in Ost- und Westdeutschland wurde abgelehnt. Das bedeutet, dass Beschäftigte, 35 Jahre nach der Annektion der DDR in die BRD, im Tarifgebiet Ost immer noch nicht denselben Kündigungsschutz haben wie ihre Kollegen im Westen.
Ein besonders katastrophaler Punkt ist auch die Regelung zur Übernahme von Azubis: Zukünftig soll die Übernahme mit einer Gesinnungsprüfung verbunden sein. Wenn ich mich kritisch gegenüber dem Staat und seiner Kriegspolitik äußere oder möglicherweise Verfahren deswegen habe, riskiere ich meine Anstellung. Betroffen sind insbesondere all jene, die sich gegen die Unterstützung von Völkermord durch die BRD und den NATO-Kriegskurs gegen Russland aussprechen. Hier wurden also Berufsverbote in großem Stil besiegelt.
M.: Die Verhandlungen zeigen aber noch eine weitere Niederlage: De facto wurde überhaupt nicht auf die Forderungen der Tarifkommission eingegangen. Im Prinzip hat der Staat alles bekommen, was er wollte: Reallohnverlust, repressive Maßnahmen und Arbeitszeitverlängerung. Damit wurden die Weichen für die nächsten Jahre gestellt – alles für die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Die lange Laufzeit verschafft dem Staat zunächst Ruhe in einem Bereich, der für die Kriegsvorbereitung relevant ist. Mit der kleinen Lohnerhöhung will man die Stimmung nicht kippen und den Kaufkraftverlust nicht zu groß werden lassen. Die Gewerkschaftsführung hat dieses Spiel mitgespielt. Die Bundestagswahlen, die parallel zu den Verhandlungen stattfanden, wurden nicht genutzt, um politischen Druck aufzubauen und ein halbwegs annehmbares Ergebnis zu erzielen.
Wie hat sich die Stimmung im Laufe der Verhandlungen verändert und wie wurde das Ergebnis aufgenommen?
J.: Die Stimmung der Streikenden war während der Streiks positiv, aber auch angespannt. Viele waren dann jedoch zunehmend wütend und frustriert über den Verhandlungsunwillen der Arbeitgeber. Es gibt viele Aktive in den Betrieben, zahlreiche Neumitglieder und Interessierte, die zum ersten Mal bei Aktionen oder Streiks dabei waren. haben die Verhandlungen verfolgt und sich solidarisch gezeigt (siehe Stärketest mit fast 250.000 Unterschriften). Es herrschte jedoch auch große Verunsicherung, insbesondere wegen der Bundestagswahlen, die parallel zu den Verhandlungen stattfanden. Wir erlebten, dass die Debatten einerseits härter geführt werden, beispielsweise durch die Forderung nach Einschränkungen des Streikrechts. Andererseits wurden die Themen, die viele Menschen beschäftigen und besorgen, ausgeklammert. Dazu zählen insbesondere die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung sowie die Unterstützung des Völkermordes in Palästina durch die BRD.
M.: Während die Gewerkschaftsführung um einen Kompromiss bemüht war und immer wieder von „schwierigen Zeiten“ sprach, forderte ein erheblicher Teil der Basis mehr Konfrontationsbereitschaft. Insbesondere die Diskrepanz zwischen Kriegsaufrüstung und angeblicher Haushaltsknappheit im öffentlichen Dienst wurde als untragbar empfunden – ein Punkt, den die Gewerkschaftsspitze öffentlich kaum thematisierte. Die Mitgliederbefragung zum Tarifabschluss, an der sich ein Viertel der Mitglieder beteiligte, hat gezeigt, dass viele den Abschluss nicht akzeptieren und weiterkämpfen wollen: Nur 52,2 % hat das Ergebnis angenommen.
Parallel zu den Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst wurde im Eiltempo das größte Militärpaket seit dem deutschen Faschismus verabschiedet. Der öffentliche Dienst spielt eine wichtige Rolle in der Kriegsvorbereitung. War der Zusammenhang von Krieg und Sozialabbau Thema in der Tarifrunde?
M.: Der Staat hat seine Agenda unmissverständlich gezeigt: Nicht Kitas oder Krankenhäuser stehen im Zentrum der Politik, sondern Panzer, Drohnen und Kriegsvorbereitung. Während im öffentlichen Dienst über minimale Lohnerhöhungen gefeilscht wird und viele immer mehr Probleme haben, ihre Miete zu zahlen, werden Konzerne wie Rheinmetall mit Milliarden aus Steuergeldern subventioniert. Wir beobachten eine klare Umverteilung von unten nach oben im Interesse des Monopolkapitals. Diese Entwicklung ist kein Zufall: Der deutsche Imperialismus bereitet sich ökonomisch, politisch und militärisch auf Kriege vor, insbesondere gegen Russland – und benötigt dafür einen entsprechend aufgestellten und zunehmend militarisierten öffentlichen Sektor. Im sogenannten Operationsplan Deutschland werden sämtliche gesellschaftliche Bereiche für den Kriegsfall organisiert.
Der öffentliche Sektor spielt eine wichtige Rolle bei der Kriegsvorbereitung, nicht umsonst wird er als „kritische Infrastruktur“ bezeichnet. Verwaltung und Infrastruktur (z. B. Katastrophenschutz, Energieversorgung, Verkehr, IT-Systeme, Krankenhäuser) werden auf sogenannte „Resilienz“ und „Kriegsfähigkeit“ getrimmt – im Klartext: zivile Strukturen werden dem „Ernstfall“ untergeordnet. Nicht zuletzt war im Gespräch, die Krankenhausversorgung auf den Kriegsfall anzupassen. Schulen stehen zunehmend im Fokus militärischer Einflussnahme: Bundeswehrbesuche zur Rekrutierung sind in den letzten Jahren stark angestiegen. Bestimmte Bereiche des öffentlichen Dienstes sind gesetzlich verpflichtet, ihre Arbeit auch im sogenannten „Verteidigungsfall“ fortzusetzen oder anzupassen. Dies betrifft nicht nur das Militär, sondern auch zivile Sektoren wie Gesundheitsämter, Feuerwehr, Polizei, Verkehrssektor und Teile der Verwaltung, die im Krisenfall als „Staatsdiener“ im Kriegszustand mobilisiert werden können. Dabei geht es nicht nur um die Unterstützung der Bundeswehr, sondern auch um die Aufrechterhaltung der Infrastruktur.
J.: Die DGB- und ver.di-Führung spielen in diesem Thema eine sehr schlechte Rolle: Sie betreiben Standortlogik und legitimieren die Kriege der NATO und Deutschlands. Damit unterstützen sie die Kriegsvorbereitung, die eindeutig den Interessen der Arbeiterklasse in Deutschland und international widerspricht. Ihr Motto lautet: Aufrüstung ja, aber bitte sozial verträglich. Dabei ist klar, dass Krieg und Aufrüstung immer zu Armut und Sozialabbau führen. Unabhängig davon ist der Krieg gegen Russland nicht in unserem Interesse, sondern im Interesse des Imperialismus, der seinen Abstieg mit militärischen Mitteln aufzuhalten versucht.
Während der Verhandlungen vermied die ver.di-Führung es jedoch, über diese Themen zu sprechen. Stattdessen wurde immer wieder betont, dass Deutschland ein so reiches Land sei und es an der Wertschätzung für die Arbeit im öffentlichen Dienst fehle. Abstrakt wurde mehr Geld für Bildung, Erziehung, Gesundheit und Forschung gefordert, während die steigenden Rüstungskosten und das nächste Sondervermögen für den Krieg in den offiziellen Statements nicht kritisiert wurden. Im Gegenteil: Im diesjährigen Ostermarsch-Statement bezog sich der DGB sogar positiv auf die Aufrüstung, da Deutschland schließlich „verteidigungsfähig“ sein müsse. In den Reden aktiver Kolleginnen und Kollegen während der Streiks kam jedoch eher etwas zu diesen Themen zur Sprache. Teilweise wurde der Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Sozialabbau hervorgehoben und betont, dass die beiden Kämpfe unmittelbar zusammengehören. Es haben sich auch einige gewerkschaftliche Initiativen gegründet, z. B. Gewerkschaften gegen Aufrüstung oder Sagt Nein!.
Was nehmt ihr für euch aus den zurückliegenden Monaten mit?
J.: Der Umgang für uns Kommunisten ist nicht immer einfach: Unser Ziel ist natürlich die Verbesserung der ökonomischen Lage der Arbeiterklasse, das ist klar. Langfristig muss jedoch auch eine Organisierung – insbesondere gegen die Kriegsvorbereitung – geschaffen werden. Die bestehenden Gewerkschaften bieten sich hierfür als Massenorganisationen an. In der alltäglichen Arbeit im Betrieb gibt es viel Unterstützung, beispielsweise durch finanzielle Hilfen für Aktionen. Gleichzeitig führen die schlechten Tarifabschlüsse zu Frustration und Desorganisierung. In den Gewerkschaften gibt es viele Antikommunisten; insbesondere Antideutsche besetzen oft wichtige Posten. Gegen diese Kräfte muss man sich behaupten, wenn man gegen die Kriegsvorbereitung oder den Völkermord in Gaza protestiert. Es ist wichtig, sich davon nicht entmutigen zu lassen und einen guten Umgang in der täglichen Praxis im Betrieb und in den Gewerkschaften zu entwickeln. Das ist nicht immer leicht, aber notwendig.
M.: Ich konnte viele Erfahrungen im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen sammeln. In Zeiten, in denen sich viele zurückziehen und nicht über Politik sprechen wollen, ist das besonders wichtig. Es ging längst nicht „nur“ um ein paar Lohnprozente, sondern um mehr. Hier in Leipzig hatte ich einige Gespräche mit Bezug zur DDR. Die sozialen Errungenschaften – wie das Recht auf Arbeit, bezahlbaren Wohnraum, kostenlose Gesundheitsversorgung und kostenlose Bildung – wurden anerkannt und oft als Kontrast zur heutigen Realität benannt, in der all das längst nicht mehr selbstverständlich ist. Zugleich war spürbar, dass die Niederlagen und Demütigungen durch die Konterrevolution vielen noch tief in den Knochen sitzen. Besonders deutlich wurde das an der staatlichen Prioritätensetzung: Während der Staat ohne Zögern Milliarden für Kriegskredite bereitstellt, zeigt er bei berechtigten Forderungen der Beschäftigten keinerlei Entgegenkommen.
Die Tarifrunde hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, dass Kommunisten in den Gewerkschaften aktiv sind. Es wurde jedoch auch klar, dass es einer besseren Vernetzung untereinander braucht, um konsequente Positionen durchsetzen zu können. Sicherlich blieb in vielen Momenten Potenzial ungenutzt, um Streitfragen zu thematisieren, Reden zu halten oder sich anderweitig einzubringen. Aber unterm Strich muss man sagen, dass viele Menschen erstmals auf die Straße gegangen sind und für ihre Rechte gekämpft haben. Das war für mich ein ermutigendes Signal – und zeigt, dass sich etwas bewegt.
Am 8. Mai wurde dem Roten Antiquariat auf dem Bebelplatz in Berlin, dem Ort der Bücherverbrennung, der Verkauf von antifaschistischer Literatur polizeilich verboten. Der VVN-BdA, der die Kundgebung organisierte, stellte sich nicht gegen das polizeiliche Vorgehen, sondern duldete dieses sogar noch. Der VVN-BdA, der für sich beansprucht, im Sinne der Verfolgten des Naziregimes antifaschistisch aktiv zu sein, sollte sich öffentlich zu diesem Verhalten erklären.
80 Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus wird der Verkauf von antifaschistischer Literatur und das Zeigen von sowjetischen Fahnen verboten. Es ist klar: Die Geschichte wird von oben umgeschrieben – ganz im Sinne der neuen deutschen Kriegsvorbereitung – und Organisationen wie die VVN-BdA stützen den Kurs mit Aktionen wie diesen.
Das können wir nicht hinnehmen. Wir solidarisieren uns mit dem Roten Antiquariat sowie allen anderen Antifaschisten und Kriegsgegnern, die rund um den 8. Mai Repressionen ausgesetzt waren.
Im Folgenden spiegeln wir die Presserklärung des Roten Antiquariats:
„Wie bei vielen anderen Kundgebungen und Demonstrationen in Berlin sonst auch rollte das Rote Antiquariat mit seinem Lastenrad zur Kundgebung der VVN BdA, die am 8. Mai ab 16 h auf dem Bebelplatz stattfand. Kaum angekommen wurde durch 5 schwerbewaffnete Polizeibeamte das Lastenrad samt Bücher kontrolliert und der Verkauf von antifaschistischer Literatur auf dem Bebelplatz, dem Ort der nationalsozialistischen Bücherverbrennung, untersagt.
Eine Solidarisierung von Seiten der veranstaltenden VVN BdA blieb aus. Auf Nachfrage wurde geantwortet, dass es keine Stände gibt, da diese hätten angemeldet werden müssen. Mit barschen Ton durch eine Verantwortliche der VVN BdA wurde unser Kollege unter Anwesenheit schwerbewaffneter Polizisten aufgefordert, keinen Ärger zu machen. Polizei und VVN BdA sprachen somit ein Verbot aus. Während gleichzeitig an einen anderen Stand Getränke verkauft werden durften, wurde im Falle eines Verkaufs bzw. Weiterverbreitung von Büchern mit einer Festnahme und Beschlagnahme gedroht. Unser Kollege baute den Stand ab und verließ die Kundgebung.
Polizei und VVN BdA haben somit den Vertrieb antifaschistischer und sozialistischer Literatur unterbunden. Bücher von AutorenInnen, die Opfer der Bücherverbrennung wurden durften am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus auf einer antifaschistischen Kundgebung auf dem Bebelplatz nicht vertrieben werden. Dies betraf auch Bücher des ehemaligen Vorsitzenden der VVN BdA Hans Coppi.
Das Auftreten von Polizei und VVN BdA ist auch unter einen anderen Gesichtspunkt sehr fraglich. Die Präsenz des rollende Bücherstandes des Roten Antiquariats und anderer mobiler Stände gehört in Berlin zur Demo- und Kundgebungskultur. Die mobilen Stände sind ein Ort der Information und Bildung und werden von vielen Menschen genutzt. Das polizeiliche Vorgehen unter Duldung der VVN BdA erinnert an autoritäre Staaten und wird von uns verurteilt.“
Der 80. Jahrestag des Sieges neigt sich dem Ende. Wir spiegeln zu diesem Anlass noch die Erklärung des II. Antifaschistischen Forums, dass auf Einladung der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) am 23. April in Moskau stattgefunden hat.
450 Delegierte die 164 Organisationen aus 91 Ländern repräsentierten, nahmen an dem Forum teil. Vornehmlich waren Vertreter kommunistischer Parteien eingeladen, einige demokratische und antifaschistische Organisationen nahmen auch teil. Auch wir waren mit einer Delegation vertreten.
Das Forum, zu dem anlässlich des 80. Jahrestages des Sieges über den Faschismus geladen wurde, sendet ein starkes und klares Signal an alle fortschrittlichen, antiimperialistischen und antifaschistischen Kräfte weltweit. In einer Phase der Wiederbelebung des Faschismus durch den Westen, konnte ganz praktisch bewiesen werden, worin unsere mächtigste Waffe besteht: Der proletarische Internationalismus und die internationale Solidarität!
Nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg, dass bedeutet Widerstand und Kampf gegen die NATO. Hierzu bestand eine starke Einigkeit auf dem Forum, die Mut macht für unsere Aufgaben hierzulande.
Hoch die Internationale Solidarität!
Bekämpfung des Faschismus
eine gemeinsame, dringende Aufgabe fortschrittlicher Kräfte weltweit Aufruf des II. Internationalen Antifaschistischen Forums
Wir, die Teilnehmer des II. Internationalen Antifaschistischen Forums in Moskau, bestätigen und unterstützen das Manifest zur Vereinigung der Völker der Welt „Schützen wir die Menschheit vor dem Faschismus“, das am 22. April 2023 in Minsk während des I. Internationalen Antifaschistischen Forums verabschiedet wurde.
Der Verlauf der Ereignisse hat die Richtigkeit der Einschätzung bestätigt, dass die Ursache für die Aggressivität der Imperialisten in der modernen Welt die Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist. Ende des 20. Jahrhunderts schwächte die Konterrevolution in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern vorübergehend den sozialistischen Pol der Erde und gab den reaktionären Kräften freie Hand. So, wie bereits in der leninistischen Imperialismustheorie beschrieben, kämpfen die USA und andere kapitalistische Raubtiere mit den abscheulichsten Methoden, bis hin zur Förderung neofaschistischer Regime, um die Weltherrschaft.
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Globalisten durch Aggressionen gegen Jugoslawien, den Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien schuldig gemacht. Ein ähnliches Schicksal bereitete und bereitet der Imperialismus anderen Ländern und Völkern vor. Es wurden Versuche unternommen, Staatsstreiche in Belarus, Venezuela und Nicaragua durchzuführen.
Die NATO-Staaten hatten das Ziel, Russland zu dämonisieren, ihm eine militärische Niederlage zuzufügen und es nach dem Vorbild der Beseitigung der Sowjetunion zu zerstückeln. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde eine aggressive Plattform in der Ukraine geschaffen. Eine der Formen des Faschismus – der Banderismus – wurde massiv unterstützt. Bis Februar 2022 waren in der antirussischen Politik der NATO- Militärs unter Führung der USA fast 50 Satellitenstaaten involviert. Die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Ressourcen des Weltkapitals, einschließlich Söldnertruppen, wurden im Angriff gegen Russland eingesetzt.
In der Ideologie und Politik des Westblocks werden immer deutlicher revanchistische Motive sichtbar. Ihre Anstifter sind dieselben Kräfte, die 1945 von der Sowjetunion und ihrer Roten Armee besiegt wurden. In den meisten westlichen Ländern nehmen Antisowjetismus, Antikommunismus und Russophobie zu. Gegen die Völker Russlands, Chinas, Kubas und der DVRK wird ein Sanktionsdruck entfaltet. Es wird weitgehend auf militärische Drohungen, politische Erpressung und Terrorzurückgegriffen.
Dieselbe bösartige Gruppe, die ukrainische Neonazis mit Geld und Waffen versorgt, unterstützt auch die israelischen Zionisten, die ein Blutbad in Palästina angerichtet haben. Die Imperialisten schüren die Lage in verschiedenen Regionen der Welt und drohen mit einem neuen Weltkrieg. Gleichzeitig verschärfen sich die Widersprüche innerhalb ihres Lagers. Die USA versuchen, ihre wirtschaftlichen Probleme auf Kosten der Unterdrückung jeglicher Konkurrenten, einschließlich der Europäischen Union zu lösen.
Die Frage der Zukunft der Ukraine muss im Interesse der arbeitenden Bevölkerung des Landes und der Ziele eines dauerhaften Friedens in Europa entschieden werden. Versuche, die Frage auf die Wahl eines neuen Präsidenten zu reduzieren, entsprechen nicht diesen Zielen. Jede Wahl unter der Kontrolle neofaschistischer Kräfte würde nur als Feigenblatt dienen, um der Herrschaft der reaktionärsten Kräfte Legitimität zu verleihen. Eine weitere Stärkung des neofaschistischen Regimes in Kiew, seine Aufrüstung mit Waffen, darf auf keinen Fall zugelassen werden. Es bedarf einer Lösung, die die Möglichkeit weiteren Blutvergießens von vornherein unterbindet.
Die Bandera-Henker und ihre westlichen Gönner müssen gerecht verurteilt werden, und das faschistische Regime in Kiew muss vollständig beseitigt werden. Wir betonen, dass eines der Hauptmerkmale der Wiederbelebung des Faschismus in der Ukraine, im Baltikum und anderen Staaten der Antikommunismus ist. Dies entspricht voll und ganz der Praxis der Hitler-Faschisten, die den Antikomintern-Pakt schufen.
Die Völker der Welt müssen alle Versuche einer faschistischen Revanche verhindern. Wir fordern die vollständige Ablehnung aller Formen der Dekommunisierung in der Staatsideologie und Politik. In Bezug auf die Ukraine bestehen wir auf der Aufhebung des Verbots der Kommunistischen Partei, der freien Verwendung der russischen Sprache, dem Verbot der Verherrlichung der Bandera-Anhänger und der Wiederherstellung der zerstörten Denkmäler für antifaschistische Helden.
Der Kampf gegen den Neofaschismus ist die Aufgabe aller denkenden, mutigen und würdigen Menschen des Planeten. Er kann nicht auf später verschoben werden. Er muss hier und jetzt geführt werden – mit allen verfügbaren Mitteln und durch die Vereinigung aller möglichen Verbündeten!
Anlässlich des 80. Jahrestages des Großen Sieges über den Hitler-Faschismus und den japanischen Militarismus im Zweiten Weltkrieg erklären wir:
Eine endgültige Überwindung des Faschismus und der Gefahr von Weltkriegen ist nur möglich, wenn der Imperialismus überwunden wird. Die einzige Kraft, die dies erreichen kann, ist die Arbeiterklasse und die werktätigen Volksschichten unter Führung der Kommunisten.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich der Kampf gegen den Faschismus zu einem Kampf für die sozialistische Erneuerung aller Länder der Welt entwickelt.
Der Kampf gegen den Faschismus duldet keine Pausen oder Waffenstillstände!
Schließt euch den Kämpfern gegen den Neofaschismus, für sozialen Fortschritt und Sozialismus an!
Lasst uns nicht zulassen, dass die Welt in die Luft gesprengt wird!
¡No pasarán! Sie werden nicht durchkommen!
Es lebe die vereinte Front der fortschrittlichen Kräfte!
Die Broschüre ist auch gedruckt bei unseren Ortsgruppen erhältlich.
Einleitung
Unmittelbar nach Beginn der russischen Militäroperation im Februar 2022 hatten wir uns als KO den Auftrag gegeben, zu den dringenden Fragen zum Ukraine-Krieg zu arbeiten.[1] In mehreren Arbeitsgruppen, deren Ergebnisse wir zum Teil nach und nach veröffentlichen, haben wir zu diesen Fragen gearbeitet. Diese Thesen sind keine zusammenfassende Darstellung dieser Ergebnisse, sondern formulieren die zentralen politischen Erkenntnisse, die wir gewonnen haben.
Mehr als zwei Jahre nach dem 24. Februar 2022 ist die anfängliche Diskussionswelle in der kommunistischen Bewegung abgeebbt und es scheint, als seien Positionen eingerichtet, zurechtgeruckelt oder hingenommen worden. Wir gehen aber davon aus, dass es weiterhin sehr unterschiedliche Standpunkte und einen großen Bedarf nach Diskussion und Klärung gibt, auch wenn das Bedürfnis dazu nur noch selten artikuliert wird.
Das ist jedoch ein Problem: Wenn in diesen Thesen die Rede davon ist, dass die NATO Krieg gegen Russland führt, dann bedeutet das auch, dass dieser Krieg mit einem möglichen Abkommen in der Ukraine nicht beendet sein wird. Ganz im Gegenteil – die jüngsten Entwicklungen in Deutschland, der USA und EU zeigen: Der große Krieg gegen Russland wird erst vorbereitet. Mit einem historisch unvergleichbaren Kriegskredit und der offenen Ankündigung, diesen Krieg ab 2030 führen zu wollen, stellt sich der deutsche Imperialismus klar auf. Die kommunistische Bewegung ist also nicht mit einer baldigen Beruhigung, sondern mit einer Eskalation der internationalen Situation konfrontiert. Sie wird sie nicht aufhalten können, wenn sie sie nicht versteht oder gar nicht verstehen will.
Diese Thesen sind ein Aufschlag zur Diskussion. Sie sind nicht der endgültige Standpunkt der KO. Wir haben noch viele Lücken, Fragen, Klärungs- und Diskussionsbedarf. Auch in der KO werden einige Punkte weiterhin unterschiedlich eingeschätzt und es gibt viele Fragen, zu denen wir mehr Informationen und Analysen brauchen. Wir halten mit den Thesen einen Zwischenstand unseres Diskussions- und Rechercheprozesses fest, der weiter vertieft werden soll, um unser Verständnis weiter zu schärfen oder an Stellen zu revidieren, wo es nötig ist.
Die Diskussionsthesen sollen zur gemeinsamen öffentlichen Auseinandersetzung beitragen. Wer Kommentare, Kritiken oder Diskussionsbeiträge zu diesen Thesen formulieren will, kann uns diese gern zusenden. Wir freuen uns über Einsendungen.
Die aktuelle Situation und das Problem der Äquidistanz
Krieg ist der schlimmste Zustand, in dem sich die menschliche Gesellschaft befinden kann. Es kommt zu Zerstörungen und Toten, Chaos und Leid. Es ist deshalb umso wichtiger, diejenigen, die den Krieg wollen, planen und in die Welt bringen, zu benennen und zu bekämpfen. Das sind die NATO und an ihrer Spitze die USA. Daran gibt es keinen Zweifel, wenn man sich die Geschichte und die Verhältnisse unverstellt anschaut. Wenn diese Thesen davon sprechen, dass sich Russland in der Ukraine dem Imperialismus widersetzt, dann auch deshalb, weil damit dem Ursprung von Krieg und Zerstörung, der NATO, ein Stoppsignal gegeben wird.
Wer den Blick auf die ganze Welt richtet, wird zustimmen müssen, dass es die NATO-Staaten sind, die nicht nur in Russland und der Ukraine Krieg bringen, sondern auch in Irak, Libyen, Afghanistan, Syrien und in besonders brutaler Weise in Palästina. In zahlreichen afrikanischen Ländern setzen die NATO-Staaten ihre brutale Unterdrückungs- und Destabilisierungspolitik fort, ob im Kongo, im Sudan, im Sahel oder in Kenia. Diese eigentlich auf der Hand liegenden Tatsachen sollen vor allem in den Zentren der NATO-Staaten vertuscht, verschwiegen und verzerrt werden.
Die USA und auch die Bundesrepublik Deutschland haben in der Ukraine ein faschistisches Regime errichtet, das zum Krieg gegen Russland geeignet und bereit ist und von ihnen dazu aufgerüstet und in Abhängigkeit gebracht wurde. Swoboda, Rechter Sektor und andere faschistische, zutiefst antisemitische und antirussische Organisationen wurden hochgezüchtet und mit dem Maidan-Putsch 2014 an die Macht gebracht, um einen Staat aufzubauen, der den Krieg gegen Russland führt.
Diese Thesen sind keineswegs gegen die Ukraine gerichtet – im Gegenteil: Wir treten für die antifaschistische Befreiung der Ukraine von den von der NATO aufgebauten Bandera-Faschisten ein. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die ukrainische und die russische Nation wieder friedlich und miteinander leben können. Wenn die NATO-Offiziere, CIA-Agenten und Think-Tanks aus der Ukraine rausgeworfen wurden, wenn die Bandera-Ideologie und ihr faschistischer Terror besiegt sein wird, werden die Menschen wieder friedlich miteinander leben können.
Die NATO setzt ihre Aggression fort und hat begonnen, mit weitreichenden Raketen russisches Kernterritorium anzugreifen. Die Kommunistische Bewegung ist schlecht aufgestellt für diese Situation. Äquidistanz, also Gleichstellung von NATO und Russland, verhindert nicht nur die Erkenntnis der Lage, sondern auch konsequentes Eingreifen.
Während die Formel vom „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands“ dazu getaugt hat, vor allem die Sozialdemokratie ins Kriegslager zu integrieren, erlaubt das in der Kommunistischen Bewegung verbreitete Schema vom innerimperialistischen Krieg eine passive Haltung, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer revolutionären Rhetorik für die kommunistische Bewegung. Es erlaubt, in Worten weiterhin scheinbar gegen die NATO zu agitieren, erfüllt aber im Wesentlichen die Funktion, eine opportunistische Position in scheinbar revolutionäre Phrasen zu kleiden.
Wer in einem Krieg Angreifer und wer Angegriffener ist, ist keineswegs eine zweitrangige Frage. Für die Propaganda der Herrschenden ist sie zentral zur Rechtfertigung ihrer Rüstungs- und Kriegspolitik. Es ist leichter nachvollziehbar, wenn ein Land Opfer einer Aggression wurde, dass es dann auch unterstützt werden muss. Deshalb ist es auch viel schwieriger zu vertreten, dass dieser Angriff aber gerechtfertigt sein könnte. Es ist also eine der entscheidenden Fragen der Propaganda, des ideologischen Klassenkampfes und damit eine entscheidende Frage für die Kommunisten.
Für die Kommunisten geht es allerdings um mehr als die Frage des Auslösers. In der Theoriebildung des wissenschaftlichen Kommunismus wird Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln (Bezug auf Clausewitz ‚ Schrift „Vom Kriege“) begriffen. Das schließt ein, dass, je nachdem, welche Politik „fortgesetzt“ wird, den Krieg unter Umständen auch als gerecht zu bewerten.
Ausschlaggebend für diese Bewertung ist das Verhältnis seines objektiven politischen Inhalts zu den historisch-konkreten Interessen der Arbeiterklasse. Da ihr Kampf als revolutionäre Klasse den Kampf um Demokratie, um nationale Unabhängigkeit und um Frieden miteinschließt, sind aber nicht nur der revolutionäre Krieg unter ihrer Führung gerecht. Auch nationale Befreiungskriege oder antifaschistische Kriege unter Führung nationaler Bourgeoisien können gerechte Kriege sein, genauso wie Bürgerkriege gegen Reaktion und Konterrevolution, unter Beteiligung der verschiedensten Kräfte.
Gliederung
Die Thesen beginnen auf einer allgemeinen Ebene mit der Einordnung der historischen Situation, der Entwicklung des Imperialismus und warum der Kampf um die nationale Frage, das Selbstbestimmungsrecht der Völker der zentrale Kampf ist, in dem die Arbeiterklasse die führende Rolle übernehmen muss.
Im zweiten Teil geht es um die Einordnung des Ukrainekriegs in die Fragestellung des nationalen Kriegs und die Klassenverhältnisse in Russland und darüber hinaus.
Im dritten Teil werden die historischen Entwicklungen Russlands, der Ukraine und der Volksrepubliken des Donbass genauer behandelt, um konkreter nachvollziehen zu können, wie es zu der Entscheidung der Russischen Föderation kam.
Der vierte Teil beleuchtet die Rolle des deutschen Imperialismus im Ukrainekrieg sowie die Aufgaben, die sich daraus für die Kommunistische Bewegung ableiten.
Kriminalisierung und Repression
Die Bundesrepublik hat sich noch nie als besonders demokratischer Staat entwickelt. Sie war von ihrer Gründung an ein Bollwerk gegen Sozialismus, Kommunisten und jede fortschrittliche Entwicklung. In manchen Phasen mag das etwas anders erschienen sein, aber politische Justiz und konsequente Lügenpropaganda sind von Kontinuität geprägt. Aktuell werden andere Positionen zum Ukrainekrieg strafrechtlich verfolgt mit dem Gummi-Gesinnungs-Paragraphen § 140 – Billigung von Straftaten. Dabei ist völlig klar, dass damit jede andere Position zum Krieg als Ganzes kriminalisiert werden soll.
Während man sich mit der neutralen Losung „Weder Putin noch NATO“ wohl kaum Feinde machen wird, übt die BRD massiven Druck auf Kriegsgegner aus, die darlegen, aus welchen Gründen Russland diesen Krieg führt und ob diese Gründe legitim sind. Allein das sagt schon viel aus.
Mit der Verurteilung Russlands als Eintrittskarte in den herrschenden Diskurs kommt man gut davon – egal, wie vermeintlich radikal man sich dann gegen die NATO stellt. Genau dort enden aber auch die Grenzen des Sagbaren und die Grenzen der Meinungsfreiheit. Wer sich vor diesem Gesslerhut der BRD-Propaganda nicht verbeugt, auf den warten Anklagen, Hetzkampagnen und Gerichtsprozesse. Wer es wagt, sich weiterhin in der Frage grundlegend oppositionell zu verhalten, der kann sich seiner Grundrechte nicht mehr sicher sein. Ähnlich ist es bei der Solidarität mit dem Kampf des palästinensischen Volkes gegen Zionismus und Imperialismus.
Wir bestehen auf unser Grundrecht auf Meinungsfreiheit und wir sind bereit, es zu verteidigen. Der billige Versuch, uns deshalb die Billigung von tatsächlichen oder vermeintlichen Kriegsverbrechen zu unterstellen, ist haltlos. Wenn aber die Aussage, dass Russland gute Gründe hatte, so vorzugehen, bereits unter Strafe gestellt werden soll, dann heißt das: Einzig und allein die Ansicht der Bundesregierung („völkerrechtswidriger Angriffskrieg“) sei zulässig. Das wäre offenkundig eine Bankrotterklärung.
In diesen Thesen werden wir nicht alle Fakten und Einschätzungen von Völkerrechtlern anführen können. Dazu dienen sie auch nicht. Sie sollen als inhaltliche Diskussionsgrundlage in der Kommunistischen Bewegung dienen.
Vor Gericht sollten die Politiker sitzen, die das faschistische Maidan-Regime eingesetzt und unterstützt haben, inklusive dessen brutalen Krieges gegen die eigene Bevölkerung und die einen Krieg gegen Russland entfacht haben, Panzer schicken und Soldaten ausbilden. Es sind dieselben, die darauf abzielen, unsere Kinder in den Krieg zu schicken und unser Land „kriegstüchtig“ zu machen. Kennen wir das nicht aus der Geschichte? Sollten sie wiederum nicht auch aus der Geschichte wissen: Sie werden dafür zur Rechenschaft gezogen!
Kurzform
Die nationale Selbstbestimmung der überwiegenden Mehrheit der Völker steht im Widerspruch zur imperialistischen Herrschaft einiger mächtiger Staaten, die den Imperialismus historisch herausgebildet haben.
Der Kampf um die nationale Selbstbestimmung und seine Verbindung mit dem Sozialismus ist die Herausforderung der Arbeiterklasse und unterdrückten Völker.
In der Ära des Imperialismus nehmen nationale Kriege gegen (Neo-)Kolonisierung und Unterdrückung sowie gegen Annektionen und Aggressionen zu. Jeder Krieg muss einer konkreten Analyse unterzogen werden, die Überstülpung der Verhältnisse des Ersten Weltkriegs ist falsch.
Die nationale Selbstbestimmung Russlands und Chinas steht im Fadenkreuz des Imperialismus. Sie sollen als politische Akteure und Möglichkeiten für unterdrückte Staaten, sich gegen die imperialistische Aggression zu schützen, ausgeschaltet werden. Die Strategien der Imperialisten zur Bekämpfung dieser Staaten treffen teils auf Widersprüche untereinander.
In der Ukraine wurde ein faschistisches Regime aufgebaut, um das Land zu einem Aufmarschgebiet gegen Russland zu machen und von dort die nationale Existenz Russlands zu bedrohen.
Die Volksmassen ergriffen die Initiative gegen den NATO-Faschismus. Sie drängten ihn im Osten der Ukraine zurück und gründeten die Volksrepubliken. Sie verteidigten damit das antifaschistische Erbe des Großen Vaterländischen Kriegs.
Die Militäroperation Russlands dient der Verteidigung der nationalen Souveränität und der Verteidigung der Volksrepubliken. Der Einsatz verfolgt nicht das Ziel einer Ausbeutung und Unterwerfung der Ukraine, sondern einer Verteidigung gegen imperialistische Aggression.
Die Arbeiterklasse ist die konsequente Vertreterin des Kampfs um nationale Selbstbestimmung, während die nationale Bourgeoisie ein wankelmütiger Bündnispartner ist. Die Kommunisten stehen an der vordersten Front des Kampfs.
Der Kampf Russlands gegen die NATO ist ein wichtiger Kampf gegen die imperialistische Herrschaft und dient dem Befreiungskampf anderer unterdrückter Völker. Die internationale Front gegen den Imperialismus wird gestärkt.
Nach der Phase der wirtschaftlichen Zerstörung und politischen Demütigung in den 1990er Jahren ist Russland seitdem auf einem Kurs der Stärkung der nationalen Selbstständigkeit, der von der NATO mit allen Mitteln gestoppt werden soll.
Mit der Zerstörung der ökonomischen, politischen und militärischen Machtmittel Russlands soll ein Exempel statuiert werden, um jeglichen Widerstand auszuschalten.
Mit dem Maidan-Putsch, der Aufrüstung des Kiewer Regimes und der gesteigerten militärischen Bedrohung durch die NATO war Russland in die Ecke gedrängt und so zu einem defensiven Gegenschlag gedrängt, um nicht in eine militärisch aussichtslose Lage zu kommen.
