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Wer Geschichtsrevisionismus betreibt, verharmlost den Faschismus

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Ein Kommentar der Kommunistischen Organisation zu 80ten Jahrestag der Selbstbefreiung von Buchenwald

Nach 80 Jahren Selbstbefreiung spuken die Geister der Vergangenheit über den Ettersberg

Seit 2022 werden Vertreter der Russischen Föderation nicht zu der Gedenkfeier eingeladen und ihre Kränze für die Opfer des Lagers entsorgt. Russland zahlte mit Millionen Toten einen großen Blutzoll für die Befreiung vom Faschismus, kaum eine Familie blieb verschont. Auch das Georgsband, ein Symbol des Kampfes gegen den Faschismus, ist auf dem Gelände verboten. Anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz beschuldigte die Gedenkstättenleitung Russland der Instrumentalisierung der faschistischen Vergangenheit, wenn seine Politiker von einer Entnazifizierung der Ukraine sprechen.[1] Kein Wort zu den faschistischen Mörderbanden im ukrainischen Militär und Geheimdienst oder zum Bandera-Kult und Russenhass, der die Gesellschaft durchsetzt. Passend zu dieser Linie wurde 2022 auf der offiziellen Gedenkfeier nicht die weißrussische Flagge angebracht, sondern die der Opposition.[2] Und das, obwohl die Flaggen für gewöhnlich die Nationalitäten der Häftlinge repräsentieren sollen. Die Fahne der weißrussischen Opposition war zur Zeit des Konzentrationslagers Buchenwald das Symbol der judenhassenden, weißrussischen Nazi-Kollaborateure.  

Auch die gescheiterten Versuche vom letzten Jahr, Antifaschisten mit Kufiyah den Eintritt in die Gedenkstätte zu verwehren, reihen sich in diese katastrophale Politik ein. Faschisten und palästinasolidarische Aktivisten werden ohnehin gerne mal in einen Topf geworfen: »Wenn junge Leute in Berlin „Free Palestine from German guilt“ skandieren, unterscheidet sich das kaum vom „Schuldkult“-Narrativ der extremen Rechten.«[3] so die Gedenkstättenleitung in einer Rede vom 27. Januar dieses Jahres. Während die einen darauf bestehen, die deutsche Schuld am Holocaust aufzuarbeiten, anstatt sie auf Araber und Palästinenser zu übertragen, leugnen die anderen die faschistischen Verbrechen Deutschlands. 

Diese Politik der Gedenkstätte hat ihre Wurzeln im stockreaktionären Geschichtsrevisionismus, auf den sich die Bundesrepublik stützt. Wir wollen im Folgenden Hintergründe liefern und die Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald anlässlich 80 Jahren Selbstbefreiung aufarbeiten. Die Entlassungen und politischen Säuberungen seit 1990 bilden dabei nur die Spitze des Eisbergs. Kaum bekannt ist die Geschichte des Protestes und Widerstandes gegen diesen Geschichtsrevisionismus.

Der Kampf gegen Geschichtsrevisionismus gehört auf die Tagesordnung

Für die deutsche Kriegsmaschinerie, die aktuell mit 1,7 Billionen Euro geölt werden soll, ist der Geschichtsrevisionismus ein entscheidender Hebel. Mit Geschichtsrevisionismus werden Krieg und Aufrüstung legitimiert. Deutschland habe aus seiner Vergangenheit gelernt und dürfe genau deswegen Atombomben besitzen, Panzer in die Ukraine schicken oder Bomben nach Israel liefern. Mit diesem Geschichtsrevisionismus wird außerdem neofaschistischen Tendenzen Vorschub geleistet. Wir müssen also genau hinschauen, wenn heute von deutscher Verantwortung und Lehren aus der Geschichte gesprochen wird. Und umso besser müssen wir die Geschichte des Faschismus und des antifaschistischen Widerstandes studieren. Es ist unsere Geschichte und wir müssen sie kennen! Wer die Erfahrungen und Klassenkämpfe der Vergangenheit nur schablonenhaft und identitär behandelt, ist zum Scheitern verurteilt – das gilt auch für die Gefahr der Ritualisierung des Gedenkens durch uns Kommunisten.

Das Ziel liegt darin, die Reinwaschung und Verleumdung der faschistischen Verbrechen so weit zu betreiben, dass man imstande ist, im Namen dieser Verbrechen neue Verbrechen begehen zu können. Oder wie es die Bourgeoisie nennt: Verantwortung. Konkret drückt sich diese Politik in der Täter-Opfer-Umkehr im Zweiten Weltkrieg aus, die notwendig wird, um den Krieg gegen Russland vorzubereiten.  Das geschieht erstens durch das Ausblenden deutscher Verbrechen in Osteuropa und zweitens durch eine Dämonisierung der Sowjetunion, die man nicht mehr als Befreierin akzeptieren will. Drittens wird die Rolle deutscher Monopole unterschlagen, um davon ausgehend Kontinuitäten des Faschismus, die bis heute in der DNA der BRD stecken, zur Spinnerei zu erklären.

»Die Blutspur führt von Buchenwald nach Bonn.« 

So brachte es das Lagermuseum in Buchenwald bis 1990 auf den Punkt. Im selben Jahr wurden weite Teile der Ausstellung abgebaut. 1995 entledigte man sich der Ausstellung komplett.[4] In dieser Zeit betrieb die BRD eine regelrechte Inquisition: Überall in Ostdeutschland wurden Ausstellungen politisch gesäubert und kleinere KZ-Gedenkstätten sogar komplett plattgemacht.

Warum musste die Ausstellung Buchenwald weichen? Weil die neue Gedenkstättenleitung weder Kontinuitäten in der BRD noch die Rolle der Monopole und der Finanziers hinter Hitler sehen wollte. Auch die Selbstbefreiung des Lagers und sein internationaler Widerstand passten nicht ins Bild. Die neue Gedenkstättenleitung war voll auf Linie des BRD-Geschichtsrevisionismus. Der Staat, der selbst nie eine ordentliche Aufarbeitung des Faschismus betrieb, hatte für den Antifaschismus, der von der KZ-Gedenkstätte ausging, nichts übrig. Während in der BRD bis zu diesem Zeitpunkt keine Gedenkstättenarbeit und –forschung existierte, hatte sie nun die Vormundschaft über die breit gefüllten Archive und Forschungen der DDR-Geschichtswissenschaft. In der BRD mussten ehemalige Häftlinge jahrelang für die Errichtung und Erhaltung von Gedenkstätten kämpfen – oft erfolglos. Den Freiwilligen, die sich für die Erhaltung der Gedenkstätte Dachau einsetzten, wurde mehrmals mit Schließung gedroht.[5] Die Forschung zum Faschismus war in der BRD völlig unterfinanziert und hatte einen Außenseiterstatus. Die breite Aufarbeitung und Forschung der DDR beweist hingegen bis heute, dass es auch anders gehen kann. Der Großteil der Historiker wurde 1990 auf die Straße gesetzt und aus den Universitäten Ostdeutschlands verbannt. Ihr Protest und Einspruch gegen diese Maßnahmen gingen im nationalistischen Freudentaumel der DDR-Eingliederung unter. Ein neues Geschichtsbild wurde von oben aufgezwungen. Das Schicksal der Gedenkstätte Buchenwald ist seitdem ein Paradebeispiel des Geschichtsrevisionismus.

Die Abwicklung der Gedenkstätte Buchenwald

1990 wurde auch die Gedenkstättenleitung umgehend abgewickelt und eine westdeutsche Historikerkommission eingesetzt. Es folgten dutzende Entlassungen und Denunziationen des alten Personals. Der neue Gedenkstättenleiter hielt sich nur 5 Tage im Amt. Als die DKP-Vergangenheit des Historikers bekannt wurde, musste er sofort wieder weichen.[6] 

Die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald neben dem Lager, geplant und errichtet von ehemaligen Häftlingen, wird seitdem verunglimpft als Zeugnis der heuchlerischen und diktatorischen DDR-Staatspropaganda.[7] Das größte KZ-Mahnmal Europas wird seit 35 Jahren den Witterungsbedingungen des Ettersberges überlassen.

Stattdessen fokussierte man sich nun auf die Nutzung von Buchenwald als Internierungslager für Nazifunktionäre, SS-Angehörige und Wehrmachtssoldaten zwischen 1945 und 1950. Gefundenes Fressen für die Reaktion: den Mythos vom Sowjet-KZ Buchenwald verbreiteten bereits viele Altnazis in der jungen BRD. Fakt ist: Solche Internierungslager wurden in allen vier Besatzungszonen genutzt und basierten auf Listen des britisch-amerikanischen Oberkommandos. Der Beschluss dazu wurde 1943 auf der Alliierten Konferenz in Teheran getroffen.[8]

Die Häftlinge des Internierungslagers Buchenwald erhielten schon früh Entschädigungen als „stalinistisch Verfolgte“. Was schon in der BRD der 1950er auf antifaschistischen Widerstand stieß, wurde in den 1990ern mit einer Gedenkstätte, die Nazis als Opfer präsentiert, weiter auf die Spitze getrieben. Während ein Monat Haft in der DDR/SBZ 550 Mark Entschädigung bedeutete, wurden Insassen der Konzentrationslager mit 150 Mark abgespeist. Kommunisten gingen leer aus und sahen sich staatlichen Repressionen ausgesetzt.[9] Die 1990 errichtete Gedenkstätte für das Speziallager steht hinter der Effektenkammer und erstreckt sich über 250 Quadratmeter Wald. Sie ist seitdem eine Pilgerstätte für Rechte und Neofaschisten.[10]

Streit um das antifaschistische Erbe

Der erneute Protest von Antifaschisten und ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers gegen diese Geschichtsklitterung wurde von der Springerpresse als Umtriebe kommunistischer Ideologen verunglimpft und von der Gedenkstätte abgeschmettert. Nichts sollte dem neuen Geschichtsbild im Weg stehen.[11]  

Bis zuletzt protestierten die ehemaligen Häftlinge des Lagers gegen eine solche Umdeutung der Geschichte. Der Buchenwald-Häftling Emil Carlebach kritisiert, wie der Aufstand der jüdischen Häftlinge gegen die Todesmärsche und die Unterstützung durch den internationalen Widerstand im Lager behandelt werden:  »Ich selbst wurde acht Tage lang unter dem Fußboden einer Baracke versteckt – bis zur Befreiung. Ich sollte erhängt werden, weil man mich nicht ganz zu Unrecht verdächtigte, mitbeteiligt zu sein an der Verhinderung des Abtransportes der Juden zum Todesmarsch. Ich trug ja selber den Judenstern und wir haben über 900 Kinder hier gerettet, die nach SS-Begriffen und nach Begriffen der Herren Krupp und IG-Farben unnütze Esser waren und in Gaskammern kommen sollten. Heute wird das alles von Politikern und Historikern als kommunistischer Mythos denunziert. (…) Na gut, Lügen konnte nicht nur Göbbels, er hatte auch Nachfolger.«[12]    

Seit dem erinnerungspolitischen Kahlschlag der Neunziger ist die Marschrichtung klar: »Es geht auch in Buchenwald darum, wie man mit Geschichte öffentlich umgeht und wie man auch mit dem Antifaschismus-Mythos der DDR umgeht und solche Dinge. Und da brauchen sie einen mit Erfahrung im öffentlichen Umgang mit Geschichte, die nicht nur sozusagen wissenschaftliche Brillanz allein erfordert.« So der neue Gedenkstättenleiter Hofmann in der taz vom 15.6.1992. Für historische Fakten scheint kein Platz zu sein, wenn es um die Dämonisierung des Antifaschismus der DDR geht.   

Auch die nicht enden wollenden Versuche der DDR – und damit der politischen Linken – Antisemitismus zu unterstellen, gehen an Buchenwald nicht spurlos vorbei. Und das, obwohl der 1958 eingerichtete Gedenkort an der Stelle des jüdischen Sonderlagers sowie zahlreiche Reden und Artikel aus der Zeit das Gegenteil beweisen. Umso perfider ist es, dass der Aufruf der illegalen KPD »Gegen die Schmach der Judenpogrome« und die Verweise auf den gemeinsamen Widerstand von Juden und Kommunisten aus der Ausstellung gestrichen wurden. Selbst die Gedenkplakette für Jerzy Zweig, dem geretteten polnisch-jüdischen Kind aus Nackt unter Wölfen, wurde entfernt. Zweig selbst zog wegen der wiederholten Diffamierungen als „Tauschkind“ und „Legende“ gegen die Gedenkstättenleitung vor Gericht.  

2012 schaltete sich das Auschwitz-Komitee ein. In einem offenen Brief an die Regierenden forderte Esther Bejarano: »Schluss mit der Überwachung von Überlebenden des Holocaust und der Diskreditierung ihrer Zeitzeugenarbeit! « Sie kritisiert die Gesinnungsschnüffelei der Geheimdienste und den Generalverdacht gegenüber Überlebendenorganisationen und antifaschistischen Initiativen, während »die Regierenden eine Mitverantwortung an den deutschen Zuständen heute tragen: An der Ökonomisierung des Denkens, an der Entsolidarisierung der Gesellschaft, und, daraus folgend, an der sozialen Spaltung, die Ängste schürt. Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben heute wieder Konjunktur in Deutschland. «[13]

Muff von 1000 Jahren

Mit der BRD zog nicht nur ein neues Geschichtsbild ein, sondern auch hunderte Neonazis konnten sich nun wieder breitmachen. Sie greifen bis heute die Gedenkstätte und Besuchergruppen an: Hitlergrüße, Hakenkreuzschmierereien, Verhöhnung der Opfer, verbale Angriffe und Sabotageaktionen. Viel zu oft kommen die Neofaschisten mit viel zu geringen Strafen oder völlig ungestraft davon. Die neue Gedenkstätte für das sowjetische Internierungslager ist hingegen ein beliebter Pilgerort der Neofaschisten. 1996 besuchte eine Neonazigruppe, darunter das NSU-Trio, die Gedenkstätte in SA-ähnlichen Uniformen, um zu provozieren.[14] In der DDR hätte das ihre Verhaftung bedeutet und 10 Menschen das Leben gerettet. In der BRD konnte die geheimdienstfinanzierte Truppe weiter ihr Unwesen treiben.    

Mit der Zeit fand außerdem das Vorhaben, Opfer und Täter „differenzierter“ darzustellen, immer stärkere Unterstützung aus Wissenschaft und Politik. Die Darstellung der SS als diabolische Gewalttäter sei undifferenziert – die Teilschuld „roter Kapos“ müsse einbezogen werden. Auch die rein positive Darstellung des Lagerwiderstands sei problematisch und beweise die Einseitigkeit des DDR-Antifaschismus. Auch hier ging die Bild-Zeitung wieder als Vorreiterin in die Startlöcher: Mit der Artikelserie „Wie Kommunisten den Nazis beim Töten halfen“ hetzten sie in übelster Weise gegen Buchenwald-Häftlinge. 

 Im Schwur von Buchenwald heißt es: »Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht!« In Westdeutschland bauten diese Schuldigen einen neuen Staat auf. Die Kriegstreiber und Revanchisten, die heute zum Krieg gegen Russland trommeln, treten ihr Erbe an. Drei Ziele zeugen bis heute davon, wessen Geistes Kind diese Bundesrepublik ist: Rache an der Sowjetunion, Unterwerfung Osteuropas und Abschüttelung der historischen Verbrechen.   


[1] Gedenkstätte Buchenwald (2025): Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. 

[2] Website der Gedenkstätte Buchenwald (2022): 77. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora.

[3] Ebd.

[4] Zorn, Monika (1993): Hitlers Zweimal getötete Opfer.

[5] Daniela Dahn (2021): Der Schnee von Gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit, eine Abrechnung. 

[6] Zorn, Monika (1993): Hitlers Zweimal getötete Opfer.

[7] Dutzende Artikel von BPB bis zur Website der Gedenkstätte zeugen davon.

[8] Dahn (2021), S.102.

[9] Daniela Dahn (2021): Der Schnee von Gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit, eine Abrechnung. 

[10] Ebd.

[11] Daniela (2021)

[12] Thomas Knecht (2010): Carlebach 1. (YouTube Video ab Min. 6:46) 

[13] Esther Bejarano (2012): Offener Brief des Auschwitz Komitees an die Regierenden (Glocke vom Ettersberg Nr. 205)

[14] Stiftung Gedenkstätten (2021): Besucher*innen, die nicht willkommen sind. (Eine Auswahl neofaschistischer Angriffe und Provokationen). 

Imperialismus: Ein Herrschaftsverhältnis!

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Textanalyse der Imperialismusschrift Lenins – Ein Zwischenstand

Vertiefungsgruppe 12 zum Thema Imperialismus

von Klara Bina

Redaktioneller Hinweis: Dieser Text ist im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine und der Imperialismusdiskussion entstanden. Wir haben 2022 beschlossen, uns kollektiv der Einschätzung des Charakter und der Vorgeschichte des Krieges zu widmen. Hierfür wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die sich u.a. mit den Interessen und der Politik des westlichen imperialistischen Block, mit Russlands Entwicklung sowie mit den Erkenntnissen der sozialistischen Arbeiterbewegung zum Imperialismus und der Bedeutung der Nationalen Frage beschäftigen. Veröffentlicht wurden in diesem Rahmen bereits Beiträge zur Kriegsvorbereitung der NATO, zur Unterwerfung der Ukraine, zu Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg, zur Entwicklung der Volksrepubliken, zur Entwicklung des russischen Kapitalismus und zum Verhältnis von Nationaler Selbstbestimmung und sozialistischer Revolution.

Abstract

Was ist eigentlich mit Imperialismus gemeint? Darüber scheiden sich innerhalb der linken und kommunistischen Bewegung, aber auch in der Akademie die Geister. Unübersehbar ist, dass die Imperialismusschrift von Lenin für alle einen Referenzpunkt darstellt und für viele die Grundlage ihrer Argumentation ist. Aus der Tatsache, dass sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen auf Grundlage dieser Schrift gezogen werden, widmet sich die vorliegende Textanalyse der Fragestellung, welche Bedeutung mit dem Begriff ‚Monopol‘ transportiert wird und wie er als ein Herrschaftsverhältnis verstanden werden kann. Das Ergebnis ist eindeutig: Lenin verwendet den Begriff des ‚Monopols‘ als eine konkrete Abstraktion, um die Epoche des Imperialismus als eine Epoche der Herrschaft weniger monopolistischer Entitäten über den Rest der Welt zu charakterisieren. Diese Epoche ist, so Lenin, durch die Tendenz zu monopolistischer Weltherrschaft gekennzeichnet. Andere Interpretationen, die entweder ein Ende der nationalen Unterdrückung oder eine mögliche Einebnung dieser Herrschaftsverhältnisse unterstellen, können sich nicht auf Lenin stützen.


Einleitung

Politische Einordnung

Die zeitgenössische Anti-Kriegs-Bewegung1 entfaltete sich als pazifistisch- teilweise proimperialistische2 Bewegung. Teils mit linksradikalen Charakteristika, zeitgleich mit der so genannten Zeitenwende, die vom bald Ex-Kriegskanzler Scholz mit der Ansage eingeläutet wurde, jetzt gelte es den Westen zu verteidigen gegen den „imperialistischen Angriffskrieg“ Russlands. Gemeint war die Militäroperation der Russischen Föderation im Osten der Ukraine. Von Seiten der herrschenden Kreise wurde beabsichtigt, dass dem deutschen Imperialismus, argumentative Schützenhilfe im kriselnden kommunistischen Lager geleistet wird. Dabei reichte es völlig aus, den Krieg der NATO gegen die Russische Föderation als einen beidseitig imperialistischen Krieg zu bezeichnen und mindestens zu verhindern, dass die NATO als der Aggressor entlarvt wird.

Es sollte verhindert werden, dass sich in der noch rest-antiimperialistischen Blase in der BRD etwas zusammenbrauen könnte, was den Kriegsplänen des deutschen Imperialismus im Wege stand. Nichts leichter als das: mit Referenz auf Lenins Imperialismusschrift (1916)3, der den Ersten Weltkrieg als einen zwischen-imperialistischen Krieg identifizierte, musste nicht viel Eigenleistung erbracht werden. Abschreiben war angesagt. Das Konstrukt – beidseitiger imperialistischer Krieg – basiert auf der Behauptung, dass im jetzigen Stadium des Imperialismus alle kapitalistischen Länder das monopolistische Stadium „mehr oder weniger“ erreicht hätten und sich deshalb als Konkurrenten gegenüberstehen würden – es könnte unter wesentlich Gleichen keine gerechten Kriege geben, so heißt es.

Es mag Nuancen in der Beschreibung der Unterschiede der Länder geben, aber nicht eine grundlegende Differenz in ihrer Charakterisierung4. Länder, die Monopole besitzen, seien „Teilnehmer im imperialistischen Weltsystem“ und damit selbst im imperialistischen Entwicklungsstadium. Diese Argumentation wird affirmativ mit Referenz auf Lenin begründet., konkret bezogen auf die Aussage, dass das „Monopol“ der ökonomische Kern des imperialistischen Stadiums ist. Dabei wird „Monopol“ als ein isoliertes Phänomen betrachtet, so meine die These. Seine Existenz wird in formaler Hinsicht als Marker für das Erreichen des imperialistischen Stadiums genommen. Im Großen und Ganzen sei „das Weltsystem ein System gegenseitiger Abhängigkeiten“- man gibt zuweilen zu, es seien „asymmetrische“ oder „ungleiche“ Beziehungen5.

Nach den erfolgreichen Befreiungskämpfen vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts sei die Kolonialzeit jedoch vorbei und damit die Phase im Imperialismus, die durch einseitige Abhängigkeitsverhältnisse geprägt war. Das durchaus auch in der sozialistischen Literatur intensiv beschriebene Phänomen des Neokolonialismus, das auf Lenins Beschreibung halbkolonialer Länder referiert6, findet in der oben beschriebenen Darstellung der heutigen Weltordnung keine Erwähnung.

Interessanterweise vereinigen sich hier – mit Sicherheit unfreiwillig und unbewusst – die verschiedenen Strömungen der kommunistischen Weltbewegung in ihren Imperialismusvorstellungen. Dazu sei beispielhaft aus Deutschland die MLPD7 und Marx218 genannt.

Die geistige Misere beschränkt sich aber keineswegs auf Deutschland. Sehr zu empfehlen ist hier auch der Überblick von John Bellamy Foster im Monthly Review9. Er liefert zwar keinen vollständigen Überblick, aber eine Erkenntnis ist treffend formuliert: „Hence, the gap between the views of imperialism held by the Western left and those of revolutionary movements in the Global South is wider than at any time in the last century.“10 Während viele Nationen der Welt im Kampf gegen ihre Erdrosselung bis hin zur Vernichtung durch das von den USA angeführte imperialistische Ungeheuer nach solchen Tiefenanalysen lechzen wie sie Lenin seinerzeit für den Imperialismus lieferte, wird in den Zentren des Imperialismus Lenin tunlichst entsorgt.

In diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass verkehrte Vorstellungen, wie sie oben skizziert wurden, auf groben Fehlern in der Interpretation bzw. Anwendung der Leninschen Imperialismusschrift beruhen. Dabei ist die falsche und völlig unzureichende Kritik des Imperialismus, die diesen als Interventionismus, also auf seine politische Seite reduziert, weiterhin richtig. Diese falsche Imperialismus-Kritik wird von Lenin in seiner Schrift zu Genüge analysiert und vernichtend kritisiert.

Mir geht es in diesem Text vor allem um die neuen Imperialismusvorstellungen, die sich auf Lenin beziehen. Ich stelle die These auf, dass die „Theorie“ des Imperialismus als ein „Weltsystem gegenseitiger Abhängigkeiten“, so wie sie u.a. die Griechische Kommunistische Partei (KKE)11 vertritt, eine Neuinterpretation, aber vor allem eine Verfälschung der Leninschen Imperialismusanalyse darstellt. Solche Vorstellungen verfälschen und relativieren die wirklichen Machtverhältnisse und präsentieren eine Welt voller Monopole, die in einem Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen sollen. Der Konkurrenzkapitalismus ist aber vorbei und wird auch nie wieder Wirklichkeit werden.

Ich denke, es wäre angebracht, dass Parteien und Einzelpersonen, die eine solche Neuinterpretation vorlegen, transparent und ehrlich ihre Positionen als eine von Lenin abgekoppelte und ihm widersprechende Sichtweise auf den Imperialismus präsentieren. Sie müssten sagen: Lenin hatte grobe Fehler in seiner Analyse. Eine Analyse, die nicht imstande war, die kommende Entwicklung zumindest in ihrer grundlegenden Tendenz darzulegen. Viele seiner Feststellungen sind heute obsolet geworden. Wir leben in einer anderen internationalen Wirklichkeit als die, die Lenin seinerzeit beschrieben hat.

Leider ist diese Art Ehrlichkeit in der politischen Auseinandersetzung nicht wahrnehmbar. Genauso wenig ist Transparenz bezüglich der theoretischen Quellen der Positionen gegeben, zumindest in den mir vor liegenden Texten. Die Textanalyse soll prüfen, ob solche Neuinterpretationen sich in irgendeiner Weise mit Lenin argumentieren lassen.


Monopol als Herrschaftsverhältnis – die Fragestellung

Der vorliegende Beitrag sollte zunächst einmal nur herausarbeiten, was Lenin tatsächlich unter weltbeherrschenden Monopolen versteht. Diese Frage war deshalb so wichtig, weil in der Debatte die These vertreten wurde, dass alle Länder der Welt – mit sehr wenigen Ausnahmen – die monopolistische Phase insofern erreicht hätten, dass sie Monopole aufzuweisen hätten. Mit ‚Monopol‘ wird dabei ein großer Konzern in einem Land gemeint. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Sektor der Konzern ist oder welche (Aktien-) Beteiligungen es gibt.. Die Länder, die nachweislich Monopole vorzuweisen hätten, wären imperialistische Länder12, so z. B. Russland.

Diesen Vorstellungen wurde entgegnet, dass Monopole weder nur als große Konzerne vorgestellt noch isoliert betrachtet werden können, sondern immer nur im Verhältnis zur höchsten und entfaltetsten Form des Monopols in der imperialistischen Epoche, nämlich dem Finanzkapital, überhaupt erst einsortiert und als empirische und historisch spezifische Phänomene verstanden und im internationalen Machtgefüge eingeschätzt werden können. Vor diesem Hintergrund wurde zunächst die Frage nach der Bedeutung des Monopolbegriffs bei Lenin im Zusammenhang mit Weltbeherrschung aufgeworfen. Im Laufe der Arbeit wurde die Fragestellung jedoch allgemeiner gefasst und die Imperialismusschrift Lenins mit Blick auf die Konzepte ‚Monopol‘ und ‚Herrschaftsverhältnis‘ untersucht. Diese Verfeinerung erlaubte es, den Text etwas umfassender zu behandeln.

Warum ist eine Textanalyse nötig?

Der zentrale theoretische Bezugspunkt der heutigen Imperialismusdebatte steht zur Disposition. Natürlich ist mir bewusst, dass seit der Existenz des Kommunismus in dieser Frage alle theoretischen Aussagen von allen möglichen Akteuren beliebig interpretiert und angewendet wurden. Ein Teil des ideologischen Kampfes bestand und besteht bis heute darin, um die richtige Auslegung und Interpretation zu streiten. In diesem Sinne fühlen sich bitte alle eingeladen, ihre eigene/widersprüchliche Interpretation in den Ring zu werfen. Jedoch muss es auch hierfür Spielregeln geben. Diese sind primitiver Natur: Nachweise müssen erbracht werden, Textstellen dürfen nicht verzerrt oder verfälscht werden oder in einer Weise gekürzt werden, dass der Sinnzusammenhang verloren geht. Ich denke nicht, dass das zu viel verlangt ist.

Doch ist es überhaupt nötig, einen Text, der über 100 Jahre existiert und Gegenstand vieler Untersuchungen und Erörterungen gewesen ist, einer akribischen Untersuchung zu unterziehen? Womit ließe sich eine solche Mühe rechtfertigen? Die Antwort ist einfach. Wenn er bis heute noch unterschiedlich interpretiert wird, dann ja.

Offensichtlich wird dieser Text, um den es hier geht – die Imperialismus-Broschüre von Lenin, geschrieben 1916 –, von diametral entgegengesetzten Positionen zum Imperialismus als Beleg für die eigene Argumentation herangezogen.

Wie kann das sein? Ist der Text so ambigue und entsprechend für verschiedene Interpretationen offen? Die unterschiedlichen Lesarten reichen von der in der maoistischen Strömung besonders verbreiteten Vorstellung eines so genannten ‚Sozialimperialismus‘, der der Sowjetunion (SU) eine imperialistische Politik unterstellt, bis hin zu Positionen, die von einem ‚Weltsystem gegenseitiger Abhängigkeiten‘ sprechen und der Vorstellung, dass die Welt immer noch in ‚unterdrückende und unterdrückte Nationen‘ aufgeteilt werden kann. Ohne Zweifel würden die Protagonisten der verschiedenen Positionen für sich die richtige Auslegung in Anspruch nehmen. Alle Seiten würden es negieren müssen, dass der Text interpretationsoffen ist.

Dieses Festhalten an der Imperialismusschrift hat etwas mit dem welthistorischen Stellenwert dieses Textes zu tun. Immerhin ist er von Wladimir Iljitsch Lenin, dem großen Führer der bolschewistischen Partei in Russland und nicht zuletzt der siegreichen Oktoberrevolution unter dem Eindruck des ersten imperialistischen Weltkrieges geschrieben worden. Seine Wirkung und Ausstrahlung sind kaum zu überschätzen. Und da es hier um Positionen innerhalb der kommunistischen Bewegung geht, ist eine positive Bezugnahme auf Lenin und ganz besonders auf seine Imperialismusschrift zum regelrechten Glaubensbekenntnis geworden. Dort, wo Identität und Glauben herrschen, ist Objektivität nicht gerne gesehen, auch und gerade dann nicht, wenn die eigenen Grundlagen als Objekt der Untersuchung dienen,– entsprechend ist auch die Analyse eines solchen Textes schnell tabuisiert. Das ist verständlich. Denn erstens erfordert eine Analyse eine gewisse Distanz zum Objekt der Analyse und das fällt bei einer hohen Identifikation mit einem Text sehr schwer. Zweitens birgt Analyse die Gefahr der Entdeckung von Problemen, Leerstellen, offenen Fragen oder gar gegenteiligen Inhalten, als die, die man sich in der eigenen Position zurechtgelegt hat. Klärungsarbeit oder die Schaffung von Klarheit ist nicht nur mühsam, sondern auch riskant.

Die Notwendigkeit einer Textanalyse von Lenins Imperialismusschrift bleibt bestehen, solange erstens die Interpretationen derart auseinanderfallen und zweitens der Text der Hauptbezugspunkt für die Imperialismusanalyse innerhalb der kommunistischen Bewegung ist. Die langen Ausführungen zur Notwendigkeit einer solchen Textanalyse werden angeregt dadurch, dass es nachvollziehbare Zweifel und viele Fragen bezüglich der Notwendigkeit einer solchen Arbeit gegeben hat und sicherlich noch gibt.

Eine weitere Begründung für eine solche Arbeit ist auch, dass sich die Imperialismusschrift dem Leser nicht einfach erschließt. Sie erscheint auf den ersten Blick als eine Broschüre für den schnellen Gebrauch und wie der Autor verspricht, soll sie in allgemeinverständlicher Sprache auch den Massen zugänglich sein. Mehr als ein Jahrhundert nach dem Erscheinen der Imperialismusschrift ist eine Einigung auf den Inhalt der Aussagen nicht einfacher geworden. Nach etlichen Kontroversen, Spaltungen bis hin zu blutigen Kämpfen in der kommunistischen Bewegung und nicht zuletzt nach dem Sieg und der (zeitweiligen) Niederlage des Sozialismus, nach den Siegen und vielen Niederlagen der nationalen Befreiungskämpfe, leider auch nach dem massiven Vormarsch der imperialistischen Länder, aber auch der Infragestellung ihrer kriegerischen Politik, nach all diesen Erfahrungen scheinen sich die Strömungen und festgefahrenen Positionen in der kommunistischen Weltbewegung kaum bewegt zu haben.

Zugegeben, es wäre viel einfacher gewesen, eine Unmenge an Zitaten aus der Imperialismus-Broschüre herauszupicken und meine eigene Position damit zu begründen. Motiviert wird die Arbeit nicht durch die Absicht der Bestätigung der eigenen Position, sondern davon, nachvollziehen zu wollen, ob es der Text ist, der bestimmte Interpretationen ermöglicht oder ob es richtig ist, zu behaupten, er würde falsch ausgelegt, ja vielleicht sogar revidiert werden.

Es kann jetzt schon verraten werden, dass es ein paar solche Stellen in der Imperialismusschrift gibt, die so interpretiert werden könnten, dass nicht-imperialistische Länder, – Beraubte, nicht Räuber – zu imperialistischen Mächten aufsteigen können. Eine solche Interpretation ist aber nur möglich, wenn der Gesamttext ausgeblendet wird und ganz besonders die Stellen, die sich explizit auf diese ‚Möglichkeiten‘ beziehen, aus dem Kontext gerissen werden. Das nennt man selektives Lesen.

Es gibt eine weitere Schwierigkeit mit dem Text. Das sind die verschachtelten Abstraktionsebenen und der ständige Wechsel zwischen abstrakten Begriffen und empirischen Beschreibungen. Die Unterscheidung zwischen diesen verschiedenen Ebenen drängt sich dem Leser nicht unbedingt auf. Es ist möglich und wahrscheinlich sehr geläufig, dass der Text als ein historisches Zeugnis, als eine Beschreibung der Zeit, in der er geschrieben wurde, gelesen wird. Das heißt nicht, dass die Textstellen, in denen offenkundig von Gesetzmäßigkeiten oder von grundlegenden Merkmalen die Rede ist, nicht als solche erkannt und als allgemeingültige Aussagen verstanden werden. Was bei einer solchen Lesart passiert, ist, dass die Analyse des Imperialismus durch Lenin auf zwei Ebenen lediglich registriert, nicht begriffen wird. So stellen wir fest, dass am Anfang des Textes das Monopol in seiner historischen Genese beschrieben ist, und könnten diese Eröffnung als zufällig oder rein historisch verstehen. Dass aber hierbei eine begriffliche Abstraktion eingeführt wird, aus der sich die nächsten Bestimmungen ableiten lassen, das ist nicht unmittelbar begreiflich. Die Textanalyse konnte zumindest den Blick für solche Fragestellungen schärfen und hoffentlich für die weitere Arbeit damit produktiv sein.

Ein paar allgemeine Anmerkungen zur Textanalyse

Zunächst einmal sehr einfach formuliert: Texte sind in ihrer allgemeinsten Form13 – metaphorisch gesprochen – der Transmissionsriemen zwischen Praxis und Theorie, zwischen dem lebendigen Austauschprozess von Natur und Gesellschaft auf der einen Seite und dem Spiegeln dieses Austausch- und Produktionsprozesses im Bewusstsein der Menschen. Nun wissen wir aber, dass die Menschen gesellschaftliche Wesen sind und als solche treten sie sich in Klassengesellschaften als Klassen gegenüber. So sind Texte immer auch klassenparteiische14 Texte. Aber Achtung: sie sind nicht nur klassenmäßig geschriebene oder gesprochene Texte, sondern auch genauso klassenparteiisch gelesene Texte. der gleiche Text ganz gleich welches Klasseninteresse tatsächlich darin zum Ausdruck gebracht wird, wird auch in seiner Rezeption nicht klassenneutral gelesen. Für die vorliegende Arbeit ist das deswegen relevant, weil dieser Fakt den Anlass für die Analyse des Textes darstellt. Wir haben gegenwärtig in der kommunistischen Bewegung sehr unterschiedliche Lesarten dieses Textes. Gibt es eine andere Möglichkeit, als dass jede dieser Lesarten eine klassenmäßige Interpretation darstellt? Ich meine nicht. Es gilt herauszufinden, welche Lesart welches Klasseninteresse zum Ausdruck bringt.

Bezüglich der Textanalyse ist vorausgesetzt, dass wir wissen und anerkennen, dass sich rund um die Frage der Textanalyse eine ganze Wissenschaft entwickelt hat (etwa seit den 1950/60er Jahren), diesehr präzise Methoden der Textanalyse hervorgebracht hat. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir von diesen Wissenschaften profitieren können, wenn wir lernen, sie anzuwenden. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir das müssen, wenn wir bestimmte Fehler vermeiden wollen: Phraseologie, arbeiterfeindliche Interpretation unserer Geschichte und Theorie, Prahlerei und Profilneurose in der Bewegung und so weiter und so fort. Und: Kritik und Selbstkritik als eine Kunst der Kommunikation mit den entwickeltesten Methoden kommt meines Ermessens nicht ohne solche Methoden aus.

Einen Text zu analysieren, heißt grundsätzlich ihn zuerst zerlegen und wieder zusammensetzen (Analyse und Synthese)15. Dieser Prozess findet auf unterschiedlichste Weise und mit den unterschiedlichsten Methoden statt, wobei sich die Methoden überschneiden und ergänzen. Die hermeneutische Methode hilft uns dabei, den Text im Verhältnis zum Lesenden in sich wiederholenden so genannten hermeneutischen Spiralen (Zirkeln) in seiner Gesamtbedeutung und in seinem Zusammenhang (seinen Zusammenhängen) zu erschließen, aber auch gleichzeitig zu kontextualisieren und den Lesenden als Subjekt (mit einem bestehenden und sich wandelnden Vorwissen) transparent zu machen, jedoch mit dem Ziel eine so weit wie möglich objektive Darlegung der Textaussage(n) herauszufiltern.

Diese Methode hängt eng mit der Kohärenzanalyse (Linguistik) zusammen, aber auch mit einer Analyse des Textes nach seiner inneren Methodologie, z. B. im vorliegenden Text danach, ob die materialistisch-dialektische Methode darin erkennbar ist und wenn ja wie und woran genau. Des Weiteren können quantitative Methoden die Analyse ergänzen, z. B., indem man den Text danach scannt, wie viele Anteile Objektsprache oder Metasprache sind, wieviel Empirie/Theorie oder welche Wörter/Ausdrücke wie häufig wiederholt werden. Es gilt hier zu beachten, die Aussagekraft der Ergebnisse weder zu überbewerten noch isoliert von den anderen Methoden zu verwenden. Schließlich kann auch eine formal logische Analyse (fragt nach der inneren Schlüssigkeit und Korrektheit der Argumente, ohne etwas über ihre Wahrheit auszusagen) oder sprachanalytische Anwendung (z. B. etymologische oder Kohäsionsanalyse) sehr hilfreich sein, um Texte oder Textstellen oder sich wiederholende semantische Elemente zu analysieren. Schließlich ist die Analyse des Textes nach bestimmten Kategorien, Begriffen, Wörtern und zusammenhängenden Inhalten, die sich von der Fragestellung ableiten, notwendig. Ist diese Arbeit geleistet, gilt es den Text als Ganzes (Synthese) wieder greifbar zu machen. Jedoch findet die Betrachtung des Gesamtzusammenhangs in Arbeitsschleifen statt. Teilweise beinhalten Methoden schon die Herstellung des Zusammenhangs, wie z. B. die hermeneutische, die dialektische und etwas abgestufter die Kohärenzanalyse.

Um welchen Text geht es? Es geht um den deutschsprachigen Text „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus “, Lenin Werke, Band22. Achtung: es geht nicht um den Originaltext oder eine intertextliche Analyse nach Kohärenz / Übereinstimmung / Veränderung. Es geht also nicht um einen Vergleich des deutschen Textes mit dem russischen Original. Die Textanalyse beschäftigt sich mit dem oben genannten deutschen Text und bezweckt eine wissenschaftliche Begründung für eine – möglichst objektive16 – Lesart dieses Textes.

Wie steht die allgemeine Analyse des Textes mit der oben genannten konkreten Fragestellung im Zusammenhang? Die Textanalyse steckt einerseits den Rahmen für die Beantwortung der Fragestellung ab, andererseits dient sie teilweise als Instrument für die Beantwortung der Fragestellung. Es stellt sich hier vielleicht manchen Lesern die Frage, warum es nicht ausreicht, nur nach den Textstellen Ausschau zu halten, die unmittelbar mit der Fragestellung zusammenhängen. Diese Herangehensweise würde insofern nicht ausreichen oder sogar fehlerhaft sein und sicherlich auch zurecht kritisiert werden, weil sie die Aussagen, die in einem textlichen Zusammenhang stehen, aus genau diesem Zusammenhang herausreißen und sie isoliert behandeln würde. Hier gilt es einem Missverständnis vorzubeugen: natürlich ist es völlig legitim und auch notwendig, Zitate zu verwenden, wenn man einen bestimmten Inhalt behandelt und Verweise auf andere Literatur etc. verwendet. Jedoch nimmt eine allgemein thematische Behandlung einer Fragestellung nicht für sich in Anspruch, einen konkreten vorliegenden Text zu analysieren, sondern eben ein Thema zu behandeln. Hier aber beinhaltet die Fragestellung die Frage nach dem Sinn des Textes, also danach welcher Gedanke mit den artikulierten Sätzen/Begriffen verknüpft ist,ob diese stringent nachvollziehbar sind und ob dessen theoretischer Hintergrund als intentionaler Akt erkennbar ist. Aus diesem Grund kann diese Art der Fragestellung (nach dem Sinn eines Textes) nicht ohne eine Textanalyse auskommen.

Darstellung und Ergebnisse der Textanalyse

In diesem Abschnitt möchte ich dem Leser die Möglichkeit geben, sich ein Bild von der Vorgehensweise und Methodik zu machen und die inhaltlichen Fragen, die mich beschäftigt haben, nachvollziehen zu können. Vor der Lektüre und Arbeit mit dem Text in der ersten Runde wurde die Fragestellung und die damit zusammenhängenden inhaltlichen Standpunkte ins Bewusstsein gerufen. Dieses Herangehen hat die Funktion, noch einmal von einer Metaebene aus auf sich und die beteiligten Diskussionsteilnehmer mit ihren jeweiligen Sichtweisen zu blicken. Dafür wurden noch einmal Artikel aus der Debatte gelesen und ein paar Notizen gemacht. Da ich nicht unvoreingenommen an diesen Text und auch nicht an die Debatte herantrete, ist diese Methode der Vergewisserung und Überprüfung ein wichtiger erster Schritt, um nicht unbewusst Aspekte der Debatte, die vielleicht nicht zu meinen Vorstellungen passen, zu vernachlässigen.

Die Fragestellung wurde noch einmal durchdacht. Ist die Kernfrage tatsächlich die nach Weltbeherrschung? Ja, meiner Ansicht nach ist die Kernfrage in der Debatte, ob es sich im Imperialismus um die Herrschaft Weniger, sowohl weniger Hände, in denen Kapital konzentriert ist, als auch weniger Staaten – über die gesamte Welt handelt oder nicht. Dabei sind es die unterschiedlichen Formulierungen wie einseitige versus gegenseitige Abhängigkeit, Weltsystem versus unterdrückende und unterdrückte Länder etc., die teilweise kaschieren, dass es sich letztlich um die Frage dreht, ob der Imperialismus notwendig ein System ist, bei dem es sich um die Herrschaft weniger Staaten über die absolute Mehrheit handelt.

In einer ersten Runde wurde der Lenin-Text recht schnell gelesen. Hierbei wurden alle Wörter, die in einem Sinnzusammenhang mit „Herrschaft“, „Monopol“ und aber auch mit Begriffen aus der Debatte wie „Abhängigkeit“ oder das Wortpaar „ungleichmäßige Entwicklung“ stehen, markiert. In dieser ersten Runde sollte gerade durch das schnelle Lesen das Gesamtbild des Textes erfasst und festgehalten werden. In der Reflexionsphase über die erste Runde wurde außer der Konkretisierung der Schlüsselbegriffe auch die Gesamtstruktur des Textes reflektiert.

Hinweise durch die Gesamtstruktur des Textes

Folgende auf sehr unterschiedlichen Ebenen zu verortende Einsichten sind ein Ergebnis einer expliziten Anschauung der Gesamtstruktur des Textes: erstens ist die Gesamtaufteilung des Textes in vier verschiedene Teile, die nicht als solche gekennzeichnet sind, auffällig. In den ersten drei Kapiteln werden die drei Erscheinungsformen des monopolisierten Kapitals, das Industriekapital, das Bankkapital und das Finanzkapital vorgestellt. In den darauf folgenden drei Kapiteln wird ihre Wirkungsweise, das ist vornehmlich ihre Herrschaftsweise, dargestellt. Im siebten und achten Kapitel werden Blüte und Verfall, dann in den letzten beiden Kapiteln die Reflexion des Imperialismus als Stadium analysiert. Zweitens also sind die ersten acht Kapitel der Darstellung der objektiven Seite, die letzten zwei Kapitel der subjektiven Seite der Entwicklung des Imperialismus gewidmet. Drittens ist die organische Darstellungsweise der verschiedenen Seinsweisen der jeweiligen Erscheinungen festzustellen: die empirische, die historisch-genetische, die wesentliche Weise, wobei letztere sich wie ein roter Faden vom ersten Kapitel bis zum letzten durchzieht und am Begriff des Monopols festmachen lässt – anders gesagt an der zentralisierten Form des konzentrierten Kapitals, eigentlich müsste man korrekterweise den prozessierenden Charakter wie folgt ausdrücken: die sich notwendig und stets zentralisierende Form des unvermeidlich konzentrierenden Kapitals.

Diese ‚Hinweise‘ durch die Beachtung der Gesamtstruktur des Textes waren sehr hilfreich für die Analyse des Textes und sollen hier nicht als fertige Analyse oder feste Annahme postuliert werden, sondern lediglich als Auffälligkeiten festgehalten werden. Inwiefern diese Struktur wirklich Sinn ergibt oder tatsächlich in diesem Sinne bewusst von Lenin angelegt wurde, kann nicht nachgewiesen werden.

Jedenfalls lassen diese Hinweise nicht nur den Blick für die verschiedenen Ebenen des Textes, also seine Tiefenstruktur, schärfen, auch wird durch die Gesamtstruktur die Einordnung der einzelnen Teile in das Ganze zugänglicher. Wir werden weiter unten sehen, welche Bedeutung der Blick für die Gesamtstruktur des Textes für die Textanalyse hatte, sowohl was die Formanalyse des Monopols, die Frage nach dem Anfang der Analyse für Lenin (Monopol) und die Frage nach der dialektischen Logik der Imperialismusschrift angeht.

Analyse und Synthese: ‚Monopol‘ und ‚Herrschaftsverhältnis‘

Um zu verstehen, was Lenin mit dem Herrschaftsverhältnis als das Typische des Monopolkapitalismus (LW 22, S. 211) meint, wurde die Imperialismusschrift zunächst nach den Stichworten ‚Monopol‘ und ‚Herrschaftsverhältnis‘ durchsucht, die damit transportierten Sinnzusammenhänge untersucht und diese dann wieder im Zusammenhang betrachtet. Der Sinnzusammenhang Monopol und Herrschaftsverhältnis wurde nach den einzelnen Begriffen zergliedert, um ihre jeweiligen Erscheinungsformen und Bedeutungen genauer analysieren zu können.

Schon auf dieser Ebene der Untersuchung konnte die gegenseitige Durchdringung der beiden Begriffe festgestellt werden. So ist das Monopol in seinen verschiedensten Erscheinungsformen das Subjekt der Herrschaft, wobei die Objekte der Herrschaft des Monopols aus der Analyse des Begriffs ‚Herrschaftsverhältnis‘ herausgearbeitet werden konnten. Es wird ersichtlich, dass beide Wörter in ihren unterschiedlichen Verwendungen wesentlich das Gleiche beinhalten. Monopol ist nichts anderes als ein Herrschaftsverhältnis. Die weiteren Implikationen werden weiter unten dargestellt.

Die beiden Begriffe ‚Monopol‘ und ‚Herrschaftsverhältnis‘ wurden nach ihrer jeweiligen Kohärenz17 und nach ihrem Verhältnis untersucht. Es ist festzustellen, dass außer kleinen Unterschieden in den quantitativen Angaben in Bezug auf die Subjekte der Herrschaft (mal drei, mal fünf, mal sieben Länder) keine inhaltlichen Inkohärenzen und widersprüchliche Bedeutungszuschreibungen zu verzeichnen sind.

Jedoch gibt es – wohlwollend im Sinne einer Gegenprobe durch die Brille der oben dargestellten Position gelesen – durchaus sprachliche Ambiguitäten, die zu offenen Interpretationen verleiten könnten. Diese sind aber nur möglich, wenn die Textstellen aus dem Kontext gerissen werden und / oder der Gesamtzusammenhang des Textes und damit der Sinnzusammenhang der Begriffe nicht beachtet wird. Die Gegenproben werden weiter unten ausgeführt.

Die Zusammensetzung (Synthese) der analysierten Einzelteile (Begriffe und ihre Vorkommnisse) und ihre verschiedenen Aspekte ergibt ein eindeutiges Bild: das Monopol bedeutet nichts anderes als die Herrschaft von tendenziell Wenigen, letztlich von tendenziell immer weniger werdenden Finanzkapitalzentren, also Staaten, aufbauend auf der zentralisierten Macht des konzentrierten Kapitals, also über tendenziell mehr Nationen, Menschen, Kapital etc. Das Monopol ist insofern das Wesen des Imperialismus, dass es dieses prozessierende Herrschaftsverhältnis wie ein Nucleus in sich trägt.

Analyse „Monopol“

Die Untersuchung der mit Monopolen zusammenhängenden Textstellen, wurde entlang von sieben Weisen sortiert, in denen ‚Monopol‘ vorkommen kann18. Damit wurde jede Weise erfasst, in der das Wort ‚Monopol‘ tatsächlich im Text auftritt, aber auch welche empirischen Erscheinungen, Merkmale, Instrumente usw. dem Monopol zugeordnet werden.

Die Stichwortanalyse bezüglich des Begriffs „Monopol“ ergibt, dass die Verwendungsarten des Wortes ‚Monopol‘ variieren. Wir treffen im Text viele konkrete Formen des Monopols an: Syndikate, Konzerne, branchenspezifische Monopole usw. Jedoch ist der gesamte Text durchzogen von der Verwendung eines abstrakten Monopolbegriffs, der im Laufe des Textes in seine konkreten Erscheinungsformen und Charakteristika entfaltet wird. Diese Erscheinungsformen sind Industriemonopole, Bankmonopole und Finanzkapital, wobei Letzteres die entwickelteste Form des Monopols darstellt. Im Begriff des Finanzkapitals heben sich die vorher entfalteten Formen (Bank- und Industriekapital bzw. Bank- und Industriemonopole) auf, sie sind sozusagen im Begriff des Finanzkapitals enthalten.

Auch wenn die wichtigste Erkenntnis der Analyse auf dieser Ebene ist, dass die Verwendung des Wortes ‚Monopol‘ in seinen verschiedenen Weisen eine begriffliche Verwendung darstellt, soll hier hervorgehoben werden, dass der Text mit einem Reichtum an konkreten, empirischen Beispielen aufwartet und es deshalb vorstellbar ist, dass eine Lesart, die vor allem die Darstellung von vielen konkreten empirischen Monopolen wahrnimmt, möglich ist.

Unübersehbar ist jedoch, dass Lenin ‚Monopol‘ als allgemeines und wesentliches Merkmal der imperialistischen Epoche versteht. Zur Veranschaulichung hier einige Beispiele, die deutlich machen, dass das ‚Monopol‘ einen Wesenszug und nicht ein ausschließlich empirisches Phänomen darstellt19:

„Diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen – wenn nicht die wichtigste – in der Ökonomik des modernen Kapitalismus.“ (LW 22, S. 201/202).

Und: „Das von uns hervorgehobene Wort deckt das Wesen der Sache auf, das von den bürgerlichen Ökonomen so ungern und selten zugegeben wird und um das die heutigen Verteidiger des Opportunismus mit K. Kautsky an der Spitze so eifrig herumzureden versuchen. Das Herrschaftsverhältnis und die damit verbundene Gewalt – das ist das Typische für die ‚jüngste Entwicklung des Kapitalismus, das ist es, was aus der Bildung allmächtiger wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist.“ (LW 22, S. 211)

Und: „Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung. Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.“ (LW 22, S. 270)

Und: „Die tiefste ökonomische Grundlage des Imperialismus ist das Monopol. Dieses Monopol ist ein kapitalistisches, d.h. ein Monopol, das aus dem Kapitalismus erwachsen ist und im allgemeinen Milieu des Kapitalismus, der Warenproduktion, der Konkurrenz, in einem beständigen und unlösbaren Widerspruch zu diesem allgemeinen Milieu steht.“ (LW 22, S. 280/281)

Und: „Wir haben gesehen, daß der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist.“ (LW22, S. 304)

Bei genauerer Betrachtung der Verwendung des Wortes „das Monopol“ in diesen Zitaten:, kann man zweifellos von einer Verallgemeinerung sprechen, die dem ‚Monopol‘ eine Stellung zuweist, die als Charakterisierung bzw. als Attribut verwendet werden kann. Das ‚Monopol‘ in dieser Weise verstanden, ist eine Verallgemeinerung eines Prinzips. Was sind aber seine wesentlichen Merkmale und wie werden sie im Text herausgearbeitet?

Die Anordnung der empirischen Beispiele und Zitate, die den allgemeinen und konkreten Prozess und die Wirkungsweise der vor sich gehenden Monopolisierung darstellen, sind so zusammengestellt, dass sie systematisch folgende Grundzüge des Monopols veranschaulichen:

Zusammenziehen bzw. Kontraktion von Kapital (Konzentration und Zentralisation): Ein Wesenszug, der in der Wortzusammensetzung Mono-Pol20zum Ausdruck kommt. Das ist hier in dem Sinne gemeint, dass Viele sich tendenziell zu Einem zusammenziehen.

Ein weiterer Wesenszug ist die Dynamik in dem Sinne, dass es keinen Stillstand gibt, sondern das Monopol dauernde Monopolisierung beinhaltet. Anhand vieler Beispiele und Beschreibungen der Prozesse wird diese Dynamik, die im Begriff enthalten ist, regelrecht dramatisch dargestellt. Eine weitere Seite des ‚Monopols‘ ist der notwendige Formwandel bis zur flexibelsten und flüssigsten Form . dem Finanzkapital. Und schließlich die Seite des ‚Monopols‘, die darin besteht, dass es sich in seiner Bewegung im dauernden Widerspruch zum Kontext seiner Entstehung, seines Werdens und seines Vergehens befindet.

Diese Widersprüche sind: Widerspruch zum kapitalistischen Umfeld, aus dem das ‚Monopol‘ entsteht, also zum Konkurrenzkapitalismus; Widerspruch zu ‚sich selbst‘ als Erscheinung. Das bedeutet, dass Monopole im Plural ein Widerspruch in sich trägt und zur Aufhebung drängt, – anders gesagt: das Monopol tendiert zu einem Monopol; der Widerspruch zwischen dem Prozess der Monopolisierung auf internationaler Ebene und den nationalen Schranken; Widerspruch zwischen dem Prozess der Vergesellschaftung der Produktion und der privaten Aneignung, ein Widerspruch, der zwar schon im Allgemeinen in der kapitalistischen Produktionsweise existiert, aber durch den Prozess der Monopolisierung unvermeidlich zum Antagonismus werden muss, da die Konzentration und vor allem die Zentralisierung eine zentrale Planstelle einfordern, die aber u.a. durch die private Aneignung gehemmt werden.

Die Grundzüge des Wesens von ‚Monopol‘ sind durch die Textanalyse erfasst worden, in dem alle Vorkommnisse, die sich einer Metaebene oder einer Abstraktion zuordnen ließen, herausgefiltert wurden. Die Erscheinungsformen des ‚Monopols‘ wurden wie folgt ausgemacht: Industriemonopol, Bankmonopol, Finanzkapital. Hierzu ist erstens zu sagen, dass das keine Reihenfolge darstellt, auch nicht historisch gemeint ist, aber durchaus hierarchisiert auftritt. Das bedeutet, dass die Darstellungsweise chronologisch und eindeutig inhaltlich schließen lässt, dass das Finanzkapital die Form ist, die alle anderen Formen in sich aufhebt, aber auch die letzte Form ist. Es gibt keine weitere Erscheinungsform, die folgt. In Aussagen wie der folgenden ist diese Form als letzte Form dargelegt: „Der Kapitalismus, der seine Entwicklung als kleines Wucherkapital begann, beendet seine Entwicklung als riesiges Wucherkapital.“ (LW 22, S. 237)

Des Weiteren ist zu diesen Formen zu sagen, dass sie die Formen des Monopolkapitals auf einer abstrakten Ebene begrifflich zusammenfassen. Gerade im Begriff des Finanzkapitals ist es sehr klar, dass es sowohl industrielles Kapital, also das Kapital, das in der Industrie angelegt ist, als auch gleichzeitig Bankkapital ist, wobei letzteres die Kontrollfunktion hat, da hier – in der ‚Bank‘ – das Kapital nicht nur konzentriert, sondern auch zentralisiert ist.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Staatsmonopol als solches nicht als Erscheinungsform des ‚Monopols‘ aufgefasst wurde, weil diese bei Lenin fast ausschließlich eine Hilfsfunktion im Verhältnis zu den verschiedenen Erscheinungsformen des Monopolkapitals einnimmt. Besonders klar wird das durch die Aussage, dass anschaulich gesehen werden kann, „wie sich in der Epoche des Finanzkapitals private und staatliche Monopole miteinander verflechten und die einen wie die anderen in Wirklichkeit bloß einzelne Glieder in der Kette des imperialistischen Kampfes zwischen den größten Monopolisten um die Teilung der Welt sind.“ (LW 22, S. 253)

Eine weitere Anmerkung ist nötig. Es geht um eine Textstelle, die auf den ersten Blick eine andere Zuordnung erfordert als die, die hier unter „Erscheinungsformen“ vorgenommen wurde. Gegen Ende des Textes (S. 304/305) spricht Lenin von „den vier verschiedenen Hauptarten der Monopole oder den Haupterscheinungsformen des Monopolkapitalismus“: den Monopolverbänden, den Rohstoffmonopolen, den Monopolisten des Finanzkapitals und schließlich dem Monopol über das Wirtschaftsgebiet überhaupt. Hier befindet sich der Text auf der konkretesten Ebene der Darstellung. Die Formen wurden in ihrer Abstraktheit Schritt für Schritt entfaltet und sind jetzt auf der Oberflächenebene angelangt.

In den ersten drei Kapiteln wurde das Kapital in seiner monopolisierten Form in seinen Grundzügen, seinem Wesen nach dargestellt. Die Darstellung erfolgte immer organisch mit empirischen und historischen Beispielen. Jedoch ist die Quintessenz dieser Darstellung, das ökonomische Wesen des Monopols aufzudecken und zu zeigen, dass es seine höchste Form im Finanzkapital findet, ohne die anderen Formen zu eliminieren.