Deutschland nutzt den Krieg gegen Russland als Möglichkeit der Aufrüstung und Stärkung der eigenen Macht. Zugleich steht es seitens der USA unter Druck und wird ökonomisch bedrängt. In jedem Fall hat der deutsche Imperialismus ein eigenes Interesse an der Unterwerfung Russlands.
Um gesellschaftliche Kräfte gegen den Krieg der NATO gegen Russland und insbesondere gegen die deutsche Kriegspolitik zu sammeln, ist eine eindeutige und klare Analyse und politische Strategie notwendig, die der „Äquidistanz“-Ideologie etwas entgegensetzt.
Teil I: Zur historischen Einordnung der Situation
1. These: Internationale Konterrevolution
Mit dem Sieg des imperialistischen NATO-Blocks über die UdSSR begann eine Phase der Internationalen Konterrevolution gegen alle fortschrittlichen Kräfte in der Welt. Die USA konnten sich an der Spitze des imperialistischen Lagers durchsetzen.
Im Zuge des internationalen Klassenkampfs gegen das sozialistische Weltsystem hat sich ein Lager herausgebildet, das sich unter den USA als führende Macht organisiert. Es besteht heute weiter und dominiert die „Weltordnung“ seit 1990. In diesem Lager gibt es Widersprüche und Konkurrenz. Das verdeutlichen unter anderem die verschiedenen Strategien zur Einhegung und Unterwerfung Russlands und Chinas. Eine Voraussetzung für seine Stabilität ist, dass die verschiedenen Imperialisten von dieser Weltordnung profitieren.
Das internationale Kräfteverhältnis hat sich durch den Zerfall des sozialistischen Weltsystems stark zugunsten des Imperialismus verschoben, vor allem, weil er über ein zentralisiertes militärisches Kommando und ökonomische Machtstrukturen verfügt. Mit Institutionen wie der NATO, regionalen Kommandostrukturen wie AFRICOM und vielen weiteren, aber auch der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds konnte das imperialistische Lager sein Diktat gegenüber dem Rest der Welt durchsetzen. Viele Staaten verloren wichtige Positionen in ihrer Selbstbestimmung, für die sie auch in der Phase nach der formalen Unabhängigkeit ringen und kämpfen mussten.
Der Konterrevolution folgten Kriege gegen Staaten, die im Wege standen, strategisch wichtig waren oder sich gegen die Unterwerfung und Unterdrückung wandten. Neue Märkte und Expansionsräume für profitable Kapitalakkumulation konnten, ohne die ehemalige Schutzmacht Sowjetunion, entweder ökonomisch erpresst oder freigebombt werden.
Mit Schwankungen befindet sich der Imperialismus seit 2007/08 jedoch in einer tiefen Wirtschaftskrise, die mit konventionellen Instrumenten nicht überwunden werden konnte. Die schwere Überproduktionskrise und die sinkenden Profitraten der imperialistischen Länder einerseits und der wirtschaftliche Aufstieg Chinas und seine wachsende internationale Rolle andererseits sind die Hauptgründe dafür, dass sich die Hegemonie des Westens in einer historischen Krise befindet. Die imperialistischen Länder sind gezwungen, auf Krieg zu drängen, um neue Märkte zu erobern und alle Kräfte zu brechen, die versuchen, ihre nationale Souveränität gegen den Imperialismus zu verteidigen.
2. These: Widerspruch zwischen Imperialismus und nationaler Selbstbestimmung
Der Imperialismus steht der nationalen Selbstbestimmung vieler Völker direkt entgegen und muss diese so weit wie möglich unterbinden, deformieren oder nur zum Schein gewähren. Die nationale Selbstbestimmung zuvor kolonisierter Länder (Kuba, China, Vietnam) oder von Imperialismus nach der Revolution bedrohter und bekämpfter Länder (Russland/Sowjetunion) war bereits ein wichtiger Teil des Kampfes der sozialistischen Länder gegen den Imperialismus. Er ist in den Vordergrund getreten und stellt aktuell die Hauptbühne des politischen Kampfes der unterdrückten Völker und Klassen dar.
Das sozialistische Weltsystem ist zwar weitgehend zerschlagen worden, aber die Widersprüche des Imperialismus sind damit nicht verschwunden. Er muss ganze Länder ökonomisch ausplündern, militärisch erpressen und politisch unterdrücken, um seine Machtstellung zu erhalten. Aufgrund der ökonomischen Krisenhaftigkeit steigt der Druck, mit allen Mitteln dieses Machtverhältnis aufrechtzuerhalten. Das alte imperialistische Kolonialsystem wurde durch die Befreiungskämpfe der unterdrückten Völker zerschlagen. Infolgedessen errichteten die USA und ihre Verbündeten das System des Neokolonialismus, das formale Unabhängigkeit bei gleichzeitig gesteigerter ökonomischer Abhängigkeit und militärischer Bedrohung gegen die jungen befreiten Staaten durchsetzen sollte. Wer sich der neokolonialen Unterordnung widersetzte, musste vor 1990 und bis heute mit Aggressionen und Kriegen rechnen.
Ökonomisch und politisch beherrschen die imperialistischen Länder die internationale Arbeitsteilung und ordnen sie ihrem Reproduktionsprozess unter. Werktätige unterentwickelter kapitalistischer Länder werden ausgebeutet und der produzierte Reichtum zugunsten der herrschenden Monopole abgeschöpft. Die größten Monopole haben die Wirtschaften weniger entwickelter Länder ihrem Akkumulationsregime untergeordnet. Politisch folgt dem die Unterordnung der weniger entwickelten Länder unter das Diktat der führenden imperialistischen Staaten. Der Imperialismus verschafft sich massiven Einfluss auf die Bedingungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, der Frage der Handels- und Finanzpolitik und vielem weiteren mehr. Im umfassenden Sinne verschaffen sich die Interessen der führenden Monopole Geltung und engen die Selbstbestimmung der Länder und die Möglichkeiten des Klassenkampfes weiter ein.
Eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung wird vielfach unterminiert, die Entwicklungsdiskrepanz und die Abhängigkeit konserviert. Für die unterdrückten Völker bedeutet ihre nationale Selbstbestimmung einen Kampf gegen wirtschaftliche und politische Einflussnahme durch ausländische imperialistische Staaten und für eine selbstständige Bestimmung der Lebensverhältnisse. Darin besteht der Zusammenhang im Kampf um soziale Selbstbestimmung und letztendlich dem Kampf um die Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung, auf Basis einer Bekämpfung politischer Steuerung und Fremdherrschaft durch den Imperialismus.
Auch für große und wirtschaftlich sowie militärisch stärker gewordene Länder wie China und Russland ist diese nationale Frage von existenzieller Bedeutung, da der Imperialismus diese bedroht. Dabei geht es nicht nur um ihre ökonomische Ausbeutung und Unterdrückung, sondern auch darum, sie als politische Subjekte, als eigenständig und damit potenziell entgegen den imperialistischen Mächten handelnde Akteure zu neutralisieren.
3. These: Zentrale Herausforderung der Arbeiterklasse
Die historische Entwicklung zeigt, dass im Kampf für die Verteidigung der nationalen Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Fortschritt sowie zur Verteidigung der Interessen der unterdrückten Länder gegenüber dem Imperialismus die Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle einnehmen werden muss. Auch wenn zunächst in den meisten Ländern die Arbeiterklasse nicht oder nicht allein an der Macht ist, ist sie trotzdem schon heute der gesellschaftliche Faktor, der am stärksten gegen die Unterordnung unter imperialistische Herrschaft kämpfen muss.
Dieser entscheidende historische Prozess verläuft nicht ohne Widersprüche zwischen den Klassen in den unterdrückten Ländern und nicht ohne die Notwendigkeit der Durchsetzung der Arbeiterklasse. Der Klassenkampf gegen die Bourgeoisie der nicht-imperialistischen Länder ist damit nicht aufgehoben, sondern besteht in einem historischen Kontext, in dem gerade die Erringung oder Verteidigung der nationalen Selbstbestimmung von der politischen Stärke der Arbeiterklasse abhängen wird.
Der Neokolonialismus und die damit verbundene Frage des Kampfes um nationale Befreiung als antiimperialistischer Kampf und Verbindung mit dem Kampf für den Sozialismus waren für die kommunistische Bewegung immer ein bedeutender Teil ihrer Theorie und Praxis. Ansichten, die die aktuellen Konflikte als Ergebnis des „Aufstrebens“ neuer imperialistischer Staaten sehen, ignorieren diesen Widerspruch und erklären ihn zum Relikt. Der gemeinsame Kampf der Arbeiterklasse der imperialistischen Zentren und der unterdrückten Völker gegen ihren gemeinsamen Feind wird verleugnet und damit eine wesentliche Grundlage des proletarischen Internationalismus negiert. Sie verstehen nicht die Aufgabe der Arbeiterklasse in dieser Kampfphase.
4. These: Die Bedeutung und Bestimmung nationaler und gerechter Kriege
Die Annahme, dass es in der Ära des Imperialismus aufgrund der formalen Unabhängigkeit der Staaten keine nationalen Kriege mehr geben könne, ist falsch. Die Kriege von Kolonien oder Halbkolonien gegen imperialistische Staaten sowie die von bedrohten oder unterdrückten Staaten gegen imperialistische Aggression stellen gerechte nationale Befreiungskriege dar.
Der Verlauf der Weltgeschichte ist widersprüchlich, deshalb ist die konkrete Untersuchung der konkreten Verhältnisse die Voraussetzung, um zu verstehen, wie sich die gesetzmäßige Entwicklung der Geschichte vom Niederen zum Höheren durchsetzt. Da im Ersten Weltkrieg die imperialistischen Regierungen den Krieg mit der „Vaterlandsverteidigung“ und damit der nationalen Verteidigung gerechtfertigt hatten und opportunistische Sozialdemokraten diese Propaganda übernommen hatten, um den imperialistischen Charakter des Krieges zu verschleiern, kamen einige Marxisten zu dem falschen Schluss, dass es grundsätzlich keine nationalen Kriege in der imperialistischen Ära mehr geben könne.
Besonders in seinem Text „Über die Junius-Broschüre“ (Lenin-Werke, Band 22, S. 310 ff.) setzt sich Lenin mit der Annahme Luxemburgs auseinander, dass es keine nationalen Kriege mehr geben könne und zeigt auf, dass die Geschichte widersprüchlich verläuft: „Drittens darf man selbst in Europa nationale Kriege in der Epoche des Imperialismus nicht für unmöglich halten. Die ‚Ära des Imperialismus‘ hat den jetzigen Krieg zu einem imperialistischen gemacht, sie wird unweigerlich (solange nicht der Sozialismus kommt) neue imperialistische Kriege erzeugen, sie hat die Politik der jetzigen Großmächte zu einer durch und durch imperialistischen gemacht, aber diese ‚Ära‘ schließt keineswegs nationale Kriege aus, z. B. von Seiten der kleinen (nehmen wir an, annektierten oder national unterdrückten) Staaten gegen die imperialistischen Mächte, wie sie auch im Osten Europas nationale Bewegungen in großem Maßstab nicht ausschließt.“ (ebd., S. 316 f.)
Lenin weist darauf hin, dass nationale in imperialistische Kriege und umgekehrt umschlagen können und gerade deshalb die konkrete Analyse der konkreten Situation und ihrer Entwicklung notwendig ist. Für die Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg ist erkennbar, dass beispielsweise der Krieg gegen das faschistische Deutschland und seine Besatzung Frankreichs zu einem nationalen Krieg Frankreichs als imperialistischem Land gegen Deutschland geführt hat. Die Herrschaft des imperialistischen Lagers unter Führung der USA seit 1945 führt zu zahlreichen nationalen Kriegen gegen deren Aggression und Bedrohung. Die Militäroperation Russlands ist ein besonderer Krieg in dieser Reihe, da sie von einer größeren militärischen Macht ausgeübt wird, was aber nichts am Charakter des Kriegs ändert.
Teil II: Der Ukraine-Krieg unter der Fragestellung des nationalen Krieges
5. These: Russland und China im Fadenkreuz
Russland und China zu unterwerfen, ist eine Bedingung für die Aufrechterhaltung der imperialistischen Ordnung. Eine Triebkraft der imperialistischen Politik besteht im Widerspruch zur wachsenden Souveränität Russlands, Chinas und anderer Staaten gegenüber dem Weltherrschaftsanspruch der imperialistischen Länder. Diese Front gegen die unterdrückten Völker liegt im gemeinsamen Interesse der Imperialisten.
Die zunehmende Möglichkeit und Bereitschaft von Russland und China, sich zu verteidigen und der imperialistischen Aggression Grenzen aufzuzeigen, geht einher mit verschiedenen Prozessen, die der imperialistischen Herrschaft diametral entgegen. Das betrifft u.a. unabhängige Beziehungen zwischen den unterdrückten Staaten, ein alternatives Währungssystem, Produktivkraftentwicklung, Industrialisierungsprozesse und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, kurzum: gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung und die darauf gründende Eigenständigkeit. Diese Prozesse befinden sich derzeitig in einem widersprüchlichen Anfangsstadium.
Russland und China stehen deswegen im Fadenkreuz der Aggression des imperialistischen Lagers. Mit dem Krieg in der Ukraine sind wir bereits in die Phase der „Entscheidungsschlachten“ um die Aufrechterhaltung der bestehenden imperialistischen Ordnung eingetreten. Damit ist der Krieg in der Ukraine zugleich Ausdruck und, angesichts des bisherigen Misserfolgs der NATO, Beschleuniger des Niedergangs des Imperialismus.
Der Verlauf der Entwicklung hat Russland stärker und einheitlicher gegen die imperialistischen Länder in Stellung gebracht. Die Aggression der Imperialisten ist selbst der zentrale Antrieb zur einheitlicheren Formierung seiner Gegenkräfte. Auch wenn Russland kein sozialistischer Staat ist, bedeutet die Aufrechterhaltung seiner nationalen Unabhängigkeit eine Stärkung der gegen die Interessen des imperialistischen Lagers gerichteten Kräfte.
6. These: Nationaler Krieg um Selbstbestimmung
Der bewaffnete ukrainische Faschismus war stets eine aggressive Kraft im Kampf gegen die russische Nation und in der Kriegsführung gegen die Donbass-Republiken. Die Kommunisten in der Ukraine und Russland drängen darauf, den antifaschistischen Charakter des Krieges zu einem konsequenten antifaschistischen Krieg zu führen, da sie die Bekämpfung des Faschismus sowohl für Russland als auch für die Ukraine als eine nationale Notwendigkeit sehen.
Russland führt einen nationalen Krieg, der sich nun unmittelbar gegen die jahrelange imperialistische Aggression richtet. Mit der Militäroperation begegnet Russland der Bedrohung seiner Sicherheitsinteressen. Das beinhaltet die Unterstützung des antifaschistischen Befreiungskampfes der Donbass-Republiken und darüber hinaus die Zurückdrängung der NATO in der Form des von ihr aufgezwungenen Zermürbungskrieges in der Ukraine.
Damit ist die russische Militäroperation der erste seit langer Zeit geführte Krieg einer größeren Militärmacht, die sich gegen die Unterdrückung durch den Imperialismus wendet- das zeichnet ihn historisch aus.
Durch die wirtschaftliche Aggression in Form eines ausgeweiteten Wirtschaftskriegs, die seit 2014 offen und verdeckt stattfindende Kriegsführung der NATO und der Ukraine gegen Russland sowie die ideologische Aggression in Form von nationalistischer und rassistischer Propaganda sah Russland keine Alternative zu dieser Militäroperation.
Es gibt bis heute keine Anzeichen dafür, dass Russland mit dieser Operation eine gewaltsame Beherrschung und Ausbeutung des ukrainischen Staatsgebiets anstrebt. Die militärischen Eroberungen beschränken sich gezielt auf den Osten und Süden der Ukraine. Ihr Ziel ist es, die Funktion der Ukraine als Aufmarschgebiet gegen Russland militärisch-infrastrukturell und politisch zu beenden und sie vom faschistischen Terror des Kiewer Regimes zu befreien. Ihr wesentliches Ziel ist nicht die politische Unterwerfung der Ukraine. Der Zweck des Kriegs liegt nicht in der ökonomischen Ausbeutung von ukrainischer Arbeitskraft und Produktionsmitteln. Russland akzeptierte auch noch nach Beginn der Militäroperation einen EU-Beitritt samt wirtschaftlicher EU-Integration der Ukraine. Nicht jedoch eine NATO-Mitgliedschaft.
7. These: Der antifaschistische Widerstand in der Ostukraine als Vorhut des Kampfs um Selbstbestimmung
Der im Osten und Süden der Ukraine begonnene Widerstand gegen den faschistischen Putsch von 2014 war die mutige Vorhut des Kampfs um Selbstbestimmung. Die Volksmassen ergriffen die Initiative und stellten sich der faschistischen Offensive des Kiewer Regimes entgegen. Unter großen Opfern haben sie ihr Recht auf Selbstbestimmung und das antifaschistische Erbe des Großen Vaterländischen Kriegs verteidigt und damit ein starkes Hindernis für die Expansion des NATO-Bandera-Regimes dargestellt. Ihre Anerkennung und Schutz sowie die Militäroperation stehen in vollem Einklang mit dem Willen der Volksmassen.
Die Gründung der Volksrepubliken von Lugansk und Donezk stellte den Höhepunkt dieses Kampfs dar. Damit konnte nicht nur ein Teil der Ukraine vor dem Zugriff der Faschisten geschützt werden, sondern damit wurde der Kampf auf eine politisch höhere Ebene gehoben und ihm die Bedeutung verliehen, die er hat: als antiimperialistischer und antifaschistischer Kampf. Diese Aktion der Volksmassen stellt eine entscheidende Wende auch in Bezug auf die Notwendigkeit des Handelns der Russischen Föderation dar.
Das Kiewer Regime unter Führung der USA war stets bestrebt, die Volksrepubliken zu zerstören und damit jeden Widerstand zu beseitigen, scheiterte aber damit. Die Aufrüstung des Kiewer Regimes gegen die antifaschistischen Republiken durch die NATO war eine direkte Kriegsvorbereitung gegen Russland.
Die Anerkennung der Volksrepubliken und ihr Schutz durch die Russische Föderation entsprechen dem erklärten Willen der Bevölkerung der Volksrepubliken, den diese immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Sie erfolgte viel zu spät. Die Militäroperation ist die Fortsetzung des antifaschistischen Kampfs der Volksrepubliken und steht vollständig im Einklang mit dem Willen der Volksmassen – keineswegs im Widerspruch dazu.
Russlands Bourgeoisie ist ein unzuverlässiger und wankelmütiger Klassenfaktor, weil sie stets auch die eigenen Kapitalinteressen im Blick hat und bereit ist, die nationale Frage zu verraten. Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse, die konsequent für die Verteidigung der nationalen Souveränität einstehen und kämpfen wird. Sie muss daher gestärkt werden. Ihr Interesse liegt in einer konsequenten antiimperialistischen Umwälzung zum Sozialismus. Das geht nur über die Stärkung der Kommunistischen Partei. Der nationale und antifaschistische Krieg stellt zwar lediglich eine strategische Etappe des politisch-militärischen Befreiungskampfs der Arbeiterklasse dar, ist dadurch aber gleichzeitig Voraussetzung und Teil des Klassenkampfes. Damit ist er im unmittelbaren Interesse der russischen Arbeiterklasse und ihrer faschistisch beherrschten und im NATO-Krieg verheizten ukrainischen Klassengeschwister.
Ein Sieg der NATO würde zugleich einen Sieg des ukrainischen Faschismus bedeuten. Die Unterwerfung und Ausbeutung der Ukraine gingen einher mit einer erneuten Unterdrückung und Ausbeutung Russlands durch den Imperialismus. Die internationalen Kräfteverhältnisse würden sich zugunsten des Imperialismus verschieben.
Die russischen Kommunisten verfolgen seit langem den Kurs der nationalen Verteidigung, den sie sowohl als Voraussetzung als auch als möglichen Übergang zum Sozialismus begreifen. Durch die notwendigen Maßnahmen zu einer effektiven Verteidigung eröffnen sich Chancen für Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen sowie für die Zurückdrängung der Bourgeoisie, insbesondere ihrer kollaborierenden Teile. So kann der Klassenkampf konsequent in Richtung Sozialismus vorangetrieben werden.
Es ist im Interesse der russischen Arbeiterklasse, das revolutionäre Potenzial dieses nationalen und antifaschistischen Krieges zu nutzen. Dafür muss sie als entscheidender politischer Faktor konsequente nationale Verteidigung und konsequenten Antifaschismus gegen ihre Klassengegner durchsetzen. Nach der Phase der Unterwerfung und Ausplünderung Russlands in den 1990ern weiß die Arbeiterklasse, was sie zu verlieren hat.
Ein Vorteil der durchgeführten Maßnahmen liegt klar in den Händen der nationalen Bourgeoisie. Sie hat ihren politischen Einfluss gefestigt und ihr Betätigungsfeld ausgeweitet. Zugleich hat der Prozess der nationalen Unabhängigkeit Russlands auch den Volksmassen Fortschritte eingebracht. Diese werden nun durch die Militäroperation verteidigt. Dass die Werktätigen in Stadt und Land nicht mehr das alte Doppeljoch der einheimischen und ausländischen Ausbeuter zu ertragen haben, verändert ihre Existenzbedingungen und zugleich die Bedingungen ihres Kampfes, um ökonomische und politische Macht, der in einem unabhängigen Staat leichter zu führen ist als unter der Knute fremder Monopole und Ausbeuter.
Für die ukrainische Arbeiterklasse entscheidet sich durch die Militäroperation die Frage, weiter als NATO-Rammbock ausbluten zu müssen, während sämtliche Organisationen der Arbeiterklasse entweder verboten oder massiv eingeschränkt sind. Die Zurückdrängung des Imperialismus und Faschismus aus der Ukraine ist dabei auch im Interesse der Werktätigen der Ukraine. Einem Friedensprozess steht dabei die NATO im Weg, die diese Unterwerfung und Aggressionspolitik in welcher Weise auch immer durchsetzen will.
9. These: Stärkung der internationalen Front gegen den Imperialismus
Die Niederlage und Schwächung des aggressiven NATO-Blocks im Krieg gegen Russland bedeuteten die Zurückdrängung des Imperialismus und eine Verschiebung der internationalen Kräfteverhältnisse. Das eröffnet Spielräume für fortschrittliche und antiimperialistische Kräfte. Dieser Charakter und die daraus resultierenden internationalen Entwicklungen müssen von der kommunistischen Bewegung weltweit anerkannt und aufgegriffen werden, um zu zeigen, dass Russlands Militäroperation im Interesse der Befreiung der Arbeiterklasse und unterdrückten Völker weltweit ist.
Die internationale Arbeiterklasse kann unter anderem durch die Militäroperation ihre Spaltungslinien zwischen den imperialistischen Ländern und den unterdrückten Ländern überwinden. Die Entwicklungen im Sahel, in Palästina und im Jemen, sowie der BRICS-Allianz im Allgemeinen zeigen auf, welche Widersprüche sich seit Russlands Militäroperation global verschärfen. Die kriegführenden imperialistischen Regierungen spüren zunehmend Unmut und Ablehnung gegenüber der Aufrüstung und Kriegspolitik, während die unterdrückten Völker gegen ihre Unterjochung aufbegehren.
Zwischen den unterdrückten Völkern und den imperialistischen Zentren treten immer offenere Risse auf. Es liegt im Interesse der weltweiten Arbeiterklasse sowie der unterdrückten Völker, zur Niederlage dieser imperialistischen Kriegsmaschine beizutragen, sie zunehmend anzuführen und mit kommunistischen Positionen zu stärken.
Teil III: Zu den historischen Entwicklungen im Einzelnen
Russlands Charakter und Entwicklung
10. These: Kampf um Unabhängigkeit und Souveränität
Mit der Konterrevolution in der UdSSR wurde Russland dem Imperialismus unterworfen und auf die Rolle eines Rohstofflieferanten und Absatzmarktes reduziert. Seit Beginn der 2000er Jahre richtet sich die russische Politik, sowohl in wirtschaftlicher und innenpolitischer Hinsicht als auch auf internationaler Ebene, zunehmend gegen diese politische und ökonomische Unterwerfung durch den Imperialismus.
Die Kapitalisierung der sowjetischen Volkswirtschaft führte zur Zerstörung der bisherigen Produktionsbeziehungen in der gesamten ehemaligen UdSSR. Dies wiederum verursachte den Niedergang der nunmehr russischen Volkswirtschaft, was zur Kapitalflucht aus Russland führte. Infolgedessen entstand eine Bourgeoisie, die ihr Kapital vorwiegend im Ausland akkumulierte und daher kein Interesse an einem nationalen kapitalistischen Wachstum Russlands hatte. Neben diesem Ausverkauf der Produktion zeigte sich eine weitere Tendenz: die Übernahme der Kontrolle über den profitablen Rohstoffsektor durch ausländisches Kapital. Es ist daher ein Irrtum zu behaupten, die privatisierten Großbetriebe und Banken der ehemaligen Sowjetunion seien in nationale Monopole oder Finanzkapital überführt worden, die mit dem russischen Staat verschmolzen wären.
Russlands Kapitalismus entwickelte sich im Zuge dieses wirtschaftlichen Niedergangs und Ausverkaufs in eine zunehmende Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt des Imperialismus. Diese Abhängigkeit ermöglichte es den Institutionen des Imperialismus, Russland ihre politischen Vorgaben aufzuzwingen. Konkret wurde Russland in den Status eines Rohstofflieferanten und Investitionsstandortes ausländischen Kapitals geführt. Der Profit dieses Kapitals wurde aus dem Land abgezogen und in den Währungen der imperialistischen Länder akkumuliert.
Vor dem Hintergrund dieser Abhängigkeiten verfolgt Russland heute eine Wirtschaftspolitik, die auf eine stärkere staatliche Kontrolle über strategisch zentrale Schlüsselindustrien und Banken abzielt. Diese Kontrolle soll wiederum die Voraussetzung für Importsubstitution und eine Diversifizierung der Exporte schaffen.
Notwendige Voraussetzung dieser, mit vielen Widersprüchen behafteten Agenda ist also mittelfristig keine expansionistische Ausweitung des russischen Kapitals, sondern eine Konsolidierung des russischen Kapitalismus durch eine stärkere Loslösung vom Imperialismus. Anderslautende, großrussisch-chauvinistische Verlautbarungen bestimmter russischer Politiker und Denker sowie mögliche Entwicklungen in ferner Zukunft ändern an dieser aktuellen objektiven Sachlage nichts.
Russland fordert, dass ihm dieses Recht auf Unabhängigkeit anerkannt wird. Es ist aufgrund seiner aus der UdSSR übernommenen militärischen Mittel in der Lage, diesem Recht Geltung zu verleihen. Dieser Forderung wird seitens des Imperialismus mit Einkreisung und Drohung und seit 2014 mit Unterstützung eines bewaffneten Konfliktes in der Ukraine reagiert.
11. These: Verstoß gegen die „Weltordnung“
Mit seiner militärischen Stärke und dem Bestreben, die eigene Abhängigkeit sowie die untergeordnete Rolle in der internationalen Arbeitsteilung auch materiell zu überwinden, stellt Russland eine Herausforderung für den Imperialismus dar – denn es verschiebt das globale Kräfteverhältnis in einer Qualität, wie sie seit der Konterrevolution nicht mehr zu beobachten war. Folglich geht es den imperialistischen Ländern nun prinzipiell darum, Russlands Machtmittel und seine politischen Ambitionen durch einen umfassenden militärischen und Wirtschaftskrieg einerseits und eine politische Destabilisierung andererseits zu zerstören. Mit dieser Zerstörung soll an Russland auch für andere Gegenkräfte der imperialistischen Ordnung ein Exempel statuiert werden.
Die Sowjetunion unterstützte mit ihrer Agenda des proletarischen Internationalismus nationale und antiimperialistische Befreiungsbewegungen. Sie war mit ihren materiellen Mitteln damit in der Lage, im Kräfteverhältnis zwischen Arbeiterklasse und Imperialismus ein bedeutender Faktor zu sein. Konkret konnte sie dabei auf der einen Seite Befreiungsbewegungen materiell unterstützen und auf der anderen Seite der Unterdrückung des Imperialismus gegen diese Bestrebungen eine Grenze setzen und ein alternatives wirtschaftliches Integrationssystem bieten.
Ein militärischer Schlag ist das letzte Mittel zur Durchsetzung des eigenen Interesses. Mit diesem Schlag bekommt der Gegensatz eine neue Form für den Imperialismus und wird damit, im Unterschied zu bisherigen Unabhängigkeitsbestrebungen kleinerer Staaten, zum ultimativen Verstoß gegen seine Weltherrschaft gesehen. Die vollständige Zerstörung seiner materiellen, also militärischen und wirtschaftlichen Machtmittel sowie die Herbeiführung eines proimperialistischen politischen Umsturzes in Russland sind damit notwendig das strategische Ziel des Imperialismus. Das Scheitern dieser Pläne liegt daher im objektiven Interesse des Kampfes gegen den Imperialismus weltweit.
Der Aufbau der Ukraine zu einem Aufmarschgebiet gegen Russland
12. These: Der ukrainische Faschismus als Instrument des Westens
Eine entscheidende Bedingung für den Aufbau der Ukraine zu einem militärischen Aufmarschgebiet gegen Russland war und ist der ukrainische Faschismus, sowohl als Bewegung als auch an der Staatsmacht. Die ukrainischen Ultranationalisten und Faschisten waren und sind die wichtigsten Verbündeten der westlichen Imperialisten für ihre Ukraine- und Russlandpolitik und wurden durch diese nach dem Sieg über den deutschen Faschismus auch im Exil am Leben gehalten.
Die Ukraine wurde aufgrund ihrer geographischen Lage immer als das zentrale Aufmarschgebiet für einen konventionellen Krieg gegen Russland gesehen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg sahen deutsche Strategien die Ukraine als Schlüsselgebiet für einen Sieg über Russland. Auch im Zweiten Weltkrieg und nach der Niederlage des Faschismus wurden ukrainische Faschisten unterstützt bzw. direkt mit ihnen zusammengearbeitet. Nach der Konterrevolution erfüllte der ukrainische Faschismus weiterhin seine antirussische Funktion für die NATO-Mächte. Mithilfe des modernen Banderismus wurde die „Westintegration“ der Ukraine zu einem Rammbock gegen Russland vollzogen. Insbesondere die USA und Deutschland bewaffneten und finanzierten zu diesem Zweck diverse faschistische Gruppen in- und außerhalb der Ukraine.
Seit dem Maidan-Putsch 2014 übernimmt die faschistische Bewegung in der Ukraine Schlüsselpositionen in Militär, Verwaltung und Staat und kann so offenen Terror gegen die Arbeiterbewegung, Linke, Kommunisten und sich als russisch verstehende bzw. russischsprachige Bevölkerungsteile ausüben. Der Banderismus wurde zur Staatsräson erhoben, die Hitler-Kollaborateure wurden zu Nationalhelden erklärt. Es ist die antirussische ethnonationalistische Ideologie der Faschisten, die die nationale Einheit und Souveränität der Ukraine bedroht und nicht vor einem Krieg gegen die eigene Bevölkerung zurückschreckte, wie der Krieg gegen die Ostukraine deutlich gezeigt hat.
Die ukrainische faschistische Bewegung diente dem deutschen Imperialismus bereits nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion als wichtiger Verbündeter zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Der ukrainische Faschismus zeichnete sich neben seinem aggressiven Antisemitismus und Antikommunismus durch eine radikal antirussische, ukrainisch ethnonationalistische Ideologie aus, die die Massenmorde der OUN und UPA zwischen 1943 und 1945 begründete. Nach 1945 wurden die wichtigsten Köpfe des Banderismus von den imperialistischen Mächten vor Verfolgung geschützt und in antisowjetische Programme der US-, britischen und deutschen Geheimdienste eingebunden.
Unter der Führung der USA und Deutschlands wurden nach der Konterrevolution in der Ukraine insbesondere jene Kräfte gefördert, die für eine aggressive antirussische Haltung standen, darunter auch faschistische Strukturen, die in der Nachfolge des Banderismus stehen. Spätestens mit dem vom Westen orchestrierten Maidan-Putsch zeigte sich, welche zentrale Rolle paramilitärische faschistische Kräfte für die Durchsetzung der NATO-Interessen in der Ukraine spielten. Seitdem erfüllt der Faschismus in der Ukraine die Funktion des Terrors, der ideologischen Umorientierung der Bevölkerung und ihrer Spaltung. Bereits vor dem Beginn der SMO im Februar 2022 wurden brutale Maßnahmen des Regimes gegen jegliche Opposition durchgesetzt. Die Organisationen der ukrainischen Arbeiterbewegung wurden illegalisiert und zerschlagen, insbesondere die Kommunisten in die komplette Illegalitätt gedrängt. Massaker an Antifaschisten und ethnischen Minderheiten sowie Angriffe auf bürgerlich-demokratische Kräfte, die sich der Faschisierung entgegenstellten, wurden unter den billigenden Augen des Staatsapparates von faschistischen Banden verübt.
Der ukrainische Faschismus ist dabei rassistisch und aggressiv antikommunistisch und negiert die sowjetische Geschichte der Ukraine. Somit ist er auch gegen die historische sowjetische Identität der Ukraine als Vielvölkerstaat gerichtet. All diese Vorstöße zielten auf die zunehmende Einbeziehung und Zurichtung der Ukraine und ihrer Bevölkerung auf die NATO-Kriegspläne gegen Russland ab. Zu diesem Zweck spaltet der ukrainische Faschismus die ukrainische Bevölkerung und führt sie, entgegen ihrer Interessen, in einen Krieg gegen Russland.
Der umfassende Geschichtsrevisionismus soll die sowjetische Geschichte der Ukraine zu einer Zeit der Fremdherrschaft umdeuten, mit dem Ziel, eine Zugehörigkeit der Ukraine zur EU und damit zum westlichen Imperialismus künstlich zu konstruieren. Doch diese gemeinsame Geschichte ist eben die Geschichte der Kollaboration mit Nazi-Deutschland, in dessen Plänen die Ukraine immer nur als nicht-souveräne Weizenkammer dienen sollte. Der Neo-Banderismus ist damit anti-national, weil er die Interessen ausländischer Imperialisten gegenüber der ukrainischen Nation ausdrückt. Auch wenn er sich auf eine ukrainische nationale Bewegung stützen kann, wurde der ukrainische Faschismus doch sowohl in seiner Entstehung als auch in seiner gesamten Entwicklung fortlaufend von den westlichen Mächten am Leben erhalten und mit massiven politischen, finanziellen und militärischen Mitteln unterstützt. Die Bezeichnung des ukrainischen Faschismus als „Exportfaschismus“ bringt diesen Umstand treffend auf den Punkt.
Wie der deutsche Faschismus damals, so betreibt die BRD heute wieder eine Täter-Opfer-Umkehr zur Legitimation ihres eigenen Interesses an der Ukraine: Das Narrativ, die ukrainische Nation verteidige sich gegen die russische Unterdrückung, wird nahtlos von damals übernommen. Die BRD betreibt damit durch ihre Unterstützung des Neo-Banderismus heute offen eine Rehabilitierung des deutschen Faschismus.
13. These: Die Ukraine muss für den Imperialismus hinhalten
Die seit der Konterrevolution andauernde Eingliederung der Ukraine in den aggressiven NATO-Block erhielt mit dem Maidan-Putsch eine neue Qualität. Mit dem Putsch ging ein radikaler Ausverkauf der Wirtschaft des Landes an westliche Monopole einher. Heute kontrolliert der Imperialismus, insbesondere der US-Imperialismus, die Ukraine politisch und ökonomisch. Ziel war die Zurichtung der Ukraine auf die Kriegspläne der USA und der NATO sowie die wirtschaftliche Unterwerfung und Ausbeutung des Landes.
Die durch die Konterrevolution herbeigeführte staatliche Abtrennung der Ukraine von Russland öffnete unmittelbar viele Möglichkeiten für die NATO-Staaten, durch Stiftungen, Berater und Medien sowie bei ihnen ausgebildeten Politikern Einfluss auszuüben und an sich zu binden. Verbunden mit dem Ausverkauf des Landes wurde die Ukraine seitdem in zahlreiche euro-atlantische Netzwerke integriert. Die geografische Lage der Ukraine versetzt das Land bis heute in eine militärstrategisch wichtige Position gegen Russland. Die IWF-Spardiktate und als „Entwicklungshilfe“ bezeichneter Kapitalexport forcierten den Einfluss ausländischen Finanzkapitals. 2004 wurde mit der „Orangenen Revolution“ erstmals versucht die Unterordnung der Ukraine durch die Installierung einer prowestlichen Marionettenregierung zu beschleunigen. Der Putschversuch scheiterte am Widerstand des ukrainischen Volkes.