Im letzten Kapitel, aus dem die „vier Hauptarten“ (siehe oben) zitiert wurden, wird die konkrete Erscheinungsform beschrieben. Im Folgenden betrachtet Lenin diese Hauptarten historisch und beschreibt ihre Genese, die letztlich „zum endgültigen Sieg des internationalen Finanzkapitals“ (LW 22, S. 305) geführt hat.

Für die Textanalyse ist es relevant, diese unterschiedlichen Ebenen zu registrieren und die einzelnen Ausführungen in diese Gesamtstruktur einzuordnen. Alle weiteren Weisen, in denen das ‚Wort‘ Monopol im Text verwendet wird, dienten in der Analyse lediglich als Kohärenznachweis, der hiermit bestätigt wird. Es wurden keine Inkohärenzen in den verschiedenen Verwendungsweisen vorgefunden.

Die begriffliche Entwicklung ist nicht oder nicht nur historisch, auch wenn die eine Form unvermeidlich aus der anderen erwächst. ‚Historisch‘ hieße, dass der Übergang der einen in die andere Form einen historischen Abschluss der vorhergehenden Form markiert. Auch wenn das tendenziell geschieht, bleiben alle Formen noch weiter bestehen, während sich die nächste Form entfaltet. So ist die Epoche der Monopole zwar durch das Finanzkapital erzeugt worden (LW 22, S. 248), jedoch kommt das Finanzkapital erst durch die Entfaltung des Monopolkapitalismus zu seiner alles durchdringenden Entwicklungsstufe und wird zur herrschenden Form des Monopols. So hebt das Bankmonopol zwar das Industriemonopol auf, aber vernichtet dieses nicht. Lenin nimmt das Monopol zu seinem Ausgangspunkt und setzt die Konzentration und Zentralisation des Kapitals als den Motor der Monopolisierung voraus. Diese Monopolisierungstendenz beschleunigt die Konzentration und Zentralisation und diese wiederum die Monopolisierungstendenz.

Die Untersuchung der gesamten Textstruktur stützt die Annahme, dass ‚Monopol‘ eine begriffliche Ebene darstellt, in der viele der weiteren Bestimmungen enthalten sind. Der Text beginnt mit der Darstellung des Monopols, wobei hier die Betonung darauf liegt, dass die Untersuchung mit dem Phänomen ‚Monopol‘ anfängt. Wenn auch die Darstellung am Anfang selbst historisch-konkret vorgenommen wird, ist der Ausgangspunkt der Untersuchung insofern gesetzt, als dass alle weiteren Erscheinungsformen sich wesentlich vom ‚Monopol‘ ableiten lassen bzw. ihm zugeordnet werden können. So werden in jedem weiteren Kapitel verschiedene Seiten des Monopols aufgeschlüsselt.

Fritz Kumpf, der 1968 eine Studie zur dialektischen Logik der Imperialismusschrift vorlegte, kommt zu folgendem Ergebnis: „Das Monopol ist im System des Imperialismus eine solche konkrete Abstraktion, die den Übergang zu anderen Bestimmungen und zu deren systematischer Entwicklung notwendig in sich einschließt. Die Notwendigkeit des Übergangs liegt vor allem darin, daß das Monopol das ökonomische Wesen des Imperialismus darstellt.“ (Kumpf 1968, S. 98)

Dabei markiert das ‚Monopol‘ deshalb den Beginn, weil alle weiteren Bestimmungen, die für das System ‚Imperialismus‘ bestimmend sind, diese zur Voraussetzung haben, aber nicht umgekehrt. „Wir können daher aus zwei Gründen von einer konkreten Abstraktion sprechen. Einmal deshalb, weil das Monopol die einfachste Kategorie im Hinblick auf ein konkretes System, auf den Imperialismus, nicht aber für den Kapitalismus oder die Gesellschaft schlechthin ist. Zweitens, weil diese abstrakte Bestimmung in Relation zum System des Imperialismus zugleich eine konkrete Bestimmung ist, da sie den Reichtum der Bestimmungen des vormonopolistischen Kapitalismus in sich enthält.“ (Kumpf 1968, S. 94)

Das Monopol wird im weiteren Verlauf des Textes von Lenin nach seinen Charaktermerkmalen und Dynamiken entfaltet. Das Hauptmerkmal, das Wesen des Monopols wird als „Herrschaftsverhältnis“ identifiziert. Darunter fallen Eliminierung anderer Unternehmen, auch von Monopolen, Steigerung der Macht, (Neu-)Aufteilung der Welt, Verschärfung der nationalen Unterdrückung. Des Weiteren werden Widersprüche verschärft: höhere Vergesellschaftung der Produktion bei gleichzeitig steigender Tendenz zur privaten Aneignung, Verschärfung der Krisenhaftigkeit und Chaos in der Produktion bei gleichzeitiger Erhöhung der Plan-Notwendigkeit, Tendenz zur Stagnation und Fäulnis und gleichzeitig Übergang zu einer höheren Gesellschaftsordnung, und Entstehung der Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern bei Verschärfung der Ausbeutung anderer Nationen, um hier nur einige Aspekte zu nennen, die im Text entfaltet werden.


Analyse ‚Herrschaftsverhältnis‘

Der Sinnzusammenhang „Herrschaftsverhältnis“ wurde in Mengen- und Ortsangaben, Subjekt und Objekt der Herrschaft und verschiedene Herrschaftsweisen und -instrumente aufgeteilt. Das Subjekt der Herrschaft sind ökonomische und politische Entitäten, Konzerne, Trusts, Banken, das Finanzkapital und Staaten. Objekt der Herrschaft sind andere Unternehmungen, darunter auch Konzerne, sogar Monopole, Kolonien, Halbkolonien, auch nicht-abhängige Länder und zuallerletzt Menschen.

Quantitative Angaben im Sinnzusammenhang „Herrschaftsverhältnis“ bleiben konsistent durch die gesamte Schrift: auf der Seite der Subjekte der Herrschaft werden durchgehend wenige Herrschende, Unterdrückende etc. angegeben, auf der Seite des beherrschten Objekts durchgehend eine große Menge mit Zahlenangaben oder mit quantitativen Zuschreibungen der Menge, „viele“, „meisten“ usw. Häufig findet sich im Text eine Tendenzaussage mit „immer weniger“ oder „immer mehr“. Ortsangaben bezüglich der Subjekte der Herrschaft sind entweder eindeutige Ländernamen oder kontinentale Attribute wie z. B. „das europäische Kapital“ oder bezüglich der Objekte Kontinente, häufig Afrika und Asien.

Des Weiteren wurden alle Textstellen, die in irgendeiner Weise ein Synonym für ‚Herrschaft‘ darstellen bzw. als Akt der Beherrschung interpretiert werden können, herausgefiltert. Diese Synonyme sind folgende: (u.a. koloniale) Unterdrückung, finanzielle Erdrosselung, weltbeherrschende Räuber, Ausplünderung, Bemächtigung, Gewalt, Kontrolle (u.a. Kapital über Kapital), Ausbeutung, Unterwerfung, ‚an sich reißen‘, Abhängigkeit, Aufteilung, Eroberung zwecks Sicherung der eigenen Hegemonie, Untergrabung der Konkurrenten, ‚schalten und walten, wie sie wollen‘, Annexion, Verletzung der nationalen Unabhängigkeit.

Synthese von ‚Monopol‘ und ‚Herrschaftsverhältnis‘

Bei der Synthese von ‚Monopol‘ und ‚Herrschaftsverhältnis‘ sind folgende Aspekte zu unterscheiden: Erstens Herrschaft als Wesen des Monopols oder Monopol als Herrschaftsverhältnis, zweitens die Herrschaftsweise, drittens die Herrschaftsinstrumente und viertens die Subjekte und Objekte der Herrschaft. Da in der Analyse des Monopolbegriffes klar wurde, dass im Begriff selbst die Bedeutung der Herrschaft über andere angelegt ist, wird auf diese Stellen oben verwiesen.

Die Herrschaftsweise des Monopols kulminiert in ökonomische Macht, jedoch ist sie nicht darauf beschränkt, vielmehr ist die Art und Weise der Herrschaft vor allem durch Gewaltherrschaft zu charakterisieren, wenn die dafür verwendeten Wörter zur Charakterisierung dieser Herrschaft betrachtet werden. Die Instrumente der Herrschaft sind vielseitig und durchdringen alle Ebenen der Gesellschaft. Für die heutige Debatte um die Frage der Identifizierung von imperialistischen Ländern oder um die Frage der ökonomischen Abhängigkeit, bzw. Eigenständigkeit (Souveränität) sind die Ausführungen zu den Instrumenten, die bei der Kontrolle von nationalen Monopolen durch internationales Finanzkapital zum Einsatz kommen, besonders interessant.21

Und schließlich fehlt es Lenins Ausführungen bei der Betrachtung der Herrschaftssubjekte und -objekte kaum an Eindeutigkeit. Lenin beschreibt sehr plastisch, wie nicht nur die eigene Arbeiterklasse oder überhaupt die Arbeiterklasse, sondern eben auch andere Monopole und Nationen, auch solche mit scheinbar eigenständiger Staatlichkeit, vom internationalen Finanzkapital unterworfen werden. Seine Zuspitzungen kulminieren in Aussagen, die die Unterdrückung der vielen / meisten Nationen, Ländern, Staaten der Welt durch eine kleine Gruppe von Staaten, die als Vertreter des zentralisierten Finanzkapitals auftreten, beschreiben.

Hierfür ein paar Zitate, die exemplarisch angeführt werden: „Das ist eine neue Stufe der Weltkonzentration des Kapitals und der Produktion, eine unvergleichlich höhere Stufe als die vorangegangenen. Wir wollen sehen, wie dieses Übermonopol heranwächst.“ (LW22, S. 250)

Und: „Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhinden Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen. Reaktion auf der ganzen Linie, gleichviel unter welchem politischen System, äußerste Zuspitzung der Gegensätze auch auf diesem Gebiet – das ist das Ergebnis dieser Tendenzen. Insbesondere verschärfen sich auch die nationale Unterdrückung und der Drang nach Annexionen, d.h. nach Verletzung der nationalen Unabhängigkeit (denn Annexion ist ja nichts anderes als Verletzung der Selbstbestimmung der Nationen).“ (LW 22, S. 302/303)

Und: „Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu bezeichnen.“ (LW 22, S. 305)

Die Logik der Imperialismusschrift

Lenin hatte explizit gemacht, dass er mit der Imperialismusschrift eine allgemein verständliche Schrift vorlegen wollte, die als Lektüre für den politischen Kampf geeignet war. Diese Funktion erfüllte die Schrift ohne Zweifel, nicht zuletzt im Kampf gegen revisionistische, faktisch pro-imperialistische Positionen innerhalb der Arbeiterbewegung. Aber ist die Imperialismusschrift nun ein theoretisches Werk oder nicht?

Die meisten würden zustimmen, dass das so ist, weil Lenin explizit Definitionen liefert, Zusammenhänge aufdeckt und nicht nur rein empirische Beobachtungen beschreibt. In diesem Sinne wurde und wird die Imperialismusschrift auch tatsächlich in der Bewegung behandelt. Häufig werden die Definitionen, die darin enthalten sind, herausgeholt und die darin aufgeführten Begriffe wie „Monopol“, „Finanzkapital“ und „faulender Kapitalismus“ als Marker für die Charakterisierung des imperialistischen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus – richtigerweise – benannt. Und wer kennt es nicht: die fünf Merkmale werden auswendig gelernt.

Jedoch ist das nicht alles und leider ist auf dem mehr als hundertjährigen, steinigen Weg bis hierher seit Entstehung des Textes, quasi im Eifer des Kampfes um Sozialismus und gegen Imperialismus, einiges an Erkenntnis wieder verloren gegangen und es gilt, diese Erkenntnisse und Anstrengungen, die vor allem in den 50er und 60er Jahren gleistet wurden, wieder zu sammeln und der Bewegung zur Verfügung zu stellen. Zur Frage der logischen Struktur der Imperialismusschrift gibt es, das sei an dieser Stelle vorgemerkt, noch einiges zu tun.

Kurzum: Dass Lenin sehr bewusst eine bestimmte Textstruktur angelegt hat und sich etwas dabei gedacht hat und dass diese Struktur eine logische innere Bedeutung der Begriffe spiegelt und ihre Anordnung konsequent einer Begriffsentwicklung folgt, kann und soll hier als These vertreten werden. Warum ist das von Bedeutung und welche Rolle spielt das in der heutigen Debatte? Es spielt deshalb eine wichtige Rolle, weil die Begriffe, die in der Debatte benutzt werden, sehr unterschiedlich verwendet werden, entweder als Katalogisierungsmarker, so wie es verschiedene Erscheinungsformen des Dogmatismus verwenden oder als Begriffe, die das Wesen einer Erscheinung zum Ausdruck bringen. Letzteres, so hier die These, ist das nachweisbar richtige Verständnis. Diese These wird unter anderem gestützt auf die Arbeit von Fritz Kumpf, der wiederum seine Auseinandersetzung mit der Logik der Imperialismusschrift vor allem auf sowjetische Forscher der Zeit aufbaute.

Der Imperialismus, so Lenin, sollte als monopolistischer Kapitalismus verstanden werden, als Monopolkapitalismus. Monopol ist nicht als ein rein empirisches Phänomen und auch nicht als ein Überbegriff für verschiedenartige monopolistische Unternehmen zu verstehen, sondern als ein Begriff, der das Wesensmerkmal22 des Imperialismus zum Ausdruck bringt: Herrschaft! In ihm ist die gesetzmäßige und unaufhörliche Bewegung des Kapitals, nämlich Konzentration und Zentralisation, aufgehoben. Aus ihm leiten sich notwendigerweise, also gesetzmäßig, alle weiteren Erscheinungsformen und Tendenzen im Imperialismus ab: Industriemonopole, Bankmonopole, das Finanzkapital, die nationale Unterdrückung, die Arbeiteraristokratie und der unauflöslich mit ihr verbundene Opportunismus und der Fäulnischarakter. Alle diese Erscheinungsformen sind wesentlich Ausdruck von Herrschaft tendenziell immer weniger und immer zentralisierterer Monopole und ihrer Staaten gegenüber tendenziell immer größer werdendenTeilen der Welt. Das ist die Quintessenz des Begriffs23 Monopol, wie Kumpf sagt, der konkreten Abstraktion.

Die logische Struktur des Textes spiegelt genau diesen Inhalt: Lenin setzt Monopol an den Anfang und leitet alle (Erscheinungs-)Formen des Monopols ab. Dabei ist unübersehbar, dass Lenin, ohne den theoretischen Hintergrund explizit zu machen, eine Form logisch von der anderen ableitet. Jedoch haben wir es hier nicht mit einer formal-logischen Schlussfolgerung, sondern mit der dialektischen Logik, also einer Widerspruchslogik zu tun. So wie der Begriff des Monopols schon in sich den Widerspruch zwischen Vergesellschaftung und privater Aneignung in zugespitzter Weise beinhaltet, so entwickeln sich alle weiteren Erscheinungen aus diesem Widerspruch.24

Die Spannung bzw. auch Schwierigkeit ist dabei – und das ist es immer – die Gleichzeitigkeit der historischen Entwicklungsschritte und die logischen Entfaltungen miteinander zu versöhnen. Die Zick-Zack-Bewegungen der Geschichte verstellen den Blick für die sich durchsetzende dialektisch-logische Gesetzmäßigkeit. Hier kommt es sehr stark auf die Lesart an: liest man empirisch-historisch oder erkennt die gesetzmäßige dialektische Entwicklung, die im Text dargelegt ist. Die erste Lesart kann viele, teilweise sehr unterschiedliche Ergebnisse zeigen. Das wiederum ist logisch, denn Empirie und Geschichte im Sinne einer Beschreibung der Oberflächenphänomene kann relativiert, ergänzt und erweitert werden.

Die Imperialismusschrift wird gerade von den Neuinterpretationen, die oben beschrieben wurden, so verwendet – nämlich als eine historische Arbeit über eine konkrete historische Zeit. Bei dieser Lesart wird unterstellt, dass z. B. eine der wesentlichsten Aussagen der Imperialismusschrift, nämlich die Zuspitzung der Widersprüche zwischen den Unterdrückernationen und den unterdrückten Nationen als eine notwendige Erscheinung des Imperialismus nach den (wohlgemerkt ersten und unvollendeten) antikolonialen Befreiungskämpfen beendet wurde. Würden sie verstehen, dass Lenin sehr deutlich macht, dass das unter monopolistischem Kapitalismus unmöglich sei, weil das Phänomen der nationalen Unterdrückung zum Wesen des Monopolkapitalismus gehört, dann könnten sie diesen Fehler vermeiden. Natürlich wäre das auch möglich gewesen, wenn sie nur die Augen aufgemacht hätten oder wenn man die bürgerliche Presse als Feindespresse liest,– aber ich hatte ja vor, mit so wenig Polemik wie möglich auszukommen.

Zwecks Transparenz möchte ich hier noch aufzeigen, wie im Rahmen der Textanalyse die logische Struktur des Textes ersichtlich wurde und noch einmal bewusst angesehen werden konnte: Die erste Runde ermöglichte es, durch die zeitlich sehr zügige Sichtung des Textes als Gesamttext, den Blick für die Gesamtstruktur des Textes zu schärfen. Dabei ergab sich eine Frage, die zur weiteren Beschäftigung drängte. Zunächst einmal war die Absicht, die Textgesamtstruktur auf einer rein inhaltlichen Ebene kenntlich zu machen bzw. zu berücksichtigen. Das sollte veranschaulichen, welche Themen der Text im Zusammenhang, oder besser gesagt in einem Zusammenhang, umfasst und dass man z. B. Aussagen über die „Beherrschung von Kolonien und Halbkolonien“ nicht trennen kann von der „Beherrschung der Welt durch das Finanzkapital“ und diese wiederum nicht von der „Monopolisierung als Wesen des Imperialismus“. Dieser Zusammenhang war als Ergebnis der ersten Runde durch die innere Verknüpfung der einzelnen Kapitel bzw. Aussagen des Textes erkennbar.

Während der Reflexion über diesen Struktur- und Inhaltszusammenhang, stellte sich die Frage, warum der Text mit der Betrachtung des Monopols beginnt. Offensichtlich beinhalteten die nächstfolgenden Kapitel eine Kontinuität in der Beschreibung des „Monopolcharakters“, nur bezogen auf je verschiedene Erscheinungsformen, z. B. Banken, Finanzkapital, imperialistische Staaten, aber auch schienen die zwei wesentlichen Widersprüche am ‘Monopol‘begriff festgemacht zu werden. Das Monopol gerät in einen Widerspruch zu dem Umfeld, aus dem es entstanden ist und beinhaltet und verschärft den Widerspruch zwischen Vergesellschaftung der Produktion auf der einen und privater Aneignung der Produktionsmittel und produzierten Güter auf der anderen Seite. (LW, S. 209 ff)

Die Frage danach, ob es eine tiefere Bedeutung bzw. eine Implikation hat, dass der Text mit dem „Monopol“ beginnt, wurde durch diese Beobachtungen eher verschärft, nicht beantwortet. Es schien zu vieles einer theoretischen Begründung zu widersprechen: das erste Kapitel „Konzentration der Produktion und Monopole“ ist auf den ersten Blick sehr empirisch und historisch. Außerdem gibt es Textstellen, die darauf hindeuten, dass die nächstbehandelten Phänomene wie ‚Banken‘ und ‚Finanzkapital‘ ‚das Monopol‘ hervorgebracht haben. Hier ist ein Hinweis auf die Gleichzeitigkeit der Darstellung historisch-konkreter Entwicklung einerseits und andererseits die logisch-dialektische Entwicklung zu erkennen. Einerseits also wie sich die Monopolisierung aufgrund der konkret vor sich gehenden Konzentration und Zentralisation des Kapitals in der vormonopolistischen Zeit entwickelte und dass für diese Entwicklung Banken und auch die Entstehung der Verschmelzung von Bank- und Industriekapital relevant waren. Erst aber nach einem bestimmten quantitativen Grad dieser Entwicklung, das ‚System‘ in eine andere Qualität umschlägt, nämlich den monopolistischen Kapitalismus. Dass Lenin das Monopol als Wesen des Imperialismus ausmacht, deutete darauf hin, dass die Auswahl des Anfangs der Darstellung – analog auch bei Marx mit der Ware – nicht zufällig und ebenso nicht einfach nur historisch-konkret gemeint sei.

Für die Beantwortung der Frage nach der begrifflichen Einordnung des Monopols wurde – entgegen dem ursprünglichen Plan – doch zur Sekundärliteratur gegriffen. Dankenswerterweise ging diese Lektüre auf einen Hinweis von Arnold Schölzel zurück, der bei einer Veranstaltung auf dieses Buch hinwies. Fritz Kumpf hatte eine Studie zur dialektischen Logik der Imperialismusschrift von Lenin vorgelegt, die seinerzeit mäßig in marxistischen Kreisen beachtet wurde.

Das Heranziehen von Kumpfs Arbeit stellte sich als sehr produktiv heraus, denn er beschäftigt sich genau mit dieser Fragestellung. Er fragt nach dem Ausgangspunkt der Untersuchung bei Lenin. „Das Monopol bedarf für sein Verständnis keiner weiteren Kategorie, die der Erfassung des Begriffes Imperialismus angehört. Das zeigt sich schon äußerlich in der Tatsache, daß Lenin bei der Analyse des Monopols an keiner Stelle genötigt war, auf Kategorien und Begriffe und damit auch auf die von ihnen erfaßten Sachverhalte zurückzugreifen, die erst später entwickelt werden.“ (Hervorhebung KB; Kumpf 1968, S. 93)

Alle weiteren „Momente“, die in der Imperialismusschrift behandelt werden, werden durch das Monopol bestimmt. Noch einmal zur Bedeutung der Tiefenstruktur der Imperialismusschrift für die Imperialismusdebatte. Es gibt in der Debatte zwei einander diametral gegenüber stehende Positionen: die Neuinterpretation behauptet, dass das imperialistische Stadium vor allem durch Monopolisierung im Sinne des Vorhandenseins von Monopolen, also empirisch existierenden großen Konzernen, alle Länder der Welt erfasst habe und somit die gesamte Welt, also alle Nationen der Erde ausnahmslos im imperialistischen Stadium angekommen seien, de facto also kein Land der Welt mehr eine unterdrückte Nationen sein kann oder, wie es gerne heißt, nicht einseitig abhängig, sondern die Nationen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Sie verstehen Monopolisierung oder Monopol als Wesen des Imperialismus in dem Sinne, dass das empirische Phänomen Monopol überall existiert bzw. in irgendeiner Weise auffindbar ist.

Es wird jedoch eingeräumt, dass es unterschiedliche Stärken gibt, also die einen Monopole zeitweise stärker als die anderen sind. Durch das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung komme es aber zu einer ständigen Veränderung in der Machtstellung. Das Bild, das wir hier vom imperialistischen Stadium des Kapitalismus erhalten ist mehr oder minder ein Bild der weltweiten Konkurrenz zwischen verschiedenen wesentlich gleichen Akteuren, nämlich Monopolkapitalisten.

Die andere Lesart der Imperialismusschrift versteht Monopol als Charakterisierung, als Wesenszug des Imperialismus in dem Sinne, dass der Kapitalismus mit seinem monopolistischen Stadium ein Stadium erreicht hat, in dem die Herrschaft mono-pol-isiert wird. Lenin wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Oberflächenphänomenen und der sich durchsetzenden Wesenseigenschaft des Monopols. Es gibt weiterhin viele Kleinunternehmen, Großkonzerne, Monopole sogar in einer oder vielen Branchen, aber das ist nur die Oberfläche: in Wahrheit hat das konzentrierte und zentralisierte Finanzkapital durch ein Netz von Herrschaftsinstrumenten die Kontrolle über alle diese äußerlich völlig unabhängigen oder teil-abhängigen Akteure. Dieser Prozess ist nicht mehr umkehrbar, weil die Konzentration und Zentralisation des Kapitals auf immer höherer Stufenleiter vor sich geht und die Monopolisierung, also auch Vereinseitigung der Herrschaft, die Unterwerfung immer größerer Teile, inklusive anderer einzelner Monopole und Länder der Welt zur Folge hat.

Dabei ist für viele die Schwierigkeit hier erstens zu verstehen, was eine Begriffsbestimmung ist, aber auch was sie nicht ist. Was ist damit gemeint? Ich denke, dass die Herausforderung des Verständnisses von Begriff ist, dass es nie eins-zu-eins in der Realität auffindbar ist und eben deshalb eine Abstraktion darstellt, jedoch viel genauer und schärfer das Wesen der Sache beschreibt und entsprechend auch das Konkrete wesentlich richtiger erfasst als eine unendliche oberflächliche Beschreibung es je könnte. Zweitens ist es sehr schwierig nicht statisch zu denken. Die Vorstellung, dass ein Begriff eine Tendenz, eine Bewegung, einen Charakterzug darstellt und eben nicht wie ein Abbild, eine Fotografie eines Phänomens ist, fällt sehr schwer. Wenn der Begriff Monopol Einseitigkeit oder Alleinherrschaft bedeutet bzw. beinhaltet, dann ist in der Realität nie nur einer gemeint. Der Begriff drückt eine Richtung, eine Tendenz, ein Bewegungsgesetz aus – und ist kein statischer Ausdruck.

Gegenprobe I: „Unterdrückende und unterdrückte Länder“ oder „gegenseitige Abhängigkeit“?

Ein Argument, das der hier vertretenen Auffassung widerspricht, beinhaltet die These, dass mit dem Ende des Kolonialismus, die durch die nationalen Befreiungskämpfe erwirkt wurde25 nun das gesamte Weltsystem, alle Länder der Welt mit Ausnahme einiger weniger Kolonien wie Palästina und Westsahara, die Stufe des Monopolkapitalismus erreicht hätten und man deshalb nicht mehr von unterdrückenden und unterdrückten Ländern sprechen könne. Diese These steht in klarem Widerspruch zu Lenins Imperialismusschrift. Wenn man die Imperialismusschrift auf eine historische Beschreibung der Zeit, in der sie geschrieben wurde, reduziert, kann diese These als eine Ergänzung der Leninschen Imperialismusschrift verstanden werden. Ergänzung meint hier eine historische Ergänzung, also in dem Sinne, dass Lenin eine bestimmte historische Zeit beschreibt und dann für die Zeit, die Lenin nicht mehr erfassen konnte, etwas hinzugefügt wird. Das ist möglicherweise die Eigeninterpretation der Vertreter einer Sicht auf den Imperialismus als ein System gegenseitiger Abhängigkeiten. Eine solche Lesart unterstellt aber, dass die Aussagen über das Herrschaftsverhältnis keine grundsätzlichen und allgemeinen Aussagen zur Epoche des Imperialismus, des Monopolkapitalismus darstellen. Eine Reihe von Aussagen in der Imperialismusschrift weisen aber darauf hin, dass eine solche Lesart nicht dem Charakter der Imperialismustheorie gerecht wird.

Das ist deshalb so, weil Lenin sehr klare Aussagen über die unvermeidlichen Tendenzen in der imperialistischen Epoche zur Verstärkung der nationalen Frage macht. Das, was oben als das Wesen des Imperialismus, nämlich das Monopol als Herrschaftsverhältnis ausgeführt wurde, bestimmt die Tendenz zur weiteren Verschärfung der Unterwerfung großer Teile der Erde, das meint Nationen, Länder, aber auch die Bevölkerung, unter das Diktat des Finanzkapitals. Lenin weist in seiner Schrift mit Bezug auf Hilferding darauf hin, dass die Entwicklung dahin gehen muss, dass die unterdrückten Nationen gerade durch ihre kapitalistische Entwicklung den Unterdrückerländern den Garaus machen (LW 22, S. 303).

An dieser Stelle sei nur beispielhaft auf folgende Stelle im Text verwiesen: „Mit Recht hebt Hilferding den Zusammenhang des Imperialismus mit der Verschärfung der nationalen Unterdrückung hervor: ‚In den neu erschlossenen Ländern selbst aber‘, schreibt er, ‚steigert der importierte Kapitalismus die Gegensätze und erregt den immer wachsenden Widerstand der zu nationalem Bewußtsein erwachenden Völker gegen die Eindringlinge, der sich leicht zu gefährlichen Maßnahmen gegen das Fremdkapital steigern kann. Die alten sozialen Verhältnisse werden völlig revolutioniert, die agrarische, tausendjährige Gebundenheit der ‚geschichtslosen Nationen‘ gesprengt, diese selbst in den kapitalistischen Strudel hineingezogen. Der Kapitalismus selbst gibt den Unterworfenen allmählich die Mittel und Wege zu ihrer Befreiung. Das Ziel, das einst das höchste der europäischen Nationen war, die Herstellung des nationalen Einheitsstaates als Mittel der ökonomischen und kulturellen Freiheit, wird auch zu dem ihren. Diese Unabhängigkeitsbewegung bedroht das europäische Kapital gerade in seinen wertvollsten und aussichtsreichsten Ausbeutungsgebieten, und immer mehr kann es seine Herrschaft nur durch stete Vermehrung seiner Machtmittel erhalten.‘“ (LW 22, S. 302/303)

Das heißt nichts anderes, als dass die unterdrückten Nationen, unter anderem auch und gerade durch die kapitalistische Entwicklung, den Unterdrückernationen ihre Unterwerfung erschweren. Konkret bedeutet es z. B., dass sie den Anspruch erheben, selbst über ihre Ressourcen zu bestimmen, die Handelswege zu kontrollieren etc. Das wiederum lässt die Unterdrückerländer nicht gleichgültig, vielmehr werden sie ihre Machtmittel, vor allem Gewaltmittel, vermehren und die unterdrückten Nationen mit Krieg, Zerstörung und Besatzung dazu zwingen, ihre Bedingungen weiterhin zu befolgen. Wie blind muss man sein, um nicht zu sehen, dass sich genau das in den letzten Jahrzehnten in immer heftigeren Formen vor unseren Augen abspielt.26

Dieser Aspekt wurde hier herausgegriffen, um auf eine bestimmte Seite der Textanalyse hinzuweisen, die sich mit der Frage nach den im Text beschriebenen Tendenzen im Imperialismus beschäftigt. Die Untersuchungen zu weiteren Tendenzen finden sich weiter unten. Die Frage danach, ob Lenin unterstellt, dass es im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus in seiner imperialistischen Epoche zu mehr oder weniger nationaler Unterdrückung kommen wird, kann eindeutig beantwortet werden: Lenin geht von einer Ausweitung und Verschärfung der nationalen Unterdrückung aus. Wer also heute behauptet, dass im heutigen Imperialismus nicht mehr von „unterdrückenden und unterdrückten Nationen“ gesprochen werden kann, muss offen aussprechen, dass es eine falsche Diagnose von Lenin war, dies zu behaupten und dann im nächsten Schritt die Leninschen Aussagen widerlegen. Hier sei nur angemerkt, dass die faktische Entwicklung der Welt aus meiner Sicht die Leninschen Aussagen mehr als bestätigt hat. Wer ernsthaft behauptet, dass nach den nationalen Befreiungskämpfen vor allem in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Unterdrückung der Nationen beendet wurde, der muss sich nicht wundern, wenn ihm angesichts der Hülle und Fülle historischer und gegenwärtiger Gegenbeweise vorgeworfen wird, ein Apologet des Imperialismus zu sein.