Einen Meilenstein in dieser Entwicklung stellte das von der Putschregierung 2014 angenommene „EU-Assoziierungsabkommen“ dar. Die folgenden „Reformprogramme“ führten zur Privatisierung und Öffnung nahezu sämtlicher Sektoren der ukrainischen Wirtschaft, exklusiv zugunsten westlicher Monopole. Diese konnten weit in die ukrainische Wirtschaft eindringen und diese, durch gleichzeitigen starken Einfluss auf den Staatsapparat, gegen die Interessen des ukrainischen Volkes an westliche Interessen ausrichten. Staat und Regierung sind dabei nicht nur dem unmittelbaren politischen Druck aus Washington und Brüssel sowie ihren NGOs ausgesetzt, sondern gleichermaßen durchsetzt mit Beratern und Ministern aus diesen Kreisen. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen über die Zukunft des Landes fielen ab dem ersten Tag der postsowjetischen Ukraine immer stärker unter die Profit- und Expansionsinteressen westlichen Kapitals. Eine Orientierung der Ukraine in Richtung Russland war von Seiten des Westens nie eine Option.
Der antifaschistische Widerstand der Volksrepubliken
14. These: Historische Wende im Donbass
Teile der Bevölkerung im Gebiet der heutigen Ukraine kämpften, seitdem es imperialistische Interessen an der Ukraine gab, gegen Faschismus und imperialistische Einflussnahme. Der Maidan-Putsch stellte eine schwere Niederlage für die ukrainische Arbeiterbewegung und diese antifaschistischen Kräfte dar. Zugleich erreichte dieser Widerstand im Donbass und auf der Krim eine neue Qualität. Ihr Kampf ist und war ein existenziell notwendiger Verteidigungskampf gegen ihre Unterdrückung. Besonders aktiv wurde dieser Kampf durch die Ausrufung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk geführt, die das Ergebnis von Volksaufständen gegen das Kiewer Regime darstellten und der NATO auf ihrem Vormarsch nach Osten erstmals eine rote Linie aufzeigten. Die Donbass- Bevölkerung verteidigt seitdem ihr legitimes und völkerrechtlich verbrieftes Recht auf nationale Selbstbestimmung gegen die von ukrainischen Faschisten angeführte NATO-Aggression.
Im gesamten Gebiet der Ukraine wurde sich gegen die 2014 begonnene sogenannte „Anti-Terror-Operation“ des Kiewer Regimes, die in der Sache eine von Faschisten betriebene Säuberungsaktion gegen den Widerstand war, zur Wehr gesetzt. Der schärfste Ausdruck dieses Kampfes entfaltete sich im Donbass und erreichte seinen Höhepunkt in den Volksrevolutionen von 2014, die in der Gründung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk mündeten. Sie stellten einen notwendigen und erfolgreichen Akt der Selbstverteidigung dar, der seit 2022 unmittelbar durch den Militäreinsatz Russlands unterstützt wird.
Die Volksrepubliken im Donbass stützen sich dabei auf ihre antifaschistische und antiimperialistische Grundlage sowie eine breite Unterstützung aus dem Volk. Mit der Abtrennung und Loslösung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk nahmen die Volksrepubliken ihr legitimes und völkerrechtlich verbrieftes Recht auf nationale Selbstbestimmung zugunsten einer Aufrechterhaltung der Beziehungen zu Russland (politisch, ökonomisch, kulturell) wahr. Sie leisteten einen historischen Schritt gegen die imperialistische NATO-Aggression in Osteuropa und verteidigten seitdem ihr Selbstbestimmungsrecht. Die Kommunisten in Russland und Internationalisten aus der ganzen Welt drängten dabei kontinuierlich auf eine Unterstützung der Bevölkerung zugunsten verbesserter Lebensbedingungen und Kampfbedingungen für die Arbeiterklasse sowie einer Schwächung des Imperialismus durch Abwehr der Unterordnung der Bevölkerung. Die Aggression gegen die Volksrepubliken richtete sich dabei auch immer gegen Russland.
Der Widerstand gegen die faschistische Putschregierung, der 2014 vom Donbass ausging und sich entschlossen und konsequent den Nazi-Truppen entgegenstellte, ist die Vorhut und der eigentliche historische Wendepunkt. Er setzte den faschistischen Truppen Kiews eine Grenze und zeigte den einzigen Weg auf, wie der Faschismus bekämpft werden kann und muss. Seine militärischen Erfolge und sein Durchhaltevermögen brachten auch der Russischen Föderation Zeit, um sich auf die Konfrontation mit dem Imperialismus vorzubereiten und erschwerten der NATO und Kiew eine schnelle Steigerung der Bedrohung gegen Russland.
15. These: Ein erzwungener Defensivschlag
Die Verletzung zentraler Sicherheitsinteressen Russlands und die Zurückweisung jeglicher Verhandlungen sowie eine Steigerung der militärischen Aktivitäten und Provokationen seitens der ukrainischen Armee ab 2021 wurden von der Russischen Föderation mit deutlichen Warnungen und dem Aufzeigen militärischer Möglichkeiten beantwortet. Diese Warnungen wurden mit einer weiteren militärischen und politischen Eskalation seitens des Westens beantwortet. Russland sah keine Alternative zur militärischen Reaktion, die auch von den Volksrepubliken eingefordert wurde. Die militärische Reaktion weist die zunehmende Bedrohung und Eskalation in die Schranken und entblößt damit gleichzeitig ihre zunehmende Schwäche.
Die russische Regierung ist mit ihren jahrelangen diplomatischen Bemühungen, ihre Sicherheitsinteressen vertraglich absichern zu lassen, am Unwillen des Westens gescheitert. Die Liste der Aggressionen ist lang: Sie beginnt mit der NATO-Osterweiterung und führt über die Aufkündigung der INF-Verträge zur verdeckten Kriegsführung gegen Russland. Zugespitzt wurde dies ab Dezember 2021, als die russische Regierung einen konkreten Vertragsentwurf vorlegte, der den Rückzug der NATO-Truppen auf den Stand von 1997 forderte. Dieser wurde vom Westen mit einer Verschärfung der militärischen Drohungen beantwortet: Zu dieser Zeit war ein massives Vorrücken ukrainischer Truppen am Frontverlauf in der Ostukraine zu beobachten. Der ukrainische Präsident kündigte auf der NATO-Sicherheitskonferenz im Februar 2022, also ein paar Tage vor Beginn der Militäroperation, an, dass sie das Budapester Memorandum als obsolet betrachte. Damit kündigte die Ukraine eine eigene atomare Bewaffnung an, was der damalige Botschafter in Deutschland, Melnyk, bestätigte. Die Kiewer Regierung konkretisierte zu diesem Zeitpunkt Eroberungspläne der Krim und der Volksrepubliken. Diese letzten Provokationen zeigten, dass Russland seine Sicherheitsinteressen gegenüber dem Westen nicht mehr mit Diplomatie erreichen konnte. Eine militärische Invasion der Kiewer Truppen in die Volksrepubliken hätten diese nicht überstanden. Die Anerkennung der Volksrepubliken durch die Russische Föderation und ein Beistandsabkommen waren unmissverständliche Signale, dass bei Überschreitung dieser Grenze Konsequenzen eintreten würden. Nachdem der Westen weiterhin jegliche Verhandlungen und Zusicherungen abgelehnt hatte, war eine Intervention als letztes Mittel notwendig und unausweichlich geworden.
Diese strategisch defensive Handlung hat einen taktisch offensiven Charakter und stellt eine konsequente Gegenwehr dar. Sie ist eine Antwort auf die Aggressionen des NATO-Imperialismus.
Die Russische Föderation hat damit nach einer langen Phase der Umzingelung, der Vertragsbrüche und Provokationen seitens der NATO, der Bedrohung ihrer nationalen Existenz einen entscheidenden politischen Schritt getan, der auch auf historischer Ebene unausweichlich war. Die Phase des scheinbaren Triumphs des Imperialismus nach der Konterrevolution, die geprägt war von einer fast ungebremsten militärischen und ökonomischen Macht der imperialistischen Staaten auf der einen Seite, von Unterordnung, Unterdrückung und politischer Gängelung bis hin zu Zerstörung ganzer Länder auf der anderen Seite, ging zu Ende bzw. in eine neue Etappe. Der Zusammenschluss der BRICS und die starke Entwicklung Chinas begünstigten die Bedingungen, in denen die nationale Entwicklungsperspektive vieler Länder wieder stärkere Form annehmen konnte.
Die Politik Russlands in der Syrienfrage verhinderte die Zerstörung des Landes und machte den Plänen des Imperialismus, insbesondere den Plänen der USA, einen Strich durch die Rechnung. Diese und weitere politische Faktoren, die insgesamt zu einer Schwächung der imperialistischen Herrschaft und zu einer Stärkung der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit führen könnten, veranlassten die USA dazu, die Russische Föderation in eine existenziell bedrohliche Lage zu bringen und die lange geplante Kriegsführung durch die zu einem Aufmarschgebiet geformte Ukraine zu forcieren. Die Reaktion Russlands stellt einen Wendepunkt dar, in dem die militärische Bedrohungsmacht durch die NATO zum ersten Mal eine Gegenantwort in einer Dimension erhalten hat, die für viele Länder und Völker aufzeigt, dass die Macht des Imperialismus nicht unantastbar ist. Durch eine Hinnahme der Provokationen, Drohungen und Unterwerfung hätte man deren Fortsetzung tatenlos zugeschaut.
Teil IV: Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg und im Imperialismus
16. These: Der Ukraine-Krieg als Sprungbrett und Schwächung
Der Ukraine-Krieg legt sowohl die widersprüchlichen als auch die gemeinsamen Interessen des deutschen und US-Imperialismus offen. Annahmen, die davon ausgehen, dass Deutschland keine Eigeninteressen im Ukraine-Krieg verfolge oder dass dieser keinerlei negativen Folgen für den deutschen Imperialismus hätte, sind falsch. Dem zugrunde liegt eine falsche Bestimmung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, die sich entweder in einer Überbetonung (Deutschlands dritter Anlauf zur Weltmacht) oder in einer Unterbetonung (Deutschland als Vasall der USA) der Stärke des deutschen Imperialismus ausdrückt. Das „entweder oder“ ist an dieser Stelle falsch und müsste durch ein „sowohl als auch“ ersetzt werden. Denn die Lage des deutschen Imperialismus resultiert aus dem Widerspruch, eigenständige Interessen bei gleichzeitiger Unterordnung unter den US-Imperialismus zu verfolgen.
Das deutsche Interesse besteht darin, seine Vormachtstellung gegenüber Russland durchzusetzen, die EU-Osterweiterung ungestört fortzusetzen, eine Führungsrolle als NATO-Pfeiler gegen Russland einzunehmen und den Krieg als Katalysator für die eigene militärische Aufrüstung zu nutzen. Gleichzeitig wird die Art der Kriegsführung maßgeblich durch den US-Imperialismus bestimmt und verfolgt dabei unter anderem das Ziel der Disziplinierung und maßgeblichen ökonomischen Schwächung des deutschen Imperialismus. Trotz ihrer zwischenimperialistischen Widersprüche stehen die USA und Deutschland prinzipiell jedoch auf derselben Seite im Krieg gegen Russland.
Die Versuche des deutschen Imperialismus, Russland zu erobern, zu vernichten und zu kolonisieren, prägen das Verhältnis auf der Ebene der staatlichen Politik. Auch in den friedlichen Phasen dieses Verhältnisses strebte Deutschland danach, Russland gefügig zu machen und unterzuordnen.
Mithilfe der billigen Energieimporte aus Russland konnte Deutschland seine Exportwirtschaft und damit seine imperialistische Stellung in der Welt absichern. Für Russland ergab sich aus dem Geschäft mit Deutschland nicht der erhoffte Effekt einer Industrialisierung und Technologisierung. Bereits vor 2022 konnte man einen zunehmend konfrontativen Kurs von Deutschland gegenüber Russland beobachten. Deutschland ist seit Jahren bemüht, die EU Richtung Osten zu erweitern sowie mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik einen Ring EU-freundlicher Staaten zu etablieren. Dafür musste die enge wirtschaftliche, kulturelle und politische Verflechtung dieser Staaten mit Russland zersetzt werden. Diese „störende” Rolle Russlands verstärkte das deutsche Interesse an einer politischen, ökonomischen und militärischen Schwächung Russlands. Daher greift es zu kurz, die aktuelle Politik allein durch die USA zu erklären und Deutschland in diesem Prozess als reinen Mitläufer oder als von den USA in den Krieg Gezwungenen zu beschreiben.
Darüber hinaus sieht der deutsche Imperialismus den Ukraine-Krieg als Chance, sich als europäischer NATO-Pfeiler gegen Russland aufzustellen und so seine eigene militärische Stärke massiv auszubauen. Das NATO-Bündnis wird jedoch auch immer durch zwischenimperialistische Widersprüche geprägt, und so ist es offensichtlich, dass der Ukraine-Krieg auch Nachteile für Teile des deutschen Kapitals hat. Die Sanktionen und die Sprengung von Nord Stream II nutzen die USA dazu, nicht nur die russische, sondern auch die deutsche Wirtschaft unter Druck zu setzen. Doch trotz dieser Widersprüche, Nachteile und Einschränkungen, die das Bündnis mit den USA bedeuten, ist ein Bruch mit der NATO für Deutschland auf absehbare Zeit nicht möglich. Dagegen spricht das enge Verhältnis des deutschen Kapitals zum US-Markt, das Gesamtinteresse an der Aufrechterhaltung der imperialistischen Ordnung unter den USA, die das Agieren Deutschlands wesentlich ermöglicht sowie die Schwäche in Hochtechnologie und Militär, um unabhängig von den USA zu agieren.
17. These: Zeitenwende in der Bundesrepublik
Die von führenden Politikern der BRD ausgerufene Zeitenwende dient der Kriegspolitik gegen Russland. Sie ist Ausdruck des Wechsels von Integration und Einhegung hin zu offener Konfrontation gegenüber Russland. Hinter diesem politischen Projekt stehen dementsprechend verschärfte Repressionen gegen Oppositionelle und Gegner der deutschen Kriegspolitik sowie der Abbau demokratischer Grundrechte. Um den Kurs der Aufrüstung und verstärkten Kriegswirtschaft durchzusetzen, bedient sich der Klassenfeind in gesteigerter Form des Militarismus und Chauvinismus gegen andere Völker.
Somit ist die „Zeitenwende“ auch ein Programm zur Mobilmachung und massiven Aufrüstung. Sie holt nun die Kriegsvorbereitung einer konfrontativen Politik bis zum offenen Krieg gegen Russland nach. Dieser Kriegskurs wird militärisch, ökonomisch und politisch weiter ausgebaut. Der BRD-Imperialismus soll innenpolitisch gestärkt sein, um diesen Kriegskurs notfalls mit reaktionären Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung durchzusetzen. Dafür bringt der Staat seine Repressionspotenziale in Stellung und baut demokratische Grundrechte ab. Der Militarismus und Chauvinismus finden ihren konkreten Ausdruck in Bundeswehr-Werbekampagnen, Plänen zur zivilmilitärischen Zusammenarbeit, dem Ausbau der Rüstungsindustrie sowie der Hetze gegen vermeintliche „Feindstaaten“ unter dem Deckmantel überlegener westlicher Kultur und Demokratie. Darüber hinaus findet eine Rehabilitierung des Faschismus statt. Ukrainische Faschisten werden als Verteidiger westlicher Demokratie inszeniert. Der deutsche Imperialismus wäscht sich von seinen historischen Verbrechen rein und instrumentalisiert sie für den Zweck einer neuen Kriegspolitik.
18. These: Ziel der Kommunisten: Niederlage des deutschen Imperialismus und der NATO
Das Ziel der Kommunisten und aller fortschrittlichen Kräfte in Deutschland muss die Niederlage Deutschlands und der NATO sein. Der gegenwärtige Krieg der NATO gegen Russland markiert erst den Auftakt einer umfassenderen Aggression gegen Russland. Trotz aller militärischen Rückschläge darf die Aggressivität und Gefährlichkeit des deutschen Imperialismus keinesfalls unterschätzt werden.
Begleitet wird die NATO-Kriegsführung durch verstärkte Repressionen gegen Oppositionelle und Gegner der deutschen Kriegspolitik sowie durch den Abbau demokratischer Grundrechte. Um den Kurs der Aufrüstung und verstärkten Kriegswirtschaft durchzusetzen, bedient sich der Klassenfeind in gesteigerter Form eines Militarismus und Chauvinismus gegen andere Völker.
Gegner der deutschen Kriegspolitik werden vom Staat systematisch isoliert – und das, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung einen Krieg gegen Russland ablehnt und zunehmend erkennt, dass erneut die eigenen Kinder an die Front geschickt werden sollen. Um eine führende Rolle in der Organisierung einer Anti-Kriegs-Bewegung einnehmen zu können, ist unter anderem eine klare politische Analyse und Positionierung notwendig. Äquidistante und andere opportunistische Positionen, die die NATO in der einen oder anderen Form legitimieren, müssen zurückgedrängt werden.
Dafür ist viel Arbeit notwendig, insbesondere zur Strategie und Rolle des deutschen Imperialismus sowie der Möglichkeiten seiner Bekämpfung. Diese müssen dringend angepackt werden und dürfen nicht länger durch versöhnlerische und ablenkende Positionen verhindert werden.
[1] Wir hatten uns diese Fragen vorgenommen: Wie ist der Militäreinsatz bzw. der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, der am 24.02.22 begonnen wurde, einzuschätzen? Ist er ein imperialistischer Angriff? Ist der Krieg imperialistisch, weil Russland ein imperialistisches Land ist? Ist der Krieg eine Verteidigungsmaßnahme? Gibt es bei diesem konkreten Militäreinsatz eine Überschneidung mit den Interessen der Arbeiterklasse in Russland, in der Ukraine und international? Wie muss sich demnach die Arbeiterklasse in Russland, in der Ukraine, Deutschland und im internationalen Maßstab zu dem Konflikt klassenkämpferisch positionieren? https://kommunistische-organisation.de/vollversammlung-4-april-2022/beschluss-der-vv4-klaerung-der-imperialismus-und-kriegsfrage/
„Alles, was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet“ (Adolf Hitler, 1939)
„Russland wird immer ein Feind für uns bleiben“ (Johann Wadephul, Außenminister der BRD, 2025)
Deutschland wird wieder Krieg führen
80 Jahre nach der Befreiung vom Nazifaschismus wird in Russland der große Sieg (Победа) gefeiert. In Deutschland dagegen sind die Weichen anders gestellt. 2030 soll Krieg gegen Russland geführt werden. Dafür wurde direkt nach der Bundestagswahl der größte Kriegskredit der Geschichte verabschiedet. Dieser Kriegskredit ist der wahre Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung. Die gesamte Regierungspolitik wird darauf abzielen, das Land kriegstauglich zu machen.
Der vermeintlich neue Drang nach Osten ist in Wahrheit kein neuer. Die BRD wurde 1949 als NATO-Bollwerk für einen Angriff auf die Sowjetunion gegründet. Dafür musste man sich von der historischen Schuld des Faschismus moralisch freikaufen: Während man SS- und NSDAP-Angehörige wieder in Richter- und Geheimdienstämter brachte und Profiteure der Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit freigesprochen wurden, wurde der Staat Israel als vermeintlicher Gesamtvertreter der ermordeten Juden unterstützt. Den Preis dafür zahlen die Palästinenser und es interessiert dabei nicht, dass viele Juden weltweit gegen ihre Instrumentalisierung durch Israel protestieren. Die deutsche Staatsräson ist der Freifahrtschein für Deutschland, wieder andere Länder angreifen zu dürfen.
Der Krieg gegen Russland wird mit Nazis geführt
Die BRD unterstützt seit ihrer Gründung ukrainische Faschisten, die offen in der Tradition der banderistischen SS-Kollaborateure stehen. Diese Kräfte sind mit dem Maidan-Putsch 2014 an die Macht gekommen. Die NATO hat mit dem Kiewer Regime die Ukraine zu einer Kriegskolonie gemacht, die Russland angreifen kann und will. Das wäre ohne die Faschisten, die dies gewaltsam gegen den Willen eines großen Teils des Volks durchsetzten, nicht möglich gewesen. Die NATO hat seitdem jegliche russische Forderungen nach Sicherheitsgarantien abgelehnt.
Das erklärte Ziel, Russland eine strategische Niederlage beizubringen, ist gescheitert. Die massiven Waffenlieferungen haben Kiew keine Erfolge auf dem Schlachtfeld gebracht. Die Sanktionen konnten Russland nicht ruinieren. Und selbst der bewusste Angriff mit Mittelstreckenraketen auf russisches Territorium konnte Moskau nicht zu einem nuklearen Antwortschlag provozieren. Russland hat dieser Aggression damit eine Grenze gesetzt.
Die neue deutsche Kriegsvorbereitung
Das ist für die NATO-Staaten und Deutschland inakzeptabel. Ihnen ist klar: Für den Sieg über Russland muss mehr getan werden. Die Militärausgaben sollen massiv gesteigert werden und die operative Kriegsführung soll besser abgestimmt werden. Das ganze Land soll auf Krieg vorbereitet werden und die Aufgabe der neuen Bundesregierung ist es, dies auf dem Rücken der Arbeiterklasse in die Tat umzusetzen.
Sollte dies mit der SPD in der Koalition scheitern, steht die AfD in den Startlöchern. Sie ist ganz vorne mit dabei, die Arbeiterklasse durch Rassismus und Sozialchauvinismus zu spalten. Sie steht der CDU in nichts nach, was die Zerschlagung der letzten Reste des Sozialstaates angeht. Ihre Vertreter haben im Wahlkampf von allen Parteien die höchsten Militärausgaben gefordert. Sie ist keine „prorussische“ Partei, ganz im Gegenteil: Sie will den Krieg nur vorbereiteter führen: Mit einer besser gerüsteten Bundeswehr, einer kriegstauglicheren Wirtschaft und einer noch verhetzteren Gesellschaft. Ihr Hass auf den Kommunismus und die Sowjetunion fügen sich perfekt in die antirussische Hetze aller Parteien. Die AfD ist Teil der Kriegsvorbereitung und keinesfalls ihr Gegner.
Die Geschichte des Faschismus zeigt, dass es als erstes die Spitze der Opposition trifft – Grundrechtseinschränkungen sind damals wie heute Teil der Kriegsvorbereitung. Organisationen, die im Sinne des Völkerrechts den Widerstand der Palästinenser unterstützen, werden in Deutschland verboten. Mit dem Gesinnungsparagraphen 140 StGB werden Aktivisten, die den „Terrorangriff der Hamas“ und den „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ nicht verurteilen, vor Gericht gebracht. Es zeigt sich: Mit juristischen und polizeilichen Mitteln soll die Opposition zum Kriegskurs mundtot gemacht werden.
Faschisierung und Kriegsvorbereitung leben aber auch davon, dass geschwiegen wird. Vereinzelung, Rückzug ins Private und Verrohung sind Anzeichen einer Gesellschaft, die die neuen Realitäten stillschweigend anerkennt. Doch auf der anderen Seite zeigen Statistiken, dass ein Großteil der Gesellschaft in Deutschland keinen Krieg will. Es gibt darüber hinaus eine starke Bewegung, die sich im Kampf für Palästina mit der Gesinnungsjustiz erfolgreich anlegt. Und auch in den Gewerkschaften gibt es viele Kollegen, die sich gegen Zeitenwende und Genozid stellen.
Was tun? Morgen kämpfen und heute feiern!
Die Friedensbewegung muss die Realität anerkennen: Deutschland bereitet einen Krieg gegen Russland vor und dieser Krieg soll bald geführt werden. Appelle an die Vernunft der deutschen Politik helfen nicht, wenn sie gerade diese als vernünftige Agenda gegen die vermeintlich russische Bedrohung verkauft. Die Palästina-Bewegung ist ihr Bündnispartner: Der Kampf, den die Palästinenser in Deutschland führen, ist nicht nur ein Kampf gegen den anhaltenden zionistischen Völkermord. Er ist auch ein Kampf gegen die Staatsräson und damit den Kriegskurs der BRD.
Die Kommunistische Bewegung muss verstehen, dass ihre Distanzierung von Russland Teil des Problems ist. Die imperialistischen G7- und NATO-Staaten wollen sich Russland unterwerfen. Sie sind der Aggressor, nicht Russland. Wer den sogenannten imperialistischen Angriffskrieg Russlands verurteilt, der verkennt diese Realität. Der stellt sich, ohne es vielleicht zu wollen, auf die Seite der Herrschenden.
Der deutsche Imperialismus wurde vor 80 Jahren besiegt, weil der Sozialismus die Einheit des Volkes, die Industrialisierung und Verteidigungsfähigkeit schuf, die den scheinbar übermächtigen faschistischen Feind besiegen konnte. Die Herrschenden in Deutschland haben sich mit dieser Niederlage nie abgefunden. Sie laden russische Vertreter von Gedenkfeiern aus und entfernen ihre Kränze in KZ-Gedenkstätten. Sie verspritzen heute das gleiche Gift wie damals, wenn wir diesen Sieg propagieren.
Der deutsche Imperialismus wurde vor 80 Jahren besiegt und jeder einzelne Sowjetbürger und Antifaschist in Deutschland und weltweit hatte seinen Anteil daran. Morgen müssen wir ihre heldenhafte Arbeit fortsetzen, indem wir gegen Kriegsvorbereitung, Chauvinismus und Rassismus kämpfen. Doch heute haben wir und die ganze Welt erst einmal Grund zu feiern.
in eurer Sendung mit dem Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Herrn Wagner, wird ab Minute 2:56:00 die Kommunistische Organisation erwähnt. Herr Wagner behauptet, die Kommunistische Organisation „agiere extrem antisemitisch“ und habe deshalb ein Hausverbot bekommen.
Das ist eine infame Unterstellung, die weder begründet noch ausgeführt wird. Wir haben nie eine Mitteilung über dieses Hausverbot erhalten. Der Interviewer Hans Jessen fragt weder nach einer Begründung noch hakt er in irgendeiner anderen Weise nach.
Wir vermuten, dass es sich um unsere Solidarität mit Palästina und dem palästinensischen Widerstand handelt, die von Wagner als antisemitisch diffamiert wird.
Die Kommunistische Organisation bekämpft Antisemitismus. Wir lehnen jede menschenfeindliche Ideologie ab. Dazu gehört auch der Zionismus, dessen Ablehnung keineswegs Antisemitismus ist. Auch viele Jüdinnen und Juden grenzen sich klar vom Zionismus ab.
Die Gleichsetzung des Judentums mit Israel bedeutet, Jüdinnen und Juden mit der zionistischen Ideologie, einer rassistischen Blut-und-Boden-Ideologie gleichzusetzen. Herr Wagner verhöhnt nicht nur die Opfer der israelischen Kriegsverbrechen, er will zugleich die Opfer des deutschen Faschismus instrumentalisieren, um heute Kriegsgegner und Antifaschisten anzugreifen. Im Namen des Judentums einen Kriegsverbrechen und Völkermord begehenden Besatzungsstaat zu verteidigen, ist schlicht rassistisch.
Mit dem falschen Vorwurf des Antisemitismus will Herr Wagner Antifaschisten mundtot machen. Der Vorwurf soll diejenigen, die sich gegen Völkermord und Krieg, gegen Rassismus und völkischen Hass wenden, zum Schweigen bringen. Diejenigen, die sich dem Schwur von Buchenwald verpflichtet haben und gegen Menschenverachtung in jeder Form kämpfen, werden von der Gedenkstättenleitung angegriffen. Wir organisieren seit Jahren Führungen durch das ehemalige KZ Buchenwald und klären über den Faschismus und seine Verbrechen auf. Wir empfinden es als Schande, dass die Gedenkstätte für unsere antifaschistischen Kämpfer von solchen politischen Kräften okkupiert ist.
Diese Gedenkstättenleitung hat Hinweise auf den gemeinsamen Widerstand von Juden und Kommunisten (oftmals auch jüdische Kommunisten) aus der Ausstellung gestrichen und die Gedenkplakette für Jerzy Zweig, dem geretteten polnisch-jüdischen Kind aus dem Film „Nackt unter Wölfen“ entfernt.
Am 6. April 2025 hat eine Genossin von uns in Buchenwald Hausverbot erteilt bekommen, weil sie eine Kufiya als Zeichen der Solidarität mit Palästina trug und wurde allein dafür mit Polizei vom Gelände eskortiert. Wir werden gegen dieses Hausverbot juristisch vorgehen. Solidarität mit Palästina ist nicht antisemitisch, auch Solidarität mit dem Widerstand des palästinensischen Volks ist nicht antisemitisch. Er wendet sich nicht gegen Juden, sondern gegen Besatzung, Vertreibung und Unterdrückung.
Die Gedenkstättenleitung grenzt Russland und Belarus aus, obwohl sie die Herkunftsstaaten vieler Häftlinge und die Befreier Deutschlands waren. Die Gedenkstättenleitung instrumentalisiert das Gedenken an die Opfer des Faschismus, um aktuelle deutsche Kriegsinteressen zu rechtfertigen. Das Feindbild Russland wird aufrecht erhalten und der Genozid an den Palästinensern gerechtfertigt.
Durch die wiederholte Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs trägt die Gedenkstättenleitung ebenso wie die Medien und Regierungsvertreter zur Relativierung des Antisemitismus bei. Diese Relativierung des Antisemitismus, die Verwischung seiner Bedeutung ist gefährlich und führt zur Stärkung von Antisemiten. Das habt ihr auch bereits in einer Sendung vom November 2023 mit Alena Jabarine und Tomer Dreyfuß thematisiert.
Wir werden weiter gegen Antisemitismus und gegen die Unterdrückung des palästinensischen Volks kämpfen – ein Kampf, der zusammen gehört und sich nicht trennen lässt. Der Kampf gegen rassistische und menschenverachtende Ideologie und Kriegsverbrechen ist unteilbar. Antifaschismus ist unteilbar. Er gilt für alle Opfer.
Wir würden uns freuen, wenn das Team von Jung und Naiv unsere Reaktion auf diesen schweren Vorwurf veröffentlichen würde und sind gerne bereit, Fragen zu beantworten.
Wir sind nicht bereit, diese Anschuldigung unkommentiert und unwidersprochen zu lassen. Deshalb veröffentlichen wir diesen Brief, damit sich die Zuschauer von Jung und Naiv und alle Interessierten ein Bild machen können.
In einigen Orten konnte die DGB-Führung nicht mehr so repressiv gegen Kriegs- und Völkermordgegner vorgehen – Bericht und Einschätzung
Die diesjährigen Demonstrationen zum 1. Mai, an denen wir uns beteiligt haben, zeigen, dass die Stimmen gegen den Völkermord in Gaza, eine der beiden prägenden politischen Fragen der Zeit, stark vertreten waren und nicht ausgegrenzt werden konnten. Der Krieg gegen Russland wurde dagegen kaum oder gar nicht thematisiert, teilweise die Aufrüstung, die als „Verteidigung“ verkleidet wird, gerechtfertigt. In Hannover gab es einen rassistischen „Demokonsens“, der propalästinensische und antizionistische Inhalte ausgeschlossen hatte, in Lübeck wurde die DKP vom Fest ausgeschlossen. Dort hatte der DGB in seinem „Demokonsens“ die „uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine – wir erkennen W. Putin als alleinigen Aggressor an“, ein „Bekenntnis zu Europa und zu NATO-Mitgliedschaft“, die „Solidarität mit Israel und den zivilen Opfern der kriegerischen Auseinandersetzung im Gazastreifen“ und ein „Bekenntnis zur Richtigkeit des Sondervermögens, um in die Zukunft zu investieren“ festgeschrieben. Staatsräson hoch zehn. Der Kampf gegen diese „Demokonsense“ muss aufgenommen werden.
In einigen Orten gab es klare Aussagen gegen die Verbrechen Israels und die Waffenlieferungen, in manchen zumindest die Forderung nach Frieden und weniger Aufrüstung. Die DGB-Führung spielt selbst eine aktive Rolle in der Gewährleistung des Kriegskurses und der Unterstützung des Besatzungsregimes. Teile der Basis und der Demonstranten machen dabei nicht mit. Dennoch gibt es die Tendenz, den Kampf für höhere Löhne und gegen die Angriffe auf das Arbeitszeitgesetz in den Vordergrund zu rücken, um über Aufrüstung und Völkermord nicht sprechen zu müssen.
Natürlich ist der Kampf gegen die Angriffe auf Arbeitszeit, Sozialleistungen und Löhne wichtig. Aber er muss verbunden werden mit dem Kampf gegen Aufrüstung und Krieg, wie wir auch in unserer Stellungnahme zum 1. Mai betont haben. Den Krieg gegen Russland und seine geplante massive Expansion konnten wir in einigen Orten nicht stark thematisieren, weil wir neben der Durchsetzung der Palästina-Solidarität dafür zu wenige Kräfte hatten. Ein Mangel war, dass wir nicht ausreichend über die rassistische Histadrut, die zionistische „Gewerkschaft“ und israelische Schwesterorganisation des DGB, zu informieren. In einigen Orten haben wir allerdings den Aufruf des palästinensischen Gewerkschaftsverbandes verbreitet.
Insgesamt scheint uns sowohl das politische Klima von oben – auch durch den DGB – weiter verschärft zu werden, insbesondere gegen antimilitaristische und antizionistische Kräfte. Zugleich ist aber klar erkennbar, dass an der Basis in den Gewerkschaften und Gewerkschaftsjugenden Stimmen lauter werden für Solidarität mit Palästina und gegen den Kriegskurs, aber noch keine klaren Kulminationspunkte dieses Potentials geschaffen wurden. Für die nächste Zeit und die nächsten Jahre müssen wir uns auf ungemütliche Zeiten einstellen. Störenfriede, die Kriegspolitik und Völkermord angreifen, sind wir gerne.
Berlin
In Berlin scheint es offenbar innerhalb des DGB eine kleine Selbstkritik gegeben zu haben, nachdem letztes Jahr Palästina-Solidarität sowie linke und kommunistische Gruppen ausgrenzt worden waren. Vereinzelte Palästina-Fahnen waren in der mit 10.000 Teilnehmern wohl bundesweit größten DGB-Demo erlaubt und die linken und kommunistischen Blöcke wurden nicht vom Platz der Endkundgebung ferngehalten. Die Aussagen auf der Bühne waren politisch sehr schwach und man hatte den Eindruck, dass der DGB keine Lust auf die politische Aktion hatte und vor allem versucht, den 1. Mai nicht zu politisieren: Es ging nur um Tarifkämpfe und Löhne und ein wenig um die AfD.
Die Revolutionäre 1. Mai-Abenddemo war mit über 20.000 Leuten sehr groß. Sie war kämpferisch und Palästina sehr präsent. Unser Banner mit der Losung „Stoppt den Krieg gegen Russland“ rief teilweise Anfeindungen vor allem von Seiten jüngerer Leuten hervor, andere aber zeigten ihre Zustimmung. Es gab auch einen „Ukrainischen Block“ unter dem Slogan: „No peace under Russian occupation“.
Dresden
In Dresden konnten wir gemeinsam mit dem Roten Aufbruch, FreePalestineDresden und einem kurdischen Verein erstmals einen internationalistischen Block auf die Beine stellen, der mit 150 Teilnehmern für Dresdner Verhältnisse sehr stark war. Themen waren der Jemen, der Sudan, der Kongo, der Libanon und natürlich Palästina. Im Block liefen neben Migranten auch viele palästinasolidarische deutsche Linke mit. Gewerkschaftsfunktionäre riefen mehrmals in Reden dazu auf, den angeblichen Antisemitismus, der von unserem Block ausgehe, zu unterbinden. Sie meinten damit unsere Palästinafahnen und „Stoppt den Genozid“-Plakate. Ein DGB-Funktionär sagte zu uns: „Meinungsfreiheit bedeutet, auch mal den Mund zu halten.“ Ordner versuchten, uns Schilder und Fahnen abzunehmen, was wir aber nicht zuließen. „Antideutsche“ Ordner hatten sich abgesprochen und waren dazu übergegangen, uns immer wieder vom Rest der Demo abzudrängen und zu blockieren. Das hat dazu geführt, dass wir ab der Hälfte der Demonstration mit ca. 200 Meter Abstand hinter dem DGB gelaufen sind. Es war ein sehr gelungener und auch kraftvoller Auftritt, dem sich spontan Passanten und andere Gewerkschafter angeschlossen haben. Im Jugendblock wurde die Kriegspolitik und Aufrüstung kritisiert.