In der Argumentation wird häufig der Ausdruck der „gegenseitigen Abhängigkeit“ verwendet, um gegen die Vorstellung zu argumentieren, dass es einseitige Abhängigkeitsverhältnisse gibt. Um auch diesem Argument zu begegnen, wurde die Imperialismusschrift speziell danach untersucht27, ob es Hinweise auf ein solches Verständnis geben kann. Dabei wurde – entsprechend der Methode der Gegenprobe – darauf geachtet, wohlwollend diese Position wiederzufinden.

Unter den neunzehn expliziten Textstellen wurden zwei gefunden, die eine solche Lesart vorstellbar machen. An einer Stelle geht es um Portugal als einen politischen eigenständigen Akteur, der ja sogar noch Kolonien besaß. Hier geht es darum, dass England Portugal samt seines Kolonialbesitzes verteidigte und dafür als Gegenleistung Privilegien hinsichtlich der Handelswege etc. von Portugal bekam. Lenin fügt dieser Beschreibung folgendes hinzu: „Derartige Beziehungen zwischen einzelnen großen und kleinen Staaten hat es immer gegeben, aber in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus werden sie zum allgemeinen System, bilden sie einen Teil der Gesamtheit der Beziehungen bei der ‚Aufteilung der Welt‘ und verwandeln sich in Kettenglieder der Operationen des Weltfinanzkapitals.“ (LW 22, S. 268)

Diese Textpassage kann dazu verleiten, daraus eine Aussage zu konstruieren, die im Kern besagt, dass in der imperialistischen Epoche „derartige Beziehungen“, im Sinne von Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit zum „allgemeinen System“ werden. Eine solche Lesart ist aber nur möglich, wenn der Kontext – und damit ist nicht der ganz große Kontext i. S. der gesamten Imperialismusschrift gemeint – unbeachtet bleibt. Dieser Punkt wird von Lenin eingeleitet, um verschiedene Formen der Abhängigkeit zu beschreiben. Er möchte Missverständnissen bezüglich seiner wiederholten Formulierung „Kolonialpolitik“ vorbeugen und klarmachen, dass es sich bei der Abhängigkeit und Unterwerfung, kurz Beherrschung, eben nicht nur um Kolonien handelt.

Er schreibt: „Spricht man von der Kolonialpolitik in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus, dann muß bemerkt werden, daß das Finanzkapital und die ihm entsprechende internationale Politik, die auf einen Kampf der Großmächte um die ökonomische und politische Aufteilung der Welt hinausläuft, eine ganze Reihe von Übergangsformen der staatlichen Abhängigkeit schaffen. Typisch für diese Epoche sind nicht nur die beiden Hauptgruppen von Ländern – die Kolonien besitzenden und die Kolonien selber -, sondern auch die verschiedenartigen Formen der abhängigen Länder, die politisch, formal selbständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind.“ (LW 22, S. 267)

In Wirklichkeit sind also diese Länder, um die es hier geht, abhängig und zwar einseitig. Argentinien und Portugal werden jeweils als sehr unterschiedliche Beispiele angeführt. Lenin geht es also darum, die Bandbreite der Möglichkeiten hinsichtlich der unterschiedlichsten Formen der Abhängigkeit darzulegen, um genau dem falschen Verständnis vorzubeugen, dem die Apologeten bis heute erlegen sind.

Aber schon aus dem obigen Zitat solche Schlussfolgerungen zu ziehen28, zeugt von einem sehr begrenzten Lesevermögen. Denn schon dort werden diese Länder mit formaler Selbständigkeit als „Kettenglieder der Operationen des Weltfinanzkapitals“ bezeichnet. Sie sind nicht Kettenglieder des Weltfinanzkapitals, sondern Kettenglieder der Operationen, also Mittel zum Zweck der „Aufteilung der Welt“.

Zugegebenermaßen ist die zweite Textstelle29 wahrscheinlich keine Stütze für die ‚gegenseitige Abhängigkeit‘, aber da nach der hier angewandten Methode, diese potenziell infrage käme, wird sie kurz erwähnt. Dabei geht es um ein Zitat von Hobson, bei dem es eigentlich um die Abhängigkeit bestimmter Industriezweige von staatlichen Aufträgen geht. Aber auch darum, dass die „alten Imperien“ durch zwei Faktoren geschwächt werden: erstens durch ökonomischen Parasitismus und zweitens durch den Einsatz von Kolonialsoldaten. Der zweite Faktor könnte als ein Beispiel für gegenseitige Abhängigkeit genommen werden, aber nur dann, wenn man das Wort ‚abhängig‘ hier rein technisch verwendet. Ob das so ist oder nicht, überlasse ich dem Urteilsvermögen der Leser. Ganz so weit hergeholt scheint es mir jedoch nicht, zu unterstellen, dass eine solche Textstelle so gelesen werden könnte.

Denn heute wird argumentiert, dass der Imperialismus deshalb ein System gegenseitiger Abhängigkeit wäre, weil die einen von den Rohstoffen der anderen ‚abhängig‘ wären. Der Sinn des Wortes ‚Abhängigkeit‘ wird also genau so gelesen, wie ich es als ‚technisch‘ bezeichnet habe. Mit ‚technisch‘ meine ich, dass jede Art von vermeintlicher Wertung, die auf Herrschaft oder Unterdrückung hinweisen könnte, ausgeblendet wird. So wie z. B. eine Pflanze von Wasser abhängig ist. Man könnte auch sagen, dass der Sinn des Wortes ‚Abhängigkeit‘ ganz neutral gelesen wird, weil man ja nicht von „unterdrückenden und unterdrückten Nationen“ sprechen möchte. Dass aber neutrales Lesen in einer Klassengesellschaft kaum möglich ist, wurde oben schon ausgeführt. Im Sinne welcher Klasse Neutralität‘ letztlich umschlagen muss, bleibt dem Urteil des Lesers selbst überlassen.

Gegenprobe II: „Ungleichmäßige Entwicklung“

Einer der Bezugspunkte für die These der neu aufsteigenden imperialistischen Mächte wie Russland und China, ist das Gesetz der Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung30. Bevor hier auf die Ergebnisse der Textanalyse eingegangen wird, ganz kurz ein paar Worte zu diesem Gesetz. Lenin formulierte diesen Gedanken, um der falschen Vorstellung, es könne zwecks Einigung und Frieden zwischen den europäischen Großmächten, die Vereinigten Staaten von Europa gefordert werden. Der Hauptgedanke dabei ist, dass die Krisenhaftigkeit einerseits und der technologische Fortschritt andererseits, aber auch andere besondere politische und sonstige Bedingungen dazu führen, dass sich kapitalistische Länder unterschiedlich schnell, ja sprunghaft entwickeln oder schwere Niederlagen erleiden. ‚Gestörte Gleichgewichte‘ wie z. B. zwischen stagnierenden alten und mächtigen Ökonomien und neuen aufstrebenden kapitalistischen Mächten, würden nur durch zwei verschiedene Faktoren wieder ausgeglichen werden, entweder durch Krisen oder durch Kriege.

So weit so gut, möchte man meinen. Eine Welt, in der es auch ohne Krisen und Kriege möglich ist, zum Imperialisten aufzusteigen und als Imperialist jederzeit abzusteigen, für den einen oder anderen ist es sogar möglich gleichzeitig oben und unten zu sein31. Polemik beiseite: dass das oben genannte Gesetz seine Gültigkeit besitzt, ist offensichtlich, wenn man sich die Geschichte der letzten 100 plus x Jahre anschaut. Das Verhältnis zwischen den imperialistischen Ländern ist durch ihre ungleichmäßige Entwicklung stark verändert. Auch hat der Kapitalismus in einigen der nicht-imperialistischen Länder Einzug erhalten und hat sich enorm entwickelt. Auch diese Länder entwickeln sich ungleichmäßig.

Wo also liegt der Dissens? Dieser liegt schlicht darin, ob Nationen und ihre Ökonomien, die unterdrückt werden und abhängig sind, rein durch ihre ökonomische Entwicklung den Sprung zum Imperialisten, oder sagen wir angemessenerweise Unterdrücker, schaffen können. Dies wird behauptet, und zwar nicht nur in Bezug auf einzelne große Länder wie China oder die Russische Föderation, sondern in Bezug auf alle Länder der Welt. Außerdem liegt der Dissens noch tiefer: es ist etwas anderes zu behaupten, dass Länder eine kapitalistische Entwicklung durchmachen und dabei sogar recht gut abschneiden und zu sagen, dass sie zu imperialistischen Ländern werden.

Überhaupt ist die Vorstellung, dass es in der Epoche des Imperialismus eine Entwicklung im gleichen Sinne – ohne Widerstand und nationale Befreiung oder ohne Kampf um nationale Souveränität – geben kann wie zu Zeiten des Konkurrenzkapitalismus, – eine Zeit in der z. B. Deutschland sich sprunghaft entwickelte. Denn wie wir oben gesehen haben, muss eine solche kapitalistische Entwicklung unter imperialistischen Bedingungen stattfinden. Anstatt sich aber diese imperialistischen Bedingungen genau anzuschauen, z. B. die Netze des „Weltfinanzkapitals“ und das Monopol auf Ebenen der Einflusssphären etc. pp., wird einfach die Tatsache, dass es in einem Land ‚große Banken‘ gibt, als Beleg für den imperialistischen Charakter genommen. Die Aufgabenstellung wäre, wenn man denn überhaupt die Leninsche Methode richtig findet, zu schauen, ob diese Bank von anderen Banken und vom internationalen Finanzkapital durchdrungen wird oder grundsätzlicher in welchem Verhältnis diese zueinander stehen.

Die Textanalyse wurde hier zum Zwecke der Gegenprobe durchgeführt, um herauszufinden, ob es Textstellen gibt, die eine Lesart in dem Sinne zulassen, dass es in der imperialistischen Epoche zu dauerhaften und / oder sprunghaften32 Entwicklungen von nicht-imperialistischen Ländern zu imperialistischen Ländern kommen kann. Zu diesem Zweck wurde der Text nicht nur anhand des Stichwortes „ungleichmäßig“ in Verbindung mit den Stichwörtern „Entwicklung“ und „Gesetz“ untersucht, sondern auch nach ähnlich gelagerten Bedeutungssphären, die beispielsweise Hinweise auf unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Entwicklung, oder auf Machtverschiebungen geben. Es wurden auch unterschiedliche Bezüge untersucht, um zu prüfen, ob sich die Entwicklung auf Industriezweige, Länder, oder anderes bezieht.

Außerdem wurde der Kontext der Aussagen untersucht. Erstens: um was geht es dem Autor in dem Textabschnitt, was möchte er erläutern, warum ist die Frage der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung in diesem Kontext wichtig. Zweitens: um welchen historischen Kontext handelt es sich, vor allem um welche Entwicklungsstufe des Kapitalismus.

Folgendes Ergebnis kann vorerst festgehalten werden: Hinweise auf Gesetzmäßigkeiten werden vor allem durch das Wort „unvermeidlich“ gegeben. In einer anderen Schrift33 ist die Rede davon, dass die „Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung (…) ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus“ ist. Die Ungleichmäßigkeit selbst wird vor allem auf zwei verschiedene Weisen benutzt. Auf der einen Seite in Bezug auf die ungleichmäßige Verteilung (insbesondere des Kolonialbesitzes) zwischen den imperialistischen Ländern, auf der anderen Seite in Bezug auf die ungleichmäßige Geschwindigkeit und Qualität der (Produktivkraft-)Entwicklung sowohl unter den kapitalistischen, aber auch unter den nicht nur kapitalistischen, sondern auch imperialistischen Staaten. Es geht also entweder um die Frage der Entwicklung imperialistischer Länder und die Machtverschiebungen zwischen ihnen, anders gesagt um zwischenimperialistische Widersprüche oder um die Frage danach, wann und wie es gelingt, sich durch ungleichmäßige Entwicklung der Produktivkräfte in den verschiedenen Ländern (auch in einem unterjochten Land) vom Imperialismus zu befreien, insbesondere durch sozialistische Revolutionen.

Darüber, dass es im Imperialismus notwendig zu imperialistischen Kriegen um die Neuverteilung kommen muss und als eine der Ursachen die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung angeführt wird, kann es keinen Dissens geben. Wenn es jedoch, um die Begründung von veränderten Machtkonstellationen (Auf- und Abstieg in der so genannten „Pyramide“ oder Entstehung neuer imperialistischer „Pole“) geht34, müsste zunächst nachgewiesen werden, wie sich Machtverschiebungen ergeben haben und wie diese heute aussehen. Das kann nicht durch Auflistung von BIP-Zahlen35 und isolierten Betrachtungsweisen, sondern durch die Untersuchung eines Verhältnisses nachgewiesen werden. Außerdem müsste gezeigt werden, wie diese neuen Machtkonstellationen entstanden sind, wenn nicht durch Krisen oder durch „Gewalt“, also z. B. Krieg.

Die Aufteilung der Welt, so beschreibt es Lenin, geschieht nach Kapital und Macht. (LW 22, S. 257) Diese Verteilung verändert sich und ob diese nun ökonomische Verschiebungen sind oder durch militärische Mittel gelöst werden müssen, ist eine konkrete Frage. An dieser konkreten Stelle beschäftigt sich Lenin mit den falschen Vorstellungen von Kautsky und anderen bürgerlichen Denkern, die davon ausgehen, dass die Monopolisierung zu mehr Frieden führen kann, weil dann alles schon in einer Hand ist. Lenin geht es an dieser Stelle darum, den weiterhin bestehenden Kampf zwischen den Monopolkapitalisten, um die Aufteilung der Welt zu erklären. In diesem Zusammenhang verweist er darauf, dass sich die Macht verschieben kann. Der Punkt ist, dass diese Verschiebung sich anhand von Kapital und Macht konkret zeigen lassen muss.

Eine Entwicklung, die einen Machtwechsel und nicht nur eine Machtverschiebung sein soll, aber nicht gewaltsam vor sich geht, kann nicht auf Lenins Aussagen gestützt werden. Zur Veranschaulichung sei am Beispiel Chinas erklärt, dass es nicht ausreicht zu sagen, dass es das unbedingte Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung gäbe und deshalb auch China jetzt im Club der Räuber sei. Stattdessen müsste die konkrete Verflechtung der chinesischen Monopole mit dem internationalen Kapital nachgewiesen werden, um zu zeigen, dass es sich hier um weltbeherrschende Monopole handelt und nicht einfach um ein bestimmtes Marktsegment (Konsumindustrie, Landwirtschaft, Rohstoffe…) an der Spitze der Produzenten.

Dieser Teil der Textanalyse ist wenig ertragreich. Denn die Argumentation, auf die sich hier bezogen wird, nimmt zwar das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung als Stütze für die eigene Position, aber bezieht nur die Aspekte ein, die für ihre Argumentation nützlich sind, nämlich die Tatsache, dass es eine ungleichmäßige Entwicklung gibt und diese zur Veränderung von Machtkonstellationen führt. Wie aber diese Veränderungen von statten gehen, wie die Gegenkräfte sind und unter welchen Bedingungen solche Veränderungen denkbar sind und – nicht weniger wichtig – wie die Veränderungen im Verhältnis zum internationalen Machtgefüge zu bewerten sind, alle diese Fragen bleiben unbeachtet und unbeantwortet.

Gegenprobe III: Entwicklungstendenzen in der imperialistischen Epoche des Kapitalismus – und die Gegenkräfte

Aussagen, die in irgendeiner Weise Tendenzen beschreiben wurden in die Gegenprobe aufgenommen um feststellen zu können, ob Lenin Aussagen über die Entwicklungstendenzen des Imperialismus macht, die möglicherweise so verstanden werden können, wie die Neuinterpretationen nahelegen, also z. B. in die Richtung eher gegenseitiger statt einseitiger Abhängigkeit oder in Richtung weniger nationaler Unterdrückung. Tatsächlich muss festgestellt werden, dass Lenin Tendenzen eher zur Verschärfung dieser Verhältnisse beschreibt und nicht mögliche Einebnungen der Verhältnisse und auch keine gegenläufigen Tendenzen, außer wenn es um die Krisen und um den Kampf für Sozialismus geht.

Folgende explizite Aussagen, die etwas über Tendenzen im imperialistischen Stadium des Kapitalismus aussagen, konnten ausfindig gemacht werden. Hier mit einer Auswahl von Belegstellen:

  • Tendenz zur Verschärfung des Widerspruchs zwischen Vergesellschaftung der Produktion und Aneignung durch immer weniger private ‚Hände‘ (S. 209/210)
  • Verstärkung und Beschleunigung der Kapitalkonzentration durch Bankmonopole (S. 218) und Entstehung des Finanzkapitals
  • Tendenzielle Zuspitzung der innerimperialistischen Widersprüche: z. B. durch den (tendenziell) verschärften Kampf um Rohstoffe (z. B. S. 265) und tendenzielle Konzentration der Macht in immer weniger Hände (S. 276)
  • Tendenzielle Verschärfung der nationalen Unterdrückung (S. 302/303; S. 305)
  • Tendenz zur Fäulnis (S. 280/281; S. 305)

Die Auseinandersetzung mit der Frage der Tendenzen ist durchaus ergiebig, kann aber im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ausgeweitet werden. Diese sollte als eigene Fragestellung aufgenommen und bearbeitet werden. Dabei sollte es um die Frage der Bewegungsgesetze des Imperialismus und um ihre unvermeidliche Richtung gehen, die eben nur durch den Krieg oder durch Sozialismus negiert werden kann.

Ausblick

Die erste Feststellung dieses bescheidenen Aufschlages ist, dass diese Arbeit nicht mehr als nur ein Aufschlag sein kann. Der Versuch mit dem Instrument der Textanalyse bestimmte Fragen an den Text schärfer zu beantworten, war insofern befriedigend, weil er erstens eine gewisse Bestätigung der eigenen Annahmen bezüglich Lenins Aussagen als Ergebnis hatte. Zweitens aber, und das ist viel wichtiger: diese Art Beschäftigung mit dem Text hat – zumindest meinen – Horizont für einige weitere Fragen eröffnet. Wie verhält es sich mit der dialektischen Logik in Lenins Imperialismusschrift? Warum findet sich zu dieser Frage nur sehr wenig auf deutscher Sprache? In der Sowjetunion gab es zwar eine ähnliche Arbeit zum ‚Kapital‘ von Karl Marx36, jedoch keine intensive Auseinandersetzung damit.

Überhaupt ist die Frage, ob eine solche Auseinandersetzung mit der Frage der Methode und dem tieferen Verständnis der Grundlagen für die Untersuchung der Wirklichkeit zu unterschätzen ist und inwiefern die Bewegung heute das entsprechende Werkzeug besitzt, um diese Arbeit fortzusetzen. Hier gibt es offensichtlich noch viel zu tun.

Fest steht jedenfalls, dass diese Analyse nur sehr begrenzt war und sein konnte. Jetzt nach der Ausformulierung des (Zwischen-)Standes, bleibt das Gefühl, dass die Arbeit noch nicht beendet ist, sondern erst begonnen hat.

Zum Beispiel wäre es sehr wichtig die Gesamtstruktur noch einmal genauer zu analysieren und dessen Implikationen besser zu verstehen. Die Entfaltung des Begriffs des Monopols als eine konkrete Abstraktion sollte auch genauer analysiert werden, und zwar mit Beachtung der Frage, welche Rolle die Darstellungsweise spielt. Um die Darstellung besser zu verstehen, wäre eine Veranschaulichung der verschiedenen Ebenen sehr hilfreich.

Außerdem wurde die Widerspruchslogik im Laufe der Arbeit immer deutlicher. Offensichtlich ist auch die in der politischen Praxis notwendige Auseinandersetzung gerade mit diesen Widersprüchen, wie z. B. mit den Widersprüchen nationale Befreiung und Imperialismus bzw. Arbeiterklasseund Imperialismus. Lenin selbst hatte sich hiermit schon auseinandersetzen müssen und wir haben heute die Aufgabe, uns diese Erfahrungen anzueignen, um die laufenden Kämpfe, unter wohlweislich anderen Bedingungen (Niederlage des Sozialismus, Veränderungen im imperialistischen Lager, aber auch vor sich gehende Befreiungsbewegungen…) erst zu verstehen, um uns dann involvieren zu können.

Dies sind nur Hinweise auf mögliche weitere Arbeiten. Was die politische Dimension der Arbeit angeht, ist folgendes zu sagen: eigentlich hätte es vielleicht für die Widerlegung der offensichtlich falschen Referenzen auf Lenin keine Textanalyse gebraucht. Jedoch ist es für die Diskussion erst einmal hilfreich, denn es kann jetzt zumindest mit Sicherheit gesagt werden, dass hier Scharlatanerie im Spiel ist, wenn sich heute Apologeten des Imperialismus zwecks Einebnung der Herrschaftsverhältnisse auf Lenin beziehen und im schlimmsten Falle dabei ihrem eigenen imperialistischen Land einen Dienst erweisen.

Kam inmitten des Ersten Weltkrieges den Kommunisten die Aufgabe zu nachzuweisen, dass es sich bei diesem Krieg um einen allseitig imperialistischen Krieg handelte, so kommt es heute darauf an, nachzuweisen, dass es heute um die Unterwerfung von Ländern und Regionen geht, die sich den Fesseln des Imperialismus zu entwinden versuchen. Hier ist der Widerspruch zwischen imperialistischer Erdrosselung und nationaler Befreiung auf der Tagesordnung und das haben Lenin und Hilferding richtig vorausgesehen37.

Völlig zu ignorieren, dass ein Land wie die Russische Föderation nach dem Kollaps und der Niederlage der Sowjetunion (SU), sofort zur vogelfreien Beute der imperialistischen Mächte wurde und werden musste – das ist die Voraussetzung dafür, dass man die weitere Entwicklung nicht auf Grundlage dieser Voraussetzung, dieser Bedingungen versteht, sondern weiterhin blind und borniert von den verbrecherischen Feldzügen der eigenen Imperialisten ablenkt. Ein Land wie Russland soll unter den Bedingungen der Unterwerfung nach 1991 und im Umfeld eines siegreichen Imperialismus (gegen die SU) innerhalb kürzester Zeit zu einem imperialistischen Land aufgestiegen sein. Dieser Gedanke selbst zeugt davon, wie wenig die Vertreter solcher Positionen den allgemeinverständlichen kurzen Abriss von Lenin verstanden haben. Schon die Existenz solcher Positionen innerhalb der Bewegung ist Rechtfertigung genug, sich eingehend mit der Imperialismusschrift zu befassen.

Zum Schluss: Geschichte wiederholt sich nicht. Damals war es der Vorwand der „Vaterlandsverteidigung“, heute ist es der Vorwand gegen die „Vaterlandsverteidigung“, – der Russischen Föderation wohlgemerkt –, um nicht dem eigenen Imperialismus in den Rücken zu fallen. Und der rote Faden der Geschichte bleibt dennoch: Damals wie heute geht es darum, den Betrug aufzudecken, egal unter welchem Deckmantel er erscheint und kompromisslos auf der Seite der Unterdrückten und Verdammten dieser Erde zu stehen. Wer das tut, setzt das Werk Lenins fort und an dieser Stelle lohnt es sich, mit einem längeren Zitat von Lenin zu enden:

„Der Imperialismus ist die fortschreitende Unterdrückung der Nationen der Welt durch eine Handvoll Großmächte. Er ist die Epoche der Kriege zwischen ihnen um die Erweiterung und Festigung der nationalen Unterdrückung. Er ist die Epoche des Betruges an den Volksmassen durch die heuchlerischen Sozialpatrioten, d. h. durch die Leute, die unter dem Vorwand der „Freiheit der Nationen“, „des Selbstbestimmungsrechts der Nationen“, der „Vaterlandsverteidigung“ die Unterdrückung der Mehrheit der Nationen der Welt durch die Großmächte rechtfertigen und verteidigen. Eben deshalb muß die Einteilung der Nationen in unterdrückende und unterdrückte den Zentralpunkt in den sozialdemokratischen Programmen bilden, da diese Einteilung das Wesen des Imperialismus ausmacht und von den Sozialpatrioten, Kautsky inbegriffen, verlogenerweise umgangen wird. Diese Einteilung ist nicht wesentlich vom Standpunkt des bürgerlichen Pazifismus oder der kleinbürgerlichen Utopie der friedlichen Konkurrenz der unabhängigen Nationen unter dem Kapitalismus, aber sie ist eben das Wesentlichste vom Standpunkt des revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus.“ (LW 21, S. 416)38

Literatur

Kumpf, Fritz: Probleme der Dialektik in Lenins Imperialismus-Analyse, eine Studie zur dialektischen Logik, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin, 1968

Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Gemeinverständlicher Abriss, In: Leninwerke, Band 22, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Dietz Verlag Berlin 1971. Im Text zitiert mit LW 22 + Seitenzahl.

Lenin, Wladimir Iljitsch: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, In: Leninwerke, Band 21, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Dietz Verlag Berlin 1971

Lenin, Wladimir Iljitsch, Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1915, In: Leninwerke, Band 21, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Dietz Verlag Berlin 1971

Nkrumah, Kwame: Neo-Colonialism, The Last Stage of Imperialism, PANAF Books 1970.

Smith, John: Imperialism in the Twenty-First Century, Globalization, Super-Exploitation and Capitalism’s Final Crisis, Monthly Review Press, New York, 2016.

Vazjulin, Viktor A.: Die Logik des „Kapitals“ von Karl Marx, Aus dem Russischen von Gudrun Havemann, Books on Demand GmbH, Norderstedt 2006.

1 Ob und in welchem Maße angesichts der Passivität, der schreienden Ruhe und Desorientiertheit hier von „Bewegung“ gesprochen werden kann, soll hier unbeachtet bleiben.

2 Pazifistisch in dem Sinne, dass man gegen den Krieg ist, aber pro-imperialistisch, weil man das gleiche Narrativ eines ‚imperialistischen Angriffskrieges‘ und damit die Propaganda der eigenen Imperialisten verbreitet.

3 Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Gemeinverständlicher Abriss, In: Leninwerke, Band 22, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Dietz Verlag Berlin 1971. Im Text zitiert mit LW 22 + Seitenzahl.

4 Siehe Vertreter der SKP 2022: https://kommunistische-organisation.de/podcast/podcast-22-podcast-mit-andreas-soerensen-von-der-skp/ Dieser steht nur beispielhaft, wenn auch besonders plastisch, für eine ganze Reihe kommunistischer Parteien und Organisationen, die sich einem vermeintlich revolutionären Pol zuordnen und den Imperialismus in seiner heutigen Brutalität relativieren.

5 Siehe Spanidis: Die Bourgeoisie im imperialistischen Weltsystem | Kommunistische Partei

6 Empfehlung: Nkrumah, Kwame: Neo-Colonialism, The Last Stage of Imperialism, PANAF Books 1970.

7 https://www.mlpd.de/broschueren/der-ukrainekrieg-und-die-offene-krise-des-imperialistischen-weltsystems/der-ukrainekrieg-und-die-offene-krise-des-imperialistischen-weltsystems

8 https://www.marx21.de/marx21-pocket-edition-der-krieg-um-die-ukraine-imperialismus-heute/

9 https://monthlyreview.org/2024/11/01/the-new-denial-of-imperialism-on-the-left/

10 Ebenda.

11 Eine Zusammenstellung der Positionen der KKE finden sich hier: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/imperialismus-krieg-und-die-kommunistische-bewegung/ und hier: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/dossier-die-kontroverse-zwischen-kke-kprf-und-rkap/

Mit jeweils entsprechenden Referenzen.

12 Die Debatte verlief nicht ohne komische Züge: die Protagonisten dieser Position ruderten insofern zurück, dass sie davon Abstand nahmen, dass es überhaupt Sinn mache, Imperialismus adjektivisch zu benutzen. Vielmehr seien alle Länder in einem imperialistischen Weltsystem eingebettet, was an sich niemand bestreiten würde. Eine Aussage, die so ziemlich nichts aussagt und diffuser nicht sein kann. Siehe dazu beispielhaft: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/russlands-imperialistischer-krieg/

13 Ob schriftlich oder mündlich spielt keine Rolle. Das Wichtigste ist jedoch, dass ein Text eine kommunikative Funktion hat. Etwas nur Gedachtes ist noch kein Text. Erst, wenn der Gedanke sich mitteilt, dann findet ein Formwandel statt und er wird zu einem Text.

14 Das heißt natürlich nicht, dass es nicht möglich ist, die Klassenschranken durch bewusste Reflexion und vor allem durch Handlungen zu durchbrechen.

15 Es hat sich eingebürgert von Text-Analyse zu sprechen, auch wenn diese Bezeichnung nur die eine Seite der Arbeit bezeichnet. Eigentlich wäre die Bezeichnung der ‚Exegese‘ richtiger. Jedoch wird durch die vor allem in der Theologie angewandte Bezeichnung die Vermittlung dieser eigentlichen richtigen Bezeichnung nicht einfacher. Der Einfachheit halber wird hier von Textanalyse gesprochen.

16 Dieser Anspruch, der Anspruch der Objektivität, kann nur als Anstrengung verstanden werden, ein Versuch, den Text so weit wie möglich objektiv zu verstehen.

17 D.h., dass untersucht wurde, inwiefern diese Begriffe in einer kohärenten Weise in Satz und Satzkontexte und Bedeutungssphären eingebaut sind, sodass sich ihre Bedeutung also nicht wandelt oder sogar widerspricht (Inkohärenz).

18 Mit „Weisen“ sind hier vor allem Ebenen der Abstraktion, Zuordnungen (wie z. B. Instrumente) oder grammatikalische Formen gemeint. Dabei sind „Weisen“ eher reduktionistisch als Form bzw. Vorkommnis zu verstehen und weniger als Sinnzusammenhänge oder Bedeutung. Es geht lediglich darum, die tatsächlichen Vorkommnisse im Text zunächst zu erfassen. Welche Bedeutung ihnen zukommt oder in welchem Sinnzusammenhang diese Formen eine bzw. eine weitere Bedeutung erhalten, ist erst nach der Untersuchung der Form feststellbar. Der Text gibt die erfassten Formen („Weisen“) selbst vor. In folgenden Weisen wurden die Vorkommnisse ‚Monopol‘ festgestellt: Metaebene und Abstraktion /Erscheinungsformen/Wortverknüpfungen/Konkreta/Instrumente/Als Adjektiv/ Mit Adjektiv. [ich kann hier keinen Kommentar setzen: Die Aussage, der Text gebe die Formen vor, stimmt ja nur bedingt. Er legt bestimmte, einzelne und konkrete, Vorkommnisse vor. Die Kategorisierung, die du vornimmst, passiert durch dich und sollte irgendwie begründet sein. Zumal einmal morphosyntaktische/formale Merkmale und ein andermal inhaltliche Kategorien gesetzt werden, die sich ja keineswegs im vornherein gegenseitig ausschließen bzw. formal-logisch voneinander abgrenzen lassen]

19 Es wird hoffentlich im Laufe der vorliegenden Arbeit klar, dass es erstens eine solche empirische Lesart gibt und zweitens, dass das eine falsche Lesart ist. Dabei ist nicht die Frage, ob diejenigen, die eine empirische Lesart haben, nicht auch grundsätzliche Aussagen aus der Imperialismusschrift herausfiltern, sondern inwiefern ihre Schlussfolgerungen darauf schließen lassen, dass sie letztlich die wesentlichen Aussagen gegenüber den empirischen Darlegungen depriorisieren. Besonders anschaulich ist eine solche Lesart, die die Kernbedeutung des Begriffs ‚Monopol‘ nämlich ‚Einseitigkeit‘ ablehnt und überall in den unterschiedlichen Nationen „Monopole“ im Sinne von „großen Konzernen“ sucht, um sie als Marker für die Teilnahme am imperialistischen System zu identifizieren.

20 Sowohl Griechisch als auch Latein: Allein-Verkauf oder Allein-Handel

21 Am deutlichsten wird das anhand des Beteiligungssystems erklärt.

22 S. 280 Monopol als „tiefste ökonomische Grundlage des Imperialismus“ / siehe auch LW 23, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, Oktober 1916, „Das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus“.

23 Wie Kumpf sagt, Begriff hier verstanden als konkrete Abstraktion.

24 Siehe dazu Kumpf 1968, S. 134 ff: Die Rolle des Widerspruchs im Prozeß des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten.

25 Es gibt hier keinen Platz, um auf diese absurde These in der Weise einzugehen, die angemessen wäre. Dass durch die nationalen Befreiungskämpfe die Phase des Neokolonialismus eingeleitet wurde und Lenins These, dass sich die nationale Unterdrückung noch massiv verschärft hat und keineswegs beendet wurde, scheint manchen völlig unbekannt zu sein. An anderer Stelle müsste eine intensive Auseinandersetzung auch mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Neokolonialismus (siehe z. B. Kwame Nkrumah) und dessen Rezeption in den sozialistischen Ländern stattfinden.

26 Welche Rolle in diesem Zusammenhang die Klassenwidersprüche in den unterdrückten Ländern spielen, darauf wird noch an anderer Stelle einzugehen sein. Das ist aber auch wirklich keine neue Frage, sondern beschäftigt seit Anbeginn die Köpfe des Antiimperialismus. Klar ist mittlerweile, dass die Unfähigkeit sich diesen Widersprüchen in all ihren konkreten und sehr komplexen Kampfbedingungen zu stellen, Parteien wie die KKE und anderen in die Falle der ideologischen Abweichung geführt hat. Man biegt sich lieber die Machtverhältnisse so zurecht und vereinfacht sie so: es gibt nur noch den Widerspruch zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie in den jeweiligen Nationen, alles andere ist zwischenimperialistischer Krieg, also muss jeder nur noch in seiner Nation schauen, dass er die Arbeiterklasse organisiert.

27 Wörter, die in verschiedenen Weisen das Wort „abhängig“ beinhalten, dienten zur Identifizierung aller möglichen Textstellen, die sich mit „Abhängigkeit“ im weitesten Sinne befassen. Es wurden aber auch andere Textstellen herangezogen und der Gesamtkontext entsprechend den Methoden der Textanalyse als Korrektur einbezogen.

28 Milo Barus hat sich schon mit dieser Fehlinterpretation an anderer Stelle befasst: https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/lenin-und-das-imperialistische-weltsystem/

29 LW 22, S.284, Zitat von Hobson

30 LW 21, S.342-346

31 siehe https://kommunistischepartei.de/diskussion-imperialismus/zur-verteidigung-der-programmatischen-thesen-der-ko/#Beherrscht

32 Eigentlich müsste man bei dem Aufholversuch von nicht-imperialistischen Ländern von sprunghaften Aufwärtsbewegungen der Ökonomie ausgehen, sonst bewegt man sich in äußerst unrealistischen Fantasievorstellungen.

33 Lenin: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, LW 21, S. 344–346

34 https://kommunistische-organisation.de/artikel/imperialismus-multipolare-weltordnung-und-nationale-befreiung/

35 BIP (Bruttoinlandsprodukt) siehe dazu Smith, John: Imperialism in the Twenty-First Century, Globalization, Super-Exploitation and Capitalism’s Final Crisis, Monthly Review Press, New York, 2016. Im Kapitel “The GDP-Illusion” erklärt John Smith ausführlich, warum es keinen Sinn macht, diese Kennzahl für die Identifizierung von Entwicklung und Macht zu verwenden.

36 Vazjulin, Viktor A.: Die Logik des „Kapitals“ von Karl Marx, Aus dem Russischen von Gudrun Havemann, Books on Demand GmbH, Norderstedt 2006.

37 LW 22, S. 302/303.

38 Lenin, Wladimir Iljitsch, Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1915, In: Leninwerke, Band 21, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU, Dietz Verlag Berlin 1971.

Deklaration des Interforum – Antifaschistisches Forum Donbass

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In diesem Monat fand in Lugansk das „Antifaschistische Forum Donbass“ statt. An diesem Treffen nahmen Antifaschisten aus ganz Europa teil. Das Forum stellte die Bedeutung faschistischer Kräfte für die Fortsetzung der imperialistischen Herrschaft in den Vordergrund. und benennt die Trump-Regierung und die europäische Rechte als wichtige Akteure der Kriegsvorbereitung gegen Russland, Fortsetzung des Genozids in Palästina und Ausplünderung der Welt. Wir spiegeln hier die Deklaration des Forums im Wortlaut.

Am 9. Mai jährt sich zum 80. Mal der große Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland. Fast ein ganzes Jahrhundert liegt zwischen uns und den Ereignissen dieser Zeit, und doch sehen wir erst jetzt, welche kolossalen Auswirkungen sie immer noch auf die ganze Welt haben.

Der Zweite Weltkrieg begann nicht „einfach so“. Er kam nicht aus heiterem Himmel. Er wurde durch ein Geflecht von Widersprüchen in der internationalen Politik ausgelöst, die man mit Hilfe eines Krieges zu lösen versuchte. Die Gründe, die vor mehr als 80 Jahren die Welt in Anhänger nationalsozialistischer und antifaschistischer Ideen spalteten, bestehen auch heute noch. Westliche Konzerne und das Finanzkapital, die jahrelang Hitler bewaffneten, schufen eine kampffähige Armee, um sie gegen denjenigen zu richten, von dem sie sich bedroht fühlten: die Sowjetunion.

Heute sehen wir eine Wiederholung der Welttragödie, die sich in den 1930er und 1940er Jahren abgespielt hat. Der westliche Imperialismus hat bereits mit seiner Aggression gegen diejenigen begonnen, die mit der US-amerikanisch geprägten Weltordnung nicht einverstanden sind. Er ist dabei, eine schlagkräftige Faust gegen jene Völker und Länder aufzubauen, die versuchen, eine unabhängige und souveräne Politik zu verfolgen. Gegen Russland, China, Nordkorea, Kuba, den Iran, Venezuela, Nicaragua und viele andere. Unter dieser Faust versammeln sich ukrainische Faschisten, israelische Zionisten, afrikanische und nahöstliche Dschihadisten sowie lateinamerikanische „Todesschwadronen“.

Diese vielschichtige „Internationale“ des neuen Faschismus, die ihren „Kreuzzug“ gegen die Völker dieses Planeten bereits begonnen hat, hat das transnationale Finanzkapital als Auftraggeber zum Sponsor. Heute ändert diese „schwarze Internationale“ ihre Führung – anstelle der gescheiterten Liberalen bekommt sie harte, zynische und aggressive Führer in Form der neuen rechten US-Regierung unter Donald Trump und dem Multimilliardär Elon Musk, der die Hand zum Nazigruß hebt.

Die neue Führung in Washington hat es bereits geschafft, Anspruch auf den Panamakanal zu erheben, den argentinischen neoliberalen Faschisten Javier Milei und die europäische extreme Rechte zu unterstützen, neue Sanktionen gegen Russland und einen Krieg gegen den Iran anzudrohen und den israelischen Völkermord in Gaza zu bekräftigen.

Die Aggression des Westens gegenüber den Völkern der ehemaligen Sowjetunion, insbesondere gegen Russland, die 2014 durch das faschistische Regime in Kiew eingeleitet worden ist, war der Schlüsselpunkt für die Wende der Politik des westlichen Imperialismus in Richtung Militarisierung, Reaktion und Vorbereitung auf einen großen Krieg. Wir sind überzeugt, dass hier auch das Feuer des Widerstands gegen den Imperialismus und den neuen Faschismus entfacht werden muss.

Die ersten Funken dieses Widerstands sind der heldenhafte Kampf des Donbass gegen den ukrainischen Nazismus, der durch die Militärische Sonderoperation Russlands fortgesetzt wird. Wir betonen, dass dies keine isolierte oder regionale Situation ist – sie ist Teil des weltweiten Kampfes gegen die USA, die NATO, die Europäische Union und andere Kräfte und Organisationen der imperialistischen Hegemonie. Das Ziel unserer Feinde ist dasselbe wie vor über 80 Jahren – die Inbesitznahme und Unterwerfung der Märkte, der natürlichen und menschlichen Ressourcen des Planeten, die Zerstörung einer Alternative zur bestehenden Weltordnung, welche damals die UdSSR war und heute eine Reihe von Ländern, die sich der unipolaren, US-amerikanisch zentrierten Welt widersetzen.

Nur eine gemeinsame Front der internationalen antifaschistischen und antiimperialistischen Solidarität der Völker kann dem Rechtsruck der Reaktion und dem neuen Faschismus, der sich jetzt im Westen abspielt, widerstehen. Unser Forum ist dazu aufgerufen, einer der Kristallisationspunkte dieses Widerstands zu werden.

Wir rufen alle, die unsere Besorgnis über die Zunahme faschistischer Tendenzen in der Gesellschaft teilen, dazu auf, nicht zu schweigen, sondern offen und lautstark ihren Standpunkt zu vertreten!

Wir rufen dazu auf, am achtzigsten Jahrestag des Großen Sieges das Andenken an die antifaschistischen Helden in allen Ländern zu ehren, in denen die Menschen den Weg des Kampfes gegen die braune Pest gegangen sind: Die Helden der ELAS in Griechenland, die Antifaschisten der Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens, die Teilnehmer am Aufstand im Warschauer Ghetto und die Partisanen der Armia Ludowa in Polen, die Garibaldi-Brigaden und die Matteotti-Brigaden in Italien, die Kameraden von Ernst Thälmann in Deutschland, die Tausenden von Widerstandskämpfern im Untergrund in Frankreich, Spanien, Österreich, Rumänien und anderen Ländern!

Wir rufen dazu auf, schon heute Kontakte zu Gleichgesinnten aufzubauen und zu stärken, denn morgen steht uns allen ein schwerer Kampf bevor, auf den wir uns jetzt vorbereiten müssen!

Für internationale Solidarität und gemeinsame Aktionen gegen Faschismus und Imperialismus!

Verbote und der Kampf um Grundrechte

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Seit November 2023 nehmen die Verbote von Vereinen und Vereinigungen zu, insbesondere in der Palästina-Solidaritäts-Bewegung. Gleichzeitig steigen die Verfahren wegen „Volksverhetzung“ oder „Billigung von Straftaten“ massiv an – meist im Kontext der Palästina-Solidarität, aber auch wenn andere Positionen zum Ukrainekrieg vertreten werden als die der Bundesregierung. Es ist klar: Mit der Kriegspolitik kommen die Verbote

Viele Organisationen, auch wir als KO, sind im Visier des Inlandsgeheimdienstes und des Innenministeriums. Wir werden insbesondere wegen unserer Arbeit in der Palästina-Soli-Bewegung erwähnt. Der „Verfassungsschutzbericht“  ist keine neutrale Berichterstattung, sondern eine Markierung der Positionen und Organisationen, die kriminalisiert werden sollen. Sie dienen damit auch immer der Spaltung. Die ins Visier Genommenen sollen isoliert und innerhalb der Bewegung und Gesellschaft ausgeschlossen werden. Dazu dienen bestimmte Unterstellungen und Narrative wie zum Beispiel, dass die Bewegung „unterwandert“ werden würde. Vor diesem Hintergrund wollen wir in der Artikelreihe verschiedene Fragen behandeln: Warum ist der Kampf um Grundrechte notwendig? Welche Schlussfolgerungen können wir aus den vergangenen Verbote ziehen? Und wie sollten wir mit potentiellen zukünftigen Verboten umgehen?  

Der erste Artikel von Klara Bina reflektiert die Bedeutung des Kampfes für Grundrechte vor dem Hintergrund romantischer Vorstellungen des Klassenkampfs und im Kontext der Widersprüche der bürgerlichen Herrschaft. Diese Widersprüche führen zu Problemen sowohl für die Arbeiterklasse und ihren Kampf, als auch für die bürgerliche Klasse und der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft. Der Text will eine Lanze für die „kleinen“ Kämpfe um Grundrechte brechen und benennt eine Lücke in der Diskussion der KO (und darüber hinaus): Es fehlt ein Verständnis für die Entstehung von Klassenbewusstsein im Kontext der historisch konkreten Klassenherrschaft. 

Verbote und der Kampf um Grundrechte – Teil 1

Ein Plädoyer dafür, den Kampf für Grundrechte im Kontext der Widersprüche der Klassenherrschaft zu verstehen 

von Klara Bina  

Internationale Umbrüche sorgen für gesellschaftliche Eruptionen, die der Klassenfeind ausnutzt. Dabei werden die Interessen der Arbeiterklasse tiefgreifend angegriffen. Die ökonomischen Existenzbedingungen werden z.B. mit Angriffen auf Bürgergeld und Arbeitsrechte in Deutschland infrage gestellt, es gibt Kürzungen öffentlicher Mittel für Bildung und Erziehung. Die Grundrechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden beschnitten. Daraus ergeben sich für die Arbeiter und kommunistische Bewegung überall – auch in Deutschland – Fragen nach Bedingungen und Methoden des Klassenkampfes.

Lanze brechen für die „kleinen“ Kämpfe

„Kämpfen“ – das geht einigen im innerkommunistischen und innerlinken Diskurs leicht über die Lippen. Im Idealfall ist es der Klassenkampf, der geführt, sogar angeführt werden soll. Vor lauter großnr Ideen revolutionär-kämpferischer Klassenkämpfe bleiben die wirklichen Kämpfe der Klasse häufig auf der Strecke – und damit auch die notwendigen Kämpfe, die geführt werden müssten zur Steigerung des Klassenbewusstseins und der Organisierung der Massen, die wiederum notwendige Bedingungen des Klassenkampfes sind. Für diese relevanten ‚kleinen‘ Kämpfe soll hier eine Lanze gebrochen werden. Dabei nehme ich hier zwar die allgemeine Frage des Klassenkampfes als Ausgangspunkt, möchte mich aber dann zügig auf die Frage des Kampfes um Grundrechte fokussieren, um ihre aktuelle Relevanz in der BRD zu demonstrieren.

Ökonomismus und Romantik

Im Rahmen der Diskussionen um den politischen Beschluss zur Massenarbeit führte die KO im Vorlauf ihrer zweiten Vollversammlung eine Diskussion über die Frage, was eigentlich Klassenkampf bedeutet und ob alle Kämpfe der Klasse schon Klassenkampf seien. Insbesondere war die Verengung auf eine ökonomistische Sichtweise Gegenstand der Diskussion (hier ein Beitrag von mir, unter dem Stichwort „Massenarbeit“ sind weitere Beiträge zu finden). Kämpfe um Grundrechte fanden damals weniger Beachtung. Bemerkenswert ist eine gegenläufige politische Bewertung, wenn es um „kleine“ ökonomische Kämpfe einerseits und gleichermaßen „kleine“ Grundrechtskämpfe andererseits geht. Bei ökonomischen Kämpfen neigt die Mehrheit in der Bewegung dazu, diese recht schnell zu überhöhen, bei Grundrechtskämpfen, die teilweise sogar größere gesellschaftliche Relevanz haben, diese herunterzuspielen und als illusionäre Kämpfe zu bezeichnen. Dahinter liegen unterschiedliche unzulängliche Betrachtungsweisen, romantische Vorstellungen vom Betriebskampf und auch ein Mangel an Kampferfahrungen, die kollektiv diskutiert und vermittelt sind und sich entsprechend kaum in lebendige Diskurse, inhaltliche Auseinandersetzungen und begründeten Überzeugungen übersetzen. Inwiefern aber diese Vorstellungen mangelhaft sind, soll hier kurz angedeutet werden, in der Hoffnung, dass sich eine lebendige Diskussion um diese Fragen entspinnen lässt.

Romantik, Ungeduld und Opportunismus

Die Überhöhung ökonomischer Kämpfe1, vor allem der Betriebskämpfe, resultiert aus unterschiedlichen Quellen. Die Rolle der Industriearbeiterklasse aufgrund ihrer ökonomischen Macht wird zwar richtig erkannt, aber schablonenhaft angewendet und die konkreten historischen, nationalen und politischen Zusammenhänge ignoriert. Hinzu kommt als zweite Quelle die Bequemlichkeit in der Anwendung, wie wir sie auch in der Imperialismusfrage sehen. Der Arbeiter im Betrieb als der Prototyp des Klassenkampfes, dessen starker Arm es anders wollen soll als die verweichlichte Mittelklasse es je könnte. Solche Bilder lassen die Herzen der Revolutionäre höherschlagen und schneller als sie denken, tappen sie in die Falle der Sozialdemokratie. Schließlich die dritte Quelle: Die romantische Verklärung des Arbeiters an der Maschine in einer hochindustriellen, vor Produktivität strotzenden imperialistischen Metropole. Wie schnell hier die revolutionäre Romantik in Ungeduld umschlagen kann, davon ist die Geschichte der Betriebskämpfe prall gefüllt. Nicht selten schlägt der Ökonomismus in der Analyse entweder in Rechtsopportunismus oder Linksradikalismus um. Dieser die objektiven Bedingungen ignorierend und auf radikalere Kämpfe orientierend, jener die objektiven Bedingungen verabsolutierend und die kämpfende Arbeiterschaft beschwichtigend.

Eine Lücke, die wir schließen müssen

Im Politischen Beschluss zur Massenarbeit spiegelt sich unsere Diskussion über den Begriff des Klassenkampfes und der Klasse wider. Ein wichtiger Aspekt, der aber meiner Ansicht nach zu kurz kommt und noch einiges an Arbeit von uns abverlangen wird, ist die Frage danach, unter welchen Bedingungen Klassenbewusstsein entsteht und sich entwickelt im Verhältnis zu den gesellschaftlich vermittelten Kampfbedingungen. Diese Schwachstelle des Beschlusses zur Massenarbeit ist eine Leerstelle, die uns auf die Füße fällt, wenn es darum geht, Klassenkämpfe in ihrem jeweils konkreten historisch-gesellschaftlichen Kontext zu begreifen. Was ist damit gemeint?

Die Klassen – tatsächlich beide, die Arbeiterklasse und die herrschende Kapitalistenklasse – sind in einen ökonomisch, politisch und kulturell spezifischen Kontext eingebettet, der ihr Bewusstsein auf mannigfaltige Weise beeinflusst. Dieser historisch entstandene und gesellschaftlich vermittelte Kontext drückt sich in unterschiedlichsten Weisen als Erklärungs- und Legitimationskitt für den Ausbeutungsmechanismen der kapitalistischen Gesellschaft aus und hält diese an den jeweiligen Verhältnissen gefesselt. Diese (Erklärungs-)Muster können variieren vom Standortdenken bis zum Rassismus oder religiöse und kulturalistische Muster, um nur ein paar sehr offensichtliche zu nennen. Sie können aber auch Sicherheits- und Angstdiskurse beinhalten, die zum Beispiel den Kampf um höhere Löhne als in diesem Moment unwichtiger erscheinen lässt als einen Kampf um eine erhöhte „Sicherheitsinfrastruktur“ oder „Migrationsabwehr“. Zusammenfassend: ohne all die wichtigen Punkte bezüglich des Klassenkampfes im Beschluss zu relativieren, sei hiermit gesagt, dass wir diese Lücke schließen müssten, um genau nicht in die oben beschriebenen Fallen einer Überhöhung des betrieblichen, wie auch Unterschätzung oder Relativierung anderer Kämpfe zu tappen.

Beschränkung der Arbeiterklasse durch Integration

Ein weiterer Aspekt des Kampfes, dem hier besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll, wird durch die Verfasstheit der gesellschaftlichen Herrschaft bedingt. Das Augenmerk liegt hier auf der Implikation eines bürgerlich-demokratisch verfassten Rechtsstaates einerseits für die Arbeiterklasse, der Rechte zukommen sollen und andererseits für die Kapitalistenklasse, deren Interessen realisiert werden sollen. Eine solche bürgerlich-demokratische Ordnung produziert auf beiden Seiten für beide Klassen multiple Widersprüche, die sie – die bürgerliche Ordnung bzw. der bürgerliche Staat – in irgendeiner Weise, meist in einer sehr spannungsreichen Weise, unter Kontrolle halten muss.

Für die Arbeiterklasse besteht der Widerspruch hauptsächlich darin, dass sie sich mit jedem weiteren zugestandenen Recht in ihrer eigenen Entwicklung, sowohl hinsichtlich ihres Klassenbewusstseins als auch hinsichtlich der Spielregeln des Kampfes in den unterschiedlichsten Arenen, beschränken muss. Ein hervorragendes Beispiel aus der BRD für diesen Widerspruch bietet das Betriebsverfassungsgesetz. Tatsächlich wirkt sich aber auch in besonderem Maße die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in dieser Weise aus. Ist es erst einmal erlaubt, alles zu sagen, wirkt sich die Normalisierung des radikalen Inhalts, z.B. von radikaler Kapitalismuskritik mehr als Integrationsinstrument auf das Bewusstsein der Massen aus, als dass es den gewünschten Effekt der Steigerung des Klassenbewusstseins hätte. Das ist eine Form, wie sich erkämpfte oder zugestandene Rechte beschränkend auf die Arbeiterklasse auswirken, notwendig auswirken können. Ein demokratisches Klima kann zur Vertiefung der Integration der Arbeiterklasse in die bürgerliche Ordnung führen. Diese Integration ist in hohem Maße im Interesse der bürgerlichen Herrschaft, denn sie dient dazu, Widersprüche zumindest zeitweilig einzuebnen. Das ist die andere Form, in der Rechte als Spielregeln die Denk- und Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse als Klasse beschränken können. Eine affirmative Haltung gegenüber dem Kompromiss, der sich als Ergebnis von Kämpfen z.B. um Versammlungsfreiheit ergibt, entwickelt sich schleichend – bis der Kompromisscharakter kaum noch erkennbar ist. Die im Grundgesetz festgeschriebene Versammlungsfreiheit hat schon einen Kompromisscharakter insofern, dass es dem Staat vorbehalten ist, diese durch Gesetze, z.B. durch Anmeldepflicht, einzuschränken.

Widersprüche als potenzielle Risse

Andererseits der Staat: je stärker er sich als demokratischer und freiheitlicher Staat geriert, umso mehr kristallisiert sich im Bewusstsein seiner Glieder und der unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft der wirkliche Glaube an den Inhalt der Demokratie und der Grundrechte. So gerät der bürgerliche Staat im Verlauf seiner Gesamtgeschichte ständig in Widerspruch zum eigenen Narrativ von Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit. Je länger die Phase einer relativ stabilen bürgerlichen Demokratie dauert, umso blumiger werden die Illusionen und umso fester der Glaube an diese Versprechen.

Das gilt jedoch nicht nur für die Seite der Arbeiterklasse, sondern in hohem Maße für die Seite der bürgerlichen Klasse samt ihrer stets dienlichen Schichten – die zu ihr hinaufschauenden Kleinbürger und die Arbeiteraristokratie. Diese sind die Operatoren der Herrschaftsabsicherung, wenn es um die Realisierung der Interessen der Kapitalistenklasse geht, ob sie nun Ämter bekleiden, wie Richter oder Funktionen ausführen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Institutionen, von Schulen und Universitäten bis zu Gewerkschaften. Auf Dauer geht es aber in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht ohne die Einschränkung eben dieser Grundrechte (dazu sehr empfehlenswert ist der Artikel von Arnold Schölzel in der jungen Welt vom 29.06.24 „Im ‚Kaltstart‘ zum Notstand“). Sogar die imperialistischen Staaten können trotz der Extraprofite, aus denen sie die eigene Arbeiterklasse bestechen, nicht nachhaltig auf Einebnung der Widersprüche orientieren. Die aus Sicht der herrschenden Klasse eigentlich bessere Herrschaftsform der bürgerlichen Demokratie, muss aufgrund externer und interner Widersprüche relativiert oder gar unterminiert werden.

Die Feststellung der Widersprüche, die sich mit einer demokratischen Ordnung für die Kapitalistenklasse ergeben, sollte aber nicht nur zur Skandalisierung und Entlarvung des eigentlich unterdrückerischen und repressiven Charakters der bürgerlichen Herrschaft beitragen. Diese Erkenntnis ist äußerst hilfreich für die verschiedenen Kämpfe der Arbeiterklasse. Sie befähigt uns dazu, die Widersprüche als potentielle Risse in den Reihen der Herrschenden und ihrer Funktionäre zu betrachten und im Sinne der Desintegration der Arbeiterklasse zu nutzen. Um das aber zu tun, müssen diese Widersprüche zur vollen Entfaltung kommen oder in den Kämpfen dazu gebracht werden.

Entlarvung durch gemeinsames Durchfechten

Wenn wir – in den unterschiedlichsten Bereichen – um unsere Grundrechte kämpfen, machen wir nichts anderes als die bürgerliche Klasse entlang ihrer eigenen Versprechen herauszufordern und nutzen dafür im besten Fall alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, sowohl juristische als auch propagandistische. Die wirkliche Fratze des kapitalistischen Staates lässt sich nicht einfach durch Erläuterungen entlarven, sie muss on the ground mit den Betroffenen gemeinsam durchfochten herausgefordert und der daraus resultierende Kampf durchgefochten werden. Dabei ist jeder mögliche Ausgang kurz- oder mittelfristig im Sinne der Arbeiterklasse. Im Falle einer erfolgreichen juristischen Auseinandersetzung werden Grundrechte tatsächlich erkämpft, und zwar gegen den Staat bzw. gegen die Exekutive. Im Falle eines negativen Ausgangs wird der repressive Charakter durch Erfahrung bestätigt und kann somit als bewusste Grundlage für die weitere politische Arbeit dienen, sagen wir auf einer höheren Bewusstseinsstufe. Im ersten Fall müssen wir der potenziellen Verstärkung von Illusionen entgegenwirken, wenn z.B. höchstrichterliche Urteile in unserem Sinne gefällt werden sollten. Dann heißt es, nicht dort stehen zu bleiben und die nächsten Herausforderungen anzugehen. Im zweiten Fall sollten wir entsprechend der Möglichkeiten, die uns repressive Maßnahmen lassen, einen kreativen Umgang mit diesen suchen und das Bewusstsein über den Charakter des Staates entlang der gemeinsam gemachten Erfahrung steigern.