Duisburg
In Duisburg haben wir uns am Palästina-Block auf der DGB-Demo beteiligt, was auf die Zustimmung großer Teile der Demo gestoßen ist. Abgesehen von den ersten Reihen, in denen SPD und Grüne liefen, wurde der größte Teil der etwa 800 Teilnehmer wie jedes Jahr vor allem von migrantischen und kommunistischen Organisationen gestellt. Spontan schlossen sich uns auch Passanten, darunter vor allem Jugendliche, an. Wegen „verbotener Parolen“ – vermutlich „From the River to the Sea Palestine will be free“ und “Von Duisburg bis nach Gaza – Yallah Intifada“ – gab es Schikane durch die Polizei und vermutlich wurden auch Anzeigen gestellt. Der größte Teil der Demo solidarisierte sich mit dem Palästina-Block während dieser Repressalien.
Während des DGB-Festes sprach die DGB-Jugend auf der zentralen Bühne und in Anwesenheit von Angelika Wagner (DGB-Regionsgeschäftsführerin Niederrhein und rechter Flügel der Gewerkschaften) und Bärbel Bas (SPD-Abgeordnete aus Duisburg und bis vor Kurzem Bundestagspräsidentin) von der „schlimmsten menschengemachten humanitären Katastrophe“ im Gazastreifen. Zwar wurde auch der Aufstand vom 7. Oktober 2023 verurteilt, aber im gleichen Atemzug auch die Ermordung von Journalisten, Ärzten usw. angekreidet. Es wurde benannt, dass laut UNO 50.000 Menschen in Gaza ermordet worden sind und dass 70% davon Frauen und Kinder waren. Abschließend wurde ein Ende der Waffenlieferungen an Israel gefordert und erklärt, dass Gewalt Gegengewalt provoziert. Von der DGB-Jugend wurde danach „Free free Palestine“ und „Stoppt den Krieg“ angestimmt.
Frankfurt am Main
In Frankfurt am Main organisierte das Kufiya-Netzwerk sowohl auf der Demo des DGB als auch auf der Revolutionären 1. Mai-Demo am Abend einen Palästina-Block. Zwar untersagte der DGB das Rufen der Parole „From the River to the Sea“, was absurd ist, da wir uns bereits vor Gericht das Recht erstritten haben, diese Parole rufen zu dürfen. Er verbot zudem jegliche Losungen, die das „Existenzrecht“ der Besatzungsmacht Israel infrage stellten. Allerdings war es aufgrund der Dynamik, die vom Palästina-Block ausging und wegen der großen Solidarität sowohl der türkischen und kurdischen Organisationen als auch des Jugendblocks, für den DGB-Geschäftsführer Frankfurts, Philipp Jacks, bei seiner Rede auf dem Römer nicht möglich, den Block zu ignorieren, und er grüßte ihn von der Bühne, was wiederum positiv zu bewerten ist. Entgegen unseren Befürchtungen, dass es zu größeren Problemen auf der DGB-Demo, an der ca. 3000 Menschen teilnahmen, kommen könnte, blieben Zwischenfälle und Anfeindungen aus. Das Untersagen von Parolen gegen Unterdrückung und für Gleichheit und Freiheit ist ein Skandal. Gleichzeitig zeigte die Demo, dass es für den DGB nicht einfach so möglich ist, eine eindeutig pro-zionistische Politik zu verfolgen, ein Widerspruch, den es besser zu verstehen und auszunutzen gilt.
Bei der Revolutionären 1. Mai-Demo am Abend mit ca. 2000 Personen war der Block des Kufiya-Netzwerks der mit Abstand größte und stärkste. Es schlossen sich im Laufe der Demonstration immer mehr Menschen an. Die Demo zeigte, dass innerhalb der linken Szene die „antideutsche“ Szene mittlerweile deutlich an Einfluss verloren hat und die Palästinafrage wichtig ist – gerade unter jüngeren Menschen. Zurecht und mit Stolz rief der Palästina-Block „Siamo tutti Antifascisti“ – „Wir sind alle Antifaschisten“.
Leipzig
In Leipzig nahmen etwa 500 Menschen an der DGB-Demo teil. An das generelle Fahnen-Verbot mussten wir uns wohl oder übel halten. Unser Banner, das auf die Friedensgrundsätze des DGB verwies und forderte, sich gegen den Krieg gegen Russland und den Genozid in Gaza zu stellen, konnten wir tragen. Es wurde auch in der größten Zeitung Leipzigs platziert. Nachdem auf der Kundgebung immer wieder gefordert wurde, sich an den sogenannten „Demokonsens“ zu halten, haben wir unsere Ablehnung geäußert: Auf unsere Parolen „DGB, warum kein Wort? Völkermord ist Völkermord!“ und: „Alle sagen hier nie wieder – das gilt auch für Palästina!“ wurde von einigen Anwesenden sehr aggressiv reagiert. So wurden wir aufgefordert, uns zu „verpissen“. Wir antworteten, dass wir selbst Gewerkschaftsmitglieder sind und es undemokratisch finden, wegen politischem Dissens von den eigenen Leuten aufgefordert zu werden, die Kundgebung zu verlassen. Einige wenige haben sich aber auch zu uns gestellt und Unterstützung bekundet.
Neben Palästina machten wir auch mit Plakaten auf den Fall der antifaschistischen Kononovich-Brüder aufmerksam, die in der Ukraine unter Hausarrest stehen und an der Front ermordet werden sollen.
Mannheim
In Mannheim haben wir uns am Block von zaytouna, Free Palastine Mannheim und Students for Palestine bei der DGB- und der Revolutionären 1. Mai-Demo beteiligt. Insgesamt haben sich 800 Menschen an der Gewerkschaftsdemo beteiligt, der Palästina-Block war mit 100 Personen recht stark. Bei einigen Teilnehmern stieß der Block auf Ablehnung und Misstrauen, andere haben sich uns explizit angeschlossen. Es gab offensichtlich zahlreiche Menschen, die das Bedürfnis hatten, ihrer Solidarität mit Palästina auch auf dieser Demo Ausdruck zu verleihen. Als wir bei unserer Ankunft am Kundgebungsplatz „DGB, warum kein Wort? …“ riefen stürmten einige DGB-Funktionäre auf uns zu und bedrängten uns. Nachdem wir ihnen klar gemacht hatten, dass wir nicht die Absicht hatten, die Kundgebung zu stören, beruhigten sie sich.
Bei der Revolutionären 1. Mai-Demo vom Offenen Antifaschistischen Treffen Mannheim waren wir mit ca. 90 Personen einer der lautesten und stärksten Blöcke. Auch hier schlossen sich uns viele Leute an und es gab viele positive Reaktion auf unsere Slogans. Auf dem Lautsprecher-Wagen war die Palästinafahne gehisst. Einige Leute bezogen sich auch positiv auf unserer gegen die NATO gerichtetes Banner und posierten vor diesem für Fotos.
Deutschland soll 2030 Krieg gegen Russland führen und stellt sich dafür auf: Eine unvorstellbare Summe von 1,7 Billionen fließt in Aufrüstung, statt Autos rollen Panzer und alle Bereiche der Gesellschaft werden für den Krieg fit gemacht. Bezahlen und bluten für diese Politik sollen wir: Unsere Steuern werden für die Aufrüstung verbrannt und unsere Löhne von der Inflation aufgefressen, während die großen Unternehmen Dividenden auf Rekordniveau ausschütten. Entlassungen, Arbeitszeitverlängerung und Sozialabbau stehen auf der Tagesordnung. Mit dem neuen Koalitionsvertrag soll der 8-Stunden-Tag abgeschafft werden, der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst legt bereits den Grundstein dafür. Der neue Wehrdienst ist der erste Schritt zur Wehrpflicht, die vermutlich noch in der kommenden Legislatur wieder eingeführt wird. Für den Krieg gegen Russland wird schließlich jede verfügbare Menschenmasse gebraucht.
Der Kampf gegen Militarisierung und Krieg ist eigentlich Grundverständnis des DGB, wie in seiner Satzung nachzulesen ist. Doch anstatt Widerstand gegen die Verarmung und Aufrüstung zu organisieren, stützt die Führung des DGB die Kriegsvorbereitung: Deutschland müsse „verteidigungsfähig“ sein, hieß es im Statement des DGB zu den diesjährigen Ostermärschen. Was meinen Politiker, Unternehmen und die DGB-Führung, wenn sie von Verteidigung sprechen? Sie verteidigen die Ausdehnung der NATO und EU Richtung Osten. Russland steht dieser Ausdehnung im Weg und wird somit selbst zum Kriegsziel. Was sie Verteidigung nennen, ist eigentlich Angriff.
Für diesen Kriegskurs ist eine Gesellschaft, die sich stillschweigend fügt und einreiht, notwendig. Die Gewerkschaften spielen dabei eine wichtige Rolle und so versucht die DGB-Führung, auf den Kriegskurs einzuschwören: Schlechte Tarifabschlüsse werden damit gerechtfertigt, dass die Zeiten „schwierig“ seien. Arbeitszeitverlängerung wird als „Flexibilisierung und Freiheit“ propagiert. Und das kürzlich beschlossene 500-Milliarden-Sondervermögen für Kriegsinfrastruktur bejubelt Yasmin Fahimi als „Befreiungsschlag zur Modernisierung unseres Landes“. Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie werden als einzige Alternative zu Arbeitslosigkeit dargestellt – wohl wissend, dass die Arbeiter bei Rheinmetall, KNDS & Co mit der Produktion für den Krieg ihr eigenes Grab schaufeln. Aufrüstung und Kriegsvorbereitung ja, aber bitte sozial verträglich lautet das Motto der DGB-Führung. Dabei ist klar: Erstens ist die Losung „Butter UND Kanonen“ eine Täuschung. Kriegsvorbereitung heißt Verarmung. Kriegstüchtigkeit heißt Einschränkung der sozialen und demokratischen Rechte. Zweitens haben wir im Krieg gegen Russland – ganz unabhängig von Sozialabbau und Verarmung – nichts zu gewinnen, sondern alles zu verlieren. Verteidigen müssen wir uns, allerdings nicht gegen Russland, sondern gegen den Kriegskurs der NATO und Deutschlands.
Was es dafür braucht, ist eine Absage an Sozialpartnerschaft, „sozial verträgliche“ Aufrüstung und das Einschwören der Gesellschaft auf Krieg. Was es braucht, sind Gewerkschaften, die sich gegen den nun seit mehr als eineinhalb Jahren laufenden Völkermord in Palästina stellen und dafür sorgen, dass keine deutschen Waffen mehr an Israel geliefert werden. Was es braucht, sind Kämpfe für höhere Löhne und Arbeitszeitsenkung sowie gegen Entlassungen und Sozialabbau. Wir brauchen Gewerkschaften, die gegen Aufrüstung, Wehrpflicht und den Krieg gegen Russland mobilisieren. Wir müssen dafür sorgen, dass die anti-militaristischen Grundsätze des DGB nicht mit Füßen getreten oder in ihr Gegenteil verkehrt werden. Notwendig dafür ist eine Basis, die sich von den Stillhalte-Parolen der Führung nicht einhegen lässt. Es gibt bereits Zusammenschlüsse von Gewerkschaftsmitgliedern, wie Gewerkschaften gegen Aufrüstung oder Sagt Nein!, die wir unterstützen müssen. Unsere Forderungen dabei müssen sein:
Stoppt den Krieg gegen Russland! Stoppt den Völkermord in Palästina! Nein zu Aufrüstung & Verarmung!
„Das Wort haben die Stummen der Welt!“ Mit diesen Worten eröffnete Indonesiens Staatspräsident Achmed Sukarno die Afro-Asiatische Konferenz am 18. April 1955 in Bandung, der drittgrößten Stadt des Landes. Über 300 Delegierte aus 29 ehemaligen Kolonien und Halbkolonien waren nach Indonesien angereist, um mehr als die Hälfte der damaligen Weltbevölkerung zu vertreten. Unter den politischen Führern gab es Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Wesens des Kolonialismus und die Konferenz war zuweilen von hitzigen Debatten geprägt. Doch als sie am 24. April zu Ende ging, hatten sich diejenigen durchgesetzt, die sich für eine Einigung auf antikolonialer und antimilitaristischer Basis eingesetzt hatten: In der 10-Punkte-Erklärung von Bandung wurden die Grundsätze der „friedlichen Koexistenz“ und der „Nichtpaktgebundenheit” festgeschrieben. Es war ein entscheidender Moment des Jahrhunderts.
Die Nichtpaktgebundenheit, die sich in den Jahren nach der Bandung-Konferenz zu der festen „Bewegung der Blockfreien Staaten“ entwickelte, kann nur im historischen Kontext der damaligen Weltsituation verstanden werden. Die imperialistischen Staaten waren bestrebt, ihre ehemaligen Kolonien durch militärische Paktbindungen in den „kalten Krieg“ gegen den Sozialismus und die Sache der nationalen Befreiung einzubinden. Die Middle East Treaty Organization (METO) wurde beispielsweise konzipiert, um ein NATO-Pendant an der südwestlichen Grenze der Sowjetunion zu errichten. Die Ablehnung jeder Blockbindung damals richtete sich von daher in erster Linie gegen diese imperialistische Politik. Staatsmänner wie der indische Premierminister Jawaharlal Nehru sprachen von einer „positiven Neutralität“, um sich vom Schweizer Modell der passiven Neutralität abzugrenzen. Der „Geist von Bandung“ bestand im aktiven Widerstand gegen imperialistische Machenschaften in den ehemaligen und bestehenden Kolonien.
Die Vorgeschichte
Der Konferenz ging eine lange Vorgeschichte voraus. Die Völker Afrikas und Asiens waren in der Tat nie stumm gewesen und hatten ihren antikolonialen Kampf bereits seit Jahrzehnten geführt. Die imperialistischen Mächte hatten mit allen Mitteln versucht, sie zum Schweigen zu bringen, aber die Bewegung der nationalen Befreiung war nicht mehr aufzuhalten. Die Oktoberrevolution hatte die Weltsituation grundlegend verändert und strahlte nach 1917 auf alle unterdrückten Völker aus. Im Gegensatz zur Zweiten Internationale verstand die neu formierte Kommunistische Internationale (Komintern) die große Bedeutung der Kolonialfrage und des Selbstbestimmungsrechts aller Nationen. Der Kampf der Kolonialvölker für ihre nationale Befreiung wurde in der Komintern als integraler Bestandteil des revolutionären Weltprozesses verstanden.
Mit der Konsolidierung der Sowjetunion als erster sozialistischer Staat gewannen die nationalen Befreiungsbewegungen einen Verbündeten auf der Weltbühne. Unter Federführung der Komintern und auf Initiative von Willi Münzenberg wurde auf der Brüsseler Konferenz 1927 die „Liga gegen Kolonialgreuel und Unterdrückung“ gegründet. Wie Sukarno später erzählte, bildete die Liga den Auftakt zur weltweiten antikolonialen Massenbewegung, die dann später zu Bandung führte. Die Brüsseler Konferenz brachte die Befreiungsbewegungen aus Afrika und Asien zum ersten Mal mit Vertretern der Arbeiterbewegungen im Westen und der Sowjetunion zusammen. Wie in Bandung setzte sich die Teilnehmerschaft notwendigerweise aus den verschiedensten Klassen zusammen – Kommunisten standen neben bürgerlichen Nationalisten und kleinbürgerlichen Intellektuellen. Sie waren durch den Antikolonialismus geeint.
Mit der Niederlage des deutschen und japanischen Faschismus im Jahr 1945 breitete sich das sozialistische Lager über die Grenzen der Sowjetunion hinaus aus und die Befreiungsbewegungen wurden gestärkt. Tausende von Kolonialsoldaten kehrten nach Hause zurück und griffen zu den Waffen gegen die Besatzer, denen sie gerade geholfen hatten, sich vom Faschismus zu befreien. Ahmed Ben Bella, der Führer der algerischen Nationalen Befreiungsfront und später ein zentraler Akteur in der Bewegung der Blockfreien Staaten, war einer von ihnen. Nach und nach wurde die direkte Kolonialherrschaft in Afrika und Asien gestürzt. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung unter dem imperialistischen Kolonialsystem lebten, waren es nach 1960 nur noch knapp 5 Prozent. Bandung war somit der Anfang vom Ende der ersten Phase der nationalen Befreiung. Die zweite Phase sollte durch den Kampf gegen den Neokolonialismus gekennzeichnet sein: wirtschaftliche Abhängigkeiten, Militärpakte, CIA-gesteuerte Putsche, Sanktionen und Schuldenfallen. Dieser Kampf setzt sich bis heute fort.
Die Bewegung der Blockfreien Staaten
Doch wenn die neu befreiten Staaten noch von den imperialistischen Ländern ausgebeutet und unterdrückt wurden, warum schlossen sie nicht direkt Bündnisse mit dem sozialistischen Lager? Warum bildeten sie eine eigene „Bewegung der Blockfreien“? Dies hatte mit dem Klassencharakter der neuen Regierungen in den jungen Nationalstaaten zu tun. Die koloniale Ausbeutung dieser Länder hatte die Entwicklung der beiden Hauptklassen des Kapitalismus behindert. In den meisten afrikanischen und asiatischen Staaten war die im Entstehen begriffene Arbeiterklasse zahlenmäßig noch sehr schwach. Die nationale Bourgeoisie, sofern sie überhaupt existierte, war politisch desorientiert und wirtschaftlich eher dürftig aufgestellt. Infolgedessen wurden die Befreiungsbewegungen zumeist von Revolutionären aus den sogenannten „Zwischenschichten“ angeführt: kleinbürgerlichen Intellektuellen wie Sukarno und Nehru oder radikalisierten Militäroffizieren wie Gamal Abdel Nasser in Ägypten. Solche Führer strebten nach größerer Unabhängigkeit vom Imperialismus, doch ihre Klassenposition hinderte sie daran, sich eindeutig und konsequent auf die Seite der sozialistischen Staaten zu stellen. Nach der Unabhängigkeit kam es in diesen Ländern zu einem klassenmäßigen Differenzierungsprozess, bei dem um die Ausrichtung des Landes gerungen wurde. Während sich einige Regierungen dem sozialistischen Lager annäherten und einige sogar den Marxismus aufnahmen, freundeten sich andere zunehmend mit dem Westen an und gingen repressiv gegen die Kommunisten in ihren Staaten vor.
Im sozialistischen Lager wurde die Formierung der Bewegung der Blockfreien zunächst zurückhaltend begrüßt. Mit der Zeit kam man jedoch zu dem Schluss, dass das Bündnis ein zwar widersprüchliches, aber sehr reales Phänomen war, das nicht abgeschrieben werden könnte. Als außenpolitische Konzeption widerspiegelte die Nichtpaktgebundenheit die Klasseninteressen der bürgerlichen Kräfte, deren ideologische Grundlage der Nationalismus ist. Doch im Kontext der oben erwähnten „positiven Neutralität“ war der „Nichtpaktgebundenheit unabweisbar eine antikoloniale und antiimperialistische Grundtendenz eigen“, so die Schlussfolgerung von Diethelm Weidemann, Professor für Theorie und Geschichte der internationalen Beziehungen in Asien an der Humboldt-Universität im Jahr 1974. „Die außenpolitische Grundhaltung der nicht paktgebundenen Staaten hat trotz vieler Schwankungen und Inkonsequenzen und unabhängig vom Willen der bürgerlichen Führungskräfte einiger Länder objektiv antiimperialistische Wirkungen hervorgebracht, hat die imperialistische Strategie und Politik erschwert, hat die Position des Imperialismus in den internationalen Beziehungen geschwächt.“ Die Bewegung der Blockfreien wurde zudem als ein umkämpftes Feld verstanden. Es sei notwendig gewesen, einerseits ihre fortschrittlichen Forderungen in der UNO zu unterstützen, andererseits aber auch innerhalb des Bündnisses weiter um konsequente antiimperialistische Positionen zu ringen, wie es Fidel Castro und andere auch taten.
Konterrevolution gegen die Befreiung
Nach der Welle der nationalen Befreiung in den 1950er und frühen 1960er Jahren setzte die Konterrevolution in der Mitte des Jahrzehnts zum allseitigen Gegenangriff an. Sukarnos Regierung wurde zehn Jahre nach der Bandung-Konferenz durch einen vom Westen unterstützten Militärputsch gestürzt. Mithilfe von Geheimdienstinformationen der CIA und des BND ließ die neue Militärregierung mehr als eine Million indonesische Kommunisten und Antiimperialisten ermorden. Ähnliche Putsche gegen die sozialistisch orientierten Regierungen in Ghana und Mali folgten in den Jahren 1966 und 1968. Die USA verstärkten gleichzeitig ihre Kriegführung gegen das vietnamesische Volk, so dass die Zahl der eingesetzten US-Truppen bis 1968 auf über eine halbe Million Mann anstieg. Die Regierungen, denen es gelang, dem Gewaltregime des Imperialismus zu entgehen, wurden entweder gekauft (zum Beispiel Ägypten nach dem Tod Nassers) oder schlichtweg von der kapitalistischen Weltwirtschaft geschluckt. Westliche Finanzsysteme wie der Internationale Währungsfonds (IWF) zwangen den Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika eine Schuldenkrise auf, die sich bis heute fortsetzt. Der Geist von Bandung wurde somit ab den 1980er Jahren weitgehend gebrochen. Mit der Konterrevolution im sozialistischen Lager verloren die Befreiungsbewegungen ihren engsten Partner und wurden zum langen Rückzug gezwungen.
Eine Wiederbelebung von Bandung heute?
Mit der Gründung des BRICS-Bündnisses im Jahr 2009 und seiner Erweiterung im Jahr 2024 stellt sich heute die Frage, ob dies nicht eine Wiederbelebung des Geistes von Bandung darstellt. Auch Indonesien trat Anfang 2025 dem Bündnis bei und wurde damit das erste südostasiatische Vollmitglied. Es stimmt, dass BRICS-Plus viele der Themen aufgreift, die vor 70 Jahren in Bandung angesprochen wurden: Süd-Süd-Zusammenarbeit, Nichtpaktgebundenheit, Schuldenerlass, die Frage nach einer Währungsunion und alternativen Zahlungssystemen. Doch wie der indische Historiker und Kommunist Vijay Prashad feststellt, wäre es irreführend zu behaupten, dass der Geist von Bandung sich von der Konterrevolution bereits erholt habe: „Er existiert, aber weitgehend als Nostalgie und nicht als organische Verbindung zwischen kämpfenden Massen und Bewegungen an der Schwelle zur Macht.“ Prashad sieht in den heutigen Entwicklungen eher die Entstehung einer „neuen Stimmung im Globalen Süden“. Es handele sich „lediglich um eine Andeutung einer neuen Möglichkeit, die jedoch mit dem Konzept der ‚Souveränität‘ im Zentrum enorme demokratische Möglichkeiten birgt“.
Die meisten der Regierungen, die 1955 in Bandung zusammentrafen, waren aus antikolonialen Kämpfen hervorgegangen. Sie waren gegenüber den Massenbewegungen großenteils rechenschaftspflichtig. Die Ambitionen vieler BRICS-Regierungen heute werden hingegen weniger von den Massen angetrieben als von einer wachsenden Zuversicht der nationalen Bourgeoisien und Mittelschichten, die durch die Veränderung der globalen Kräfteverhältnisse aufkommt. Das industrielle Wachstum Chinas und anderer „Lokomotiven des Südens“ haben es ermöglicht, dass Entwicklungsländer immer mehr auf alternative Finanzierungsquellen zurückgreifen können. Die entsprechende Aushöhlung der Abhängigkeiten gegenüber westlichen Institutionen wie dem IWF schwächt die Position des Imperialismus auf der Weltbühne und stellt deswegen eine objektiv antiimperialistische Wirkung dar. Dabei bleibt das BRICS-Bündnis – wie damals die Bewegung der Blockfreien – ein widersprüchliches, aber reales Phänomen. Es ist die Aufgabe der Kommunisten, diese Entwicklung zu erfassen und um die Stärkung des subjektiven Faktors in den antiimperialistischen Kämpfen zu ringen.
Wir veröffentlichen ein Update unseres Syrien-Dossiers, in dem wir verschiedene Texte zu den Entwicklungen in Syrien sammeln. Die Texte des Dossiers stellen nicht zwangsläufig die Position der KO dar.Im folgenden spielgen wir den Text „Der Sturz Syriens“, der auf der Website der CPGB-ML (Communist Party of Great Britain – Marxist-Leninist) im Dezember kurz nach den Ereignissen in Syrien veröffentlicht wurde. Die englische Originalversion findet sich hier.
Der Text ist aus zwei Gründen interessant: Einerseits benennt er neben einem kurzen Abriss der Ereignisse der letzten 15 Jahre sehr klar, dass die Niederwerfung der Syrischen Arabischen Republik ein Sieg für den US-Imperialismus und damit eine Niederlage für alle antiimperialistischen Kräfte ist. Andererseits schneidet er kurz die Rolle der britischen Linken an, die sich aber genauso auf Deutschland und den gesamten westlichen Raum übertragen ließe. Die Teile der westlichen Linken, die die Entwicklungen in Syrien direkt oder indirekt angefeuert hat, erwiesen sich – wie schon im Falle Libyens – erneut als Steigbügelhalter der Imperialisten bei der Niederwerfung von Ländern, die vom Imperialismus bekämpft werden.
Die kürzlich verübten Massaker an vorwiegend Alawiten, primär in den syrischen Küstengebieten, waren in Folge des Umsturzes leider erwartbar und von einigen vorhergesagt worden. Große Teile der westlichen Linken, die zuvor den Regierungssturz und damit die Machtübergabe an vom Imperialismus unterstützte Kräfte befeuerte, stellen sich nun neben diese Ereignisse und beteuern, diese nicht gewollt zu haben. Dabei wird übersehen, dass das eine nicht ohne das andere zu haben war und ist.Auch wenn es dazu noch einmal einer ausführlicheren Auseinandersetzung bedürfte, ist klar, dass spätestens der Fall Syrien zu einem Reflexionsprozess über die eigene Rolle der westlichen Linken bei der Ermöglichung imperialistischer Kriegspolitik führen müsste. Die Autoren des Textes vertreten darauf aufbauend die These, dass erst die Befreiung vom Einfluss der „verräterischen fünften Kolonne“, die die westliche Kriegspolitik de facto zu ermöglichen hilft, es möglich machen wird, auf dem Weg zu unserer eigenen Befreiung voranzukommen.
Der Sturz Syriens
Der Zusammenbruch der Regierung von Baschar al-Assad ist ein schwerer Rückschlag für die antiimperialistischen Kräfte, aus dem wir lernen müssen.
Der Rücktritt des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und die Übergabe von Damaskus an von den USA unterstützte Terrorbanden ist ein Sieg für den US-Imperialismus. Die angloamerikanischen Imperialisten haben lange versucht, ganz Syrien zu unterwerfen und jetzt glauben sie, die Gelegenheit dazu zu haben. Es gibt diejenigen, die sich selbst als „Sozialisten“ bezeichnen und den Sturz der syrischen Regierung und das Ende der Arabischen Republik Syrien feiern, aber als bekannt wurde, dass Präsident Assad ins Exil gegangen war, starteten US-amerikanische und israelische Kampfflugzeuge Bombenangriffe im ganzen Land und das israelische Regime begann, weitere syrische Gebiete zu annektieren.
Der von den USA angeführte Krieg gegen Syrien begann 2011 in der Zeit, die als „Arabischer Frühling“ bezeichnet wird. In dieser Zeit brachen in Tunesien und dann in Ägypten Massenproteste auf der Straße aus, bei denen in beiden Ländern langjährige, mit den USA verbündete Staats- und Regierungschefs gestürzt wurden. Die USA und ihre imperialistischen Verbündeten reagierten schnell auf die Situation und begannen, Proteste in anderen Ländern, darunter Syrien und Libyen, aktiv zu manipulieren und sogar zu initiieren. Ihr Ziel war es, friedliche Proteste, die es gab, schnell in gewalttätige Auseinandersetzungen eskalieren zu lassen, die in einem Bürgerkrieg enden sollten, der dann wiederum als Vorwand für eine „humanitäre“ Intervention des imperialistischen Lagers dienen könnte. Genau das wurde in Libyen getan, was so schreckliche Auswirkungen auf das libysche Volk hatte, dass das Land nun zweigeteilt ist und es in Tripolis offene Sklavenmärkte gibt.
In Syrien haben die USA zu dieser Zeit eine riesige verdeckte Operation unter dem Codenamen „Operation Timber Sycamore“ in die Wege geleitet. Diese bestand aus einem riesigen Programm zur Bewaffnung von Banden extrem reaktionärer Fundamentalisten, die zu verschiedenen Zeiten unter den Namen Al-Qaida, ISIS, Syrische Nationalarmee, Dschabhat an-Nusra und jetzt Hayat Tahrir asch-Scham auftraten. Diese Vielzahl von Namen verschleiert, dass es sich (im Kern) um dieselbe Gruppe handelt, die mindestens seit der Zeit des Afghanistan-Krieges in den 1980er Jahren in vielen Ländern mit den USA zusammenarbeitet. Ihre Art zu kämpfen ist immer dieselbe und beinhaltet die Massentötung von Zivilisten und unzählige andere Kriegsverbrechen, gegen die die USA zu sein vorgeben. Zusätzlich zu diesem Einsatz massiven Terrors kamen die Sanktionen, die in vielerlei Hinsicht noch verheerender waren als die Aktionen der Terrorbanden.
Eine brutale und erdrückende Belagerung
Seit 2011 leidet Syrien unter brutalen und erdrückenden imperialistischen Sanktionen, die es dem Land unmöglich machten, selbst grundlegende Aufgaben wie die Ernährung der Bevölkerung zu erfüllen. Selbst nach der Intervention der Russen und Iraner zur Unterstützung der Regierung in Damaskus blieb mehr als ein Drittel des Landes in Teilen des Nordens und Nordostens unter der Kontrolle von Gruppen, die vom Typus Al-Qaida waren, und von kurdischen Kräften (die ebenfalls mit den USA verbündet sind). In der Zwischenzeit besetzte das US-Militär direkt die wichtigsten Ölförderungs- und Weizenanbaugebiete des Landes.
Das Ziel all dessen war es, im Land einen Belagerungszustand zu schaffen – denn das Ziel jeder Belagerung ist es, den Widerstandswillen des Gegners zu brechen, indem das Leben im belagerten Land so unerträglich wie möglich gemacht wird. Genau das wurde ab 2011 in Syrien getan, und zwar mit dem Ziel, die von Baschar al-Assad geführte Regierung zu stürzen und durch eine Regierung zu ersetzen, die sich dem Diktat der USA vollständig unterwirft.
In der vergangenen Woche [Der Text wurde am 12. Dezember veröffentlicht, Redaktion KO] hat sich nun gezeigt, dass sich die jahrelange Belagerungspolitik endlich ausgezahlt hat und eine beträchtliche Anzahl von Befehlshabern der syrischen Armee sich schlichtweg geweigert hat, gegen die jüngste Invasion der von den USA und der Türkei unterstützten HTS-geführten Truppen zu kämpfen. Die kumulative Wirkung der Belagerungspolitik scheint den Kampfeswillen vieler Mitglieder der syrischen Armee endgültig gebrochen zu haben, und Präsident Assad selbst hat das Land im Rahmen eines Deals mit den von den USA unterstützten Truppen verlassen. Syrien ist nun ein Land ohne funktionierenden Staat, ohne Armee, die es verteidigen könnte, und ohne Verbündete. Es wird ständig von israelischen und US-amerikanischen Kampfflugzeugen bombardiert, denn die Imperialisten sind offensichtlich entschlossen, dafür zu sorgen, dass von der Verteidigungsfähigkeit Syriens nicht das geringste übrig bleibt. Israel erobert im Süden Gebiete und es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit einer direkten türkischen Invasion im Norden.
Dreizehn Jahre Krieg, Hunderttausende Tote und Millionen Flüchtlinge. Das ist das Erbe des schmutzigen Krieges der Imperialisten gegen Syrien, und jetzt, da sie ihren düsteren Sieg errungen haben, ist es wahrscheinlich, dass das syrische Volk nur noch Chaos und noch mehr Zerstörung erwartet.
Der Feind in den eigenen Reihen
Es muss die Frage gestellt werden: Warum haben so viele in der britischen Linken diesen imperialistischen Krieg unterstützt? Warum haben Linkssozialdemokraten und Trotzkisten wie Owen Jones, Paul Mason, Aaron Bastani, Zarah Sultana und so viele andere „linke“ Berühmtheiten die Zerstörung dieses anti-zionistischen Landes unterstützt?
Die Antwort ist darin zu finden, dass all diese „Linken“ in Wahrheit fanatische Anhänger des US-Imperialismus sind. Ob der Krieg nun gegen Russland oder Syrien gerichtet ist, die britische Pseudolinke wird ihn entweder direkt unterstützen oder ihn indirekt mit dummen Phrasen wie „Assad ist ein Diktator“ rechtfertigen. Diese Verräter der Arbeiterklasse werden einfach weitermachen und den Krieg vergessen, sobald sich die Presse wieder abwendet und Syrien von den tollwütigen Hunden des Imperialismus in Stücke gerissen wird. Die Lehre für wahre Sozialisten ist, dass eine deutlich entschlossenere Antikriegskampagne nötig gewesen wäre, als dieser Krieg 2011 erstmals von David Cameron vorangetrieben wurde. Stattdessen stimmte die pro-imperialistische Linke einem Großteil der von den Imperialisten verbreiteten Propaganda zu und unternahm letztendlich wenig oder gar nichts, um wirklich Widerstand gegen die 13 Jahre andauernde Belagerung und Zerstörung einer Nation zu leisten, die ein wichtiger Teil der antiimperialistischen Widerstandsachse war.
Dies ist eine weitere beschämende Episode der Kollaboration der britischen „Linken“ mit unseren Klassenfeinden. Solange wir unsere Bewegung nicht vom Einfluss dieser korrumpierten und verräterischen fünften Kolonne befreien, werden wir unserer eigenen Befreiung keinen Schritt näher kommen.
Seit November 2023 nehmen die Verbote von Vereinen und Vereinigungen zu, insbesondere in der Palästina-Solidaritäts-Bewegung. Gleichzeitig steigen die Verfahren wegen „Volksverhetzung“ oder „Billigung von Straftaten“ massiv an – meist im Kontext der Palästina-Solidarität, aber auch wenn andere Positionen zum Ukrainekrieg vertreten werden als die der Bundesregierung. Es ist klar: Mit der Kriegspolitik kommen die Verbote.
Viele Organisationen, auch wir als KO, sind im Visier des Inlandsgeheimdienstes und des Innenministeriums. Wir werden insbesondere wegen unserer Arbeit in der Palästina-Soli-Bewegung erwähnt. Der „Verfassungsschutzbericht“ ist keine neutrale Berichterstattung, sondern eine Markierung der Positionen und Organisationen, die kriminalisiert werden sollen. Sie dienen damit auch immer der Spaltung. Die ins Visier Genommenen sollen isoliert und innerhalb der Bewegung und Gesellschaft ausgeschlossen werden. Dazu dienen bestimmte Unterstellungen und Narrative wie zum Beispiel, dass die Bewegung „unterwandert“ werden würde. Vor diesem Hintergrund wollen wir in der Artikelreihe verschiedene Fragen behandeln: Warum ist der Kampf um Grundrechte notwendig? Welche Schlussfolgerungen können wir aus den vergangenen Verbote ziehen? Und wie sollten wir mit potentiellen zukünftigen Verboten umgehen? Der erste Beitrag der Reihe forderte dazu auf, Grundrechtskämpfe – von Meinungs‑ über Versammlungs‑ bis Vereinigungsfreiheit – als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, sie zur Entwicklung von Klassenbewusstsein zu nutzen und wirksame Gegenstrategien zur Repression zu entwickeln.
Der zweite Beitrag von Lennart Groh behandelt hier die seit Herbst 2023 in Deutschland laufende Welle politischer Vereinsverbote: Betroffen waren u. a. schiitische Moscheen, palästinasolidarische Gruppen und auch ein rechtes Magazin. Der Artikel erläutert juristische Grundlagen, Begründungen und politische Funktionen von Vereinsverboten und zeigt, wie sie mit den aktuellen politischen Entwicklungen zusammenhängen.
Kurz vor 6 Uhr Mittwochmorgen, 24.7.2024 an der Außenalster: Ein Mob von mehreren Dutzend vermummten Polizisten stürmt die Blaue Moschee in Hamburg, eine der größten Moscheen Deutschlands. Mit schwerem Gerät rücken Spezialeinsatzkräfte an, um sich Zugang zu jenem Gebäude zu verschaffen, dessen Enteignung und Überführung in den Besitz der BRD an diesem Morgen bekannt gegeben wird. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verkündet stolz das Verbot des schiitischen Islamischen Zentrum Hamburg (IZH), dem das Gebäude gehört. Bundesweit kommt es zu 52 weiteren Durchsuchungen in 8 Bundesländern sowie der Schließung drei weiterer Moscheen im Bundesgebiet.
Erst eine Woche zuvor war das Verbot des faschistischen Magazins Compact vollzogen worden, das mittlerweile vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Eilverfahren vorerst wieder kassiert wurde.[1] Am 16.5.2024 wiederum hatte das NRW-Innenministerium das Verbot von Palästina Solidarität Duisburg (PSDU) erlassen, rund ein halbes Jahr nachdem die palästinensischen Organisationen HAMAS (Ḥarakat al-muqāwama al-islāmiyya, dt. Islamische Widerstandsbewegung) und Samidoun durch das Bundesinnenministerium (BMI) verboten worden waren. Hinzu kamen weitere Verbote von Organisationen, wie das der Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft (DMG) am 12.6.2024 oder des Islamischen Zentrums Fürstenwalde (IZF) am 12.9.2024. Aktuell wird in Frankfurt am Main vermutlich ein Vereinsverbot des Palästina e. V. vorbereitet, obwohl er sich bereits selbst aufgelöst hatte, in der Antisemitismus-Resolution des Bundestags vom 9.11.2024 wird ein Verbot von BDS gefordert und auch andere palästinensische und palästinasolidarische Initiativen und Gruppen stehen unter Beobachtung durch staatliche Behörden und werden von Schmierkampagnen überzogen, wie etwa Handala Leipzig oder Masar Badil. Und auch die Kommunistische Organisation (KO) steht im Fokus.
Wir scheinen seit Oktober 2023 Zeugen einer „wild gewordenen Exekutive“ zu sein. In der linken und kommunistischen Bewegung gab es allerdings bisher nicht sonderlich viel Interesse an einer Auseinandersetzung mit den genannten Vereinsverboten oder allgemeiner auch der Geschichte dieses Repressionsinstruments. Dabei unterscheiden sich die jüngsten Vereinsverbote politisch in ihrem Charakter. Die Betrachtung von Vereinsverboten im Verlauf der Geschichte der BRD trägt ein Puzzlestück zur Debatte bei, ob und inwiefern wir aktuell einen autoritären Staatsumbau oder das Vorspiel zu einer neuen Form des Faschismus in der BRD erleben. Der Artikel zeigt neben wichtigen Verschärfungen in den Gesetzen zum Vereinsverbot wie verzerrt bestehendes Recht in der BRD durch Ministerien und Gerichte angewendet wird, um die Repression von politischer Opposition in Deutschland zu ermöglichen und zu legitimieren.
Während wir also angespannt darauf warten, welche Organisation es in Deutschland wohl als nächstes trifft, soll hier anhand der jüngsten Vereinsverbote ein kurzer Überblick über rechtliche Aspekte, offizielle Begründungen und politische Hintergründe dieser Form der Repression gegeben werden.[2] Es soll diskutiert werden, was diese Verbote verbindet, worin sie sich aber auch unterscheiden. Um dieses Repressionsinstrument verstehen zu können und ein paar Missverständnisse auszuräumen, soll anfangs besprochen werden, wie Vereinsverbote rechtlich legitimiert werden und welche Art von Gruppierungen sie treffen können.
Das Vereinsgesetz ist die rechtliche Ermächtigung der parteigeführten Landes- und Bundesinnenministerien, polizeilich ohne vorigen Gerichtsbeschluss politisch unliebsame Vereinigungen zerschlagen zu dürfen. Es finden in der Regel Hausdurchsuchungen, umfassende Beschlagnahmungen, Website-Abschaltungen und weitere Maßnahmen statt, um die Gruppierung nachhaltig von ihrer Arbeit abzubringen. Zudem werden bei diesen Maßnahmen Beweise gesammelt, die im Nachhinein zur Verteidigung des Vorgangs genutzt werden können, etwa wenn wie im Fall von Samidoun, PSDU oder Compact gegen das Verbot geklagt wird.
Alle Vereinsverbote beziehen sich auf den Artikel 9 Abs. 2 im Grundgesetz (GG), so auch bei Samidoun, HAMAS, PSDU, Compact und IZH. In diesem Absatz steht: „Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“ Zusätzlich relevant ist das im August 1964 verabschiedete Vereinsgesetz, das eigentlich Vereinsverbotsgesetz heißen müsste, denn das Gesetz führt einzig und allein aus, wie Vereinigungen verboten werden können. Das Vereinsgesetz (VereinsG) legt fest, dass ein Verein dann als verboten gilt, wenn eine „Verbotsbehörde“ (ergo Innenministerium von Land oder Bund) dies als erwiesen ansieht und darlegen kann (§ 3 Abs. 1 VereinsG). Ein Verbot eines Vereins liegt also allein in der Erwägung der Innenministerien, es gibt formal zunächst keine Beschränkung ihrer Exekutivgewalt – sie müssen das Verbot ausreichend begründen, wenn es vor einer Aufhebung durch Gerichte im Nachhinein geschützt sein soll, aber der Verbotsakt an sich, der auch bei eventueller Rücknahme des Verbots jedes Mal einen unwiderruflichen Schaden erzeugt (Verlust von finanziellen Mitteln, Zerschlagung von Organisationsstrukturen, öffentliche Diffamierung, Einschüchterung…), bedarf erstmal keinerlei Zustimmung durch andere Instanzen wie etwa eines Gerichts. Erst durch aufwendige Klagen können Betroffene überhaupt erwirken, dass diese Exekutivakte wieder rückgängig gemacht werden. Dabei wird vor (zeitweiligen) Rücknahmen von Verboten in der Regel nicht zurückgeschreckt. Das Risiko des politischen Gesichtsverlusts scheint erträglich, wenn ein Gericht in einem von vielen Fällen gegen ein Innenministerium entscheidet, wie bei Compact zumindest im Eilentscheid. Klagen und Beschwerden gegen Vereinsverbote werden von den Gerichten in den allermeisten Fällen immer noch abgewiesen, jüngstes Beispiel ist der gescheiterte Eilantrag gegen das Verbot von PSDU.[3]
Vereinsverbote werden auch dort erhoben, wo man nicht beweisen kann, dass Personen eine Vereinigung gebildet haben, „deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist“ (§ 129) oder die „terroristische Tätigkeiten“ unterstützt (§ 129a), auch wenn die Organisation nur im Ausland existiert (§ 129b). Die verbotenen Organisationen und die betroffenen Personen haben in der Regel keine vielfachen und organisiert durchgeführten Straftaten vorzuweisen, sondern werden wegen ihrer politischen Haltung verboten, die als „verfassungsfeindlich“ erachtet wird. Es ist daher eindeutig und praktisch ausschließlich ein Instrument politischer Repression.
Das Vereinsgesetz erlaubt Verbote jedweder Organisation, egal welche Form sie sich gibt. So wird laut Vereinsgesetz „ohne Rücksicht auf die Rechtsform“ jede Gruppierung, die sich „für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat“ als Verein gezählt (§2 Abs. 1 VereinsG). Für diesen sehr weiten Begriff von „Verein“ ist also egal, ob es sich um einen eingetragenen Verein (e. V.), nicht eingetragenen Verein, GmbH, Stiftung, Gewerkschaft oder formlose Organisierung handelt – und auch egal, ob die Vereine organisiert Grundfreiheiten wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Religionsfreiheit wahrnehmen. Gruppen ohne konkrete Rechtsform wie bspw. PSDU wurden als „Verein“ im Sinne des VereinsG verboten, aber auch Compact inklusive zugehöriger GmbH, dessen Aktivität vor allem aus dem Betrieb eines Print-Magazins und diverser Online-Medien bestand. Das heißt, auch Zeitung oder Online-Magazin zu sein, schützt nicht per se vor Verboten. Auch wenn, wie bei der vorläufigen Aufhebung des Compact-Verbots durch das BVerwG zu sehen war, die Wahrnehmung von Grundfreiheiten durch die Organisationen dies bei der Beurteilung der Verbote durch die Gerichte im Sinne der Vereine berücksichtigt werden kann. Tatsächlich wird dies aber nur selten im Sinne der Organisationen so ausgelegt und auch im Fall von Compact stellt das BVerwG klar, dass auch Presse als Verein verboten werden kann und das Verbot formal deshalb nicht zu beanstanden sei.[4] Das BMI bezieht sich in der Verbotsverfügung gegen Compact, die man im Internet finden kann, u. a. auf ein Urteil des BVerwG vom 26. Januar 2022 gegen ein angebliches Medium der PKK, wonach „Meinungs- und Pressefreiheit dort zurückzutreten“ hätten, „wo sie – wie hier – ausschließlich der Verwirklichung verbotswidriger Vereinszwecke dienen“.[5] Auch linksunten.indymedia wurde bekanntlich als Verein verboten und ihre Klage u. a. gegen diese Definition des Mediums als Verein vom BVerwG zurückgewiesen, wenngleich mit anderer Begründung.[6] Beim IZH wurde ein Verein verboten, der in allererster Linie in Moscheen die Ausübung der Religionsfreiheit ermöglicht. Es gibt also keine Grundfreiheit und keine Organisationsform, die auf formale Art und Weise vor den politisch motivierten Exekutivakten der Innenministerien schützt.
Eine bedingte Ausnahme davon stellt die Partei als Rechtsform dar: Seit den 1950er Jahren wurden in der BRD ca. 200 Organisationen durch die Innenministerien als Vereine verboten, aber bislang nur zwei Parteien: die faschistische Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1956. Der bürgerliche Staat gewährt Parteien im Gegensatz zu allen anderen Organisationen einige handfeste Privilegien: Anders als bei Vereinen müssen Parteien das Ziel und die realistische Chance dazu haben, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“, damit sie verboten werden können (Art. 21 Abs. 2 GG), d. h. es geht hier vorrangig nicht um einzelne Straftaten oder diffuse Verstöße gegen „Völkerverständigung“, die der Organisation zugeordnet werden können, wie beim Vereinsverbot, sondern es muss eine realistische Chance auf umsturzähnliche Veränderungen bestehen. Das ist immer noch diffus aber schon eine höhere Schwelle als beim Vereinsverbot, wo die Größe und der Einfluss der Organisation keine Rolle spielt. Noch wichtiger ist aber, dass nur das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Parteien verbieten kann (Art. 21 Abs. 4 GG) und das nur auf Antrag von Bundestag, -rat oder -regierung, die dies mit einem Mehrheitsentscheid beantragen müssen. Ein Antrag auf Verbot der faschistischen NPD wurde 2017 vom BVerfG abgelehnt, weil Anhaltspunkte fehlten, dass die NPD ihre politischen Ziele in der unmittelbaren Zukunft verwirklichen könnte. Voraussetzung, um als Partei anerkannt zu werden, ist, bei Wahlen anzutreten und dafür vom Wahlleiter zugelassen zu werden. Zwar besteht so ein Mittel, um Parteien auf formalem Weg den Parteistatus abzuerkennen (so versucht 2021 bei der DKP[7] und 2024 bei der KPD („KPD-Ost“)[8]), trotzdem besteht dadurch ein größerer Spielraum für Parteien im Gegensatz zu allen anderen Organisationsformen.
Rechtlich wiederum noch schlechter gestellt sind „Vereine, deren Mitglieder oder Leiter sämtlich oder überwiegend Ausländer sind“, und „Vereine mit Sitz im Ausland“ (§§ 14, 15 VereinsG). Für diese „Ausländervereine“ spezifiziert das Vereinsgesetz zusätzliche Verbotsgründe, wie die Gefährdung von „erheblichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ oder dem „friedlichen Zusammenleben von Deutschen und Ausländern“. Angewandt wurden diese auf ausländische Organisationen ausgerichteten Paragrafen zuletzt bei der Hisbollah 2020 und auch bei Samidoun und HAMAS: So heißt es in der Verbotsankündigung von Samidoun u. a., die Gruppe gefährde „das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern und von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet“, zudem verletze die Gruppe „sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland“[9]. Auch die HAMAS gefährde „sonstige erhebliche Interessen der BRD“.[10] Die Ungleichbehandlung von ausländischen und inländischen Vereinen manifestiert sich in diesen zusätzlich ausgeführten Verbotsgründen und macht es den Verbotsbehörden rechtlich noch leichter, migrantische Organisationen zu zerschlagen.
Wie oben erwähnt, können laut Grundgesetz Organisationen verboten werden, deren Zwecke oder Tätigkeit 1. den Strafgesetzen, 2. dem Gedanken der Völkerverständigung oder 3. der verfassungsmäßigen Ordnung zuwiderlaufen. Diese drei Begründungen sollen hier anhand von Beispielen erläutert werden, zusätzlich außerdem weitere Begründungszusammenhänge, die sich immer wieder in den Verbotsverfügungen finden lassen.
Der Verstoß gegen Strafgesetze ist unter den betrachteten Verboten des letzten Jahres nur bei HAMAS und IZH Teil der Begründung für das Vereinsverbot. Auf welche Straftatbestände sich hier konkret bezogen wird, ist leider nicht bekannt. Infrage kommt bspw. die Unterstützung „terroristischer Vereinigungen“, was wie ausgeführt nach §§ 129 a/b StGB unter Strafe steht; die HAMAS selbst wird schon länger durch BVerwG und BVerfG als terroristische Organisation bezeichnet,[11] das IZH sah sich mindestens in öffentlichen Medien mehrfach Vorwürfen ausgesetzt, die seit 2020 in Deutschland verbotene Hisbollah materiell zu unterstützen.
Zentral als Begründung für die Verbote ist bei HAMAS, Samidoun, IZH und PSDU der Vorwurf, „gegen den Gedanken der Völkerverständigung“ gerichtet zu sein. Hierfür ein erstes Zitat aus einem Urteil des BVerfG; die Urteile der höchsten gerichtlichen Instanzen BVerwG und BVerfG sind relevant, weil sie häufig als praktische Ausformulierung eines bestehenden, aber sehr allgemein formulierten Gesetzes fungieren – an ihren Urteilssprüchen und Auslegungen von Gesetzen orientieren sich die Behörden in ihren Verbotsbegründungen und andere Gerichte in ihren Urteilen.
„Gegen die Völkerverständigung richtet sich eine Vereinigung, wenn sie in den internationalen Beziehungen Gewalt oder vergleichbar schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen aktiv propagiert und fördert […]. Das kann die Vereinigung selbst unmittelbar tun; der Verbotstatbestand kann aber auch erfüllt sein, wenn sich die Vereinigung durch die Förderung Dritter gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet.“
– BVerfG, 13.07.2018, 1 BvR 1474/12, 1 BvR 57/14, 1 BvR 57/14, 1 BvR 670/13, Rn. 112 (Beschluss zur Zurückweisung von Verfassungsbeschwerden gegen drei Vereinigungsverbote)
Ähnlich wie beim § 130 StGB zur „Volksverhetzung“ und seiner letzten Novelle im Jahr 2022 ermöglicht der Vorwurf gegen die Völkerverständigung ausgerichtet zu sein, bestimmte Meinungen zu politischen Entwicklungen und militärischen Konflikten auf der Welt unter Strafe zu stellen. Wer öffentlich Völkermord und Angriffskriege durch die Staaten Nordamerikas und Europas in Korea, Vietnam, im Irak, in Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, Libanon oder Palästina als notwendige Schritte zur Verteidigung freiheitlicher Werte und westlicher Interessen öffentlich und lautstark rechtfertigt, braucht keine rechtlichen Konsequenzen zu fürchten; wer hingegen die Al-Aqsa-Flut nicht als „antisemitisches Massaker“ der HAMAS oder den Militäreinsatz Russlands in der Ukraine nicht einfach als „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ Putins bezeichnet, der muss befürchten, dass er selbst angeklagt oder seine Organisation unter dem Verweis auf die angebliche Missachtung der Völkerverständigung verboten wird. Die politische „Neutralität“ deutscher Gesetze und Behörden bei der Wahrung und Achtung der Menschenrechte und Völkerverständigung ist eine Farce; im Gegenteil sehen wir hier ein Instrument, um den erlaubten Meinungskorridor hinsichtlich internationaler Konflikte, die die Interessen der BRD berühren, rechtlich abgesichert und moralisch legitimiert stark zu begrenzen. So wird im Fall von PSDU der angebliche Verstoß der Gruppe gegen die Völkerverständigung vor allem dadurch „nachgewiesen“, dass ihr unter Bezug auf die IHRA-Definition (die letztlich Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzt) vorgeworfen wird, „antisemitische Narrative“ (Bezeichnung Israels als siedlerkoloniales Projekt, Vorwurf, dass Israel Kinder tötet, Aufruf zum Boykott Israels) verbreitet, „Sympathie für den bewaffneten Widerstand gegen den Staat Israel“ bekundet und „das Existenzrecht des Staates Israel“ bestritten zu haben.[12] Weshalb die Vorwürfe haltlos sind, lässt sich gut auf der Website des nach dem Verbot von PSDU gegründeten Komitees gegen das Verbot nachlesen.[13] Wichtig ist hier zu verstehen, dass es einer im Sinne deutscher Interessen politisch gefärbten Sichtweise auf die Tätigkeiten und Inhalte von PSDU bedarf, um diese als Verstoß gegen die Völkerverständigung zu interpretieren. Dass auch die „Förderung Dritter“ als Verstoß gegen die Völkerverständigung ausgelegt werden kann, spielt bei der weiter unten behandelten „Kontaktschuld“ eine wichtige Rolle.
Neben dem Verstoß gegen Strafgesetze und der Verletzung des Gedankens der Völkerverständigung ist der wichtigste rechtliche Grund für Vereinsverbote, dass die betroffene Organisation „gegen die verfassungsmäßige Ordnung“ gerichtet ist. Man könnte denken, dass es dabei um das Ziel einer Beseitigung (von Teilen) des Grundgesetzes gehe, d.h. um die Abschaffung von Dingen wie Parlamentarismus, Meinungs- und Pressefreiheit, Religionsfreiheit, gleiches Wahlrecht, Recht auf Privateigentum etc. Tatsächlich bezieht sich der Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit gerade bei Organisationen mit Auslandsbezug aber i. d. R. wieder nur auf Aktivitäten und Inhalte, die auch schon als Verstoß gegen Völkerverständigung gewertet werden. Weder die Tätigkeit von Samidoun noch HAMAS, von IZH oder PSDU war auf relevante Änderungen an den Inhalten der Verfassung der BRD gerichtet – weder öffentlich und vermutlich auch nicht geheim. Das wird auch von den Innenministerien gar nicht behauptet. Trotzdem wird allen vier Organisationen vorgeworfen, gegen die Verfassung zu wirken, und zwar deshalb, weil das Grundgesetz „unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte“ formuliert (u. a. Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit), die, bspw. wie in der Verbotsverfügung von PSDU benannt, durch „antisemitische und antiisraelische Narrative“ gefährdet würden.[14] Das NRW Innenministerium macht sich in der Verbotsverfügung zu PSDU konkret keine Mühe, weitere Gründe für Verfassungsfeindlichkeit anzuführen, als bei dem vermeintlichen Verstoß gegen die Völkerverständigung durch PSDU. So kann aber trotzdem der Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit aufrechterhalten werden.
In der BRD ist es nicht per se verboten, die Verfassung ändern oder abschaffen zu wollen – Organisationen wird aber faktisch unmöglich gemacht, dieses Ziel ernsthaft zu verfolgen, ohne durch ein Vereinsverbot bedroht zu werden. Aufgrund einer durch Urteile des BVerwG geschaffenen Klausel ist es nämlich verboten, seine vom Grundgesetz abweichende Haltung als Organisation auf „kämpferisch-aggressive“ Art und Weise verwirklichen zu wollen. Diese sogenannte „kämpferisch-aggressive Haltung“ ist bei allen Vereinsverboten zentral. Gemeint ist dabei aber nicht zwangsläufig Militanz oder Aggressivität. Das BVerwG führt das in seinen Urteilen meist so wie folgt oder ähnlich aus:
„Grundsätzlich rechtfertigt sich das Verbot einer Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG nicht bereits bei Äußerungen, welche die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes ablehnen oder ihr andere Grundsätze entgegenstellen. Gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes „richten“ sich grundsätzlich nur Vereinigungen, die den Willen haben, ihre mündlich oder schriftlich verbreiteten verfassungsfeindlichen Ziele in die Tat umzusetzen. Die verfassungsfeindliche Vereinigung muß in kämpferisch-aggressiver Form das Ziel verfolgen, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu untergraben. Um ein Verbot nach Art. 9 Abs. 2 GG rechtmäßig zu erlassen, sind daher grundsätzlich im Zeitpunkt der Verbots- und Auflösungsverfügung Tatsachen festzustellen, die eine Tätigkeit der Vereinigung mit dem Ziele der Verwirklichung ihrer verfassungsfeindlichen Absichten ergeben.“
– BVerwG, 23.03.1971, 1 C 54.66
„Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Vereinigung ihre verfassungswidrigen Ziele gerade durch die Anwendung von Gewalt oder durch sonstige Rechtsverletzungen zu verwirklichen sucht. Wesentlich ist vielmehr, daß sich die Tätigkeit der Vereinigung kämpferisch-aggressiv gegen die verfassungsmäßige Ordnung wendet, d.h. diese Ordnung fortlaufend untergraben will.“
– BVerwG, 02.12.1980, 1 A 3.80, Rn. 42
Die Definition der „kämpferisch-aggressiven Haltung“ ist also weit auslegbar, sodass Behörden großen Spielraum haben, ob sie eine Organisation zerschlagen oder nicht. Diesen Spielraum nutzen sie im eigenen politischen Sinne. Der Bezug auf eine „kämpferisch-aggressive Haltung“ beim Vereinsverbot suggeriert, dass nur eine bestimmte Art und Weise der Tätigkeit zur Verfassungsänderung verboten sei, nämlich eine von Gewalt oder Aggressivität geprägte Tätigkeit. Gewalt und Aggressivität sind tatsächlich eine mögliche, aber offensichtlich keine notwendige Voraussetzung für ein Verbot. Blickt man auf die Gerichtsurteile wird deutlich, dass es in Wirklichkeit nicht um eine bestimmte Form der Tätigkeit, sondern um dessen Inhalt geht: Will eine Organisation die Verfassung in relevanten Teilen ändern und bemüht sich aktiv um die Verwirklichung dieser Ziele (egal in welcher Form), gehört sie aus Sicht der obersten Gerichte verboten. Aus den Verbotsverfügungen selbst geht hervor, was zu einer „kämpferisch-aggressiven Haltung“ gezählt wird – ein einheitliches Bild ergibt sich jedoch auch hier nicht. Deutlich wird lediglich, dass es, wie gesagt, keine konkreten Bestrebungen zur Änderung der Verfassung braucht, um eine kämpferisch-aggressive Haltung und damit Verfassungsfeindlichkeit unterstellt zu bekommen.
Bei PSDU genügt der Verweis auf die an den Haaren herbeigezogene antisemitische Haltung, um die kämpferisch-aggressive Ausrichtung gegen Grundsätze der verfassungsmäßigen Ordnung zu beweisen, konkret wird in diesem Abschnitt zusätzlich nur auf eine „unkritische und undifferenzierte Darstellung des Nahost-Konflikts“ und die „Emotionalisierung und Aufstachelung der Zuhörerschaft“ bei Versammlungen verwiesen.[15] Wer emotional das zum Ausdruck bringt, was Leute bei einem Thema fühlen, gerät also bereits in den Fokus. Das ist eine für die herrschende Klasse politisch absolut zweckmäßige Auslegung des Rechts: Emotionalisierung ist richtig eingesetzt ein wirkungsvolles politisches Instrument; man bewegt die Leute gerade in zugespitzten Situationen nicht allein mit richtigen Inhalten, sondern auch ihre Form muss ergreifend sein. Das ist Gerichten und Behörden bewusst, weswegen die Bestrafung einer „kämpferisch-aggressiven Haltung“ neben anderen Punkten bewusst auf die Unterbindung dieses Instruments zielt.
Bei Compact führt das BMI aus, dass „die fortwährende Schaffung von Verfassungsfeinden durch entsprechende Schulung und Indoktrination der Mitglieder und Anhänger“ den Beweis einer „kämpferisch-aggressiven Haltung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung“ darstellt.[16] Letztlich kann nach den Urteilen der obersten Gerichte zufolge jede Agitation für Änderungen am Grundgesetz als kämpferisch-aggressive Haltung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung ausgelegt werden. Auch wenn solche Änderungen nicht per se verboten sind, ist es für relevante Änderungen der Verfassung auch auf dem parlamentarischen Weg natürlich immer notwendig, organisiert in der Bevölkerung für die Unterstützung eines solchen Projekts zu werben, um überhaupt entsprechende Mehrheiten zu erreichen. In der Verbotsverfügung von Compact werden als Beleg des „Wirksamwerdens“ der kämpferisch-aggressiven Haltung die steigenden Abonnenten-, Follower- und Spender-Zahlen genannt in Kombination mit „extremistischen“ Online-Kommentaren, die dieses Umfeld aufgrund der Beeinflussung durch das Compact-Magazin abgebe. In Verbindung damit wird umfassend aus internen Telefongesprächen, Schriftverkehr und Zoom-Meetings von Compact zitiert, in denen in unterschiedlicher Formulierung die Absicht bekundet wurde, „das System stürzen“ zu wollen. Es wird aus einem Privatgespräch zwischen Jürgen Elsässer und einem engen Sympathisanten und Mitarbeiter zitiert, wo der Sympathisant konkrete Überlegungen anführt, Vizekanzler Robert Habeck zu erschießen, um ein Signal an die deutsche Bevölkerung zu senden. Vergleicht man die hier bemängelte „kämpferisch-aggressive Haltung“ vom Compact-Magazin, wo über konkrete Anschlagspläne gesprochen und der „Sturz des Systems“ zentraler Dreh- und Angelpunkt jeder zweiten Publikation und Äußerung ist, mit der „kämpferisch-aggressiven Haltung“ von PSDU, wird nochmals die Unklarheit der Definition von „kämpferisch-aggressiv“ deutlich. Aber auch, was bei rechten Organisationen erst passieren muss, damit ein Vereinsverbot überhaupt erwogen wird. Bei linken, migrantischen oder propalästinensischen Organisationen genügen die falschen inhaltliche Positionen.
Grundlegende Änderungen an der Verfassung werden unter Verweis auf eine kämpferisch-aggressive Haltung praktisch verhindert oder zumindest bleibt immer die Option für die Ministerien, dies nach politischem Gutdünken zu verhindern.
Eine weitere wichtige Begründung für die Verbote ist fast immer der Kontakt zu anderen Organisationen, die verboten sind oder als „verfassungsfeindlich“ bezeichnet werden. Hierbei reicht teils schon die Beobachtung einer Organisation durch den Bundes- oder einen Landesverfassungsschutz, um den Kontakt mit ihr für ein Verbot nutzen zu können.
In der Bekanntmachung des Verbots von Samidoun vom 2.11.2023 heißt es, die Organisation unterstütze „Vereinigungen, die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlassen, befürworten und androhen.“[17] Die ausführliche Verbotsverfügung liegt leider nicht vor, vermutlich werden hier aber Verbindungen zu HAMAS und PFLP gezogen. Das Verbot von Samidoun war wiederum einer der Gründe, um PSDU zu verbieten, denn die Gruppe hatte Kontakt zu Samidoun. Dabei reicht es dem NRW-Innenministerium aus, dass die Begegnungen und Bezüge, vor dem Verbot von Samidoun stattfanden, um daraus einen Verstoß gegen die Völkerverständigung zu konstruieren.[18] Auch der Kontakt zu BDS, Palästina Spricht und dem mittlerweile selbstaufgelösten[19]Palästina e. V. aus Frankfurt am Main werden in dem Verbot von PSDU für die Unterstellung einer Völkerverständigungsfeindlichkeit missbraucht.[20]
Dass Zaid Abdulnasser nach dem Verbot von Samidoun als Einzelperson auf einer Veranstaltung, auf der auch eine Person von PSDU gesprochen hat, aufgetreten ist, reicht aus, um PSDU vorwerfen zu können, dass sie auch nach dem Vereinsverbot von Samidoun ihre „Verbindungen zu ‚Samidoun‘ nicht abgebrochen haben“.[21] Das heißt, Einzelpersonen, wie in diesem Fall Zaid, sind nach einem Vereinsverbot faktisch eingeschränkt in ihrer Meinungsäußerung, denn offensichtlich gehen andere Plattformen und Organisationen ein Risiko ein, wenn sie diesen Einzelpersonen eine Bühne bieten, denn sie riskieren damit ein eigenes Vereinsverbot. Es ist erfreulich zu sehen, dass sich nicht alle Teile der palästinasolidarischen Bewegung davon einschüchtern lassen und bspw. Zaid oder Ahmad und Leon von PSDU bei ihren Veranstaltungen über die Verbote sprechen lassen. Tatsächlich wird nun auch schon PSDU genutzt, um Einzelpersonen und Organisationen, die mit der Organisation in Kontakt standen, zu repressieren.[22]
Es entsteht eine Kette von Repression und Verbot gegen Personen, die miteinander in Verbindung stehen: Organisation 1 ist verfassungsfeindlich, also ist Organisation 2 verfassungsfeindlich, also ist Organisation 3 verfassungsfeindlich. Die entstehende Kette von Verboten und Repression erlaubt es, mit einem erfolgreichen Verbot viel mehr Teile einer Bewegung als nur die verbotene Organisation selbst einzuschüchtern und für ihre Aktivitäten zu bestrafen.
Bei Compact dienen Verbindungen zur Identitären Bewegung, zur AfD und seiner Jugendorganisation (Junge Alternative), zur Partei Die Heimat (ehem. NPD), zu den Freie Sachsen, dem Institut für Staatspolitik und verschiedenen Reichsbürgergruppierungen als Beleg für eine verfassungsfeindliche Grundhaltung.
Häufig treffen die Vereinsverbote Organisationen, die in brennenden politischen Auseinandersetzungen und aktuell relevanten Bewegungen die Rolle eines Antreibers und inhaltlichen Orientierungspunkts einnehmen. Teils sind es Organisationen, die es schaffen Verbindungen in unterschiedliche soziale Milieus und politische Spektren aufzubauen und damit für aktuelle Kämpfe eine vereinheitlichende und vorantreibende Rolle zu spielen. Deutlich werden diese Punkte am Beispiel der Vereinsverbote gegen die palästinasolidarische Bewegung in Deutschland.
Die Offensive des palästinensischen Widerstands in Gaza im Oktober 2023 markierte eine Zäsur in der Entwicklung des siedlerkolonialen Staats. Investitionen wurden abgezogen, Handel eingestellt, diplomatische Beziehungen zu Israel abgebrochen, ein palästinensischer Staat von zahlreichen Ländern anerkannt. Trotz der weiterhin unklaren Perspektive Palästinas und der Siedlerkolonie sowie der Ermordung von großen Teilen der Führung des Widerstands der Region hat sich das israelische Militär bis jetzt unfähig gezeigt, den palästinensischen Widerstand in seiner Handlungsfähigkeit zu brechen. Die Siedlerkolonie reagiert auf seine brenzlige Lage mit schrecklichen Verbrechen an der palästinensischen Bevölkerung. Der Genozid in Gaza, die erkennbar absteigende Entwicklung Israels und der Mut des palästinensischen Volks haben weltweit gerade in den ersten Wochen und Monaten nach dem 7. Oktober 2023 eine riesige Welle an aktiver Solidarisierung mit dem palästinensischen Befreiungskampf und an öffentlich ausgesprochener Ablehnung des mordenden und unterdrückenden Apartheidstaats hervorgerufen – auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Nach dem 7. Oktober 2023 kam es unmittelbar und dauerhaft zu großen Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet. Nicht nur die Zahl der Teilnehmer war beeindruckend, sondern vor allem der positive Bezug auf den Kampf gegen Besatzung und Apartheid in Palästina, also der inhaltlich offensive Charakter der Demonstrationen, der nicht nur von Empörung gegen die Reaktion Israels auf die Al-Aqsa-Flut geprägt ist, sondern von Zuversicht, dass Palästina befreit werden kann und dem Stolz auf den Mut der Palästinenser. Die Demonstrationen sind maßgeblich geprägt von palästinensischen, muslimischen und migrantischen Teilen der Bevölkerung. Ein wichtiger Stoß der Repression der Behörden, um diese Welle zu brechen, richtete sich schnell mittels breit angelegter Versammlungs- und Vereinsverbote gegen antizionistische Positionen und gegen den Positivbezug auf den palästinensischen Widerstand. Gruppierungen und Personen, die diese Positionen in den Protesten und online verbreiten, standen im Fokus der Schläge von Medien und Behörden – bis heute. Es ging dabei darum, den (im positiven Sinne) radikalen Teil der Bewegung zu diffamieren, in seinem Wirken einzuschränken und dadurch die Proteste in gemäßigte Bahnen zu lenken und zu erlahmen.
Dies waren die wichtigsten Gründe für das Verbot von Samidoun und HAMAS im November 2023, das am 12. Oktober durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt und am 2. November durch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) offiziell in Kraft gesetzt wurde. Zweieinhalb Wochen nach dem Verbot am 23. November folgten dann die 21 Razzien,[23] bei denen 13 Orte in Berlin (angeblich sowohl bzgl. HAMAS als auch Samidoun), Nordrhein-Westfalen (2 Orte bzgl. HAMAS), Niedersachsen (2 Orte bzgl. HAMAS), Schleswig-Holstein (3 Orte bzgl. HAMAS) und ein Ort in Hamburg bzgl. HAMAS durchsucht wurden. Das Verbot der HAMAS wurde seit langem gefordert, auf der EU-Terrorliste stand sie seit 2001 (2021 durch EuGH bestätigt[24]), das Bundesverwaltungsgericht hatte die Organisation 2004 im Rahmen einer Entscheidung zum Verbot des Al-Aqsa e. V. zur Terrororganisation erklärt.[25] Die Bundesregierung hat in der Situation nach dem 7. Oktober nachgezogen, politisch vor allem, um das Zentrum des realen Widerstands in Palästina in Deutschland endgültig unsagbar und den Positivbezug strafbar zu machen. In Deutschland wie in Gaza wurde die Vernichtung der HAMAS und der dahinterstehenden Idee des Widerstands zum erklärten Ziel. Für den Protest in Deutschland spielte die HAMAS natürlich weniger organisatorisch als moralisch eine wichtige Rolle, ganz unabhängig davon, was einzelne Gruppen und Personen dieses Protests von der Organisation politisch hielten – die unter der Führung der HAMAS durch vom palästinensischen Volk getragene Widerstandsgruppen erfolgreich durchgeführten Aktionen zum Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza am 7. Oktober sind der wichtigste Grund, weshalb die Bewegung für Palästina weltweit Hoffnung und Mut auf eine Befreiung von der Besatzung schöpfen konnte, die sich auf den Straßen der Welt entlud. Die HAMAS war das wichtigste und im Umfeld der deutschen Öffentlichkeit auch das leichteste Ziel der westlichen Repression: Das Bild vom mordenden, vergewaltigenden HAMAS-Kämpfer war eigentlich schon vor der Al-Aqsa-Flut etabliert, die Lügen und Verdrehungen zum 7. Oktober taten ihr Übriges, um den Angelpunkt des palästinensischen Widerstands als das ultimative Böse darstellen zu können.