Legalismus und Linksradikalismus

Dieser spannungsreiche und widersprüchliche Prozess verlangt von beiden Klassen anstrengende Vermittlungsarbeit ab. Die herrschende Klasse nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden ideologischen und sonstigen Mittel zur Beschwichtigung der Massen und vor allem ihrer eigenen Reihen zwecks Legitimierung von Demokratieabbau und Staatsumbau. Dazu müssen Diskussionen und Auseinandersetzungen bis zu einem gewissen Grad zugelassen und Positionen, Fragen und Zweifel austariert werden, bis sich die Meinung der Herrschenden als herrschende Meinung durchsetzen kann.

Auf der Seite der Arbeiterklasse aber sind es unzählige Fallen, in die hineingetappt werden kann, wenn es um die Frage der Verteidigung der Grundrechte geht. Entlang der üblichen Grundausrichtungen, die gewöhnlich als Schattierungen von Legalismus einerseits und Linksradikalismus andererseits auftreten, können der tiefe Glaube an die demokratischen Institutionen, wie die Rechtsprechung, sowie eine Totalablehnung des Kampfes um Grundrechte als illusionär beobachtet werden. Genauso wenig aber wie sich der Klassenfeind aufgrund der Schwierigkeiten der Vermittlungsarbeit davon abhalten lässt, in seinem Sinne und mit größten Anstrengungen diese Arbeit zu leisten, sollten wir das auch tun, in vollem Bewusstsein dessen, dass wir uns noch viel mehr anstrengen müssen.

Abhängen der Massen

Linksradikalismus kann auch verstärkt werden, indem die jeweilige Phase des Kampfes nicht richtig erkannt wird. Vor allem unter dem Eindruck konkreter Kämpfe, die zeitweise eine gewisse Dynamik in der Protestbewegung erzeugen und / oder unter dem Eindruck harter Repression kann eine revolutionäre Situation vermutet werden, obwohl die konkrete Auseinandersetzung noch lange keine gesamtgesellschaftliche Relevanz erlangt hat.

Aus solchen falschen Einschätzungen heraus wird häufig der Kampf um die Grundrechte relativiert und als illusionär und / oder nicht mehr nötig angesehen, da es jetzt nur noch auf die direkte Aktion der Massen ankäme. Solche Fehleinschätzungen können einen defätistischen Fatalismus erzeugen, weil sie letztlich den Kampf nicht in Bahnen lenken, die entsprechend der Bedingungen realistische Ziele anpeilt, sondern ins Leere laufen und meistens demobilisierend auf die Massen wirken, indem diese abgehängt werden.

Anstrengende Vermittlungsarbeit ist angesagt

Soweit sehr allgemein zu den Dynamiken, die die Widersprüche im bürgerlich-demokratisch verfassten kapitalistischen Rechtsstaat erzeugen, wenn die Versprechen der Grundrechte und Demokratie an ihre realen Grenzen kommen, so wie wir es seit der Militäroperation Russlands zuerst und in einem viel verstärkten Maße seit dem 7.Oktober 2023 gegenüber der Palästina-Solidaritätsbewegung beobachten können.

Eine kluge Ausnutzung der Widersprüche auf der Seite der herrschenden Klasse unter Berücksichtigung der Bewusstseinslage der Massen und der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen des Kampfes, ist derzeit das meiner Ansicht nach richtige Herangehen im Kampf um unsere Grundrechte.

Wir müssen auch – in der gesamten Bewegung – realisieren, dass offene Diskussionen und gemeinsame und solidarische Anstrengungen im Kontext der Kämpfe gegen Repressionen, von uns als Akteure in der Bewegung organisiert werden müssen. Unter anderem ist genau das mit der anstrengenden Vermittlungsarbeit hinsichtlich der hier aufgeworfenen, bestimmt auch kontroversen, Thesen gemeint. Wir selbst müssen die Orte für die Reflexion dieser Kämpfe und die unterschiedlichen Taktiken und Herangehensweisen schaffen. Dabei spielt die Integration oder mindestens Nutzbarmachung von Akteuren außerhalb der Bewegung, wie z.B. Akademiker, praktizierende Juristen etc., eine wichtige Rolle.

Wir müssen noch etwas realisieren: der Stand des Bewusstseins in der Arbeiterklasse, aber auch in der Bewegung, hinsichtlich des Charakters des imperialistischen Staates und den Erfahrungen im Kampf gegen ihn, sind auf einem sehr niedrigen Niveau und die Auseinandersetzungen um diese Fragen zeichnen sich nicht gerade durch Lebendigkeit aus. Das muss sich ändern und die KO hat die Verantwortung, ihren Beitrag dazu zu leisten.

1 Siehe hierzu meinen Diskussionsbeitrag: https://kommunistische-organisation.de/artikel/den-klassenkampf-nicht-zerlegen-darum-geht-es/

Podcast #50 – 3 Jahre Zeitenwende: Kriegsvorbereitung gegen Russland

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Morgen, am 18. März, soll im Bundestag der Weg frei gemacht werden für unbegrenzte Kriegskredite. Die historische Aufrüstung, die wir erleben hat ein konkretes Ziel. Sie richtet sich gegen Russland.

Gemeinsam mit Franzi (KO) und Ralf Hohmann (DKP) sprechen wir über die aktuelle Phase der Militarisierung und Aufrüstung in Deutschland. Es geht um wesentliche Entwicklungen der letzten drei Jahre „Zeitenwende“, auf militärischem, politisch-rechtlichem und wirtschaftlichem Gebiet. Wir sprechen über das Verhältnis zu den USA, der Rolle der NATO und Probleme und Widersprüche der Herrschenden in der Kriegsvorbereitung.

Mehr Infos findet ihr in der kürzlich erschienenen Broschüre der KO: „Kanonen und Butter – das ist Schlaraffenland!“

Und in den regelmäßigen Veröffentlichungen von Ralf Hohmann in der Wochenzeitung Unsere Zeit.

Now in English: Booklet on `Zeitenwende`and war preparations in Germany

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Three years ago Olaf Scholz declared a turning point, the Zeitenwende. The plans for this had been in the drawer for some time. The goal is to make Germany capable of waging war on a large scale. This war is a war against Russia. This booklet traces the most important developments of the past three years. In addition to the military, economic, political, and ideological buildup, it ultimately focuses on what is our collective task: stopping the war against Russia.

The contents of the booklet:

  1. A ‘Zeitenwende’ that was long in preparation
    Background: Germany‘s third attempt at war against Russia
  2. From helmets to Taurus to nuclear armament
    War maneuvers: Germany as the European NATO pillar against Russia | The Lithuanian Brigade—“A Lighthouse Project at the Zeitenwende” | “A European presence in the Indo-Pacific” | Operations Plan Germany—a plan for war against Russia | Military service, compulsory military service, home guard regiment | The more the weapons, the longer the war | Europe-made re-armament | Missiles aimed at Moscow: US medium-range weapons in Wiesbaden, Germany | Background: the rearmament of the FRG
  3. War loans, forced labor and armaments magnates
    The war economy is being built | War credits | Economic crisis – for whom actually? | Social cuts, increase in working hours, forced labor
  4. Enforcer of the ‘Zeitenwende’ wanted
    Trump elected and the Ampel coalition is out | German parliamentary election 2025 | Background: The sphere of influence of German imperialism
  5. The home front is being built up
    Opponents of war and genocide on trial | Media as war drummer | Russophobia has a long tradition | The FRG on the racist offensive | The “German responsibility” | Background: The rehabilitation of fascism
  6. Three years of ‘Zeitenwende’– three years of too little resistance
    Opinion polls on the Zeitenwende | German Trade Unions leadership in the service of the Zeitenwende | Protests and Problems | Stopping the ‘Zeitenwende’ means stopping the war against Russia!

Die Gefahr eines „abgekarteten Abkommens“

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Wir spiegeln hier einen Beitrag von Sergej Obuchow (Kommunistische Partei der Russischen Föderation, KPRF) über die Verhandlungsmanöver der USA. Er sieht die Gefahr eines „Minsk-3“ oder „Chassawjurt-2“ und geht auf die jüngste Warnung von Sjuganow, dem Vorsitzenden der KPRF, ein (https://kprf.ru/party-live/opinion/232674.html)

Sergej Obuchow ist Doktor der Politikwissenschaften und kommentierte in den sozialen Netzwerken das für die russische Führung unerwartete Ergebnis der Verhandlungen zwischen den USA und dem Kiewer Regime in Saudi-Arabien, bei denen die Vertreter von Selenskij einem Waffenstillstand an der Kontaktlinie zustimmten. Sergej Obuchow ist Mitglied des Präsidiums des Zentralkomitees der KPRF und Abgeordneter der Staatsduma.

S.P.Obuchow:

Als die Parteiführung der KPRF ihre Verwunderung über das für den 10. März 2025 dringend anberaumte gesamtrussische Parteitreffen im Videokonferenzformat zum Ausdruck brachte, nahmen viele nur an, dass es notwendig sei, das „Volksreferendum“ voranzubringen.

Doch als die Eröffnungsrede des KPRF-Vorsitzenden mit seinen 12 Thesen zum dritten Jahrestag der militärischen Spezialoperation gehalten wurde, wurde klar, dass sich Sjuganow nicht nur an die Partei, sondern auch an die russische Gesellschaft wandte.

Und hier war die Aussage des KPRF-Vorsitzenden über die Gefahr von „abgekarteten Spielen“ im vierten Jahr der militärischen Spezialoperation entscheidend:

– Jetzt bricht der entscheidende Moment in der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen an. Jeder Fehler oder jedes „abgekartete Abkommen“, das von der Oligarchie und der fünften Kolonne aufgezwungen wird, ist für das Land katastrophal. Die westlichen Partner, darunter Deutschland und Frankreich, haben Russland getäuscht und die Minsker Vereinbarungen nur dazu benutzt, eine neue Aggression vorzubereiten. Die Verlogenheit und der Zynismus der so genannten Partner sind offensichtlich geworden.

Erstaunlicherweise taten alle möglichen Experten, die sich aktiv mit der parteiinternen Situation in der KPRF befassten, so, als ob diese ernste Warnung von Sjuganow nicht ausgesprochen worden wäre. Vergeblich.

Wäre die Warnung von Sjuganow an die Öffentlichkeit gelangt, wäre die öffentliche Meinung mobilisiert worden. Und so verbreitete die Expertokratie nach den unerwarteten Nachrichten über die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Kiewer Regime in Saudi-Arabien folgende deprimierende Einschätzungen: „Der Kreml war wahrscheinlich wieder einmal nicht auf die Situation und die Kehrtwende von Selenskij vorbereitet. Deshalb gab es eine Diskrepanz in den Aussagen der Sprecher.   Putin wird bis Witkoffs Besuch in Moskau am Donnerstag „untertauchen“. Vielmehr werden sie einen Austausch von Kursk gegen einen Waffenstillstand vorschlagen. Andernfalls wird es zu einer Eskalation kommen „*.

Der Westen triumphiert also und glaubt, Russland mit dem Waffenstillstandsvorschlag, dem Selenskij zugestimmt hat, besiegt zu haben.

US-Außenminister Rubio:

„In der Frage des Friedens in der Ukraine liegt der Ball jetzt auf der Seite Russlands. Die Ukraine hat einen positiven Schritt getan (sie hat einer vollständigen Waffenruhe zugestimmt, nicht nur einer Waffenruhe zur See und in der Luft, wie Kiew vorgeschlagen hatte), und wir hoffen, dass die Russen dies erwidern werden.“

Der nächste Zug in diesem Schachspiel ist klar. Wenn Russland den Waffenstillstand ablehnt, wird die ganze Schuld für das Scheitern des Waffenstillstands auf Russland abgewälzt, und die USA werden nicht die Ukraine, sondern Russland unter Druck setzen. Erst recht, da bereits neue drakonische Sanktionen gegen den russischen Öl- und Gassektor angekündigt wurden (der Rückgang der Öleinnahmen im Haushalt 2024 ist übrigens ziemlich schmerzhaft).

Ich stimme Oleg Zarew, dem ehemaligen Sprecher des Parlaments von Noworossija, zu: „In dieser Situation ist es für Russland unmöglich, Trump frontal abzulehnen. Wir sollten sagen, dass wir einverstanden sind, aber hebt die Sanktionen auf, gebt die Gold- und Devisenreserven zurück, zieht die Verbrecher in der Ukraine zur Verantwortung…“.

Generell stellen Militärblogger und patriotische Publizisten jetzt die Schlüsselfrage: „Wird Russland einem neuen Chassawjurt zustimmen oder wird es seine Offensive fortsetzen?“

Oder erklären entmutigt wie der Militärblogger Sladkow: „Ich wäre sehr, sehr unangenehm überrascht, wenn ein Waffenstillstand ohne unseren Sieg zustande käme.“

Die größten Optimisten versuchen sich aufzumuntern, indem sie an die von Putin kürzlich aufgestellten Bedingungen für einen Waffenstillstand erinnern:

„Diese Bedingungen sind ganz einfach: Die ukrainischen Truppen müssen vollständig aus den Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie aus den Regionen Cherson und Saporoschje abgezogen werden. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es sich um das gesamte Gebiet dieser Regionen innerhalb ihrer Verwaltungsgrenzen handelt, die zum Zeitpunkt ihres Beitritts zur Ukraine bestanden. Sobald Kiew erklärt, dass es zu einer solchen Entscheidung bereit ist, und mit dem tatsächlichen Abzug der Truppen aus diesen Regionen beginnt sowie offiziell mitteilt, dass es seine Pläne, der NATO beizutreten, aufgegeben hat, wird von unserer Seite aus sofort, buchstäblich in derselben Minute, der Befehl zur Feuereinstellung und zur Aufnahme von Verhandlungen folgen. Ich wiederhole: Wir werden dies sofort tun. Natürlich werden wir gleichzeitig den ungehinderten und sicheren Rückzug der ukrainischen Einheiten und Verbände garantieren.“

Nun, solange in der offiziellen Reaktion der Exekutive eine Pause herrscht, wird sie durch Überlegungen von Abgeordneten gefüllt.

„Russland wird sich nicht auf einen 30-tägigen Waffenstillstand einlassen, da dies der Ukraine nur die Möglichkeit gibt, sich neu zu formieren und aufzurüsten“, so der Duma-Abgeordnete der KPRF, General Viktor Sobolojew.

„Alle Vereinbarungen über die Ukraine werden zu Moskaus Bedingungen getroffen, nicht zu denen Washingtons, echte Vereinbarungen werden an der Front getroffen“, so der stellvertretende Sprecher des Rates der Russischen Föderation Konstantin Kossatschow.

Es scheint jedem klar zu sein, dass die Weigerung Russlands, einen Waffenstillstand zu schließen, ein ideales Szenario für Selenskij und seine westlichen Gönner ist. Im Allgemeinen setzt die globalistische Kriegspartei im Westen große Hoffnungen in dieses Szenario.

Und wenn Russland sich auf „Minsk-3“ oder „Chassawjurt-2“ einlässt, dann wird die Ukraine mit Waffen vollgepumpt, und die Ukraine stellt die Geduld Russlands mit ständigen Provokationen an der Grenze auf die Probe unter dem Vorwand, die Ukraine wolle Frieden und Russland breche den Waffenstillstand.

Natürlich können wir nur erahnen, was die militärisch-politische Führung Russlands tun wird. Und nur, um Ratschläge zu erteilen wie – Waffenstillstand nur auf dem Territorium der Ukraine – in den Kämpfen in den Regionen Sumy und Charkow, und auf dem Territorium Russlands – in den Regionen Kursk, Saporoschje, Cherson und DVR sowie LVR wird die Offensive und Verdrängung des Feindes fortgesetzt.

Aber Sie wissen, auf wem die ganze Schwere und die strategischen Folgen der Entscheidung und mögliche Fehler sind jetzt lasten.

Am 10. März 2025 warnten die KPRF und ihr Anführer sowohl Putin als auch die russische Elite öffentlich vor dem aktuellen Moment der Wahrheit.

*Zit. nach: https://t.me/canal2018/14952 und https://t.me/russicaRU/61848 (der Sender ist als ausländischer Agent anerkannt)

Frantz Fanon über die europäische Linke und ihr Verhältnis zur antikolonialen Revolution (1957)

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Der folgende Text des aus Martinique stammenden und später am algerischen Befreiungskrieg teilnehmenden Marxisten und antikolonialen Theoretikers Frantz Fanon stammt aus dem Jahr 1957. Er erschien als dreiteilige Artikelreihe inmitten der Hochphase des Befreiungskriegs in der Zeitung El Moudjahid, dem Organ der Nationalen Befreiungsfront (FLN) Algeriens.

Der Text ist nicht nur ein spannendes historisches Dokument und ein wichtiger theoretischer Beitrag in der weltweiten kommunistischen und antiimperialistischen Debatte um Kolonialismus, nationale Befreiung und internationale Solidarität. Er ist auch deshalb hochaktuell, weil er sehr spannende Parallelelen zur heutigen Auseinandersetzung um Palästina aufweist: Wir empfehlen allen Lesern, in diesem Text einmal das Wort „Algerien“ durch „Palästina“ und das Wort „französisch“ in Bezug auf die Siedler durch „europäisch“ oder „zionistisch“ und in Bezug auf die politische Linke durch „deutsch“ zu ersetzen.

Algerien war seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1964 eine Siedlerkolonie, ähnlich dem zionistisch besetzten Palästina heute. Die Algerier leisteten dem französischen Kolonialismus erbittert Widerstand, genau wie die Palästinenser es gegen die Briten und die Zionisten spätestens ab 1920 taten. 1954 erhob sich das algerische Volk zu einem Befreiungskrieg, den es nach acht Jahren erbitterten Kampfes und großer Opfer schließlich gewann. Wie Israel heute griff das französische Siedler- und Kolonialregime damals zu äußerster Gewalt, zu flächendeckendem Terror und letztlich zu genozidaler Kriegsführung: Unter Einsatz der Luftwaffe, durch Aushungern und Masseninternierungen der algerischen Bevölkerung in Lager, mit Folter und Mord, unter Verletzung internationalen Rechts inklusive militärischer Angriffe auf Algeriens Nachbarländer sowie mittels faschistischer Terrororganisationen versuchten sie, den heldenhaften Freiheitskampf der Algerier in Blut zu ertränken. Letztlich erfolglos.

Im Fokus dieses Textes steht zwar nicht die Kolonialherrschaft über Algerien. Doch spricht Fanon hier einige elementare Wahrheiten über den Charakter des Siedlerkolonialismus und über die objektive Rolle der europäischen Siedler in den Kolonien aus, die so klar nur selten formuliert werden.

Auch seine damalige Kritik an der (nicht-kommunistischen) Linken in Frankreich passt sehr gut in die heutige Zeit, denn sie trifft in weiten Teilen auch auf die politische Linke in Deutschland heute zu: Fanon wirft den sich als progressiv verstehenden Kräften in der imperialistischen Metropole vor, ihre – in der Praxis extrem schwache und in ihren Auswirkungen kaum zu spürende – Solidarität auch noch an Bedingungen zu knüpfen, die für das algerische Volk nicht annehmbar sind: nämlich in diesem verzweifelten Kampf unter allen Umständen eine „weiße Weste“ zu waren.

Fanons Kritik am liberalen Antirassismus, der den Rassismus wie auch den (vermeintlichen) Kampf gegen ihn auf eine individuelle Ebene verschiebt, passt sehr gut in die heutige Zeit, in der es mehr um Befindlichkeiten, Identität, Privilegien und Selbstreflexion zu gehen scheint, als um Unterdrückung, Ausbeutung und Widerstand geht. Auch seine Definition von Kolonialismus ist – gerade angesichts seines beruflichen Hintergrunds und seiner Rezeption als Theoretiker der „Psychologie des Rassismus“ – erstaunlich simpel und sehr klar auf die Machtfrage ausgerichtet: Kolonialismus ist im Kern militärische Besatzung.

Fanons Kritik an der kommunistischen Bewegung wiederum, die von den Algeriern quasi ein Versprechen einforderte, dass ihr Land sich nach der nationalen Befreiung am sozialistischen Lager zu orientieren habe, erinnert – trotz der unterschiedlichen weltpolitischen Umstände – an die Vorbehalte von noch immer großen Teilen der sich als kommunistisch verstehenden Akteure in Deutschland, die dem palästinensischen Widerstand bzw. seinen stärksten Kräften „Islamismus“, „Nationalismus“ oder gar „Faschismus“ sowie seine Verbindungen zu (vermeintlich oder tatsächlich) reaktionären und pro-imperialistischen Regierungen in der Region vorwerfen.

Wir haben den Text unter Berücksichtigung des französischen Originals aus dem Englischen übersetzt.[1] Alle Fußnoten enthalten Erläuterungen der KO und gehören nicht zum Originaltext.

Die französischen Intellektuellen und Demokraten und die algerische Revolution

Eine der ersten Pflichten von Intellektuellen und demokratischen Elementen in kolonialistischen Ländern besteht darin, die nationalen Bestrebungen der kolonisierten Völker vorbehaltlos zu unterstützen. Diese Haltung beruht auf sehr wichtigen theoretischen Überlegungen: der Verteidigung eines Menschenbildes, das in den westlichen Ländern in Frage gestellt wird, der Weigerung, sich institutionell an der Erniedrigung und Negierung bestimmter Werte zu beteiligen, der gemeinsamen Interessen zwischen der Arbeiterklasse des Eroberungslandes und der Gesamtbevölkerung des eroberten und beherrschten Landes und schließlich dem Gefühl, dass die Regierung dazu gebracht werden muss, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu respektieren.

Diese Unterstützung und Solidarität finden ihren Ausdruck vor der Zeit des bewaffneten Kampfes in der Abhaltung einiger Versammlungen und der Annahme von Anträgen. Manchmal, wenn es plötzlich zu einer sehr heftigen Repression kommt, die offensichtlich ein Vorbote einer gründlicheren, umfassenderen Repression ist (im Fall von Algerien die Wahl von M. Naegelen und die Verschwörung von 1950-1951),[2] werden eine Pressekampagne, Erklärungen, Warnungen und Appelle vorbereitet.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass kein einziger Aufklärungsversuch auf der Ebene der Bevölkerung des kolonialisierten Landes unternommen wird. Da sie keinen Einfluss auf das Volk hat, überzeugt sich die demokratische Linke, selbstreferentiell, in endlosen Artikeln und Studien davon, dass Bandung[3] die Totenglocke des Kolonialismus geläutet hat.

Aber es sind die wirklichen Menschen, die Bauern und Arbeiter, die informiert werden müssen. Unfähig, die Millionen Arbeiter und Bauern des kolonialistischen Volkes zu erreichen und die Realitäten des beginnenden Dramas zu erklären und zu kommentieren, sieht sich die Linke auf die Rolle einer Kassandra[4] reduziert. Sie kündigt Katastrophen an, aber da die öffentliche Meinung nicht ausreichend vorbereitet ist, werden diese Prophezeiungen, die in der Zeit vor dem Aufstand unerklärlich waren, zum Zeitpunkt der Explosion als Beweis der Mittäterschaft angesehen.

Eine schmerzhafte Ineffektivität

So wurde im besonderen Fall Algeriens die Linke paradoxerweise überrumpelt und erwies sich als hilflos, als nach der akuten voraufständischen Phase (1952–1953) die bewaffnete Phase (Sabotageakte, Razzien) begann.

Die französischen demokratischen Elemente und Intellektuellen sind mit dem Problem vertraut. Sie haben es aus nächster Nähe gesehen und lange studiert und kennen daher seine Komplexität, seine Tiefe und seine Spannung. Aber all dieses Wissen erweist sich als nutzlos, weil es in keinem Verhältnis zu den einfachen Ideen steht, die im Volk vorherrschen.

Mit diesem unbrauchbaren Wissen im Gepäck genießt die Linke den Status eines Propheten. Seit langem wiederholt sie an die Regierenden gerichtet immer wieder: „Ihr wart vorgewarnt. All das geschieht nur durch eure Schuld.“

In dieser sprudelnden Phase der Ausrichtung der Kräfte und Organisation des bewaffneten Kampfes des kolonisierten Volkes erleben wir teilweise eine Kommunikation zwischen dem aufständischen Volk und den demokratischen Elementen. Dies liegt daran, dass die Intellektuellen und die Demokraten die gegenwärtigen Führer des bewaffneten Kampfes sehr oft persönlich kennen. So entwickelt sich zwischen ihnen eine Art scheinbarer Komplizenschaft. Aber diese aktive Pseudosolidarität wird sehr schnell von den Ereignissen hinweggefegt. Im Laufe der zweiten Periode, die von Gefechten, Hinterhalten und Angriffen geprägt ist, neigt die Schuld, die man so großzügig auf die offiziellen Verantwortlichen geschoben hat, tatsächlich dazu, verlagert zu werden. Die Unterdrückung wird tiefer, organisierter, vielfältiger. Folterkammern entstehen. Über das gesamte algerische Staatsgebiet werden Dutzende und Hunderte Patrioten ermordet.

Das echte Volk, die Männer und Frauen, die Kinder und die Alten des kolonisierten Landes, halten es für selbstverständlich, dass Existenz im biologischen Sinne des Wortes und Existenz als souveränes Volk gleichbedeutend sind. Die einzige Möglichkeit, die einzige Rettung für dieses Volk besteht darin, so energisch wie möglich auf die genozidale Kampagne zu reagieren, die gegen es geführt wird.

Die Reaktion wird zunehmend absoluter.

Nationalismus und „Barbarei“

Hier stoßen wir auf ein doppeltes Phänomen. Zunächst führt eine ultrachauvinistische, nationalistische, patriotische Propaganda, die die impliziten rassistischen Elemente des kollektiven Bewusstseins der kolonialistischen Bevölkerung mobilisiert, ein neues Element ein. Es wird sofort klar, dass es nicht mehr möglich ist, die Kolonisierten zu unterstützen, ohne sich gleichzeitig der nationalen Linie zu widersetzen. Der Kampf gegen den Kolonialismus wird zu einem Kampf gegen die Nation. Der Rückeroberungskrieg wird vom kolonialistischen Land als Ganzem übernommen, und antikolonialistische Argumente verlieren ihre Wirksamkeit, werden zu abstrakten Theorien und verschwinden schließlich aus der demokratischen Literatur.

Im Falle Algeriens übernahm die französische Nation nach der Einberufung der Truppen im März 1955 den kolonialen Rückeroberungskrieg. Die Demonstrationen der Wehrpflichtigen waren zu diesem Zeitpunkt die letzten Symptome eines Krieges, dessen doktrinäre Motive keine Unterstützung in der Bevölkerung fanden.

Ab 1956 wurde der Algerienkrieg von der Nation akzeptiert. Frankreich will den Krieg, wie Guy Mollet[5] und Bourgès-Maunoury[6] ausdrücklich erklärt haben; und die Bevölkerung von Paris übermittelte Massus[7] Fallschirmspringern am 14. Juli 1957 die tiefe Dankbarkeit des Landes. Die Liberalen gaben den Kampf in diesem Stadium auf. Der Vorwurf des Verrats, dem sich die Gegner des Algerienkriegs aussetzten, wurde zu einer gewaltigen Waffe in den Händen der französischen Regierung. So stellten viele Demokraten Anfang 1957 ihre Proteste ein oder wurden von dem Geschrei nach Rache überwältigt, und ein schwerfällig strukturierter elementarer Patriotismus manifestierte sich, durchdrungen von gewalttätigem, totalitärem, kurz gesagt faschistischem Rassismus.

Die französische Regierung fand ihr zweites Argument im sogenannten Terrorismus. Die Bomben in Algier wurden vom Propagandadienst ausgenutzt. Unschuldige, verletzte Kinder, die nicht den Namen Borgeaud[8] trugen oder der klassischen Definition des „grausamen Kolonialisten“ entsprachen, bereiteten den französischen Demokraten unerwartete Probleme. Die Linke war schockiert; Sakamody[9] verstärkte diese Reaktion noch. In diesem Fall wurden zehn französische Zivilisten bei einem Hinterhalt getötet, und die gesamte französische Linke schrie einstimmig: Wir können euch nicht länger folgen! Die Propaganda wurde orchestriert, bohrte sich in die Köpfe der Menschen und zerstörte Überzeugungen, die bereits im Zerfall begriffen waren. Der Begriff der Barbarei tauchte auf, und man beschloss, dass Frankreich in Algerien die Barbarei bekämpfte.

Ein großer Teil der Intellektuellen, fast die gesamte demokratische Linke, brach zusammen und legte dem algerischen Volk seine Bedingungen vor: Verurteilen Sie Sakamody und die Bomben, und wir werden Ihnen weiterhin unsere freundliche Unterstützung gewähren.

Zu Beginn des vierten Jahres des nationalen Befreiungskrieges fiel die französische Linke angesichts der französischen Nation und der in der Rue Michelet[10] explodierten Bomben immer deutlicher durch ihre Abwesenheit auf.