Seitdem genügt es, auf einen realen oder konstruierten Positivbezug zur HAMAS zu verweisen, um Organisationen und Personen für ihr propalästinensisches Engagement bestrafen zu können. Schon in den 2000er Jahren wurden Organisationen in Deutschland verboten, die in einen Zusammenhang mit HAMAS gestellt wurden (z.B. 2002: al-Aqsa e. V.[26]. 2010: Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e. V.[27]). Damals war noch eine unterstellte finanzielle Unterstützung notwendig, heute genügt der Vorwurf einer „ideellen Unterstützung“, wie zuletzt beim Verbot von PSDU deutlich wurde.[28]
Samidoun war im Oktober 2023 noch nicht im bundesweiten medialen Fokus; die Angriffe auf Samidoun und Forderungen nach einem Verbot gab es schon vorher, kamen bis zum 7. Oktober aber vor allem von Zionisten, Journalisten und Politikern aus Berlin, wo die Organisation am aktivsten auftrat. Samidoun schaffte es hier, aber auch in anderen Teilen Deutschlands, die Frage des bewaffneten Widerstands auf die Tagesordnung zu setzen, zeigte sich klar antizionistisch und hatte Verbindungen in linke Kreise genauso wie natürlich zu hier lebenden Palästinensern. Samidoun drängte mindestens seit 2021 zu klaren Positionierungen zu Palästina und gelangte u. a. im Rahmen der (verbotenen) Nakba-Demos in Berlin zu Bekanntheit. Besonders ist am Verbot von Samidoun, dass sie aus Sicht der Bundesbehörden „das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern und von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet“ und „die öffentliche Ordnung“ bedrohen würden. Dies ist weder bei HAMAS noch IZH der Fall, obwohl beide ebenfalls als Ausländerverein definiert werden. Vermutlich war die direkte Rolle von Samidoun in den Protesten in Deutschland den Behörden bewusst und konnte mit dem Verweis auf eine „Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens“ gezielt angegriffen werden. Mit der spontanen Versammlung auf der Sonnenallee am Abend des 7. Oktobers, bei der das Niederreißen der Mauer um Gaza mit Süßigkeiten, Jubelrufen und einer Kundgebung gefeiert wurde und als Samidoun die ersten waren, die Berichte davon auf Social Media teilten, sahen die prozionistischen Berichterstatter der Hauptstadt (allen voran der Tagesspiegel) ihre Gelegenheit gekommen, diesen ideologisch konsequenten Teil der Bewegung ins volle Licht der bürgerlichen Öffentlichkeit zu zerren, wo Politiker und Medien nach dem Beginn der Al-Aqsa-Flut in ihrer ersten Paralyse über das, was da in Gaza passiert war, auf der panischen Suche nach einem Ziel für einen Gegenschlag waren – mit Samidoun war der perfekte Sündenbock gefunden. Mit einmal Mal kannte jedes bürgerliche Hetzblatt und jeder proisraelische Politiker in Deutschland die kleine Organisation und das Verbot war auf dem Weg. Die Wegbereiter waren Tagesspiegel und andere kleinere zionistische Schreihälse, die die Gruppierung auf dem Schirm hatten und schon länger bekämpften.
Solche rechten Leute und Medien, die sich Schmier- und Outing-Kampagnen gegen antiimperialistische Organisationen und Personen zur persönlichen Berufung gemacht haben, können wir deshalb leider nicht einfach als unbedeutend abtun. Sie arbeiten den Repressionsbehörden mit ihrem Monitoring aktiv zu. Bei PSDU waren es die Ruhrbarone, die schon länger umfassend über die Tätigkeiten von PSDU berichteten und dessen Videomaterial sogar als Beleg in der Verbotsverfügung gegen die Duisburger Gruppe verwendet wurde.[29] Dass die Behörden das Material der Antideutschen zur Begründung von Vereins- und Versammlungsverboten benutzen, ist auch aus weiteren Fällen bekannt. Sie sind stolze und tatsächlich nützliche Hilfsangestellte von Staats- und Verfassungsschutz. Die Zusammenarbeit geht nebenbei auch nicht nur in eine Richtung, sondern auch andersherum, dass also der Staat die Medien zum Beispiel mittels VS-Bericht darauf hinweist, welche Organisationen gefährlich und daher mit Schmierkampagnen und Gruselgeschichten zu überziehen sind. Dies ist ein Mittel für den Staat Organisationen schon unterhalb der Schwelle von Vereinsverboten & Co. zu repressieren.
Auch PSDU nahm eine gewisse Vorreiter-Rolle ein, die zu ihrem Verbot beigetragen haben könnte. Die Gruppe zeigte eine hohe und sichtbare Aktivität, vertrat politisch hinsichtlich der Befreiung Palästinas konsequente Positionen, war in der Bewegung und Community gut vernetzt und damit zumindest lokal ein Scharnier zwischen Linken und muslimischen Teilen der Bevölkerung, aus denen sich die palästinasolidarische Bewegung bundesweit vorrangig speiste. Dieser aktiven und sehr offen arbeitenden Gruppe sollte ein Riegel vorgeschoben werden und alle, die mit ihr zu tun hatten, eingeschüchtert werden. Dies wurde auch ermöglicht durch weite Auslegungen des Verbots wie bspw. durch den Landesvorsitzenden des Bunds Deutscher Kriminalbeamter (BDK), einem Berufsverband von Polizisten, der, ohne erkennbare juristische Kenntnisse aber mit der natürlichen Autorität eines Polizisten von Fach in einem weit verbreiteten Interview am Tag des Verbots von PSDU behauptete, dass jeder, der sich dort engagiert habe, nun sein Grundrecht auf Vereinigungsfreiheit verwirkt habe und die Personen nicht mehr gemeinsam auf Versammlungen erscheinen dürften.[30] Solche Aussagen wie von der genannten Person sind juristisch natürlich nicht haltbar und von dem Verbot nicht gedeckt. Durch Einschüchterungen wie diese ist der Effekt der Maßnahme allerdings vermutlich deutlich größer als das, was in der entsprechenden Verordnung steht, denn die Leute bekommen natürlich vor allem das mit, was in den Medien zu einem Verbot erklärt wird. Zudem besteht immer die reale Gefahr unter dem Vorwurf von Fortsetzung der verbotenen Organisation oder Bildung einer Ersatzorganisation mit empfindlichen Strafen belegt zu werden, wenn die Personen wieder aktiv werden. Hierbei werden die Personen bewusst im Unklaren gelassen und viele werden aufgrund von (drohenden) Maßnahmen des Staats ihr Verhalten ändern, obwohl sie nichts verbotenes tun.
Besonders relevant für die letzten Vereinsverbote sind die Bezüge der Organisationen auf ausländische Akteure. Diese Verbindungen haben unterschiedliche Qualität: Teilweise sind es wohl reale Kontakte, häufig geht es aber nur um eine positive Bezugnahme auf Akteure, die mit der BRD und ihren Verbündeten in Konflikt stehen.
Der Kampf gegen den äußeren Feind im Innern erklärt u. a. das Verbot des Islamischen Zentrums Hamburgs: Ein großangelegter Polizeischlag richtete sich am 24.7.2024 gegen 53 ihrer Einrichtungen in den Bundesländern Bayern, Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Vier Moscheen wurden bundesweit im Zuge des IZH-Verbots geschlossen.[31] Zudem sind mit dem Verbot auf einen Schlag unzählige Bücher und Veröffentlichungen der Verlage des IZH ebenfalls verboten worden. Das Verbot des IZH, die Enteignung seiner Moscheen und das Verbot seiner Publikationen ist ein brutaler Verstoß gegen die Religionsfreiheit und eine massive Einschränkung der Religionsausübung im Umfeld der Moscheen. Schiitische Gotteshäuser und Verlage gibt es in Deutschland keineswegs wie Sand am Meer.
Dem Verbot war eine langjährige, medial begleitete Kampagne gegen das IZH vorausgegangen. Seit spätestens 2022 wurde es als Hort des „Mullahregimes“ durch große Medienhäuser verleumdet. Auf der Innenministerkonferenz (IMK) am 8.12.2023 forderten die Innenminister der Länder von dem BMI eine Prüfung und Umsetzung des Verbots des IZH,[32] die zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits eingeleitet war. Diese Innenministerkonferenz im Dezember 2023 war vermutlich auch für die Verbote auf Länderebene relevant – also PSDU durch das Innenministerium NRW, die sunnitische DMG durch das Innenministerium Niedersachsen und das sunnitische IZF durch das Innenministerium Brandenburg. Hier stimmte man sich ab und nahm sich konkrete Handlungen vor.
Wir erleben heute eine neue Hochphase antimuslimischer Hetze und Verbote. Neben dem IZH sind wie gezeigt auch sunnitische Gruppierungen Ziel von Verleumdungen und Repression, auch solche die keine Verbindungen zu Muslimbruderschaft oder palästinensischen Organisationen haben. So wurde eben die Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft Braunschweig (DMG) im Juni 2024 durch das Niedersächsische Innenministerium verboten, die wohl eine der reichweitenstärksten Online-Plattformen muslimischer Prediger in Deutschland organisierte. Aber auch bspw. gegen „Muslim Interaktiv“ wurde zuletzt stark gehetzt und ein Verbot gefordert.[33] Letztere konnten unter Bezug auf den Genozid in Palästina und die Zensur propalästinensischer Stimmen in Deutschland stark mobilisieren, was Behörden und Medien sichtlich ein Dorn im Auge war.
Die Repression reagiert auf eine zunehmende Abkehr migrantischer Bevölkerungsteile von der herrschenden Politik, die von neuen politischen Akteuren organisiert werden, die sich (zumindest in der Ansprache an ihre Zuhörerschaft) gegen die Interessen des US-Imperialismus und der BRD richten. Nicht nur das IZH-Verbot ist damit auch eine Keule gegen migrantische Selbstorganisation abseits des Kurses der herrschenden Politik. Das müssen wir als solche verstehen und kritisieren, auch wenn wir uns mit diesen Kräften politisch nicht auf einer Linie befinden.
Erleichtert werden diese Verbote durch die rechtliche Zuschreibung als Ausländerverein. Die Tätigkeit des IZH würde eine Ausrichtung gegen „die verfassungsmäßige Ordnung“ und „den Gedanken der Völkerverständigung“ vorweisen, sowie gegen Strafgesetze verstoßen, zusätzlich aber auch noch „völkerrechtlichen Verpflichtungen“ der BRD zuwiderlaufen, sowie Bestrebungen außerhalb der BRD fördern, „deren Ziele oder Mittel mit den Grundwerten einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung unvereinbar sind“.[34] Die Vorwürfe beinhalten neben dem Vorwurf „Sprachrohr Teherans“ zu sein (was so natürlich nicht strafbar ist) unter anderem die Behauptung, dass Personen aus dem IZH die als Terrororganisation definierte Hisbollah finanziell unterstützt hätten und diese sich für ihre Tätigkeiten auch in Räumlichkeiten des IZH getroffen hätten.
Dass das Verbot des IZH ein Puzzlestück im Kampf gegen den Iran ist, erklären selbst bürgerliche Kommentatoren so – diese Ausrichtung gegen den Iran ist die „völkerrechtliche Verpflichtung“ der BRD, wo das IZH in seiner Tätigkeit vermutlich einigermaßen konsequent gegen verstoßen hat. Leider besteht auch hier kein Einblick in die Verbotsverfügung gegen das IZH, sodass nur darüber spekuliert werden kann, gegen welche Strafgesetze das Zentrum systematisch verstoßen haben soll. Mit dem Verbot des IZH entledigte man sich einer Organisation, die im Vergleich zu anderen muslimischen Verbänden vergleichsweise aktiv Stellung gegen die zionistischen Verbrechen in Palästina bezog und sicher zur antiimperialistischen Politisierung ihres riesigen Umfelds in ganz Deutschland beitrug.
Wie an diesem und weiteren Verboten zu erkennen ist, geht es bei den Vereinsverboten auch um den Kampf gegen den äußeren Feind im Inneren und darum, jegliche Möglichkeit der Zersetzung der Heimatfront zu unterbinden. Die Berichte der deutschen Geheimdienste im deutschen Bundestag benennen das selbst genau so: Russland, Nahost und die Kriegstüchtigkeit Deutschlands – das sind die Themen, die Verfassungsschutz, BND und MAD nach eigener Aussage 2023/2024 in erster Linie bewegten.[35] Die Entschiedenheit im Kampf gegen den äußeren Feind im Inneren hat sich mit der von Olaf Scholz am 27.2.2022 im Bundestag ausgerufenen „Zeitenwende“ verschärft. Einige Jahre vorher stellten bereits die Angriffe auf die USA am 11.9.2001 ein weiteres wichtiges Ereignis dar, in dessen Folge sich dieser Kampf qualitativ deutlich verschärfte. Hier zeigte sich eine Verwundbarkeit der entscheidenden imperialistischen Macht in der Welt nach der Konterrevolution Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal sehr deutlich. Im anschließenden Wahn wurde die Repression gegen Organisationen im Rahmen des „war on terror“ nicht nur in den USA massiv ausgeweitet. In Deutschland wurde hinsichtlich des Vereinsverbots bspw. ein bis dahin noch im Vereinsgesetz formuliertes Privileg für religiöse Organisationen abgeschafft. Das BVerfG selbst fasst die einschneidende Wirkung dieser Gesetzesnovelle in einem seiner Urteile aus 2018 rückblickend so zusammen:
„In Reaktion auf die Terroranschläge des 11. September 2001 wurde der Anwendungsbereich der Regelungen über das Vereinsverbot im Ersten Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes vom 4. Dezember 2001 (BGBl I S. 3319) durch Streichung des sogenannten Religionsprivilegs auf religiöse Vereinigungen erstreckt (vgl. BTDrucks 14/7026, S. 6). Seit 2001 ist die Zahl der Vereinigungsverbote erheblich angestiegen. Sie liegt mit über 60 Verboten inzwischen höher als in dem gesamten Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten des Vereinsgesetzes 1964 und dem 11. September 2001.“
– BVerfG, 13.07.2018, 1 BvR 1474/12, 1 BvR 57/14, 1 BvR 57/14, 1 BvR 670/13, Rn. 7
Die Repression im Inland hängt unmittelbar mit der Entwicklung der internationalen Kämpfe der Nationen und Klassen zusammen und leitet sich aktuell im Speziellen von der relativen Krise des US-Imperialismus und seiner Verbündeten ab. Der 11.9.2001, der 24.2.2022 und der 7.10.2023 markieren historisch und in Fragen der Repression wichtige Zäsuren.
Auch bei dem Verbot rechter Organisationen kann das eine Rolle spielen. Das Verbot von Compact wird in der Verbotsverfügung anhand folgender Punkte begründet: Völkisch-nationalistisches Gesellschaftskonzept, Fremden- und Migrantenfeindlichkeit, Antisemitismus, Vernetzung im rechtsextremistischen Spektrum. Tatsächlich sind Aussagen von Compact zu Ukraine und Russland in dem Dokument überhaupt kein Thema, obwohl Elsässer Russlands Militäreinsatz in dem rechten Magazin auch explizit u.a. als „Offensive gegen den Great Reset, der die Globalisten stoppt“ begrüßt hatte und die mediale Begleitung diesen Punkt teilweise zum zentralen Vorwurf erhoben hatte. Es scheint auf den ersten Blick merkwürdig, dass die außenpolitischen Positionen des reaktionären Compact-Magazins in der Verbotsverfügung mit keinem Wort Erwähnung finden, es ist aber trotzdem plausibel, dass der starke Bezug auf Russland ein Grund für das Verbot gewesen ist. Weshalb die Verbotsbehörden diesen Bezug auf einen ausländischen Akteur dann nicht selbstbewusster als Grund genannt haben, wie es bei HAMAS, Samidoun, IZH und PSDU auch der Fall war, müsste weiter diskutiert werden.
Bei HAMAS und Samidoun ist der Zusammenhang offensichtlich, der Vorwurf an die beiden Organisationen lautet auch explizit, dass sie „sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland“ gefährden würden.[36] Dass es hierbei um den Schutz Israels geht, ist klar, welche „Interessen der BRD“ das BMI aber konkret gefährdet sieht und als Grund anführt, bleibt leider unklar, da die Verbotsverfügungen nicht vorliegen.
Die Verbote sind gleichzeitig auch Teil einer repressiven Einbindungstaktik. In der Regel sind die Verbote begleitet von Aussagen oder Maßnahmen, die der die verbotene Organisation tragenden Bewegung oder dem Spektrum Zugeständnisse macht: Bei den antipalästinensischen Vereinsverboten wurde deutlich gemacht, dass man die Situation in Gaza bedauern darf und Israel in seiner genozidalen Politik um Mäßigung bitten darf (wie von Außenministerin Annalena Baerbock stellenweise heldenhaft vorgelebt), solange nicht ernsthaft etwas am vorgegebenen Kurs der Unterstützung Israels geändert wird und der verachtenswerte Status Quo in Palästina erhalten bleibt. Es bedarf für die Einbindung der notwendigerweise immer wieder protestierenden und unzufriedenen Bevölkerung neben klaren Sündenböcken wie Samidoun und PSDU auch sanfter Kritiker, hinter die man sich stellen kann, womit man klar vermitteln kann: so geht es, aber so geht es nicht!
Beim IZH-Verbot ist es besonders perfide, wie staatliche Akteure beiseitelassen, dass sie die aktuelle Welle von antimuslimischem Rassismus in jeder Verlautbarung zu Migration und Außenpolitik reiten und antreiben, wenn Innenministerin Faeser dann gleichzeitig zum Verbot von IZH sagt: „Wir handeln nicht gegen eine Religion. Wir unterscheiden klar zwischen Islamisten, gegen die wir hart vorgehen und den vielen Musliminnen und Muslimen, die zu unserem Land gehören und ihren Glauben leben.“[37] Eben diese Aussagen sind wichtig und Teil der Angebote zur Einbindung, ohne die die Repression nur halb so wirksam wäre. So wurde auch angedeutet, dass die Blaue Moschee unter geläuterter, pro-westlicher Ausrichtung wieder für Gebete und Veranstaltungen geöffnet werden könnte.[38] Nicht nur geht es darum, den konkreten ideologischen Einfluss der verbotenen Strukturen zu unterbinden, sondern allen Muslimen im Land verstehen zu geben, welche Positionen hinsichtlich der Außenpolitik Deutschlands toleriert werden und welche nicht.
Oppositionelle Meinungen und Akteure haben unter der bürgerlich-parlamentarischen Herrschaft des Kapitals in verschiedenen Themen eine notwendige und hilfreiche Seite, einerseits wie oben erläutert zum Einbinden abweichender Bevölkerungsteile, andererseits bieten manche dieser Kräfte selbst eine attraktive Alternative für den deutschen Imperialismus gegenüber bisherigen Regierungskräften. Daher passiert es, dass Kräfte, die in dem einen Moment vom Staat noch bekämpft werden, im nächsten schon als Handlanger akzeptiert werden. Dies kann auf linke, wie rechte Kräfte zutreffen.
Hinsichtlich des Compact Verbots sollte man die AfD nicht ausblenden. Aktuell bedeutet die AfD für das deutsche Kapital vielleicht noch Instabilität und Unwägbarkeiten und politisch dafür gegenüber den anderen großen, etablierten Parteien im Bundestag keinen Vorteil, der groß genug wäre, um ihr zur Macht zu verhelfen. Trotzdem strahlt die AfD, wie auch andere erfolgreiche Kräfte am rechten Rand in Europas Parlamenten, sicherlich eine gewisse Attraktivität auf das Kapital aus, weil es ihnen aktuell gelingt, verloren gegangene Teile der Bevölkerung wieder für den eigenen Kurs einzubinden. Der AfD kann mit einem Verbot der Organisation Compact, die die Schmuddelpositionen der AfD in kondensierter Form verkörpert, klar signalisiert werden, wo inhaltliche Grenzen liegen. Der wichtigste Unterschied bei Verboten von rechten Organisationen wie Compact im Gegensatz zum Verbot von linken Organisationen ist natürlich, dass es gar kein Problem mit dem Kern der Ideologie der verbotenen Organisationen gibt. Den Chauvinismus gegenüber anderen Völkern bringt die imperialistische Politik der BRD selber hervor und verbreitet ihn ganz offen und aktiv. Nur in seiner radikalsten Form wird er zur Herausforderung, da er schließlich auch eine umfassende, aktuell eher ungünstige Abschottung vom Kapital-, Waren- und Personenverkehr bedeuten kann. Und auch wenn es in der Verbotsverfügung keine hervorgehobene Rolle spielt, ist ein zentraler Grund weshalb Compact und auch die AfD aktuell noch bekämpft werden, ihre oppositionelle Haltung in der Frage des Ukraine-Kriegs. Das Verbot des Compact-Magazins kann also auch Teil einer Strategie zur Zähmung und Wählbarkeit der AfD sein – indem man der AfD ihr radikales Umfeld abschneidet (die AfD bemüht sich natürlich auch selber darum), wird sie mehr und mehr eine reale Option. Das Bild der „Brandmauer“ zur AfD, mit der sich die bisher herrschenden Parteien aktuell noch einen antifaschistischen Anstrich geben wollen, wird wegen der hohen Zustimmungswerte der AfD politisch immer teurer aufrechtzuerhalten und eine geordnete Eingliederung der Partei immer notwendiger, worin ein Verbot ihres radikalen Umfelds eben eins der Instrumente sein kann. Eine Übernahme oder Beteiligung der AfD an den Regierungsgeschäften in Deutschland scheint uns in naher Zukunft bevorzustehen.
Auch wenn sich das Kalkül hinsichtlich Compact und der AfD nur erahnen lässt, ist dieser Kontext zentral und unterscheidet das Verbot von Compact so stark von den Verboten von HAMAS, Samidoun, PSDU und IZH, wo es darum geht pro-palästinensische bzw. pro-iranische Tendenzen in der Bevölkerung als Ganzes unsagbar und unorganisierbar zu machen.
Das Compact-Verbot ist nicht Ergebnis einer progressiven antifaschistischen Bewegung. Das Compact-Verbot hat für die Herrschenden in diesem Land eine andere Funktion als die anderen genannten Verbote und ist trotzdem abzulehnen, weil es solche Organisationsverbote, die vorrangig wegen politischer Äußerungen vorgenommen werden, weiter normalisiert und die viel relevanteren Hetzer in diesem Land, die wir in den Bundestagsparteien, in der Regierung und den großen Medienhäusern finden, ungeschoren davonkommen lässt.
Das Compact-Verbot ist nicht die Folge einer moralischen Selbstverpflichtung des deutschen Staats, soll aber als genau diese angesehen werden. Das Verbot versucht auch weit verbreiteten antifaschistischen Haltungen in der Bevölkerung zu schmeicheln. Politisch ausgeglichen soll die Summe der Organisationsverbote wirken, die sich gegen unterschiedliche politische Richtungen richten, sich auf eine politisch scheinbar neutrale Rechtsgrundlage beziehen und jegliche „Feinde der Demokratie“ wirksam bekämpft.
Das ganze Schauspiel der „wehrhaften Demokratie“, bei denen die Vereinsverbote einen wichtigen Teil der Inszenierung bilden, dient wesentlich dazu, Bevölkerungsteilen, die noch mehr oder weniger hinter dem eigenen Kurs stehen, zu signalisieren: Wir haben den Laden im Griff, mit uns muss sich keiner Sorgen um seine kleinen Pfründe machen. Dieses Schauspiel (zusätzlich zur realen Wirkung der Repression) ist wichtig, denn angesichts zahlreicher innen- und außenpolitischer Krisen geht den Herrschenden zunehmend ihr ruhiges Hinterland und die darin gebundenen Gruppen flöten. Bei jedem Vereinsverbot wird dieses Schauspiel lang und breit vorgeführt und die Drangsalierung von ein paar jungen Polit-Aktivisten, friedlichen Moscheebetreibern o.ä. als perfekt organisierter Schlag gegen gemeingefährliche Umstürzler breitgetreten. Die mediale Begleitung von IZH-Verbot oder PSDU sind nur zwei Beispiele dafür. Gerade wo das Image des starken Staats angekratzt wird, dort muss er umso härter zuschlagen, wie auch beim Indymedia-Verbot 2017 schön zu beobachten war, welches nach einer wochenlangen Debatte um „rechtsfreie Räume“ im Hamburger Schanzenviertel während der militanten Proteste zum dortigen G20-Gipfel erfolgte.
Das Repressionsinstrument der Zerschlagung von politischen Organisationen ist in der BRD so lebendig wie nie zuvor. Die Vereinsverbote beweisen sich auch in der „Zeitenwende“ als nützliches Werkzeug zur Absicherung der Heimatfront. Hier gibt es mehr Kontinuität als Brüche: Der bürgerliche Staat kann in Deutschland in seiner jetzigen Phase flexibel auf sich verändernde politische Lagen reagieren. Stets ist das ganze Arsenal an Repression bereit, eingesetzt zu werden, meist braucht es nicht mehr als eine neue Leitlinie aus der übergeordneten Behörde, wie mit neuen politischen Entwicklungen umzugehen ist, praktisch beobachtbar im Nachgang des 7. Oktobers. Auch für die Ausweitung der Vereinsverbote muss der Staat nicht umgebaut werden – und umgekehrt wird er durch deren Durchführung auch nicht strukturell oder institutionell verändert. Es ist die Reaktion eines gut aufgestellten Staates auf politische Entwicklungen, die ihm nicht schmecken. Wie er reagiert, hängt von der welt- und innenpolitischen Lage ab, aber die zentralen Instrumente zur Befriedung standen und stehen immer bereit und finden zu jedem Zeitpunkt Anwendung in dem notwendigen Maß. Damit ist längst nicht alles zur Debatte um den „reaktionär-militaristischen Staatsumbau“ gesagt.[39] Es muss betont werden, dass die Verschärfung der eingesetzten Mittel und des Maßes der Repression real und kein Hirngespinst ist. Ein Blick auf weitere Aspekte staatlicher Repression und Einbindung neben Vereinsverboten würde das zeigen. Zur Verfügung standen die meisten dieser Mittel aber immer. Wenn in den nächsten Jahren bspw. mit einem Mal massenhaft Personen zum Kriegsdienst eingezogen werden, es großen Widerstand dagegen gibt, dann muss dieser Staat nicht erst umgebaut werden, um die im Grundgesetz verankerten Notstandsverordnungen in Kraft zu setzen und damit alle wesentlichen Grundrechte auszusetzen.
Dabei können Betrachtungen der Reaktion des Staates erst dann ein vollständiges Bild ergeben, wenn die politische Entwicklung, auf die der bürgerliche Staat gezwungen ist zu reagieren, verständlich gemacht wird. Also: Welche Entwicklung droht ihrer Herrschaft, ihren Interessen und Verbündeten, worauf sie mit Repression reagieren müssen?
Wir müssen alle lernen, wie man auch juristisch kämpft, denn dies ist ein wichtiges Kampffeld, in dem man in beschränktem Umfang zeitweilige Erfolge erringen, vor allem aber den Charakter dieses Staats praktisch aufzeigen kann. Wir müssen lernen mit Verboten und anderen Formen extremer Repression umzugehen, sie abzufedern und als Bewegung und Organisationen zu verkraften – denn gänzlich vermeiden oder abwehren können wir sie nicht. Wir müssen Strukturen schaffen, die die Schäden auf viele Schultern verteilen und breit darüber aufklären und skandalisieren. Den Schaden, den bspw. Vereinsverbote anrichten können, dürfen wir nicht klein reden, aber wir dürfen uns trotzdem niemals davon entmutigen lassen. Es gibt sehr aktuelle Beispiele von Genossen aus unzähligen Ländern (auch in Deutschland), deren Organisationen unzählige Male verboten wurden und die trotzdem immer weiter ihrer politischen Linie folgen und sich dafür organisieren. Wichtig ist, die Arbeit fortzusetzen, ohne unvorsichtig zu handeln.
[2] Leider sind nur die ausführlichen Verbotsverfügungen von PSDU und Compact öffentlich zu finden, die Verfügungen zu Samidoun, HAMAS und IZH sind bis heute nirgendwo zugänglich gemacht worden.
[33] Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) setzte sich in diesem Zusammenhang auch noch für eine Verschärfung des Strafgesetzes ein, wonach die Forderung nach Einführung einer islamischen Rechtsordnung unter Strafe stellen soll. Die Möglichkeit zur Bestrafung der Forderung nach einer anderen Verfassung wäre eine massive Ausweitung der politischen Repressionsmöglichkeiten in Deutschland, wurde bisher aber nicht weiter aufgegriffen: https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Grote-will-Kalifats-Forderung-unter-Strafe-stellen,innenausschuss176.html
Nach Jahren eines zermürbenden Kriegs der Türkei, Israel, der USA und anderer NATO-Mächte gegen Syrien erlag die Regierung von Assad dem Ansturm einer Islamistenmiliz, die von der UNO als terroristische Organisation geführt wird. Sturmreif geschossen wurde die Regierung in Damaskus zuvor durch die Verhängung beispielloser Wirtschaftssanktionen, die zur Verarmung der großen Mehrheit des Volkes führte.
Die vom „Westen“ gegen die Interessen Russlands, des Irans und Chinas durchgesetzte neue Ordnung ist aber alles andere als stabil. Große ethnische und religiöse Bevölkerungsgruppen wie die Kurden, die Alawiten und die Christen fühlen sich von den neuen, islamistischen Machthabern bedroht. Wohin wird das geschundene Land gehen?
Whoever engages in historical revisionism trivializes fascism
Buchenwald was a concentration camp of the German fascists, build in 1937, located on Ettersberg, very close to the city of Weimar. Even though many were killed through direct execution, like the 8500 Sowjet prioners that were shot in 1943, Buchenwald was no extermination camp like Auschwitz. It was primarily a forced labour camp. The incarcereted had to work to death under brutal conditions, mainly for the war industry. The total number of deaths in Buchenwald or as a direct consequence of the captivity there is 56.000. Approximatly 278.000 were incarcerated in Buchenwald. One of them was Ernst Thälmann, head of the German Communist Party (KPD).
The history of the camp is especially important to remember, not only for the vicious crimes commited there but also for the brave resistance of the prisoners. Under the leadership of the communists, they managed to establish the „International Camp Committee“ in 1943, consisting of prioners from different nationalities. They managed to build resistance in the camp and the arms factory they had to work in and eventually took up arms against the German fascists and freed themselves. This saved the camp from extermination and helped capturing many of the fleeing fascist guards.
While there is plenty to learn about the histroy of Buchenwald, this commentary aims at giving an overview oft he recent attempts to rewrite history on the occasion of the 80th anniversary of the self-liberation of Buchenwald.
As the survivors of the camp become less, German warmongers and anticommunists are trying to rewrite the story of their resistance, the liberation from fascism and the content of their famous oath, in which the survivors swore in 1945:
„We will only give up the fight when the last guilty has been judged by the tribunal of all nations. The absolute destruction of Nazism, down to its roots, is our motto. The building of a new world of peace and freedom is our ideal.“ (Buchenwald Oath)
Latest developments in Buchenwald
We regularly visit Buchenwald to commemorate the prisoners in the camp, remember their resistance and share the history with more people. So we did this year as well.
Shortly before the entrance to the camp grounds, we were intercepted by the staff –clearly committed zionists – asking us to take down our Kufiyas. As they couldn’t provide us with any written rule that bans Kufiyas from the premises, we refused to do so. Thereupon they threatened to ban us from entering the premises of the memorial site. We questioned their authority to make up a Kufiya ban and claim the Kufiya to be „non aligning with the goals of the memorial site“ or „inaapropriate“ and insisted on a written document. This was important to us in order to be able to take legal action againt this supposedly „Kufiya ban“. We had to insist strongly to make sure to get the ban in writing, but finally succeeded after waiting for an hour under police surveillance and were then followed by a police car far beyond the memorial grounds when we were leaving.
We found out that the police had clear instructions from the (public) foundation that runs the memorial site to make sure no Kufiyas would enter the memorial site. We got no further information if they were checking right winged symbols as well, but the focus was clear. While we were treated like criminals only for wearing the Kufiya, members of the Left Party (Partei die Linke) entered with Israeli Flags and during the official commemoration ceremony, where politicans who take an active part in the warmongering and racist German politics can annualy pretend to care about anti-fascism, Russia and Palestine were repeatedly slandered. The head oft he foundation left out the resistance of the prisoners completely in his speech.
An international student delegation broke the silence. “What are we waiting for? People are dying in a war in Ukraine, people are dying in Palestine in a genocide! ¡No pasarán!” was how they ended their speech. This was so scandalous for the foundation in charge of the memorial, that its director feeled compelled to immediatly delegitimize the speech. “It is not appropriate to speak of genocide in a place like this”. His comment was followed by heavy applause.
You can’t get to the heart of historical oblivion more forcefully than this. A genocide that is currently taking place is being denied at a location of historic genocide.
The following commentary looks back at the developments of the last few years and focuses on the roots of historical revisionism.
After 80 years of self-liberation, the ghosts of the past are haunting the Ettersberg
Since 2022, representatives of the Russian Federation have not been invited to the commemoration ceremony and their wreaths for the victims of the camp have been disposed. With millions of deaths, Russia paid a high toll in human lives for its liberation from fascism; hardly a family was spared. The Saint Georges Ribbon, a symbol of the fight against fascism, is also banned on the site. On the occasion of the 80th anniversary of the liberation of Auschwitz, the memorial site management accused Russia of instrumentalizing the fascist past when its politicians speak of a denazification of Ukraine.[1] Not a word about the fascist death squads in the Ukrainian military and secret service or about the Bandera cult and hatred of Russians that permeates Ukrainian society. In keeping with this line, the official memorial service in 2022 did not fly the Belarusian flag, but that of the opposition.[2] This was despite the fact that the flags are usually supposed to represent the nationalities of the concentration camps prisoners. At the time of the Buchenwald concentration camp, the flag of the Belarusian opposition was the symbol of the Jewish-hating, Belarusian Nazi collaborators.
The failed attempts last year to prevent anti-fascists wearing Kufiya from entering the memorial site are also part of this appalling policy. Fascists and activists expressing solidarity with Palestine are often lumped together: “When young people in Berlin chant ‘Free Palestine from German guilt’, it is hardly different from the ‘guilt cult’ narrative of the far right,”[3]said the memorial’s management in a speech on January 27 this year. While one side insists on really understanding and working through the German guilt for the Holocaust instead of transferring it to Arabs and Palestinians, the other side denies Germany’s fascist crimes.
This policy of the memorial has its roots in the deeply reactionary historical revisionism upon which the Federal Republic of Germany is built. In the following, we want to provide some background information and review the history of the Buchenwald Memorial on the occasion of the 80th anniversary of the self-liberation. The dismissals and political purges since 1990 are only the tip of the iceberg. The history of protest and resistance against this historical revisionism is little known.
The fight against historical revisionism is on the order of the day
For the German war machine, which is currently to be oiled with 1.7 trillion euros, historical revisionism is a crucial lever. With historical revisionism, war and rearmament are legitimized. Germany claims to have learned from its past and that is precisely why it is allowed to have atomic bombs, send tanks to Ukraine or deliver bombs to Israel. With this historical revisionism, neo-fascist tendencies are also encouraged. So, we have to look very closely when people talk about German responsibility and lessons from history today. And we have to study the history of fascism and the anti-fascist resistance even more carefully. It is our history, and we have to know it! Anyone who treats the experiences and class struggles of the past in a stereotyped and identitarian way is doomed to fail – this also applies to the danger of ritualizing commemoration by us communists.
The aim is to whitewash and defame fascist crimes to such an extent that one is able to commit new crimes in the name of these crimes. Or as the bourgeoisie calls it: responsibility. In concrete terms, this policy is expressed in the reversal of the perpetrator-victim relationship in World War II, which becomes necessary in order to prepare the war against Russia. This is done, firstly, by ignoring German crimes in Eastern Europe and, secondly, by demonizing the Soviet Union, which one no longer wants to accept as a liberator. Thirdly, the role of German monopolies is ignored, in order to declare continuities of fascism, which are still in the DNA of the Federal Republic of Germany (FRG) today, to be called an insane idea.
“The trail of blood leads from Buchenwald to Bonn.”
This was the succinct summary provided by the Buchenwald camp museum until 1990. In that same year, large parts of the exhibition were dismantled. In 1995, the exhibition was disposed completely.[4] During that time, the FRG conducted a inquisition: throughout East Germany, exhibitions were purged of any political content, and smaller concentration camp memorials were even completely demolished.
Why did the exhibition have to be moved from Buchenwald? Because the new memorial management did not want to see either the continuities in the FRG or the role of the monopolies and the financiers behind Hitler. Nor did the camp’s self-liberation and the international resistance fit into this picture. The new memorial management was fully in line with the FRG’s historical revisionism. The state, which never properly dealt with fascism itself, had no sympathy for the anti-fascism that emanated from the concentration camp memorial. While there was no state funded memorial work or research in the FRG up to that point, it now had custody of the extensive archives and research of GDR historical scholarship. In the FRG, former prisoners had to fight for years for the establishment and maintenance of memorials – often unsuccessfully. The volunteers who worked to maintain the Dachau Memorial were repeatedly threatened with closure.[5] In the FRG, research on fascism was completely underfunded and had an outsider status. The broad reappraisal and research in the GDR, on the other hand, proves to this day that things can be done differently. In 1990, the majority of historians were thrown out on the street and banned from the universities of East Germany. Their protest and objection to these measures were drowned out by the nationalist euphoria of the GDR’s integration. A new historical narrative was imposed from above. Since then, the fate of the Buchenwald Memorial has been a prime example of historical revisionism.
The conversion of the Buchenwald Memorial
In 1990, the management of the memorial was also promptly liquidated, and a West German historical commission was set up. Dozens of dismissals and denunciations of the old staff followed. The new director of the memorial only stayed in the office for five days. When the historian’s DKP (German Communist Party) past became known, he had to leave immediately.[6]
The National Place of Remembrance at Buchenwald, planned and erected by former inmates, has since been vilified as a testament to the ‚hypocritical and dictatorial GDR state propaganda‘.[7] For 35 years, Europe’s largest concentration camp memorial has been left to the whims of the weather conditions on the Ettersberg.
Instead, today the focus has been placed on the use of Buchenwald as an internment camp for Nazi officials, members of the SS and Wehrmacht soldiers between 1945 and 1950. This has provided fodder for the reactionary elements: the myth of the Soviet concentration camp Buchenwald was already widespread among many former Nazis in the young Federal Republic of Germany. The fact is that such internment camps were used in all four occupation zones and were based on lists provided by the British and American high command. The decision to do so was taken at the 1943 Allied Conference in Tehran.[8]
The prisoners of the Buchenwald internment camp received compensation early on as “Stalinist persecutees”. What already met with anti-fascist resistance in the FRG of the 1950s was taken to an extreme in the 1990s with a memorial that presents Nazis as victims. While one month of imprisonment in the Soviet internment camp meant 550 marks in compensation, inmates of the concentration camps were fobbed off with 150 marks, by the FGR. Communist prisoners of the concentration Camp got nothing and were exposed to state repression.[9] The memorial to the internment camp, built in 1990s, stands behind the effects chamber and extends over 250 square meters of forest. Since then it has been a place of pilgrimage for right-wingers and neo-fascists.[10]
Controversy over the anti-Fascist heritage
The renewed protest by anti-Fascists and former inmates of the concentration camp against this historical misrepresentation was vilified by the Springer press as the machinations of Communist ideologues and dismissed by the memorial. Nothing should stand in the way of the new historical narrative.[11]
The former inmates of the camp protested against such a reinterpretation of history to the very end. Buchenwald inmate Emil Carlebach criticized how the revolt of the Jewish inmates and the support of the international resistance in the camp were treated: „I myself was hidden under the floor of a barrack for eight days – until the liberation.I was to be hanged because I was suspected, not entirely without reason, of having been involved in preventing the deportation of the Jews to the death march. I myself wore the yellow star, and we saved over 900 children here who, in the words of the SS and the likes of Krupp and IG Farben, were useless eaters and were to be put in gas chambers.Today, all this is denounced by politicians and historians as a communist myth. (…) Well, not only Göbbels could lie, he also had successors.“[12]
Since the political eradication of memory in the nineties, the direction of the march is clear: “In Buchenwald, too, it is about how one deals with history in public and how one also deals with the anti-fascist myth of the GDR and such things. And there they need someone with experience in dealing with history in public, which not only requires, so to speak, scientific brilliance alone.” So the new memorial director Hofmann quoted in the taz-newspaper from 15.6.1992. There seems to be no room for historical facts when it comes to demonizing the anti-fascism of the GDR.
The never-ending attempts to accuse the GDR – and thus the political left – of anti-Semitism do not pass without a trace at Buchenwald. And this despite the fact that the memorial established at the site of the Jewish special camp in 1958, as well as numerous speeches and articles from the period, prove the opposite. It is all the more perfidious that the call of the illegal KPD “Against the disgrace of the Jewish pogroms” and the references to the joint resistance of Jews and Communists were deleted from the exhibition. Even the memorial plaque for Jerzy Zweig, the Polish-Jewish child from Nackt unter Wölfen (German Novel by Bruno Apitz, which was produced as a movie in GDR and recently in FGR again) who was saved, was removed. Zweig himself took legal action against the memorial management for repeatedly defaming him as a “swap child” and a “legend”.
In 2012, the Auschwitz Committee intervened. In an open letter to the German government, Esther Bejarano demanded: “An end to the surveillance of Holocaust survivors and the discrediting of their work as contemporary witnesses!” She criticizes the secret services‘ snooping on the views of survivors and the general suspicion towards survivors‘ organizations and anti-fascist initiatives, while „those in government share responsibility for the ‘German conditions’ today: the economization of thought, the erosion of solidarity in society, and, as a result, the social division that fuels fears.Racism, anti-Semitism and xenophobia are on the rise again in Germany today. “[13]
A 1000-year-old stench
The Annexation of GDR not only brought with it a new view of history, but also allowed hundreds of neo-Nazis to spread out again. To this day, they continue to attack the memorial and visiting groups: with Nazi salutes, swastika graffiti, mocking the victims, verbal abuse and sabotage. All too often, the neo-fascists get off with much too light sentences or completely unpunished. The new memorial for the Soviet internment camp, on the other hand, is a popular place of pilgrimage for neo-fascists. In 1996, a neo-Nazi group, including the NSU trio, visited the memorial in Nazi storm trooper-like uniforms to provoke.[14] In the GDR, this would have meant their arrest and saved 10 lives. In the FRG, the secret service-financed group was able to continue its mischief.
Over time, the plan to present victims and perpetrators in a more “differentiated” way also received increasing support from academics and politicians: The portrayal of the SS as diabolical perpetrators of violence is claimed to be undifferentiated – the partial guilt of “red Kapos” must be included. The purely positive portrayal of the camp resistance is also marked as problematic and prove of the one-sidedness of GDR anti-fascism. Here, too, the tabloid Bild-Zeitung was quick to jump on the bandwagon: with its series of articles entitled “How Communists Helped the Nazis Kill,” it incited hatred against Buchenwald prisoners in the most repulsive way.
The Oath of Buchenwald states: “We will only end the struggle when the last culprit has been judged by the tribunal of all nations!” In West Germany, these culprits built a new state. The warmongers and revanchists who are beating the drums for war against Russia today are coming into their own. Three goals testify to this day to the mentality of this Federal Republic: revenge against the Soviet Union, the subjugation of Eastern Europe and the shaking off of historical crimes.
[1] Gedenkstätte Buchenwald (2025): Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
[2] Website der Gedenkstätte Buchenwald (2022): 77. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Die zukünftige Regierung hat letzten Mittwoch mit dem neuen Koalitionsvertrag einen 146-seitigen Maßnahmenkatalog für die nächsten Jahre vorgelegt.1 Die politische Richtung ist klar: Aufrüstung nach innen, Kriegsvorbereitung nach außen. Wir haben die wichtigsten Vorhaben gesammelt und eingeordnet.
Die Koalition will Unternehmen subventionieren, deren Profite erhöhen und die Investitionsbedingungen im Sinne des Kapitals ausbauen. Dabei ist konkret die Einrichtung eines Deutschland-Fonds, der vom Bund mit zehn Milliarden, also aus Steuergeldern, bezuschusst wird, geplant. Außerdem werden ein Industriestrompreis sowie verschiedene Steuererleichterungen (Körperschafts- und Einkommenssteuer) für Unternehmen durchgesetzt.3 Diese erhalten außerdem durch die degressive Abschreibung von Investitionen große Steuergeschenke.4 Das Lieferkettengesetz, das Unternehmen formal zur arbeits- und menschenrechtlichen Nachverfolgung der beteiligten Lieferketten verpflichtete, wird abgeschafft.5 Das 500 Milliarden schwere Sondervermögen für eine kriegstüchtige Infrastruktur wurde noch durch den abgewählten Bundestag gepeitscht. Der Koalitionsvertrag sieht eine Reform der Schuldenbremse sowie eine Prüfung der Überführung von Sondervermögen in den regulären Haushalt vor.6
Was heißt das?
Im Vorfeld der Bundestagswahl waren alle der oben genannten Vorhaben von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden propagiert worden. Der deutsche Imperialismus steckt in der Krise und setzt neben der militärischen Aufrüstung verstärkt auf Klassenkampf von oben. Der Staat will die deutschen Unternehmen und Monopole subventionieren und so wettbewerbsfähig halten, um seine Stellung als drittgrößte Volkswirtschaft nicht zu verlieren. Regularien, Preise und Steuern werden durch staatliche Maßnahmen gesenkt, um die Bedingungen für das Kapital noch profitabler zu gestalten. Alle Maßnahmen bedeuten eine Umverteilung des Nationaleinkommens, also eine Verteilung von unten nach oben.
Klassenkampf von oben: „Sanktionen müssen schneller, einfacher und unbürokratischer durchgesetzt werden“7
Was ist geplant?
Die Umverteilung soll über verschiedene Angriffe auf die Arbeiterklasse durchgeführt werden: Die neue Regierung will das Bürgergeld abschaffen und durch eine neue Grundsicherung mit Arbeitszwang ersetzen.8 Im Unterschied zum Bürgergeld sollen alle, die keine Arbeit aufnehmen, mit bis zu 100% sanktioniert werden. Außerdem soll eine Kommission zur Sozialstaatsreform eingesetzt werden, um den weiteren Abbau des Sozialstaates zu planen.9 Die tägliche Höchstarbeitszeit soll abgeschafft und in eine wöchentliche Maximalarbeitszeit umgewandelt werden, konkret heißt das Arbeitszeitverlängerung.10 Unternehmen, die Mehrarbeit ausbauen, bekommen staatliche Prämien.
Was heißt das?
Der Umbau des Bürgergeldes bedeutet Arbeitszwang. Zukünftig können Arbeitslose – noch leichter als bisher sowieso schon – durch das Druckmittel Komplettsanktionierung zu jeglicher Arbeit gezwungen werden. Der Staat kann seine Reservearmee damit so einsetzen, wie er und die Unternehmen es brauchen. Das ist gerade in Zeiten der Kriegsvorbereitung wichtig. Die Arbeitszeitverlängerung ist ein Frontalangriff auf eine der wichtigsten Errungenschaft im Kampf der Arbeiterbewegung, den Acht-Stunden-Tag. Für das Kapital bedeutet dies eine maximale Profitsteigerung. Die im Koalitionsvertrag genannten „Anreize für Mehrarbeit“ werden dabei von der Arbeiterklasse selbst, nämlich in Form von Steuerabgaben, gezahlt: Die Arbeiter zahlen also dafür, zukünftig länger arbeiten zu müssen. Die Arbeitszeitverlängerung läuft unter dem Label Freiwilligkeit. Dabei ist klar, dass diejenigen, die mehr arbeiten werden, entweder aufgrund der sinkenden Löhne oder durch Vorgaben der Unternehmen zur Mehrarbeit gezwungen sind. Darüber hinaus ist natürlich auch der Schritt zum formalen Zwang nicht weit.
Migration, Justiz und Repression: „Zeitenwende der Inneren Sicherheit“11
Was ist geplant?
Kurz vor den Koalitionsverhandlungen forderte der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) das individuelle Recht auf Asyl im Grundgesetz zu streichen.12 Soweit geht der Koalitionsvertrag zwar noch nicht, dennoch steuern die geplanten Vorhaben darauf zu. Die neue Regierung will Menschen nach Syrien und Afghanistan abschieben, sowie generell die Liste der „sicheren“ Herkunftsländer erweitern.13 Die Aufnahmen von Menschen aus dem West-Balkan soll ebenfalls reduziert werden, außerdem soll der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt werden. Asylbewerber sollen zukünftig an den europäischen Grenzen noch gewaltsamer zurückgewiesen werden. Außerdem sollen die Durchführung von Asylverfahren in Drittstaaten geprüft werden, was wichtige Forderung der CDU war. Bei Straftaten, insbesondere bei Volksverhetzung oder “antisemitisch motivierten“ Taten, soll der Aufenthaltsstatus entzogen werden. Außerdem wird geprüft, ob dies auch bei Verstößen gegen die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ umgesetzt werden kann. Bei Abschiebung wird der bisher verpflichtende Rechtsbeistand abgeschafft, den Betroffenen wird also das Recht auf ein juristisches Vorgehen entzogen.14 Von Abschiebung Bedrohte sollen von der Polizei in Haft genommen werden.
Nicht nur in der Migration ist die Rede vom starken Staat: Die neue Regierung wird das „Spannungsverhältnis zwischen Innerer Sicherheit und Datenschutz neu austarieren“, wie es im Koalitionsvertrag heißt.15 Dabei sollen eine Speicherpflicht für IP-Adressen eingeführt, die Zusammenarbeit von Behörden und Verfassungsschutz verbessert sowie ein „modernes Bundespolizeigesetz“ auf den Weg gebracht werden.16 Es werden „Experimentiergesetze“ geschaffen, die jedoch nicht weiter ausgeführt sind.17 Der Tatbestand Volksverhetzung wird verschärft und bei mehrfacher Verurteilung deswegen soll das passive Wahlrecht entzogen werden. Sogenannte „Desinformation“sei nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt und wird dementsprechend juristisch verfolgt.18 Im Sinne der deutschen Staatsräson wird gegen „Israelfeindlichkeit“ an Schulen und Hochschulen verstärkt vorgegangen19.
Was heißt das?
Es ist klar: Betroffen von der Verschärfung der Repressionen sind all diejenigen, die sich gegen den Kriegs- und Aufrüstungskurs stellen. Demonstranten gegen den israelischen Völkermord in Gaza sind Antisemiten und werden als solche juristisch verfolgt. Gegner des NATO-Krieges gegen Russland sind Volksverhetzer oder Verbreiter von Desinformation und sollen daher auf juristischem Weg mundtot gemacht werden – wenn nötig auch durch den Angriff auf ihre Grundrechte. Migranten dienen dabei als Versuchskaninchen, schließlich kann hier das existenzielle Recht auf Aufenthalt, entzogen werden. Als Legitimation der Grundrechtseinschränkung ziehen Medien und Politik Gewalttaten heran. Dabei geht es jedoch nicht um die alltägliche Gewalt – jeden Tag gibt es einen Mordversuche an Frauen. Auch dass in Duisburg Schulen geschlossen werden müssen, da Rechte mit „Säuberungen“ drohen, spielt keine Rolle. Es geht um die von Migranten begangenen Gewalttaten, aus denen Politik und Medien in den letzten Monaten eine Bedrohung der nationalen Sicherheit konstruierten. Der Koalitionsvertrag weitet das konstruierte Bedrohungsszenario nun auf alle, die sich dem Kriegs- und Ausbeutungskurs der BRD entgegenstellen, aus: „Was die Feinde der Demokratie angeht, gilt der Grundsatz „Null Toleranz“. Es ist die gesamtstaatliche und gesellschaftliche Verantwortung, jedweder Destabilisierung unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung entgegenzuwirken und dabei auch unsere Sicherheitsbehörden nicht allein zu lassen.“20 So macht man eine Gesellschaft kriegsfähig.
Aufrüstung und Kriegsvorbereitung: „Die größte und direkteste Bedrohung geht von Russland aus“21
Was ist geplant?
Die neue Koalition hat den Staffelstab der Kriegsvorbereitung gegen Russland übernommen – Zielmarke ist das Jahr 2030. Der Koalitionsvertrag umfasst viele konkrete Schritte, das Bekenntnis zur NATO, EU und Rolle als europäischer NATO-Pfeiler ist dabei allgemeiner Grundsatz. Priorität hat die Aufstellung der Brigade Litauen als „zentraler Beitrag an der NATO-Ostflanke“.22 Außerdem soll das Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst (MAD) überarbeitet werden, was Boris Pistorius mit Hinblick auf eine Stationierung an den NATO-Außengrenzen folgendermaßen begründete23: „Es geht um erweiterte und neue Befugnisse auch in Regionen, in denen wir bislang nicht waren.“24
Die neue Regierung will die langjährige Forderung führender Militärs umsetzen: die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates, der die politische Macht zukünftig noch stärker beim Kanzler konzentrieren soll.25 Die Rechtslage im „zivilen Verteidigungsfall“ soll geändert werden, um die Befugnisse für die Bundeswehr auszubauen.26 Dabei soll auch der Operationsplan Deutschland weiter umgesetzt werden. Die Regierung will noch im nächsten halben Jahr ein Bundeswehrplanungsgesetz verabschieden, das eine schnellere und höhere Aufrüstung der Bundeswehr gesetzlich regelt.27Munition und andere Aufrüstungsgüter soll zukünftig verpflichtend vorbehalten werden, um die militärische Versorgung zu sichern. Die Nutzung von stillgelegten Werken der Autoindustrie für die Rüstungsproduktion soll staatlich geprüft werden.28Lieferketten, Rohstoffbeziehungen und kritische Infrastruktur sollen „resilienter“ gestaltet sein, d. h. der Kontrolle des deutschen Staates unterliegen und diese so für den Kriegsfall sichern zu können.29 Das Aussetzen der Schuldenbremse in militärischen Fragen wurde noch durch den alten Bundestag im Eilverfahren beschlossen. Die Steigerung des Wehretats soll kontinuierlich und über mehrere Jahre hinweg erfolgen – Zahlen werden nicht genannt. Konkret benannt wird jedoch der Ausbau der Raumfahrt und Satelliteninfrastruktur für militärische Zwecke.30 Die Zusammenarbeit zwischen Forschung, Unternehmen und Bundeswehr soll ausgebaut und die Zivilklausel abgeschafft werden. Insgesamt wird die Bundeswehr noch prominenter im öffentlichen Raum vertreten sein, gerade an Schulen ist eine gesteigerte Präsenz geplant. Junge Erwachsene können zukünftig auch einen Freiwilligendienst Bevölkerungsschutz machen.31 Der Wehrdienst bleibt „zunächst (!) freiwillig“ und noch in diesem Jahr soll mit der Wehrerfassung und -überwachung begonnen werden.32
Neben der Aufrüstung wird auch die deutsche Expansionspolitik genauer bestimmt: Die EU-Osterweiterung wird fortgesetzt. Die sechs West-Balkan-Staaten sowie Moldau und die Ukraine sollen aufgenommen werden. Im Fall Georgiens unterstütze man die pro-europäische Opposition und strebe mit dieser an der Macht einen EU-Beitritt an.33 Störenfriede in der EU will man zukünftig das Stimmrecht entziehen, nämlich dann, wenn diese gegen die „Grundwerte der EU“ verstoßen. Generell will die nächste Bundesregierung das bisherige EU-Konsensverfahren abschaffen und durch ein Mehrheitsverfahren ersetzen.34 Die militärische Unterstützung der Ukraine soll nicht nur abgesichert, sondern sogar „gestärkt“ werden. Der NATO-Beitritt der Ukraine ist weiterhin Ziel. Neben Russland soll auch der Angriff auf andere Länder intensiviert werden: Der Einfluss des Irans in der Region soll zurückgedrängt werden, u. a. durch eine Verstärkung der Sanktionen und auch im „Indo-Pazifik“ wolle man weiterhin Präsenz gegenüber China zeigen.35
Was heißt das?
Die Maßnahmen sprechen weitestgehend für sich. Die neue Regierung will die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung in den nächsten Jahren noch steigern. Umstritten in den Sondierungsgesprächen war dabei u. a. die Einführung der Wehrpflicht. Die SPD wollte verhindern, diese schon im Koalitionsvertrag festzuschreiben. Vermutlich hätte sie damit Probleme in der eigenen Partei und Wählerschaft bekommen; die Jusos sprachen sich beispielsweise vor Kurzem dagegen aus. Im Koalitionsvertrag hat man nun den leichteren Weg gewählt – nämlich eine schrittweise Einführung.
Die Aufrüstungs- und Expansionsmaßnahmen sprechen eine klare Sprache: Es geht darum, den direkten Krieg gegen Russland vorzubereiten. Dies zieht sich durch den gesamten Koalitionsvertrag und wird der rote Faden für die Politik der neuen Regierung sein. Umso wichtiger ist es, dass wir die geplanten Vorhaben kennen und dagegen mobilisieren.
1Der Koalitionsvertrag (KV) ist hier online abzurufen: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag_2025.pdf Im Text werden für alle geplanten Maßnahmen die jeweiligen Seitenzahlen im Text verlinkt, damit diese noch einmal ausführlich nachgelesen werden können.
We were talking with Shadia Abdel Moneim, representative of the Sudanese Communist Party. We shed light on the revolutionary movement in Sudan, that has been struggling for a political change since decades, with the Sudanese Communist Party at the forefront.
We also covered the reasons for the war between the Rapid Support Forces (RSF) and the Sudanese Army (SAF), that has been devastating the country since 15th of April 2023. Why are they fighting and what is the role of the Sudanese people in this war? How is all the international meddling in Sudan connected to bigger geopolitical conflicts?
Aktuelle Entwicklungen, die Rolle der Gewerkschaften und Widerstand
Beitrag von Franzi Stein
VW will in die Rüstungsproduktion einsteigen, in Görlitz wurde ein Waggonbau-Werk auf Panzerproduktion umgestellt, und die abgewählte Bundesregierung hat 500 Milliarden Euro für den Ausbau einer kriegstüchtigen Infrastruktur bereitgestellt. Die Rheinmetall-Aktie geht durch die Decke, die Lobby der Rüstungsindustrie propagiert die Parole „Autos zur Rüstung“1 und in der Öffentlichkeit wird mittlerweile offen von Rüstungs- oder Kriegswirtschaft gesprochen – um nur ein paar der jüngsten Entwicklungen zu nennen.
Doch was spricht eigentlich für den Übergang zur Rüstungswirtschaft in Deutschland? Welche Folgen hat dies für die Arbeiterklasse? Wie positionieren sich die Gewerkschaften zu dieser Entwicklung und welchen Protest gibt? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach. Im Hintergrundteil am Ende wird außerdem auf den Begriff der Kriegswirtschaft eingegangen und ein Blick in die Geschichte geworfen, genauer gesagt auf den Aufbau der deutschen Kriegswirtschaft während des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Der Beitrag gibt keine abschließende Einschätzung über die auftretenden Probleme und Widersprüche, sondern möchte einen Einstieg ins Thema bieten. Für diese Fragen ist der Beitrag von Conny Renkl und Stephan Müller in der Wochenzeitung Unsere Zeit zu empfehlen, in dem viele interessante Punkte angesprochen werden.2
Hintergrund der oben genannten Entwicklung ist die Situation des Imperialismus im Allgemeinen und die des deutschen Imperialismus im Speziellen: Dem westlichen Block drohen Einfluss- und Hegemonieverlust, insbesondere aufgrund der Entwicklung Chinas und einer damit einhergehenden Neuorientierung von Staaten, die sich der neokolonialen Unterdrückung durch den Imperialismus entziehen wollen. Der Imperialismus versucht, seine Hegemonie auf verschiedene Weise zu sichern – Krieg ist einer davon, wie die gesteigerte Aggression gegen Russland und China deutlich macht. Auch innerhalb des imperialistischen Lagers werden die Widersprüche auf ökonomischer Ebene verstärkt ausgetragen, wie die Sprengung der Nord Stream II-Pipeline, der Inflation Reduction Act und die aktuelle Zollpolitik unter Trump zeigen.
Der deutsche Imperialismus steht unter Druck und muss verschiedene Herausforderungen bewältigen, um seine Stellung in der Welt zu sichern: Erstens muss er seine Position als drittgrößte Volkswirtschaft der Welt behaupten. Dafür ist es notwendig, in einem möglicherweise verstärkten Wirtschaftskrieg gegen die USA zu bestehen, dafür die Stabilität in der EU zu sichern und gleichzeitig die deutsche Industrie und Wirtschaft so umzubauen, um weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben. Zweitens muss er das gigantische Aufrüstungs- und Kriegsvorhaben stemmen und dafür enorme Finanzierungsleistungen erbringen. Drittens muss er die für dieses Programm erforderliche Stabilität in der Bevölkerung absichern. Hier lotet der deutsche Imperialismus aus, wie viel Angriff auf die Arbeiterklasse möglich ist und wie viel Zugeständnis notwendig ist.
Aktuelle Entwicklungen im Übergang zur Rüstungswirtschaft
In den folgenden Abschnitten werden verschiedene Entwicklungen dargestellt, die für den Aufbau einer Rüstungswirtschaft in Deutschland sprechen: der Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes, die Kriegskredite, der Umbau der Wirtschaft, die Rohstoff- und Energiebeschaffung sowie Staatseinstiege in die Rüstungsbranche.
Ausbau des militärischen-industriellen Komplexes
Der Ausbau und die Förderung der Rüstungsindustrie haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Von Januar 2020 bis Juli 2024 wurden Aufträge im Gesamtwert von knapp 140 Milliarden Euro verzeichnet. Vor allem seit Ende 2023 ist ein massiver Anstieg der Aufträge für die Rüstungsindustrie zu beobachten, unter anderem aus Zahlungen aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen. Der Staat will die Abnahmegarantie von Rüstungsgütern sichern, um die Produktion zu steigern. Nur ein Viertel dieser Ausgaben ging an ausschließlich ausländische Hersteller, während die restlichen 75 % mindestens anteilig an deutsche Rüstungsunternehmen flossen.3
Neben der Produktion soll auch die Reparatur und Wartung hauptsächlich bei deutschen Unternehmen liegen, um die Unabhängigkeit zu erhöhen. Zudem soll der Technologieabfluss in Drittstaaten verhindert werden, was auch ein zentraler Punkt der im November 2024 veröffentlichten Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie (SVI)4ist. In der SVI wird der Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes (MIK) in Deutschland skizziert und der Fokus auf nationale Unabhängigkeit in Fragen der Schlüsseltechnologien, Beschaffung, Reparatur und Wartung gesetzt. Darüber hinaus wird festgehalten, dass Regularien im Sinne des MIK abgebaut, die Beschaffung auf europäischer Ebene vorangetrieben und Arbeitskräfte für die Rüstungsunternehmen gewonnen werden sollen. Die Aussagen verschiedener Vertreter des MIK auf einer Konferenz des Handelsblatts zu „Verteidigung und Sicherheit“ unterstreichen dies: „Wir produzieren schon jetzt mehr Munition als die Vereinigten Staaten“, sagt Rheinmetall-Chef Armin Papperger. „Wir sind bereit zu liefern, und wir sind in der Lage, die Bundeswehr bis 2029 kriegstüchtig zu machen“, sagt MBDA5-Deutschlandchef Thomas Gottschild. „Dafür brauchen wir eine substanzielle finanzielle Ausstattung, klare Abnahmemengen für mehr Planungssicherheit und verlässliche Exportbedingungen, fordert Gottschild. Nur dann könnten die Unternehmen investieren und Skaleneffekte erzielen.“6
Ein Beispiel für den Abbau von Regularien ist die angestrebte Abschaffung der Zivilklausel, um jegliche Forschung in den Dienst der Rüstungsindustrie stellen zu können.7 Vermutlich sollen in Zukunft auch die parlamentarische Aufsicht und Kontrollen weiter eingeschränkt werden. Dies liegt zumindest nahe, wenn man einen Blick in den Bericht des Instituts für Weltwirtschaft Kiel (IfW) zur Entwicklung der Aufrüstung wirft: „Zu den Problemen, die zu einer langsamen und teuren Beschaffung führen, gehören nach Ansicht des Gremiums eine übermäßige parlamentarische Aufsicht über einzelne Beschaffungen, die zu einer Kirchturm-Politik führen kann, administrative Hürden, die den Schutz kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) in den Vordergrund stellen, Vertragsgestaltungen, denen es an Anreizen für Rüstungsunternehmen mangelt, sowie eine unzureichende Innovation im Allgemeinen.“ Das IfW argumentiert für „anreizkompatible Verträge“, die „für den Erfolg des deutschen Rüstungswunders von zentraler Bedeutung waren, nachdem Albert Speer sie 1941 initiiert hatte“8und macht damit deutlich, in welche Richtung es gehen soll.
Infolge des massiven staatlichen Ausbaus des MIK haben sich die Aktienkurse der Rüstungskonzerne im Rekordtempo gesteigert. So verzeichnet beispielsweise die Rheinmetall-Aktie seit Jahresbeginn 2025 einen Anstieg von über 80 %, vorwiegend aufgrund der verabschiedeten Aufrüstungspakete.9 Im IfW-Bericht kann man dazu lesen: „Seit Beginn der Invasion sind die Aktienkurse von Rüstungsunternehmen jedoch erheblich gestiegen, was darauf hindeutet, dass zumindest die börsennotierten Unternehmen in Europa in der Lage sein sollten, sich eine Finanzierung zu sichern.“10
Die Aufrüstung im europäischen Rahmen ist Konsens in der herrschenden Klasse, um die eigene Schlagkraft zu erhöhen. Bei einem EU-Sondergipfel wurden Kriegskredite in Höhe von 800 Milliarden Euro verabschiedet, um die europäische Aufrüstung in großem Stil umzusetzen. Dieses Vorhaben steht bereits länger im Raum, über die konkrete Geldbeschaffung wird noch debattiert.11 Neben den staatlich gewährten Krediten sollen auch private Sparanlagen investiert werden. Inwiefern private Ersparnisse in Form von Kriegsanleihen – es steht eine Summe von zehn Billionen Euro im Raum – in Investitionen überführt werden können, lässt Ursula von der Leyen derzeit noch offen.
Das IfW stellt fest, dass die europäische Produktion in den letzten zwei Jahren zwar zugenommen habe, allerdings immer noch „unter dem Bedarf“ liege und folglich „multinationale Innovationen und europaweite Beschaffungen“ notwendig seien, um „dem russischen Militär mehr als gewachsen“ zu sein.12 Hier gilt es für den deutschen Staat, eine möglichst große Unabhängigkeit zu sichern und die eigene Rüstungsindustrie im Wettbewerb zu stärken. Auch die 2023 in Deutschland vorgestellte Nationale Sicherheitsstrategie formuliert dies als Ziel: „Eigenständige europäische Handlungsfähigkeit ist zunehmend Voraussetzung für die Sicherheit Deutschlands und Europas. Dazu gehören moderne, leistungsfähige Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten ebenso wie eine leistungs- und international wettbewerbsfähige europäische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, die Grundlagen der militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte schafft. Gemeinsame Rüstungsprojekte und deren Exportfähigkeit gemäß den Maßstäben des zukünftigen Rüstungsexportkontrollgesetzes tragen dazu bei, europäische Handlungsfähigkeit voranzutreiben und stärken damit den europäischen Pfeiler in der NATO.“13
Als Probleme werden die Zersplitterung des Marktes, nationale Partikularinteressen und eine folglich zu langsame europäische Beschaffung angesehen. An der grundsätzlichen Konkurrenz der europäischen Staaten um Marktanteile wird sich sicherlich nichts ändern. Dennoch gibt es Versuche, die Produktion zu koordinieren und die Beschaffung zu beschleunigen. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise die European Defence Industry Strategy entwickelt und eine neue Kommissionsstelle eingeführt, die seit letztem Jahr mit Andrius Kubilius besetzt ist. Conny Renkl und Stephan Müller führen in ihrer Analyse einige Beispiele an, wie das deutsch-französische Panzerprojekt MGCS oder das deutsch-französische Trinity House Agreement zur Rüstungszusammenarbeit.14
Kriegskredite und Finanzierung der Rüstungswirtschaft
Finanzielles Rückgrat der rüstungsindustriellen Offensive sind auf deutscher und europäischer Ebene staatliche Kriegskredite. Im Jahr 2022 hat die deutsche Regierung bereits Kriegskredite in Form von Sonderschulden außerhalb des regulären Haushalts in Höhe von 100 Milliarden Euro verabschiedet. Hinzu kommt nun ein weiteres Paket aus 500 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen, von denen der Großteil militärisch geprägt ist. Diese Sonderschulden werden von führenden Militärs seit langem gefordert.
Zukünftig sollen außerdem die Zahlungen aus dem regulären Haushalt erhöht werden, da die Aufstockung auf das 2%-Ziel des BIP (entspricht knapp 20 % des Haushalts) derzeit über das Sondervermögen erfolgt. Diese Vorgehensweise wird von herrschenden Militär- und Wirtschaftskreisen kritisiert: „Die mittelfristige Haushaltsplanung sieht keine systematische Erhöhung des Einzelplans 14 über die nächsten Jahre vor, sondern eine plötzliche und politisch ungewisse Erhöhung im Jahr 2028. Die unklaren Aussagen zu den künftigen Ausgaben, sowohl im Jahr 2023 als auch in der aktuellen mittelfristigen Haushaltsplanung, schaffen Unsicherheit für die Rüstungsindustrie und behindern den Aufbau industrieller Kapazitäten für die militärische Produktion.“15 Um die generelle Aufstockung des Militärhaushalts zu gewährleisten, wurde im März mit einem Eilverfahren eine Reform der Schuldenbremse vom abgewählten Bundestag durchgepeitscht: Aufrüstungsausgaben fallen zukünftig nicht mehr unter die Schuldenbremse, wodurch der Kriegsvorbereitung keine finanziellen Grenzen mehr gesetzt sind. Das Handelsblatt geht in den nächsten zehn Jahren von Investitionssummen in vorläufiger (!) Höhe von zusätzlichen 1,7 Billionen Euro zu den ohnehin schon vorgesehenen Schulden aus.16
„Autos zu Rüstung“: Umbau der Wirtschaft
Zuletzt machte VW Schlagzeilen mit der Aussage, dass der Konzern „grundsätzlich offen“ für einen Einstieg in die Rüstungsproduktion sei. Es gibt bereits konkretisierte Überlegungen, die Werke in Dresden und Osnabrück in die Rüstungsproduktion zu überführen.17 Dieser Umbau wäre in der Geschichte des Konzerns keine Neuheit; VW stellte schon im Rüstungsmarsch für den Zweiten Weltkrieg auf militärische Produktion um.18
Hintergrund für die Umstellung auf Rüstungsproduktion sind sicherlich auch die sinkenden Absatzzahlen und Krisenerscheinungen, die die deutsche Autoindustrie zuletzt plagten. VW ist nicht der einzige Konzern, der seine Profite zukünftig verlagern will; auch die durch die Abnahmekrise der Autoindustrie betroffenen Zulieferbetriebe orientieren auf Rüstungsproduktion.19 In diesem Jahr hat außerdem der Panzerbauer KNDS ein Waggonbau-Werk des Unternehmens Alstom in Görlitz übernommen und nutzt die Produktionsstätte sowie einen Großteil der Arbeiter künftig für den Panzerbau. Auch das Laserunternehmen Trumpf erwägt eine Umstellung auf Drohnenproduktion. Darüber hinaus werden Unternehmen, die bereits militärische Komponenten produzieren, diesen Bereich zukünftig stärker fokussieren. Rheinmetall, dessen Umsätze in der Auto- und Rüstungssparte 2013 noch etwa gleich groß waren, hat 2024 mehr als 75% seines Umsatzes mit Rüstung gemacht, Tendenz natürlich steigend. In der Folge hat Rheinmetall zwei Werke zur Fahrzeugfertigung auf Munitionsproduktion umgestellt.
Dieser Umbau wird durch die kürzlich verabschiedeten Kriegskredite sicherlich noch verstärkt. Dies entspricht auch den Erwartungen der Rüstungsindustriellen, wie Hans Christoph Atzpodien, Chef des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie kürzlich in der Wirtschaftswoche äußerte: „Das Motto muss lauten: Autos zu Rüstung! Anstatt einen volkswirtschaftlichen Schaden durch den Niedergang der Auto-Konjunktur zu beklagen, sollten wir versuchen, Produktionseinrichtungen und vor allem Fachkräfte aus dem Automobilsektor möglichst verträglich in den Defence-Bereich zu überführen“.20
Die Übernahme von Arbeitskräften in die Rüstungsindustrie ist nicht neu. Rheinmetall übernahm bereits im letzten Jahr entlassene Continental-Arbeiter, und Hensoldt plant dies ebenfalls mit Arbeitern von Continental und Bosch. Die IG Metall Südwest hat die Tarifverträge bereits entsprechend abgeschlossen, sodass dieser Beschäftigungswechsel jederzeit möglich ist.