Einige flüchteten sich ins Schweigen, andere wählten bestimmte Themen, die in regelmäßigen Abständen wieder auftauchen. Der Algerienkrieg muss beendet werden, denn er ist zu kostspielig (der Algerienkrieg wird wieder unpopulär, einfach weil er 1.200 Milliarden Francs kostet), er isoliert Frankreich oder ermöglicht dessen Ersetzung durch die Angelsachsen oder die Russen oder durch Nasser usw.

In Frankreich wird immer unklarer, warum der Algerienkrieg beendet werden muss. Man vergisst immer mehr, dass Frankreich in Algerien die Volkssouveränität mit Füßen tritt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker missachtet und Tausende von Männern und Frauen ermordet.

In Frankreich tendiert der Algerienkrieg bei den Linken dazu, zu einer Krankheit des französischen Systems zu werden, so wie die Instabilität der Ministerien. Die Kolonialkriege erscheinen als ein Nervenzucken, von dem Frankreich heimgesucht wird, ein Teil des nationalen Panoramas, ein vertrautes Detail.

Teil II

Seit 1956 haben sich französische Intellektuelle und Demokraten regelmäßig an die FLN[11] gewandt. Meistens haben sie entweder politische Ratschläge oder Kritik zu diesem oder jenem Aspekt des Befreiungskrieges gegeben. Diese Haltung der französischen Intelligenz darf nicht als Folge einer inneren Solidarität mit dem algerischen Volk interpretiert werden. Diese Ratschläge und diese Kritik sind mit dem schlecht unterdrückten Wunsch zu erklären, die Befreiungsbewegung der Unterdrückten selbst zu lenken.

So erklärt sich das ständige Schwanken der französischen Demokraten zwischen offenkundiger oder latenter Feindseligkeit und dem völlig unrealistischen Anspruch, „aktiv bis zum Ende“ zu kämpfen. Eine solche Verwirrung deutet auf einen Mangel an Vorbereitung auf konkrete Probleme und auf ein Versagen der französischen Demokraten hin, sich in das politische Leben ihres eigenen Landes einzuarbeiten.

Entlang dieser schwankenden Linie äußern die französischen Demokraten – die außerhalb des Kampfes stehen oder aber ihn von innen beobachten wollen, ja sogar in der Funktion von Zensoren und Beratern daran teilnehmen, da sie nicht in der Lage sind oder sich weigern, innerhalb des französischen Systems konkrete Grundlagen für ihren Kampf auszuwählen – Drohungen und praktizieren Erpressungen.

Die Pseudorechtfertigung für diese Haltung ist, dass man, um Einfluss auf die französische öffentliche Meinung zu nehmen, bestimmte Tatsachen verurteilen, unerwartete Auswüchse zurückweisen und sich von „Exzessen“ distanzieren müsse. In diesen Momenten der Krise, der direkten Opposition, wird von der FLN verlangt, ihre Gewalt gezielt einzusetzen und selektiv zu gestalten.

Der Mythos des französischen Algerien

Auf dieser Ebene können wir durch Reflexion eine wichtige Besonderheit der kolonialen Realität in Algerien entdecken. Innerhalb einer Nation ist es üblich und alltäglich, zwei antagonistische Kräfte zu identifizieren: die Arbeiterklasse und den bürgerlichen Kapitalismus. In einem Kolonialland erweist sich diese Unterscheidung als völlig unzureichend. Was die koloniale Situation definiert, ist vielmehr der undifferenzierte Charakter der Fremdherrschaft. Die koloniale Situation ist in erster Linie eine militärische Eroberung, die von einer Zivil- und Polizeiverwaltung fortgesetzt und verstärkt wird. In Algerien, wie in jeder Kolonie, betrachtet der ausländische Unterdrücker den Einheimischen als Markierung der Grenze seiner Würde und definiert sich selbst als eine unumstößliche Negierung der nationalen Existenz des kolonisierten Landes.

Der Status des Ausländers, des Eroberers, des Franzosen in Algerien ist der Status eines Unterdrückers. Der Franzose in Algerien kann nicht neutral oder unschuldig sein. Jeder Franzose in Algerien unterdrückt, verachtet, dominiert. Die französische Linke, die ihren eigenen Fantasievorstellungen gegenüber nicht gleichgültig und unempfindlich bleiben kann, nahm in der Zeit vor dem Befreiungskrieg in Algerien widersprüchliche Positionen ein.

Was ist Kolonialismus?

Die französischen Demokraten haben die Tatsachen bewusst vereinfacht, indem sie beschlossen, dem, was nie aufgehört hat, militärische Eroberung und Besatzung zu sein, den Namen „Kolonialismus“ zu geben. Der vom Unterdrücker geschaffene Begriff des Kolonialismus ist zu affektiv, zu emotional. Er verlagert ein nationales Problem auf eine psychologische Ebene. Aus diesem Grund ist das Gegenteil des Kolonialismus nach Auffassung dieser Demokraten nicht die Anerkennung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, sondern die Notwendigkeit eines weniger rassistischen, offeneren und liberaleren Verhaltens auf individueller Ebene.

Kolonialismus ist keine Form individueller Beziehungen, sondern die Eroberung eines nationalen Territoriums und die Unterdrückung eines Volkes: das ist alles. Es ist keine bestimmte Art menschlichen Verhaltens oder ein Muster von Beziehungen zwischen Individuen. Jeder Franzose in Algerien ist gegenwärtig ein feindlicher Soldat. Solange Algerien nicht unabhängig ist, muss diese logische Konsequenz akzeptiert werden. Herr Lacoste[12] zeigt, dass er dies verstanden hat, durch seine „Oberflächenmobilisierung“ der in Algerien lebenden Franzosen und Französinnen.

Am Ende dieser Analyse stellen wir fest, dass wir der Nationalen Befreiungsfront keineswegs einige ihrer Aktionen in den Städten[13] vorwerfen sollten. Vielmehr sollten wir die Anstrengungen würdigen, die sie dem Volk auferlegt.

Gerade weil die französischen Demokraten nicht begriffen haben, dass Kolonialismus nichts weiter als militärische Beherrschung ist, haben sie ein widersprüchliches Extrem erreicht.

Als Opfer des Mythos des französischen Algeriens[14] gründen die Parteien der Linken auf algerischem Territorium algerische Sektionen der französischen politischen Parteien. Die Slogans, die Programme, die Kampfmethoden sind identisch mit denen der „Metropole“. Eine bis vor kurzem unangefochtene doktrinäre Position rechtfertigt diese Haltung. In einem Kolonialland, so hieß es früher, gibt es gemeinsame Interessen zwischen dem kolonisierten Volk und der Arbeiterklasse des kolonialisierten Landes. Die Geschichte der Befreiungskriege der kolonisierten Völker ist die Geschichte der Nichtbestätigung dieser These.

Kolonialismus ist nicht Herr Borgeaud

Das algerische Volk hat sich als widerstandsfähig gegenüber der vereinfachten Bildsprache erwiesen, wonach der Kolonialist ein besonderer Menschentyp ist, den man leicht erkennen kann. So wurde behauptet, dass nicht alle Franzosen in Algerien Kolonialisten sind und dass es unterschiedliche Grade des Kolonialismus gibt. Nun charakterisieren weder Herr Borgeaud noch Herr de Sérigny[15] den französischen Kolonialismus in Algerien in seiner Gesamtheit. Der französische Kolonialismus und die französische Unterdrückung in Algerien bilden ein zusammenhängendes Ganzes, das nicht unbedingt die Existenz von Herrn Borgeaud erfordert. Die französische Herrschaft ist die Gesamtheit der Kräfte, die sich der Existenz der algerischen Nation entgegenstellen, und für die Algerier ist Herr Blachette[16] konkret nicht „kolonialistischer“ als ein Polizist, ein Dorfpolizist oder ein Schullehrer.

Der Algerier erlebt den französischen Kolonialismus als ein undifferenziertes Ganzes, nicht aus Einfältigkeit oder Fremdenfeindlichkeit, sondern weil in Wirklichkeit jeder Franzose in Algerien Beziehungen zu den Algeriern unterhält, die auf Gewalt basieren. Die Erwähnung von Sonderfällen, in denen Franzosen ungewöhnlich nett zu Algeriern sind, ändert nichts an der Art der Beziehungen zwischen einer ausländischen Gruppe, die die Attribute der nationalen Souveränität an sich gerissen hat, und dem Volk, das sich der Ausübung der Macht beraubt sieht. Keine persönliche Beziehung kann diesem grundlegenden Fakt widersprechen: dass die französische Nation durch ihre Bürger die Existenz der algerischen Nation bekämpft.

In Kolonien, die ausschließlich von Besatzungstruppen gehalten werden, wird das Kolonialvolk nur durch Soldaten, Polizisten und Techniker vertreten. Unter diesen Bedingungen kann sich das Kolonialvolk in Unkenntnis der Tatsachen flüchten und behaupten, unschuldig an der Kolonisierung zu sein. In Siedlungskolonien hingegen wird diese Flucht vor sich selbst unmöglich.

Denn gemäß der berühmten Formel eines französischen Staatschefs, dass „es keinen einzigen Franzosen gibt, der nicht einen Cousin in Algerien hat“, sieht sich die gesamte französische Nation in das Verbrechen gegen ein Volk verwickelt und ist heute Komplize der Morde und Folterungen, die den Algerienkrieg kennzeichnen.

Der authentische französische Demokrat kann nicht einfach gegen Herrn Borgeaud oder Herrn Blachette sein; er muss es vermeiden, willkürlich ein paar Sündenböcke zu wählen, die nicht in der Lage sind, die 130 Jahre kolonialer Unterdrückung auszudrücken. Der französische Demokrat muss die Kolonisierung als Ganzes in ihrer Kategorie der militärischen und polizeilichen Unterdrückung beurteilen und verurteilen. Er muss sich davon überzeugen, dass jeder Franzose in Algerien so reagiert, wie Herr Borgeaud. Denn es gibt keinen Franzosen in Algerien, dessen Existenz nicht durch diese Herrschaft gerechtfertigt wäre.

Da der französische Demokrat aus Mangel an Mut oder aus Analyseunfähigkeit diese Haltung nicht einnehmen kann, greift er ständig auf Abstraktionen als Bezugspunkte zurück: Der Kolonialismus im Allgemeinen stirbt aus, der Kolonialismus ist unmenschlich, Frankreich muss seiner Geschichte treu bleiben. Dabei vergisst er bewusst, dass der Kolonialismus einen wichtigen Teil der französischen Geschichte ausmacht.

Kolonialismus ist die Organisierung der Beherrschung einer Nation nach militärischer Eroberung. Der Befreiungskrieg ist kein Versuch von Reformen, sondern die grandiose Anstrengung eines Volkes, das mumifiziert wurde, sein eigenes Genie wiederzuentdecken, seine Geschichte neu aufzunehmen und seine Souveränität geltend zu machen.

Im Rahmen der NATO weigern sich die Franzosen, unter dem Befehl des deutschen Generals Speidel[17] zu dienen, sind aber bereit, gegen das algerische Volk zu kämpfen. Doch streng genommen sollte die Treue zum Geist der französischen Résistance die Franzosen, die den Dienst unter Speidel als geschmacklos empfinden, dazu bewegen, nach ihrer eigenen Logik den Kampf unter Massu oder Salan[18] zu verweigern.

Teil III

Die Männer, die Frankreich regieren, haben offensichtlich recht, wenn sie behaupten, dass das Algerienproblem die Grundfesten der Republik erschüttert. Seit einigen Jahren wird der Mythos des französischen Algeriens auf eine harte Probe gestellt, und in das französische Bewusstsein hat sich eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Wahrheit dieser These eingeschlichen.

Auf internationaler Ebene sind die Auswirkungen dieser Zerstörung spürbar. Diese Fortschritte haben jedoch das Problem der Mystifizierung, die durch Jahrzehnte falscher Lehren und systematischer Geschichtsfälschung entstanden ist, nicht völlig gelöst.

Der Preis der Mystifizierung

Bei genauerer Betrachtung der kolonialen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich fällt auf, dass das algerische Territorium aufgrund der Bedingungen seiner Eroberung für Frankreich immer eine mehr oder weniger reale Vergrößerung darstellte. Zu keiner Zeit hat Frankreich seine Eigentumsrechte an Afrika südlich der Sahara oder an irgendeinem anderen Teil des „Französischen Imperiums“ in identischer Form erklärt. Afrika südlich der Sahara mag als französisches Territorium deklariert worden sein, aber nie wurde entschieden, dass Afrika südlich der Sahara Frankreich sei.

Frankreichs Recht in Afrika basierte eher auf einem Eigentumsrecht, während in Algerien von Anfang an Identitätsbeziehungen bekräftigt wurden. Wir haben gesehen, dass die französischen Demokraten, mit wenigen Ausnahmen, ihre Haltung dieser Ansicht angepasst haben. Französische politische Parteien haben die Notwendigkeit, die sie gefühlt haben, dieser Mystifizierung Gehorsam leisten, nicht verborgen. In einer Rede vor den kommunistischen Studenten am 17. März 1957 in Paris rechtfertigte sich Laurent Casanova[19] als Antwort auf die Kritik der kommunistischen Jugend an ihm hinsichtlich der Haltung der französischen Kommunistischen Partei in Bezug auf das Algerienproblem damit, dass er sie aufforderte, „die spontane Haltung der französischen Volksmassen zu dieser Frage“ zu berücksichtigen.

Da das französische Nationalbewusstsein 130 Jahre lang von einem einfachen Grundprinzip geprägt war – Algerien ist Frankreich –, sehen wir uns heute mit instinktiven, leidenschaftlichen und antihistorischen Reaktionen konfrontiert, zu einem Zeitpunkt, zu dem ein großer Teil der französischen Bevölkerung rational erkennt, dass ihrem Interesse am besten durch die Beendigung des Krieges und die Anerkennung eines unabhängigen algerischen Staates gedient wird.

Nie zuvor war der Grundsatz, dass niemand einen anderen ungestraft versklavt, so wahr. Nachdem Frankreich das algerische Volk über ein Jahrhundert lang domestiziert hat, ist es nun Gefangener seiner Eroberung und unfähig, sich davon zu lösen, neue Beziehungen zu definieren und neue Wege einzuschlagen.

Ein abscheulicher Kuhhandel

Es wäre jedoch ein großer Fehler zu glauben, das Problem sei mit diesen psychologischen Überlegungen erledigt. Die Begegnungen mit den Vertretern der französischen Linken bringen viel komplexere Bedenken zum Vorschein. So stehen wir gerade in der Frage der Zukunft des unabhängigen Algeriens vor zwei widersprüchlichen Forderungen, die übrigens auf einer höheren Ebene der manichäischen Vorstellung von Gut und Böse entsprechen, die seit einigen Jahren die Welt spaltet.

Die nicht-kommunistische Linke versichert uns ihre Unterstützung, verspricht, in unserem Namen zu handeln, verlangt aber von uns die Garantie, dass Algerien niemals in den kommunistischen Block oder in den sogenannten neutralen Block[20] fallen wird. Der Antikolonialismus dieser Demokraten ist daher nicht vorbehaltlos und bedingungslos, sondern setzt eine präzise politische Entscheidung voraus. An Argumenten mangelt es ihnen freilich nicht. Der Austausch des französischen Kolonialismus gegen den roten oder gegen den nasseristischen „Kolonialismus“ erscheint ihnen als eine negative Entwicklung, denn, so behaupten sie, in der gegenwärtigen historischen Stunde großer Zusammenschlüsse sei eine Ausrichtung zwingend, und ihr Rat ist nicht verschleiert: man müsse sich für den westlichen Block entscheiden.

Diese nicht-kommunistische Linke ist im Allgemeinen zurückhaltend, wenn wir ihr erklären, dass das algerische Volk sich zunächst vom französischen Kolonialjoch befreien muss. Die französische nicht-kommunistische Linke weigert sich, sich auf die strikte Grundlage der Entkolonialisierung und der nationalen Befreiung zu beschränken, und fleht uns an, die beiden Bemühungen zu kombinieren: die Ablehnung des französischen Kolonialismus und des sowjetisch-neutralen Kommunismus.

Dasselbe Problem, einer entgegengesetzten Dynamik folgend, entsteht bei der französischen kommunistischen Linken. Die französische Kommunistische Partei, so sagt sie, könne nur bestimmte nationale Befreiungsbewegungen unterstützen, denn welchen Vorteil hätte es für uns französische Kommunisten, wenn der amerikanische Imperialismus Algerien übernehmen würde? Auch hier werden von uns Garantien verlangt. Wir werden unter Druck gesetzt, Versprechen und Zusicherungen abzugeben.

Es ist offensichtlich, dass solche Schwierigkeiten die antikolonialistische Aktion der französischen Linken behindern. Das liegt daran, dass das noch nicht unabhängige Algerien bereits zu einem Zankapfel auf internationaler Ebene geworden ist. Für wen soll Algerien denn befreit werden? Seit drei Jahren wiederholt das algerische Volk unaufhörlich, dass es sich um seiner selbst willen befreien wolle, dass es ihm vor allem wichtig sei, seine Souveränität zurückzugewinnen, seine Autorität zu etablieren, seine Humanisierung, seine wirtschaftliche und politische Freiheit zu erreichen; aber diese offensichtlichen Ziele scheinen keine Akzeptanz zu finden.

Das algerische Volk erlebt seine Geburt in die Unabhängigkeit inmitten furchtbaren Leidens und schon jetzt wird mit ungewohnter Aggressivität um die kleinste Unterstützung gefeilscht. So hört man nicht selten, wie gewisse demokratische Franzosen zu uns sagen: Helft uns, euch zu helfen. Was klar bedeutet: Gebt uns eine Vorstellung davon, welche Richtung ihr danach einschlagen wollt.

Dieser Aufruf, der immer auf individueller Ebene zwischen Franzosen und Algeriern ausgesprochen wird, stellt sicherlich einen der schmerzhaftesten Aspekte des Kampfes um die Unabhängigkeit dar. Manche französischen Demokraten sind manchmal schockiert über die Ernsthaftigkeit des algerischen Kämpfers. Das liegt daran, dass der Gesamtcharakter des Krieges, den wir führen, Auswirkungen auf die nicht weniger radikale Art und Weise hat, in der wir individuelle Auseinandersetzungen führen. Und wir müssen zugeben, dass es uns unerträglich ist zu sehen, wie einige Franzosen, die wir für unsere Freunde hielten, sich uns gegenüber wie Händler verhalten und diese abscheuliche Art der Erpressung mit Solidarität praktizieren, die mit grundlegenden Einschränkungen unserer Ziele einhergeht.

Eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit

Wenn wir die Haltung der französischen Linken in Hinblick auf die Ziele unseres Kampfes untersuchen, stellen wir fest, dass keine Fraktion die Möglichkeit einer wirklichen nationalen Befreiung zugibt.

Die nicht-kommunistische Linke räumt ein, dass der Kolonialstatus verschwinden muss. Aber zwischen der Auflösung des Kolonialregimes – das sie auf ein Regime der Bevorzugung reduzieren, innerhalb dessen ein Kastenkampf[21] herrscht – und der Anerkennung einer algerischen Nation, die unabhängig von Frankreich ist, hat diese Linke eine Vielzahl von Etappen, Unteretappen, originellen Lösungen und Kompromissen eingefügt.

Es ist klar, dass für diesen Teil der Linken das Ende des Algerienkriegs eine Art internationalen Föderalismus und eine erneuerte Französische Union[22] mit sich bringen muss. Unsere Meinungsverschiedenheit mit dieser französischen Meinung ist daher weder psychologischer noch taktischer Natur, wie manche behaupten. Die Linksradikalen, die Minderheitssozialisten und der linke Flügel der MRP[23] haben die Idee einer algerischen Unabhängigkeit nicht akzeptiert. Positionen, die mit der Formel beginnen: „Wir stimmen im Wesentlichen überein, aber nicht in den Methoden …“ sind daher grundlegend falsch.

Die kommunistische Linke ihrerseits, die die Notwendigkeit der Entwicklung der Kolonialländer hin zur Unabhängigkeit proklamiert, fordert die Aufrechterhaltung besonderer Beziehungen zu Frankreich. Solche Positionen zeigen deutlich, dass selbst die sogenannten extremistischen Parteien der Ansicht sind, dass Frankreich Rechte in Algerien hat und dass die Lockerung der Herrschaft nicht notwendigerweise das Verschwinden aller Verbindungen bedeutet. Diese Geisteshaltung nimmt die Gestalt eines technokratischen Paternalismus an, einer unaufrichtigen Warnung vor der Gefahr des Rückschritts.

Es wird argumentiert: Was werden Sie tun, nachdem Sie alle Verbindungen zu Frankreich abgebrochen haben?

Man braucht Techniker, Geld, Maschinen…

Nicht einmal die katastrophale Aussicht auf ein Algerien, das von Wüste verschlungen, von Sümpfen durchzogen und von Krankheiten heimgesucht wird, bleibt uns in der Kampagne, die uns stoppen soll, erspart.

Die Kolonialisten erzählen dem französischen Volk in ihrer Propaganda: Frankreich kann ohne Algerien nicht leben.

Die französischen Antikolonialisten sagen den Algeriern: Algerien kann ohne Frankreich nicht leben.

Die französischen Demokraten sind sich des kolonialistischen oder – um einen neuen Begriff zu verwenden – neokolonialistischen Charakters ihrer Haltung nicht immer bewusst.

Die Forderung nach besonderen Beziehungen zu Frankreich ist eine Reaktion auf den Wunsch, die kolonialen Strukturen intakt zu halten. Es handelt sich hierbei um eine Art Terrorismus des Notwendigen, bei dem entschieden wird, dass nichts, was in Algerien von Wert ist, außerhalb Frankreichs konzipiert oder realisiert werden kann. In der Tat führt die Forderung nach besonderen Bindungen zu Frankreich zu dem Willen, Algerien auf ewig auf der Stufe eines unmündigen und geschützten Staates zu halten. Aber auch auf die Entschlossenheit, bestimmte Formen der Ausbeutung des algerischen Volkes zu garantieren. Es ist zweifellos ein Beweis für ein schwerwiegendes Scheitern, die revolutionären Implikationen des nationalen Kampfes zu verstehen.

Ist es zu spät?

Die französischen Demokraten müssen die Widersprüche überwinden, die ihre Positionen sterilisieren, wenn sie eine echte Demokratisierung mit den Kolonialisten erreichen wollen. Nur wenn die französische demokratische Meinung ohne Vorbehalte ist, kann ihr Handeln wirksam und entscheidend sein.

Weil die Linke unbewusst dem Mythos des französischen Algeriens folgt, geht ihr Handeln nicht über die Hoffnung auf ein Algerien hinaus, in dem mehr Gerechtigkeit und Freiheit herrschen würde, oder höchstens ein Algerien, das weniger direkt von Frankreich regiert wird. Der leidenschaftliche Chauvinismus der französischen öffentlichen Meinung in der Algerienfrage übt Druck auf diese Linke aus, lässt sie zu übertriebener Vorsicht neigen, erschüttert ihre Prinzipien und versetzt sie in eine paradoxe und zunehmend unproduktive Lage.

Das algerische Volk ist der Ansicht, dass die französische Linke im Rahmen des Algerienkriegs nicht alles getan hat, was sie hätte tun sollen. Es geht uns nicht darum, die französischen Demokraten anzuklagen, sondern ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Haltungen zu lenken, die unserer Meinung nach den Prinzipien des Antikolonialismus widersprechen.

Es ist vielleicht angebracht, die Haltung der Sozialistischen Internationale zu dieser Frage in Erinnerung zu rufen. Niemand hat vergessen, dass die französische Delegation unter der Leitung von Herrn Pineau[24] 1956 von der Internationale verurteilt wurde und dass Herr Bevan[25] 1957 auf dem Sozialistischen Kongress von Toulouse öffentlich seine Enttäuschung und seinen Zorn über den Rassismus und Kolonialismus der SFIO[26] zum Ausdruck brachte.

Seit 1954 kämpft das algerische Volk für die nationale Unabhängigkeit. Es geht um ein vor über einem Jahrhundert erobertes Gebiet, das seinen Willen zum Ausdruck bringt, sich als souveräne Nation zu etablieren. Die französische Linke sollte diese Bemühungen vorbehaltlos unterstützen. Weder die Anwesenheit einer europäischen Minderheit noch Sakamody können oder sollten die Entschlossenheit einer authentischen Linken beeinträchtigen. Wir haben gesehen, dass die Propaganda von Herrn Lacoste immer wieder behauptet, dass Frankreich in Algerien gegen die Barbarei kämpft. Die Linke muss sich gegen diese Kampagne immun zeigen und das Ende des Krieges und die Anerkennung der Unabhängigkeit Algeriens fordern.

Wie wir gesehen haben, ist es vorgekommen, dass gewisse Demokraten auf die folgende Argumentation zurückgriffen: Wenn Sie möchten, dass unsere Hilfe weitergeht, verurteilen Sie diese und jene Taten. Der Kampf eines Volkes um seine Unabhängigkeit muss also transparent sein, wenn es die Unterstützung der Demokraten genießen will.

Hier kann man paradoxerweise die Haltung von Herrn Guy Mollet erkennen, der, um seinen Krieg fortsetzen zu können, eine Schutzkommission ernennt, mit der Aufgabe, auf „Exzesse“ aufmerksam zu machen, um damit die schlechten Soldaten auf spektakuläre Weise von der guten, wahren und fruchtbaren französischen Armee zu isolieren.

Die Aufgaben der französischen Linken

Die FLN wendet sich an die gesamte französische Linke und fordert sie auf, sich in diesem vierten Jahr konkret im Kampf für den Frieden in Algerien zu engagieren.

Es kann zu keinem Zeitpunkt die Rede davon sein, dass französische Demokraten sich uns anschließen oder ihr Land verraten. Ohne ihre Nation aufzugeben, muss die französische Linke dafür kämpfen, dass die Regierung ihres Landes die Werte respektiert, die wir das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, die Anerkennung des nationalen Willens, die Liquidierung des Kolonialismus und gegenseitige und bereichernde Beziehungen zwischen freien Völkern nennen.

Die FLN wendet sich an die französische Linke und an die französischen Demokraten und fordert sie auf, jeden Streik der französischen Bevölkerung gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, neue Steuern und die Einschränkung der demokratischen Freiheiten in Frankreich zu unterstützen, die allesamt direkte Folgen des Algerienkriegs sind.

Die FLN fordert die französische Linke auf, ihre Informationskampagnen zu intensivieren und den französischen Massen weiterhin die Charakteristika des Kampfes des algerischen Volkes, die ihm zugrunde liegenden Prinzipien und die Ziele der Revolution zu erklären.

Die FLN zollt den Franzosen ihren Respekt, die den Mut hatten, sich zu weigern, gegen das algerische Volk zu den Waffen zu greifen und die nun im Gefängnis sitzen.

Diese Beispiele müssen vermehrt werden, damit allen und vor allem der französischen Regierung klar wird, dass das französische Volk diesen Krieg ablehnt, der in seinem Namen gegen das Recht der Völker, zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung und gegen die Herrschaft der Freiheit geführt wird.


[1] Eine – leider in Teilen fehlerhafte und sogar unkenntlicherweise gekürzte – deutsche Übersetzung findet sich in dem Sammelband Für eine afrikanische Revolution, der 28 Aufsätze von Fanon enthält. Er erschien 1972 erstmals in der BRD und wurde 2022 vom März-Verlag dankenswerter Weise neu aufgelegt.

[2] Marcel-Edmond Naegelen war ein sozialdemokratischer Politiker, der während seiner Amtszeit als Generalgouverneur Algeriens für massive Wahlfälschungen verantwortlich war.

[3] 1955 fand in der indonesischen Hauptstadt Bandung eine afro-asiatische Konferenz statt, die als Geburtsstunde der Bewegung der Blockfreien Staaten gilt.

[4] Gestalt aus der griechischen Mythologie, die dazu verdammt ist, Unheil korrekt vorherzusagen, während ihr aber niemand glaubt.

[5] Sozialdemokratischer Ministerpräsident Frankreichs 1956/57 und Chef der Sozialistischen Partei von 1946 bis 1969.

[6] Liberaler Ministerpräsident Frankreichs 1957.

[7] Jacques Massu war französischer General und führte die französischen Kolonialtruppen u. a. in der Schlacht um Algier, wobei er zu flächendeckendem Terror und zu Folter griff. Zuvor hatte er bereits als Befehlshaber gegen die nationale Befreiungsbewegung in Vietnam gekämpft und war an der Dreier-Aggression, gemeinsam mit Großbritannien und Israel, gegen Ägypten beteiligt.

[8] Henri Borgeaud war ein französischer Siedler, Kolonialpolitiker und galt als einer der reichsten Großgrundbesitzer Algeriens.

[9] Gegend etwa 50 Kilometer südöstlich von Algier.

[10] Straße im französischen Viertel von Algier, in der während der Schlacht um Algier u. a. ein Café in die Luft gesprengt wurde.

[11] Nationale Befreiungsfront Algeriens.

[12] Robert Lacoste war Sozialdemokrat und 1956-58 als Algerienminister für die Bekämpfung der algerischen Befreiungsbewegung zuständig, wobei er eine Strategie von Zuckerbrot (Reformen) und Peitsche (Terror) verfolgte.

[13] In den algerischen und später auch den französischen Städten verfolgte die FLN eine Strategie der Stadtguerilla, was Attentate gegen Behörden und Politiker, Bushaltestellen, Cafés, Kinos usw. einschloss.

[14] Ab 1848 war Algerien offiziell Teil des französischen Mutterlands, und keine Kolonie mehr.

[15] Alain de Sérigny war der Herausgeber des L’Echo d’Alger, der größten Tageszeitung im kolonialen Algerien und strikter Verteidiger der französischen Kolonialherrschaft.