Die aktuellen Stimmen des deutschen Kapitals gehen über die bloße Aussicht auf hohe Profit aus der Rüstungsproduktion hinaus. Sie wollen durch den Schwenk zur Rüstungswirtschaft die deutsche Wirtschaft insgesamt aufpolieren. In diesem Zusammenhang wurden zuletzt zwei Studien veröffentlicht: eine des Beratungsunternehmens Ey und der DekaBank und eine vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. In der Studie Wirtschaftliche Effekte europäischer Verteidigungsinvestitionen wird festgehalten, dass eine Steigerung der Aufrüstung auf 3% des BIP einen Anstieg der Arbeitsplätze und einen Boom in den beteiligten Branchen wie Logistik, Metall oder Forschung zur Folge hätte.21Das IfW stellt in seiner Studie Waffen und Wachstum: Die wirtschaftlichen Folgen steigender Militärausgaben die These auf, dass das europäische BIP von 0,9 auf 1,5% wachsen könne, wenn die Ausgaben des Militärhaushalt nicht mehr 2%, sondern 3,5% des BIP betragen würden. Voraussetzung dafür wäre jedoch, eine Senkung der nicht-europäischen Waffenimporte und ein Fokus auf die Produktion europäischer Systeme.22
Die bürgerlichen Ökonomen sparen natürlich aus, dass Militarisierung zwar kurzweilig durch neue Investitionsmöglichkeiten die Wirtschaft stimulieren kann, langfristig jedoch Krisentendenzen eher noch verstärkt. Darüber hinaus bedeutet Aufrüstung eine Hemmung der Produktivkraftentwicklung für den gesellschaftlichen Fortschritt. Nicht zuletzt wird die Aufrüstung durch die verstärkte Ausbeutung der Arbeiterklasse und die Umverteilung des Nationaleinkommens finanziert. Wenn also von einem Gewinn für die deutsche Wirtschaft gesprochen wird, ist klar, wem dieser Gewinn zufließen wird und wem nicht.
Rohstoff- und Energiebeschaffung
Ein Bestandteil der Rüstungs- und Kriegswirtschaft ist auch die Umstellung der Rohstoff- und Energiebeschaffung. Ziel ist eine möglichst große Unabhängigkeit und Diversifizierung der Lieferanten. Als strategische Ausrichtung wurde in den letzten drei Jahren die Nationale Sicherheitsstrategie und eine überarbeitete Rohstoffstrategie formuliert. Der Fokus liegt auf dem Abbau von „einseitigen Abhängigkeiten“, die „zu sicherheitspolitischen Risiken“ führen können.23 Dabei werden auch die Unternehmen adressiert, die aus Profitinteressen einer Umgestaltung entgehenstehen könnten und auf das Gesamtinteresses der herrschenden Klasse orientiert: „In einer offenen Volkswirtschaft müssen staatliche und private Akteure sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen.“24
Was als Abbau der „einseitigen Abhängigkeit“ bezeichnet wird, ist das Vorhaben, weiterhin uneingeschränkten Zugriff auf die Energie und Rohstoffe anderer Länder zu erhalten – im Sinne des Kriegskurses. Dies impliziert konkret die Stärkung der heimischen Rohstoffgewinnung, das Rohstoff-Recycling, den Ausbau von Rohstoffpartnerschaften, wie z. B. mit Chile und Peru25, Ghana und Länder Westafrikas sowie eine `Ressourceneffizienzstrategie`. Konkrete Erfolge verzeichnete der deutsche Imperialismus beispielsweise beim Lithium-Deal mit Serbien, der zu großen Massenprotesten vor Ort führte.26 Zudem wurden nach 25 Jahren Verhandlung die letzten Schritte im Mercosur-Abkommen mit verschiedenen lateinamerikanischen Staaten unternommen, welches u. a. den günstigen Import von Rohstoffen garantiert.27
Durch die Sanktionen gegen Russland haben sich auch Verschiebungen in der Energiezufuhr ergeben. Die westlichen Sanktionen hatten das Ziel, die russische Wirtschaft zu „ruinieren“ (Baerbock) und dadurch den Druck auf Russland zu erhöhen. Bisher hat sich dieser Effekt noch nicht eingestellt, da viele Staaten weiterhin russische Energielieferungen beziehen. Der deutsche Imperialismus, dessen Wettbewerbsvorteil u. a. auf billigem russischem Gas und Öl beruhte, hat auf neue Lieferanten orientiert und über Umwege (z. B. über Indien) weiterhin russische Energie bezogen.28 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass der Widerstand der deutschen Monopole im Gegensatz zu mittelständischen und kleinen (oft in Ostdeutschland ansässigen) Unternehmen eher gering war. Die Monopole schienen sich, weitgehend dem Gesamtinteresse der herrschenden Klasse zu fügen, trotz erschwerter individueller Profitmöglichkeiten.
Gleichzeitig verfolgt ein Teil der herrschenden Klasse, insbesondere durch die Grünen verkörpert, die Strategie, durch die Umstellung auf erneuerbare Energien die Autarkie zu erhöhen. Dies wird unter den Begriffen „energiepolitische Zeitenwende“29 oder „grüne Kriegswirtschaft“ zusammengefasst. Andere Teilen der herrschenden Klasse, u. a. die AfD, lehnen diese Strategie ab und streben eine Wiederaufnahme der direkten russischen Energielieferungen an. Der Schaden für die deutsche Wirtschaft wird derzeit als zu groß eingeschätzt und soll daher behoben werden. Bei dieser Auseinandersetzung handelt es sich nicht um entgegengesetzte Positionen zur Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, sondern um die konkrete Ausgestaltung dieser. Es ist gut möglich, dass in den nächsten Jahren wieder russische Energielieferungen aufgenommen werden, insbesondere im Sinne einer kostengünstigen und effektiven Aufrüstung. Dafür sprechen auch jüngsten Aussagen prominenter CDU-Politiker, die eine teilweise Rückkehr zu russischen Gaslieferungen forderten.30
Staatseinstiege
Der Staat beschafft nicht nur Kriegskredite und Arbeitskräfte für die Rüstungsproduktion, sondern beteiligt sich teilweise auch selbst an Rüstungsunternehmen, um die wirtschaftliche Tätigkeit unmittelbar kontrollieren zu können. Beteiligungen an Airbus, MBDA Deutschland und Jenoptik bestehen bereits seit längerem und seit 2020 hält der deutsche Staat auch 25,1% Unternehmensanteile am Rüstungsunternehmen Hensoldt. Aktuell wird ein Einstieg bei ThyssenKrupp Marine Systems geprüft. Zukünftig sollen weitere Staatseinstiege, inbesondere in Unternehmen mit relevanten Schlüsseltechnologien, realisiert werden, um die Kontrolle zu sichern und die Produktion lenken zu können.31 In der Wirtschaftswoche wird dazu festgehalten: „Es gibt auch in Deutschland im Bereich Militär und Dual Use Spitzentechnologien, die besser nicht in die Hände ausländischer Unternehmen geraten, vor allem wenn es sich dabei um Firmen in Ländern handelt, die direkt oder indirekt Zugriff auf solche Technologien nehmen können.“32
Auch der Einstieg von Land und Bund in die Meyer-Werft in Papenburg mit 80% ist als Absicherung der Rüstungsproduktion zu verstehen: Keine andere Werft bietet so gute Möglichkeiten zum militärischen Flottenbau, wie ein vom Handelsblatt veröffentlichtes Dokument zeigt.33 Neben Staatseinstiegen wird auch anderweitig in die Produktion eingegriffen: So hat Rheinmetall beispielsweise auf politischen Druck hin die Geschossproduktion aus der Schweiz in die Lüneburger Heide verlagert, da sich die Schweiz gegen Waffenlieferungen in die Ukraine versperrte.34
Folgen, Gewerkschaften und Widerstand
Aufrüstung wird grundsätzlich durch die verstärkte Ausbeutung und Umverteilung des Nationaleinkommens finanziert. Die genannten Entwicklungen betreffen die Arbeiterklasse in Deutschland bereits unmittelbar: In vielen Konzernen wurden Entlassungen in großer Dimension beschlossen, gerade in der Metall-, Auto- und Zulieferbranche. Die Reallöhne sind in den letzten Jahren stark gesunken, während die Verbraucherpreise erheblich gestiegen sind. Sozialkürzungen stehen auf der Tagesordnung und werden mit der neuen Regierung weiter verschärft: Grundsicherung mit Arbeitszwang, Ausweitung der Sanktionen, mögliche Rentenkürzungen oder die Streichung des Elterngeldes sind im Gespräch. Außerdem wird über eine sogenannte Arbeitszeitflexibilisierung, also Arbeitszeitverlängerung und Einsatz je nach Bedarf der Unternehmen, nachgedacht. Die Einschränkung des Streikrechts ist schon lange in der Debatte, zuletzt machte der Verband Gesamtmetall den Vorstoß, Warnstreiks in Tarifverhandlungen gesetzlich zu verbieten.35
Die angekündigten Entlassungen im letzten Herbst führten zu Streiks und Protesten. Insgesamt ist der Widerstand gegen den Frontalangriff auf die Arbeiterklasse jedoch noch nicht wirklich ausgeprägt. „Lieber Rüstungsproduktion als arbeitslos“, äußert ein Arbeiter des neuen Rüstungsbetriebs in Görlitz und steht damit sicher nicht alleine da.36 Neben der materiellen Absicherung ist sicher auch die Entfremdung von der Arbeit ein Grund: Ob Panzerteile oder Autoteile, macht für viele keinen greifbaren Unterschied. Zudem fehlt Internationalismus und es besteht zu wenig Bewusstsein darüber, dass die Aufrüstung den Krieg nach Deutschland bringen wird. Hinzu kommt, dass dies im herrschenden Diskurs rein moralisch verhandelt wird: So kann man in der taz lesen: „Das Dilemma zwischen subjektiven Interessen und ethischem Anspruch wiederholt sich“.37Dabei steht die Rüstungsproduktion natürlich im klaren Widerspruch zum subjektiven Interesse eines jeden Arbeiters, nämlich den Kriegskurs zu verhindern – sowohl international als auch im eigenen Land.
Gewerkschaftsführung und Rüstungswirtschaft
Die Kräfte, die diesen Zusammenhang aufzeigen, sind in den Betrieben und Gewerkschaften in der Minderheit bzw. nicht an den entscheidenden Stellen vertreten. Die Gewerkschaftsspitzen stützen hingegen den Kriegskurs und integrieren Protest und Widerstand. Ein guter Beleg dafür ist das im Jahr 2024 veröffentlichte Positionspapier von IG Metall, SPD-Wirtschaftsforum und dem Bundesverband der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. In diesem Papier wird Planungssicherheit für die Rüstungsunternehmen gefordert, um deren Leistungsfähigkeit zu erhöhen sowie Arbeitsplatzabbau und Rückgang in der Rüstungsproduktion zu verhindern. Man wolle verhindern, dass sich Unternehmen „endgültig vom `Kunden Bundeswehr`“ abwenden.“38
Jürgen Kerner, zweiter Vorsitzender der IG Metall, schlägt ähnliche Töne an: „Zwar hebt die Politik ihre Bedeutung für die Sicherheit unseres Landes und Europas hervor. Aber anders als man denken könnte, führt das Sondervermögen Bundeswehr nicht automatisch zur Stärkung der heimischen Industrie. Sie droht vielmehr unter die Räder zu geraten, wenn mehr und mehr in Übersee gekauft wird und die Regierung keine Sorge trägt, dass Betriebe in Deutschland Wartung und Upgrades übernehmen. Wir brauchen endlich eine wehrtechnische Industriepolitik.“39 Auch in der IG BCE wird diese Entwicklung mitgetragen. In der Mitgliederzeitung `Profil` wird beispielsweise das Unternehmen Rheinmetall bejubelt, das „eine entscheidende Rolle bei der Modernisierung der deutschen Streitkräfte und als Lieferant für die Ukraine“ spiele, bei dem es sich lohne „anzuheuern“.40
Ganz in diesem Sinne äußerte sich die DGB-Führung auch wohlwollend zum kürzlich beschlossenen 500-Milliarden-Euro-Aufrüstungspaket: DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi nannte es einen „Befreiungsschlag zur Modernisierung unseres Landes“ und betonte: „Insbesondere vor dem Hintergrund globaler Unsicherheiten müssen wir Europas Verteidigungsfähigkeit stärken und dürfen dabei gleichzeitig sozialen Fortschritt nicht ausbremsen.”41Auch der Vorsitzende der IG BAU Robert Feiger bejubelte das neue Aufrüstungspaket und sieht den zukünftig unbegrenzten Wehretat als „notwendig in diesen weltpolitisch instabilen Zeiten“ an: „Natürlich ändert sich die Lage hier in Europa dramatisch, sollten sich die USA tatsächlich künftig von uns abwenden. Da müssen wir die Sicherheit Europas selbst in die Hand nehmen. (…) Bei allem Augenmerk auf die Infrastruktur dürfen wir das normale Leben der Menschen nicht vergessen, für viele ist das hart genug. Deshalb Hände weg von Kürzungen bei Sozialleistungen.“42
Die Haltung der Gewerkschaftsführung ist klar: Aufrüstung ja, Sozialabbau nein. Unabhängig davon, dass Aufrüstung und Kriegsvorbereitung auch ohne Sozialabbau nicht im Interesse der Arbeiterklasse liegen, werden hier natürlich Illusionen geschürt. Der Sozialabbau zum Aufbau der Rüstungswirtschaft findet längst statt und wird sich weiter intensivieren. Aktuell betrifft er noch vorrangig die prekären Teile der Arbeiterklasse: Migranten, Bürgergeld-Empfänger, Niedriglohn-Beschäftigte und Rentner.
Widerstand an der Basis
Innerhalb der Gewerkschaften gibt es jedoch Aktive und Organisationszusammenhänge, die die Haltung und Rolle der Gewerkschaftsführungen angreifen. Anlässlich des aktuellen Aktionstages der IG Metall in mehreren Städten hat die Vernetzung Kämpferische Gewerkschaften (VKG) einen alternativen 11-Punkte-Plan entwickelt. Darin fordern sie unter anderem die Demokratisierung der gewerkschaftlichen Prozesse, einen Anti-Kriegskurs der Gewerkschaften und eine Arbeitszeitverkürzung: „Die kommende Generation der Kolleg*innen wird auf den Wehrdienst vorbereitet, mit der Illusion, Aufrüstung und Kriege würden Kriege verhindern oder man könnte heute noch „siegreich“ sein. In Gaza und Libanon sterben unsere Klassenschwestern und brüder durch Waffen, die auch Deutschland an die israelische Armee geliefert hat. Die arbeitende Klasse braucht eine „Staatsräson“, sondern die internationale Solidarität gegen Krieg und Unterdrückung.“43 Es ist gut, dass die VKG auch den Zusammenhang zum Völkermord in Gaza herstellt, was jedoch nicht erwähnt wird, ist die konkrete Kriegsvorbereitung Deutschlands gegen Russland. Dabei ist dies der Hauptstoß der deutschen Kriegs- und Aufrüstungspolitik.
Neben der VKG gibt es weitere gewerkschaftliche Initiativen, die sich dem Kriegskurs in Deutschland und der Mitwirkung der Gewerkschaftsführung, entgegenstellen wollen. Gewerkschaften gegen Aufrüstung plädieren beispielsweise für die Einhaltung der gewerkschaftlichen Grundsätze zur Abrüstung und haben eine Petition gestartet.44 Außerdem fand 2024 ein Online-Austauschtreffen statt, bei dem verschiedene Aktive von ihren Erfahrungen berichteten. Diese Berichte zeigten deutlich, dass es an der Basis teilweise rumort, wenn es um die Fragen Krieg und Aufrüstung geht. Leider hat sich dieser Austauschrahmen bisher noch nicht verstetigt. Zudem bleibt offen, was aus dem Vorhaben geworden ist, die DGB-Führung mit den Ergebnissen der Petition zu konfrontieren und so unter Druck zu setzen.
Auch die antimilitaristische Gewerkschaftsinitiative SAGT NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden versucht, gegen den Aufrüstungskurs und die Rolle der Gewerkschaftsführung vorzugehen. Ein Hintergrund für die Organisation war der DGB-Bundeskongress 2022, bei dem entgegen den gewerkschaftlichen Grundsätzen eine Zustimmung zu Waffenlieferungen und zur Aufrüstung beschlossen wurde.45 SAGT NEIN! hat ebenfalls eine Petition gestartet und auch darüber hinaus umfassende Informationen zur Rolle der deutschen Gewerkschaften bei Aufrüstung und Krieg seit dem Ersten Weltkrieg erarbeitet.46
Diese Organisationsansätze sind wichtig und sollten von möglichst vielen Gewerkschaftsmitgliedern unterstützt werden. Neben der Arbeit in den gewerkschaftlichen Gremien ist es auch entscheidend, diese Themen in die Betriebe zu übertragen, inbesondere in den Bereichen, die im Sinne des Kriegskurses umgestaltet werden. Besonderer Fokus sollte auf die konkrete Ausrichtung der deutschen Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, nämlich gegen Russland, gelegt werden. Es ist wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Aggressionen von Deutschland und der NATO ausgehen und nicht von Russland oder China. Diese Verständigung erfordert Zeit und Geduld, ist jedoch unerlässlich. Wenn das politische Ziel der deutschen Aufrüstung, nämlich die Kriegsvorbereitung gegen Russland, nicht benannt wird, hinterlässt man eine offene Flanke für Spaltung und Integration in den herrschenden Kriegskurs. Denn die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung in Deutschland wird maßgeblich durch das propagandistisch geschaffene Bedrohungsszenario Russland durchgesetzt.
Was heißt Kriegswirtschaft eigentlich?
„Wenn die Kapitalisten für die Landesverteidigung, d. h. für den Staat arbeiten, so ist dies (…) eine besondere Art der Volkswirtschaft. (…) Der für die Landesverteidigung „arbeitende“ Kapitalist aber „arbeitet“ nicht für den Markt, sondern auf Bestellung des Staates, in der Regel sogar mit dem Gelde, das ervom Staate vorgestreckt bekommt.“47 (Lenin)
Mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der Entstehung des Kapitalismus, insbesondere in seinem imperialistischen Stadium, gewann die Wirtschaft an neuer Bedeutung für die Kriegsführung. Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt nahm die Abhängigkeit der Kriegsführung von der Ökonomie zu, da neue Technologien und schnellere Produktionsweisen an immer größerer Bedeutung gewannen. Der Staat entwickelte sich in diesem Prozess zur entscheidenden Instanz. Er ordnet die Profitinteressen der einzelnen Teile der herrschenden Klasse dem Gesamtinteresse dieser unter. Die Rüstungsindustrie, also die Industrie, die ihre Profite überwiegend aus der Rüstungsproduktion erzielt, nimmt eine spezifische Rolle ein. Der Staat fungiert als alleiniger Auftraggeber und greift aktiv in die wirtschaftliche Tätigkeit ein, indem er Abnahmegarantien schafft, Exportkontrollen verhängt und die nötigen Kapitalbeträge für Forschung, Entwicklung und Beschaffung durch Umverteilung des Nationaleinkommens bereitstellt. Diese Tätigkeit erfolgt auf Grundlage der spezifischen politischen und ökonomischen Interessen. Die Vergabe von Aufträgen erfolgt normalerweise durch Absprachen zwischen Rüstungskonzernen und dem Staat und nicht über Konkurrenzvergabe. Krieg und dessen Vorbereitung bedeuten für die Rüstungsindustrie beste Absatzmöglichkeiten, weshalb sich die Rüstungsindustriellen zu den aggressivsten Vertretern der Bourgeoisie entwickelt haben. Die Förderung der Rüstungsindustrie ist jedoch nur ein Bestandteil von Kriegswirtschaft. Das Handbuch Wirtschaftsgeschichte definiert Kriegswirtschaft folgendermaßen: „Als Kriegswirtschaft kann man die Gesamtheit aller Maßnahmen zur ökonomischen Sicherstellung der Kriegsführung und die durch diese Maßnahmen oder durch die Ergebnisse der Kriegsführung selbst hervorgerufenen Veränderungen in der Struktur der Volkswirtschaft bezeichnen. Im Imperialismus sind diese Maßnahmen auf Unterordnung der Wirtschaft unter die Bedürfnisse der Kriegsführung durch ökonomische und außerökonomischen Zwang gerichtet. Die imperialistische Kriegswirtschaft ist daher durch staatliche Zwang- und Lenkungsmaßnahmen auf allen Gebieten der kapitalistischen Wirtschaft gekennzeichnet, die das Ziel haben, die Wirkung objektiver Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise zu modifizieren oder einzuschränken.“48 Während bei Kriegswirtschaft bereits ein Kriegsfall vorliegt, beschreibt Rüstungswirtschaft den ökonomischen Prozess der Kriegsvorbereitung. Diese beide Phasen umfassen folgende Entwicklungen:
die Steigerung der nationalen Rüstungsindustrie und die Senkung ausländischer Rüstungsimporte
Ausbau von internationalen Rüstungskooperationen zum Ausbau der eigenen Einflusssphäre
der Ausbau der physischen und digitalen Infrastruktur im Sinne der Kriegsführung
die Diversifizierung von Energie- und Rohstoffimporten bis hin zu einer möglichst großen Autarkie
massive staatliche Finanzierungsmaßnahmen, durch Kredite, erhöhte Steuern und eine verstärkte Umverteilung
verstärkte staatliche Eingriffe, um die Entwicklung im gesamtstaatlichen Interesse abzusichern, z. B. durch Verstaatlichungen von Unternehmen
Mobilisierung von Arbeitskraft für die Rüstungsindustrie durch den Staat, z. B. durch Verlagerung von Arbeitskräften oder Zwangsarbeit
Verteilungsmechanismen von Rohstoffen oder anderen Gütern im Sinne der Rüstungsindustrie
Produktion nach Plan, d. h. Priorisierung von Rüstungsgütern vor Gebrauchsgütern
Kurzer Blick in die Geschichte
Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg
Hintergrund der deutschen Vorbereitung des Ersten Weltkrieges war die verspätete Entwicklung des deutschen Kapitalismus. Die Aufteilung der Welt unter den Großmächten war weitestgehend abgeschlossen, und der Widerspruch zwischen der schnellen kapitalistischen Entwicklung und der ökonomischen Macht des deutschen Imperialismus im Gegensatz zu seinem Einflussgebiet bedingte seine Expansionsbestrebungen. Um 1900 wurde daher die Rüstungsindustrie in einem groß angelegten Programm angekurbelt, so nahm beispielsweise die Flotten- und Heeresrüstung um 133 % zu.49 Der sogenannte militärisch-industrielle Komplex (MIK), also die enge Vernetzung von Monopolen, Staatsstrukturen und militärischen Führungskreisen bildete sich heraus. Mit Kriegsbeginn zeigten sich verschiedene ökonomische Probleme, wie der Mangel an kriegsnotwendigen Rohstoffen. Als Reaktion darauf wurde die Kriegsrohstoffabteilung gegründet, die die Aufgabe der Erfassung, Verteilung und Kontrolle der kriegswichtigen Rohstoffe erhielt. Außerdem wurde der Kriegsausschuss der deutschen Industrie mit Beteiligung der führenden deutschen Monopole gegründet. Die Verflechtung von Staat und Monopolen wurde enger, während die Insolvenzen kleinerer und mittlerer Betriebe zunahmen. Die Produktion wurde zunehmend auf Kriegsbedürfnisse ausgerichtet und das Staatseigentum an Produktionsmitteln wuchs. Der Staat organisierte den Einsatz von Zwangsarbeitern in Rüstungsbetrieben, schränkte die Arbeiterrechte massiv ein und unterdrückte die revolutionären Kräfte rigoros. Dagegen wurden jedoch mutige Kämpfe geführt, wie Streiks und Sabotageaktionen, Aktionen gegen den Hungerwinter und schließlich die Kämpfe der Novemberrevolution.
Kriegswirtschaft im Faschismus
Mit der Novemberrevolution wurde der Krieg beendet, der Kaiser verjagt und einige demokratische Grundrechte erkämpft. Die Herren Krupp und Stinnes richteten sich mit der SPD-Führung in der Tasche im neuen Staat ein. Dieser Staat konnte für sie nur eine Übergangslösung hin zum nächsten Krieg werden und so dauerte es nicht lange, bis der deutsche Imperialismus den revanchistischen Angriff plante. Entscheidend dafür war auch die Strategie der USA, Deutschland als Speerspitze gegen die Sowjetunion wieder aufzubauen. US-Kapital wurde für den Wiederaufbau genutzt, Reparationszahlungen durch die westlichen Staaten gesenkt, um Deutschland im Sinne eigener Pläne nicht zu stark zu schwächen. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 griff der deutsche Staat immer stärker in die Wirtschaft ein, um die Lasten der Krise von den Monopolen abzuwenden und auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Mithilfe großer Kredite wurde die Wirtschaft, insbesondere die Rüstungsbranche, gefördert. Der Faschismus entwickelte sich allmählich für das deutsche Kapital zur politisch effektivsten und zuverlässigsten Kraft, um einen neuen Eroberungskrieg vorzubereiten. Der Faschismus bekämpfte die immer stärker werdende Arbeiterbewegung sowie Kommunistische Partei, die bereits früh erkannt hatte, dass „Hitler Krieg bedeutet“, mit Terror und Unterdrückung.
Wie bereits zur Zeit des Ersten Weltkrieges wurde mit dem Generalrat der deutschen Wirtschaft eine Vereinigung aller wichtigen Monopole und des Staates geschlossen. Die Namen sind fast dieselben wie heute: Siemens, Bosch, Rheinmetall-Borsig und Thyssen. Die Monopolvertreter wurden 1937 zu Wehrwirtschaftsführern ernannt und hatten die Aufgabe, den Krieg ökonomisch vorzubereiten. Die Kriegswirtschaft wurde in unvorstellbarem Ausmaß und mit großer Geschwindigkeit realisiert: Aufrüstung, Konzentration von Produktion und Kapital durch Pflichtvereinigungen, Autarkiebestrebungen, Zwangsinvestitionen und der Aufbau staatlicher Rohstoffreserven. Besonders betont werden muss die enorme Mobilisierung von Zwangsarbeit als kostenlose Arbeitskraft in den Fabriken und Konzentrationslagern. 1939 hielt der Chef des Wehrwirtschaftsstabes, Thomas, fest: „Die Geschichte kennt wenige Fälle, in denen ein Land in Friedenszeiten all seine wirtschaftlichen Kräfte bewußt und systematisch auf die Kriegserfordernisse abgestellt hat, wie es Deutschland tat.“50
Wie bereits erwähnt, kennzeichnet der Widerspruch zwischen der ökonomischen Macht und dem vergleichsweise geringen Territorium den deutschen Imperialismus. Er ist aufgrund seines hohen Exportanteils auf außenwirtschaftliche Expansionsbestrebungen angewiesen und griff dabei stets auf eine starke staatliche Rolle zurück. Zudem war Deutschlands Rolle maßgeblich durch seine Funktion als Speerspitze gegen den Sozialismus in Form der Sowjetunion bestimmt. Hauptverbündeter dabei waren die USA, deren Bündnis die Möglichkeit der revanchistischen Politik erst ermöglichten. Auch wenn die Sowjetunion heute nicht mehr existiert, hat sich an der Funktion des deutschen Imperialismus als europäischer NATO-Pfeiler gegen Russland nicht viel verändert. Revanchismus und Anti-Kommunismus sind in Deutschland Staatsdoktrin, und die Träger dieser sind dieselben Klassenkräfte wie die Träger der zwei Weltkriege. Die politische Taktik zur Erreichung der Ziele war in der Geschichte durchaus umstritten und ist es bis heute. Sie reichte vom offenen Revanchismus mit Krieg bis hin zur Zersetzung durch ökonomische Einflussnahme („Wandel durch Annäherung“).
1 Der Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie Hans Christoph Atzpodien hat in der Welt die Parole „Autos zu Rüstung“ geäußert: https://www.imi-online.de/2025/03/08/autos-zu-ruestung/
47 W. I. Lenin, Den Sozialismus einführen oder aufdecken, wie die Staatskasse geplündert wird?, In: Werke, Bd. 25, S. 57 f.
48 Handbuch Wirtschaftsgeschichte, Hrsg. vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin 1981, Band 2.
49 Der Imperialismus der BRD, Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Dietz Verlag Berlin 1971, S. 17.
In diesem Jahr jährt sich zum 80. Mal die Selbstbefreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Bereits im August letzten Jahres wurde von der Gedenkstättenleitung versucht, das Tragen der Kufiya, dem Solidaritätssymbol des palästinensischen Befreiungskampfes zu verbieten. Das konnten wir damals noch verhindern.
Entsprechend sah sich die Gedenkstättenleitung in diesem Jahr gezwungen, sich besser vorzubereiten. Direkt nach unserer Ankunft wurden wir von zwei Mitarbeitern gebeten, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers die Kufiyas abzunehmen. Als Begründung nannten sie einen Absatz in der neuen Hausordnung, laut derer „das Tragen von Kleidungsstücken und Symbolen, deren Herstellung oder Vertrieb im rechtsextremen Feld anzusiedeln sind, ebenso das Tragen von Kleidungsstücken oder Symbolen, die nach objektiver Betrachtung den Grundwerten und dem Zweck der Stiftung widersprechen“ nicht gestattet ist. Auf unsere Nachfrage, inwiefern dies explizit auf die Kufiya zutreffe, antworteten die Stiftungsmitarbeiter, dass die Kufyia ein „Symbol antizionistischer Militanz“ sei. Auf den Hinweis, dass dies so nicht explizit in der Hausordnung stehe, sondern offensichtlich seine persönliche politische Interpretation sei, antwortete er, dies sei „wissenschaftlich erwiesen“. Entsprechend treffe der Passus „objektive Betrachtung“ hier durchaus zu. Dieser Mitarbeiter trug später-entgegen der Hausordnung, die das Tragen von Fahnen verbietet- eine Israelfahne am Revers und präsentierte sie uns grinsend. Er drohte die Polizei einzuschalten, sollten wir das Gelände mit Kufiya betreten.
Was dann auch geschah. Kurz vorm Eingang des Lagergeländes wurden wir von Polizei und Mitarbeitern der Gedenkstätte abgepasst. Der Genossin, die die Kufiya aus Prinzip weitertrug, wurde von den Mitarbeitern ein Hausverbot ausgesprochen. Sie weigerten sich nach unserer Bitte um die schriftliche Ausstellung dieses Hausverbots rechtswidrig, ein solches zu verfassen. Wir haben jedoch darauf bestanden und letztlich war es die Polizei selbst, die eine Ausfertigung dieses Dokuments durch die Gedenkstättenleitung veranlasste.
Die schriftliche Begründung für das Hausverbot wurde uns ausgehändigt, nachdem wir etwa anderthalb Stunden unter polizeilicher Beobachtung darauf warten mussten. Während dieser Zeit wurden wir erneut polizeilich kontrolliert, die Beamten wurden laut eigener Ansage explizit angewiesen, Träger von Kufiyas rauszuziehen. In der Begründung heißt es, mit den Regelungen der Hausordnung gehe es darum, „die Widmung des Tages zu schützen“ und „zu verhindern, dass er für andere Zwecke instrumentalisiert wird“. Und: „Der heutige Jahrestag der Befreiung ist dem Gedenken an die Opfer des KZ Buchenwald gewidmet, nicht anderen gegenwärtigen Auseinandersetzungen“. Eine armselige Lüge angesichts dessen, dass in allen Reden des offiziellen Gedenkens durchaus die Relevanz in Zeiten „der neuen Bedrohung aus Russland“ und des „erstarkenden antiisraelischen Antisemitismus“ betont wurde. Es geht hier also um etwas völlig anderes: mit polizeilichen Maßnahmen sollen unliebsame politische Meinungsäußerungen vom Lagergelände verbannt werden. Und so kam es dann auch. Unsere Genossin verließ unter Polizeieskorte das Lagergelände – ihre Kufiya legte sie nicht ab.
Die Begründungen des Hausverbots sind, wenngleich leider nicht überraschend, doch absurd und gefährlich. Ein aufrichtiges Andenken der Opfer und mutigen Antifaschisten Buchenwalds verpflichtet uns gegen die Kriegspolitik und Völkermordunterstützung Deutschlands aufzubegehren. Wir haben heute viele weitere Menschen mit Kufiya gesehen, die sie nach den Drohungen der Gedenkstättenmitarbeiter abgenommen haben. Wir müssen aber verstehen: Jedes Wegducken ist nur der Anlass, im nächsten Jahr einen Schritt weiterzugehen! Möglicherweise werden sie im nächsten Jahr schon die Kufiya explizit verbieten. Entsprechend werden wir prüfen, gegen dieses Hausverbot nachträglich juristisch vorzugehen.
Der deutsche Staat instrumentalisiert seine faschistische Vergangenheit für die Unterstützung des israelischen Völkermords und seine erneute Kriegsplanung gegen Russland. Jeder, der sich gegen die Verdrehungen stellt, wird es in Zukunft mit der Repression dieses Staates zu tun bekommen. Demokratische Rechte werden jetzt schon abgebaut – der heutige Tag ist Teil dieses Prozesses. Lernen wir aus der Geschichte! Wehren wir uns dagegen!
Am 29. März fand in Wiesbaden eine Friedensdemonstration gegen die Stationierung der US-Mittelstreckenraketen statt. Mit ca. 4.000 Teilnehmern war dies erfreulicherweise die größte Demo für Frieden seit Jahren in der Stadt. Viele Teilnehmer kamen mit Kufiya und riefen palästinasolidarische, antifaschistische und antirassistische Parolen. Hauptorganisator war das Wiesbadener Bündnis gegen Raketenstationierung. Beteiligt an der Demonstration war unter anderem das Offene Antifaschistische Treffen (OAT) Wiesbaden. Das OAT trat mit dem Banner „Frieden ja, aber ohne Nationalismus!” auf und versuchte palästinasolidarische Parolen zu überstimmen. Das gelang ihnen jedoch nicht und sie verließen daraufhin die Demonstration.
Der Demozug war friedlich und zog lautstark durch die Innenstadt auf einer Route, die auch an der Wiesbadener Holocaustgedenkstätte vorbeiführte. Die Polizei stellte sich, als die Demo vorbeiging, vor die Gedenkstätte, als ob von ihr erwartet würde, sie zu schänden. Als ein Demoteilnehmer sich die Namen auf der Gedenkstätte durchlesen wollte, wurde er von der Polizei weggeschubst. Ihm wurde gesagt, er könne diese auch später besichtigen. Diese Kriminalisierung von Palästinasolidarität und in diesem Fall auch der Friedensbewegung ist eine von der Bundesregierung angewandte Taktik zur Niederhaltung des Widerstands gegen die Zeitenwende nach innen. Wer gegen den Genozid an den Palästinensern ist, ist automatisch Antisemit und möchte jüdisches Leben auslöschen und Gedenkstätten angreifen – das ist das Bild, das die deutsche Staatsräson schaffen soll, um wieder mehr Autorität nach innen durchzusetzen.
Die Jüdische Gemeinde Wiesbaden (JGW) verleumdete die Demonstration im Nachhinein in ihrem Statement[1] als „Affront gegen die jüdische Gemeinschaft“ und schrieb: „‘Free Palestine‘ bedeutet in der gängigen Verwendung nichts anderes als das Ende Israels – ein Gedanke, der sich nahtlos an die lange Geschichte des jüdischen Existenzkampfes einreiht“. Die Gleichsetzung des jüdischen Lebens mit Israel ist etwas, was man seit Ewigkeiten zu hören bekommt: Free Palestine = Israelhass = Judenhass also Antisemitismus. Aber es ist falsch und gefährlich, den genozidialen Staat Israel mit einer friedlichen Religion wie dem Judentum gleichzusetzen. Das wird auch von vielen jüdischen Organisationen wie z. B. der Jüdischen Stimme kritisiert. Des Weiteren schrieb die JGW, dass „die Friedensdemonstration bewusst durch die Gedenkstätte (…) geführt wurde”. Dies wurde vom Wiesbadener Bündnis gegen Raketenstationierung zurückgewiesen, das in einem Statement erklärte: „Nachdem die Fußgängerzone nicht genutzt werden durfte, ging es allein darum, im Zentrum der Stadt möglichst viele Menschen anzusprechen und zum Kranzplatz zu kommen, was nur über die Coulinstraße möglich war”[2]. Die Route hatte also keinerlei provozierende Intention, ganz unabhängig davon, dass Palästina-Fahnen und „Free Palestine“-Rufe grundsätzlich keine Provokation darstellen.
Diese Art Verleumdungen sind nichts Neues, dennoch müssen wir uns konsequent dagegen stellen und Aufklärung leisten. Die Friedensbewegung soll delegitimiert werden, da die Stationierung der Mittelstreckenraketen im Interesse der Herrschenden liegt und den offenen Krieg gegen Russland weiter vorbereiten soll. Dagegen hat sich Demonstration klar ausgesprochen und wurde deswegen Zielscheibe der reaktionären Hetze. Wir stehen solidarisch mit der Friedensbewegung.
Nein zur Stationierung der Mittelstreckenraketen in Wiesbaden! Nein zur Aufrüstung! Free Palestine!