[16] Georges Blachette war Papiermonopolist, Politiker und Eigentümer des Journal d’Alger.

[17] Hans Speidel war im Ersten Weltkrieg Leutnant der Reichswehr, im Zweiten Weltkrieg Chef des Stabes der Heeresgruppe B der faschistischen Wehrmacht und als Bundeswehr-General 1957-63 zugleich Oberbefehlshaber der NATO-Landstreitkräfte in Mitteleuropa.

[18] Raoul Salan war 1952-53 Oberbefehlshaber der französischen Truppen im Krieg gegen Indochina und 1956-58 Oberbefehlshaber im Algerienkrieg.

[19] Hochrangiges Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) und 1946-58 Abgeordneter der KPF in französischen Parlament.

[20] Gemeint sind die Nichtpaktgebundenen Staaten.

[21] Der Begriff spiel auf den Klassenkampf an. Hier sind wohl aber nicht sozialökonomische Klassen gemeint, zumal Fanon über das Verständnis von Nicht-Kommunisten spricht, sondern durch politische und rechtliche Diskriminierung und Privilegierung festgeschrieben Gesellschaftsgruppen.

[22] Neokoloniales Projekt des französischen Imperialismus, um seine ehemaligen Kolonien an sich zu binden.

[23] Volksrepublikanische Bewegung, christlich-konservative Partei in Frankreich.

[24] Christian Pineau war sozialdemokratischer Politiker und 1956-58 Außenminister Frankreichs.

[25] Walisischer Politiker und Mitglied der britischen Labor-Partei.

[26] Französische Sozialistische Partei, sozialdemokratische Partei in Frankreich.

Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke mit Susann Witt Stahl

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Wir präsentieren die Audio-Aufzeichnung der Buchvorstellung „Der Bandera-Komplex“ mit der Herausgeberin Susann Witt-Stahl, aufgenommen in Leipzig im Februar 2025. Susann Witt-Stahl beleuchtet in ihrem Beitrag die historischen Wurzeln des Banderismus, deren heutige ideologische Funktion und das dahinterstehende Netzwerk.

Das Buch kann bei der jungen Welt bestellt werden.

Für Kuba und Sozialismus: Kubasolidarität – Entwicklung und Notwendigkeit

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Redaktioneller Hinweis: In seinem Beitrag wirft Lanius Osen, der selbst in der Kuba-Solidarität aktiv ist, einen Blick auf die Kuba-Solidaritätsbewegung in Deutschland. Er zeichnet die Entwicklung dieser von der DDR bis heute nach und zeigt, welche Herausforderungen durch die Blockadepolitik und Desinformationskampagnen bestehen. An dieser Stelle möchten wir noch einmal auf die Vortragsreihe zum Internationalismus in der DDR verweisen: Die Vortrag Chile und die DDR, Mali und die DDR sowie Palästina und die DDR können alle auf Youtube nachgehört werden.

Beitrag von Lanius Osen

1. Einleitung

Schon Che Guevara machte in einem Gespräch mit dem damaligen algerischen Präsidenten Ben Bella Mitte der 60er Jahre deutlich, dass der Kampf gegen den Imperialismus längst keine Angelegenheit eines Volkes oder eines Landes sein kann. Kuba habe während der Invasion durch die USA 1961 die Erfahrung machen müssen, dass der Kampf gegen Imperialismus eine Sache für alle Länder auf der ganzen Welt sei. Dieser Kampf verlangt die internationale Solidarität aller gleichermaßen.1 Und auch wenn sich seit dieser Feststellung einiges in der Welt verändert hat, behält diese Aussage ihre Wahrheit.

Die Kuba-Solidarität in Deutschland ist aufgrund der historischen Entwicklung sehr vielschichtig. Seit der kubanischen Revolution 1959 war Kuba ein wichtiger Bezugspunkt für die sozialistischen Länder in Mittel- und Osteuropa sowie die nationalen Befreiungsbewegungen weltweit. Besonders in der DDR wurde die Solidarität mit Kuba als Ausdruck des proletarischen Internationalismus und der Einheit im Kampf der Arbeiterklasse praktisch gelebt. Doch auch nach der Konterrevolution 1989 spielt die Kuba-Solidarität noch eine Rolle in der Arbeiterbewegung der BRD, wo sie ein Symbol des Widerstands gegen Kapitalismus und imperialistische Unterdrückung darstellt.

Wie Fidel Castro in einer Rede von 2007 erklärte, ist die Geschichte Kubas untrennbar mit dem Kampf um die Bewahrung seiner nationalen Identität und Unabhängigkeit verbunden, ebenso wie mit der Evolutionsgeschichte des Imperiums der Vereinigten Staaten, seinem ständigen Versuch, sich Kubas zu bemächtigen, und den schrecklichen Methoden, die es heutzutage zur Absicherung seiner Weltherrschaft anwendet.2 Diese noch heute geltende Ausgangslage verdeutlicht, warum internationale Solidarität für Kuba von Bedeutung ist – nicht nur als Widerstand gegen die US-amerikanische Blockadepolitik, sondern auch als Ausdruck des gemeinsamen Kampfes um den Erhalt des Sozialismus auf Kuba.

Im folgenden Text soll die Kubasolidarität in Deutschland näher betrachtet werden. Zunächst wird nach einer Einordnung der politischen Ausgangslage die enge Solidarität zwischen Kuba und der DDR dargestellt, die sich im gemeinsamen Kampf für Frieden und Sozialismus zeigte. Anschließend werden die Beziehungen zwischen Kuba und der BRD beleuchtet sowie die Herausforderungen, die durch mediale Desinformation und Subversion bestehen. Abschließend werden die aktuellen Herausforderungen und Zukunftsaussichten betrachtet.

2. Ausgangslage

In der zweiten Jahreshälfte 2019 verschärfte die Trump-Administration das seit 1960 bestehende Wirtschaftsembargo gegen Kuba durch die Einführung von über 240 zusätzlichen Sanktionen und Maßnahmen. Diese Maßnahmen führten dazu, dass wichtige Deviseneinnahmequellen Kubas, wie der Tourismus, stark beeinträchtigt wurden. US-Amerikanern wurde die Reise nach Kuba verboten, und Kreuzfahrtschiffe durften nicht mehr anlegen.3 Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich weiter durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie ab 2020, was das Land zusätzlich unter Druck setzte. Die verschärfte Blockade verursachte anhaltende Stromausfälle, die nicht nur die Wasserversorgung beeinträchtigten, sondern auch Transportprobleme verschärften und zu einem Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten führten.4 Im Januar 2021, nur eine Woche vor der Amtsübergabe an Joseph Biden, setzte der scheidende US-Präsident Donald Trump Kuba erneut auf die Liste der „staatlichen Sponsoren des Terrorismus“, was zu weiteren wirtschaftlichen Einschränkungen führte. Finanztransaktionen von Drittländern und deren Banken sowie Unternehmen mit Kuba wurden dadurch erschwert und konnten von den USA mit hohen Geldstrafen belegt werden.5

Anfang 2025, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, kündigte US-Präsident Joe Biden an, Kuba von der Liste der Staaten zu streichen, die den Terrorismus unterstützen. Wenige Tage vor der Amtsübergabe im Weißen Haus setzte er diesen Schritt als „Geste des guten Willens“ tatsächlich um. Doch unmittelbar nach seiner Vereidigung als 47. Präsident der Vereinigten Staaten machte Donald Trump diese Entscheidung wieder rückgängig.6 Der designierte Außenminister Marco Rubio, selbst Sohn einer ultrareaktionären Exilkubanerfamilie aus Florida, gilt als Hardliner und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erneute Verschärfung der US-Politik gegenüber Havanna vorantreiben.7

Unter Bidens Präsidentschaft wurden lediglich Sanktionen für kubanische Privatunternehmen etwas gelockert. Kubas Außenminister Bruno Rodríguez erklärte, dass die Maßnahmen in ihrer Tragweite „beschränkt“ gewesen seien. Sie hätten die „grausamen Folgen und die wirtschaftliche Erstickung“, die vor allem durch die fortgesetzte Einstufung Kubas als „staatlicher Sponsor des Terrorismus“ verursacht wurden, nicht abgemildert. Zudem zielten sie laut Rodríguez darauf ab, „die kubanische Gesellschaft zu spalten.“8

Die kubanische Regierung versuchte seit Anfang 2024 mit einem „makroökonomischen Stabilisierungsprogramm“ gegenzusteuern, um das hohe Haushaltsdefizit von 18 Prozent zu senken. Angesichts einer Rezession von zwei Prozent im Jahr 2023 blieb auch das erste Halbjahr 2024 unter den Erwartungen. Premierminister Manuel Marrero sprach von einem „komplexen Szenario“ und erwähnte die von Präsident Miguel Díaz-Canel im Dezember 2023 geprägte Metapher der „Kriegswirtschaft“.

Der akute Devisenmangel aufgrund des sich nur langsam erholenden Tourismus und anhaltender US-Sanktionen hat den finanziellen Spielraum der Regierung eingeschränkt. Mit der Rezentralisierung einiger Staatsausgaben, die künftig monatlich geprüft werden sollen, sollen die vorhandenen Mittel effektiver genutzt werden. Durch die Verzahnung von Staats- und Privatsektor sollen neue Synergien für mehr lokale Produktion und Importsubstitution entstehen.

Als Teil des Anpassungsprogramms wurden die Preise für Kraftstoff und Tabakwaren erhöht und neue Importzölle eingeführt. Gleichzeitig stiegen die Gehälter im Bildungs- und Gesundheitswesen. Kubas Vizewirtschaftsministerin Mildrey Granadillo de la Torre kündigte eine „einheitliche“ Preispolitik an, die für den Staatssektor und private Unternehmen gelten soll. Ab dem 1. Juli 2024 wurden die Gewinnmargen staatlicher Firmen, die an den Privatsektor verkaufen, auf 30 Prozent limitiert, um Korruption zu bekämpfen und die Kosten für Verbraucher zu senken.

Die aktuelle Situation in Kuba ist äußerst angespannt. Die Regierung steht vor der Herausforderung, die Errungenschaften der kubanischen Revolution zu bewahren und gleichzeitig den Menschen vor Ort Perspektiven zu bieten. Dies erfordert kontinuierliche Aufklärungsarbeit und eine effektive Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme.9 Angesichts der nur angedeuteten Herausforderungen, denen Kuba gegenübersteht, hat deshalb die Solidaritätsarbeit eine wichtige Bedeutung. Dabei umfasst sie verschiedene Aufgaben, in denen versucht wird, über symbolische Gesten hinauszugehen und eine konkrete Verbindung zwischen internationaler Solidarität und antiimperialistischer Politik herzustellen.

3. Kuba und DDR – solidarisch im Kampf für Frieden und Sozialismus

Die Bezeichnung dieses Abschnitts ist weder bloße Floskel noch Propaganda und sehr bewusst gewählt. Im Gegensatz zur Darstellung in der westlichen Presse waren die Beziehungen der DDR zu Kuba nicht eigennützig motiviert. Dies zeigt sich bereits im Motto der Ausstellung in Santiago de Cuba zum XV. Jahrestag der DDR 1964: „Kuba und DDR – solidarisch im Kampf für Frieden und Sozialismus“. In diesem Abschnitt werden einige konkrete Beispiele der gelebten Solidarität zwischen Kuba und der DDR dargestellt.

Ökonomische Solidarität

1960 war Kuba das erste Land in Lateinamerika, das die Deutsche Demokratische Republik (DDR) völkerrechtlich anerkannte. Schon im Jahr 1961 wurden die ersten Vereinbarungen zwischen den beiden Staaten getroffen. Nach der Sowjetunion war die DDR der zweitwichtigste und zweitgrößte Wirtschaftspartner Kubas.10

In den frühen Jahren nach der kubanischen Revolution war die Zusammenarbeit mit sozialistischen Ländern für Kuba essenziell, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Der traditionelle Absatzmarkt in den USA fiel weg, und die US-Blockade hatte direkte, verheerende Auswirkungen auf Kuba; zusätzlich beeinflusste sie die Haltung anderer kapitalistischer Staaten gegenüber der Republik.11

Auf der 11. Plenartagung des Zentralkomitees im Dezember 1960 unterstrich die SED ihren solidarischen Beitrag. Walter Ulbricht erklärte, dass die DDR das kubanische Volk, das seine nationaldemokratische Revolution erfolgreich abgeschlossen hatte, mit voller Kraft unterstützen werde. Diese Erklärung setzte einen klaren Kurs für die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und Kuba. Diese Art der Darlegung hatte nicht nur mobilisierende Wirkung auf die zuständigen Staatsorgane, sondern auch auf die Partei und die Massenorganisationen.12

Trotz der Tatsache, dass die DDR 1960 selbst ein bedeutender Zuckerexporteur war und über eine gut ausgebaute Industrie von Zuckerrübenverarbeitung bis zu Raffinerien verfügte, importierte sie in diesem Jahr 62.000 Tonnen Zucker aus Kuba. Die Preise für diesen Zucker waren für Kuba deutlich höher als die an den Börsen der kapitalistischen Staaten.

Die Grundlage für diese Importe bildete ein Abkommen zwischen den Staatsbanken der DDR und Kubas, das den Handel und Zahlungsverkehr regelte. Kuba erhielt dabei einen ersten Staatskredit von über 12 Millionen US-Dollar, was für die DDR weit mehr als nur eine symbolische Geste der Solidarität darstellte. Der Handel wurde nach dem „Clearing-Verfahren“ durchgeführt, was bedeutete, dass Ein- und Ausfuhren ausgeglichen werden mussten. Auf diesen ersten offiziellen Schritten folgten am 30. August weitere Vereinbarungen, darunter der Austausch von „Missionen“ – offiziellen Entsendungen von Botschaftern oder diplomatischen Vertretern –, ein Kulturabkommen, ein Handelsabkommen sowie ein Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit.13 Im März 1961 wurde ein Abkommen über kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen der DDR und Kuba abgeschlossen, gefolgt von einem Schifffahrtsabkommen im gleichen Jahr. Um den wachsenden Güterverkehr zu bewältigen, wurde die spezielle „CUBALCO“-Linie eingerichtet, die für den Transport von und nach Kuba zuständig war, wobei die DDR den Großteil der Schiffe bereitstellte.

Die DDR unterstützte Kuba beim Aufbau einer industriellen Basis, unter anderem durch den Bau von Zementwerken, wie dem Werk „Karl Liebknecht“ in Cienfuegos, das mit moderner Technologie und technischer Hilfe aus der DDR errichtet wurde. Auch beim Aufbau der Textilfabrik „Karl Marx“ in Matanzas half die DDR, indem sie Maschinen und technisches Know-how lieferte. Diese Fabrik spielte eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der kubanischen Leichtindustrie. Zusätzlich lieferte die DDR eine Vielzahl von Maschinen, Fahrzeugen und industrieller Ausrüstung nach Kuba, darunter landwirtschaftliche Maschinen, Baumaschinen sowie Lastwagen und Traktoren, die für die industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung waren.

Durch diese umfassende wirtschaftliche Unterstützung wurde die DDR zu einem wichtigen Handelspartner Kubas. Sie importierte kubanische Produkte wie Zucker und Nickel, was zur Stabilisierung der kubanischen Wirtschaft beitrug. Im Gegenzug exportierte die DDR industrielle Güter, Maschinen und Konsumgüter nach Kuba. Dieser Handel ermöglichte Kuba trotz des US-Embargos den Zugang zu wichtigen Industriegütern. Die DDR-Regierung betrachtete diese Unterstützung als echte Solidarität, bei der ein brüderlich verbundenes Land durch gezielte wirtschaftliche Zusammenarbeit langfristig in die Lage versetzt werden sollte, eine unabhängige und souveräne Politik zu verfolgen.14

Kuba, als fester Bestandteil des sozialistischen Weltsystems und insbesondere des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), konnte das volle Potenzial einer globalen kommunistischen Produktionsweise, wie sie ursprünglich angestrebt wurde, leider nicht vollständig ausschöpfen. Ab Mitte der 1980er Jahre traten vermehrt Schwierigkeiten auf, die nicht nur die DDR-Industrie betrafen, sondern auch die Umsetzung gemeinsamer wirtschaftlicher Integrationsprojekte im RGW nahezu unmöglich machten. Die Absicht, durch Integration die Produktivität der Mitgliedsländer anzugleichen, blieb weitgehend unerfüllt, da es bereits an den objektiven Voraussetzungen und wirtschaftlichen Ressourcen mangelte. Ein Beispiel hierfür ist das gescheiterte Projekt einer Nickelhütte in Las Camariocas, dessen Inbetriebnahme für 1987/88 geplant war. Wegen begrenzter Kapazitäten zogen mehrere RGW-Länder ihre Beteiligung an dem Abkommen zurück. Trotz dieser Probleme zeigte sich das Potenzial einer weltweiten Kooperation frei assoziierter Produzenten.15

Nachdem die DDR in die BRD einverleibt wurde, annullierte die Bonner Regierung einseitig und ersatzlos alle 64 Abkommen, Vereinbarungen und Verträge zwischen der DDR und Kuba. Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems hatte weitreichende Folgen, die als Sonderperiode bekannt wurden und in einem separaten Abschnitt näher erläutert werden.

Kultur und Wissenschaft

Nicht nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit prägte die Freundschaft zwischen den beiden Staaten. Von Beginn der Beziehungen an entwickelte sich ein intensiver Kulturaustausch in Bereichen wie Verlagswesen, Volksbildung und den Künsten.

Auf der Grundlage eines Kulturabkommens von 1963 entstanden direkte Beziehungen. Dieses Abkommen regelte die Zusammenarbeit in kulturellen und wissenschaftlichen Bereichen und trug zur Vertiefung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern bei. Fachkräfte aus der DDR halfen beim Aufbau von Bildungseinrichtungen, die den Arbeiter- und Bauernfakultäten der DDR ähnelten. Diese Einrichtungen ermöglichten es Jugendlichen, die zuvor keine Gelegenheit hatten, ihre Hochschulreife zu erwerben, das Abitur nachzuholen.

Das Volksbildungswesen der DDR spielte eine entscheidende Rolle bei der Einführung der Unterrichtsplanung, der Lehrplangestaltung und besonders beim Aufbau des Mathematikunterrichts in kubanischen Grund- und Mittelschulen. In den 1960er Jahren nahmen die ersten kubanischen Jugendlichen ihr Studium an DDR-Hochschulen auf. Diese Bildungskooperation war jedoch keine Einbahnstraße. So wurden auch Erfahrungen aus Kuba ausgewertet und in die Gestaltung der Lehrpläne sowie des schulischen Alltags integriert. Diese wechselseitige Beziehung unterstreicht den Charakter der internationalistischen Bildungsarbeit der DDR.16

Solidarität in der DDR-Bevölkerung

In der DDR wuchs die Sympathie und Unterstützung für die kubanische Revolution, was im Januar 1961 zur Gründung eines Komitees für Kuba-Solidarität führte. Ein markantes Zeichen dieser Solidarität war die große Massenkundgebung am 26. April 1961 in Berlin Unter den Linden. Diese Demonstration, die zehntausende Teilnehmer versammelte, richtete sich gegen die von den USA unterstützte Invasion in der Schweinebucht.17 Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1978 in Havanna stellten einen bedeutenden Moment in der Geschichte der internationalen Solidarität dar. Sie vereinten junge Menschen aus aller Welt, um ihre gemeinsamen Ziele und Kämpfe zu besprechen und zu feiern. Diese Veranstaltung stärkte nicht nur die Solidarität unter den Teilnehmern, sondern festigte auch Kubas Position als Zentrum der antiimperialistischen Bewegung.

Durch die enge Zusammenarbeit in gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und anderen Bereichen entwickelten sich zahlreiche freundschaftliche Beziehungen, und das Solidaritätsgefühl mit dem revolutionären Kuba war in der DDR stark ausgeprägt.18

4. Die Beziehungen der BRD zu Kuba

Die Solidarität mit Kuba wies in der BRD und der DDR deutliche Unterschiede auf, die auf die unterschiedlichen politischen Systeme, ideologischen Ausrichtungen und internationalen Bündnisse zurückzuführen sind. In der BRD wurde die Solidarität vor allem von linken Oppositionsgruppen, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen, während staatliche Unterstützung praktisch nicht existierte. Im Gegensatz dazu war die Solidarität mit Kuba in der DDR, wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, stark staatlich geprägt und eng in die offizielle Politik eingebunden.

Der deutsche Imperialismus hat sich historisch immer wieder gegen die sozialistische Regierung Kubas gestellt, insbesondere im Kontext der US-Blockade. Deutschland hat zwar die Blockade nicht direkt verhängt, doch die Bundesregierung traf regelmäßig politische Entscheidungen, die im Sinne imperialistischer Politik agierten und Kuba in wirtschaftlicher und diplomatischer Hinsicht isolierten.

Vor 1959 unterhielt die Bundesrepublik Deutschland (BRD) diplomatische Beziehungen zur Diktatur unter Batista. Der Handel war geprägt durch den Export von Zucker aus Kuba und die Lieferung von Industrieprodukten aus Deutschland. Hierbei ist zu beachten, dass es sich um Handelsbeziehungen mit kubanischen Privatbetrieben handelte, bei denen die Gewinne von Privatunternehmen angeeignet wurden. Nach dem Sieg der kubanischen Revolution 1959 änderten sich die Handelsbeziehungen zunächst wenig, da Kuba weiterhin wirtschaftliche Beziehungen zu westlichen Ländern pflegte. Die Situation begann sich jedoch rasch zu verändern, als Kuba nach dem Bruch mit den USA und der Verschärfung der Blockade zunehmend die Zusammenarbeit mit der DDR suchte, um sich von imperialistischen Einflüssen zu befreien und eine sozialistische Wirtschaftsordnung aufzubauen. Im Zuge dieser Neuausrichtung verstaatlichte Kuba viele große Industriebetriebe und landwirtschaftliche Unternehmen, um die Kontrolle über Produktionsmittel zu erlangen. Im Rahmen der Hallstein-Doktrin19 brach die BRD 1962 die diplomatischen Beziehungen zu Kuba ab.

Nach der Verhängung des US-Embargos gegen Kuba, das von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) unterstützt wurde, schloss sich die Bundesrepublik Deutschland (BRD) weitgehend diesem Boykott an. Dies führte dazu, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Kuba und der BRD nahezu vollständig zum Erliegen kamen. Erst mit der Aufhebung der Hallstein-Doktrin durch die sozial-liberale Koalition Anfang der 1970er Jahre kam es zu einer begrenzten Annäherung.

Die Entscheidung, diplomatische Beziehungen zu Kuba wiederaufzunehmen, war jedoch nicht nur eine außenpolitische Entscheidung der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt. Sie beruhte maßgeblich auf dem Grundlagenvertrag von 1972 zwischen der BRD und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). 1975 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und Kuba wiederhergestellt, was den Beginn eines langsamen Ausbaus der Wirtschaftsbeziehungen markierte.20 Seit 1989 sieht sich das sozialistische Kuba aufgrund der Konterrevolution in den ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas einer doppelten Blockade ausgesetzt.

Sonderperiode

Die von der kubanischen Regierung als Sonderperiode bezeichnete Zeit, die in den 1990er Jahren begann, war von tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Krisen geprägt. Diese wurden durch den Verlust der Unterstützung des sozialistischen Lagers und des internationalen sozialistischen Marktes ausgelöst. Kuba verlor dadurch seine wichtigsten Handelspartner und wirtschaftlichen Subventionen. Die kubanische Wirtschaft erlebte einen dramatischen Rückgang, und das Land stand vor den größten Herausforderungen seit der Revolution von 1959.21

Zu Beginn der Sonderperiode, im Jahr 1990, schrumpfte das kubanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um mehr als 30 %. Kuba verlor seine Hauptlieferanten von Rohstoffen und Energie und war gezwungen, drastische Kürzungen bei Importen und Subventionen vorzunehmen. Dies führte zu massiven Engpässen in der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern. Die kubanische Bevölkerung war mit strengen Rationierungen und ständigen Stromausfällen konfrontiert. Der Verlust von Lebensstandards und die schwierigen Lebensbedingungen führten zu einem allgemeinen Rückgang der Lebensqualität.22

Angesichts der wirtschaftlichen Notlage und der völkerrechtswidrigen US-Blockade war Solidaritätsarbeit sowohl auf politischer als auch auf materieller Ebene von erheblicher Bedeutung. Länder und Organisationen aus dem globalen Süden sowie zahlreiche Solidaritätsbewegungen weltweit trugen dazu bei, die Auswirkungen der Blockade abzumildern und Kuba in dieser schweren Zeit zu unterstützen.

5. Medien und Subversion als Waffe

Der folgende Abschnitt beleuchtet die mediale Berichterstattung, die darauf abzielt, die Solidarität mit Kuba zu untergraben. Trotz zahlreicher Errungenschaften ist die soziale Lage in Kuba aufgrund der anhaltend schwierigen wirtschaftlichen Situation oft katastrophal. Durch den Wirtschaftskrieg der USA explodieren in Kuba täglich tausende ökonomische Bomben, wie es Prof. Dr. C. Ing. Osvaldo Romero passend bildlich bei einem Referat beschrieben hat. Zudem verschärften Naturkatastrophen und die Corona-Pandemie die Lage weiter. Ob die jüngsten Reformvorschläge der Nationalversammlung eine Lösung für diese Krisen bieten werden, bleibt abzuwarten.

Es ist ebenfalls wichtig zu erwähnen, dass Kuba seit dem Sieg der Revolution 1959 kontinuierlich terroristischen Angriffen ausgesetzt ist. Um ein Gefühl für den anhaltenden Belagerungszustand zu vermitteln, sind folgende Zahlen aufschlussreich: Von 1959 bis 2014 wurden seitens der USA 713 Terroranschläge auf Kuba registriert, bei denen etwa 3.500 Menschen getötet und mehr als 2.100 verletzt wurden.23

Desinformationskampagnen

Desinformationskampagnen sind vielschichtig und werden von verschiedenen Akteuren wie Regierungen, Medienunternehmen und Exilgruppen, die gegen das kubanische Regime sind, betrieben. Ziel dieser Kampagnen ist es, das Bild Kubas in der Öffentlichkeit zu verzerren und politischen Druck auszuüben, wobei oft grundlegende journalistische Standards und Sorgfaltspflichten missachtet werden.

Ein historisches Beispiel für solche Einflussnahmen ist die Operation Mockingbird, eine geheime CIA-Initiative aus den 1950er und 1960er Jahren, die darauf abzielte, sowohl ausländische als auch inländische Medien zu beeinflussen. In diesem Rahmen wurde auch Kuba ins Visier genommen, um das Image der kubanischen Regierung zu untergraben und sowohl die amerikanische Öffentlichkeit als auch die internationale Gemeinschaft gegen das kommunistische „Regime“ in Kuba zu mobilisieren.24

An dieser Strategie hat sich bis heute nichts geändert. Die USA investieren jedes Jahr Millionen an Steuergeldern, um die kubanische Regierung zu destabilisieren. Laut Tracey Eaton, dem Gründer des Cuba Money Project, haben das US-Außenministerium und USAID seit 1990 insgesamt 300 Millionen Dollar „für“ Kuba ausgegeben. Zusätzlich ist seit 1984 eine weitere Milliarde Dollar in Radio und TV Martí geflossen, die ihr Signal über ein Propagandaflugzeug nach Kuba senden, obwohl dieses dort gestört wird und somit eher dazu dient, die Taschen der Kubaamerikaner in Miami zu füllen.25

Ein Beispiel ist das in Miami ansässige Directorio Democrático Cubano, Inc., das 2019 über 1 Million US-Dollar für Radioprogramme, humanitäre Hilfe und subversive Aktivitäten gegen die kubanische Jugend ausgegeben hat. Eine Überprüfung im Februar 2021 bestätigte diese Ausgaben.26

Falschmeldungen, Unterschlagungen, Manipulationen

Traditionell berichteten die großen deutschsprachigen Medien nicht über die Niederlagen der USA in den UN-Generalversammlungen. Bei der Abstimmung über die von Kuba eingebrachte Resolution am 1. und 2. November 2023 forderten 187 von 193 Mitgliedstaaten zum 31. Mal in Folge das sofortige Ende aller US-Sanktionen gegen Kuba. Diese wichtige Abstimmung und die dazugehörige Diskussion wurden jedoch in prowestlichen Medien, einschließlich ND und TAZ, nicht thematisiert. Nur die Tageszeitung „junge Welt“, die Wochenzeitung „UZ“ und einige Onlineportale berichteten über die fast einstimmige Verurteilung und Forderung der Weltgemeinschaft.27

Ein Beispiel für Falschmeldungen betrifft die Berichterstattung über kubanische Ärzte, die im Rahmen von Programmen wie „Misión Barrio Adentro“ in andere Länder entsandt werden. In westlichen Medien wird manchmal behauptet, diese Ärzte würden unter Zwang arbeiten und die Programme dienten der Ausbeutung. Tatsächlich melden sich viele Ärzte freiwillig für diese Einsätze, da sie eine wichtige Einnahmequelle für Kuba sind und den Ärzten oft bessere Löhne bieten als im Heimatland.28 In der deutschen Medienlandschaft werden politische und wirtschaftliche Entwicklungen in Kuba häufig durch gezielte Framings dargestellt, die eine bestimmte Perspektive nahelegen. Techniken wie die selektive Darstellung von Fakten, die Verwendung emotional aufgeladener Begriffe und die Fokussierung auf Konflikte oder Missstände dienen dabei der Meinungslenkung.

Ein zentraler Mechanismus ist die selektive Berichterstattung, bei der kritische Aspekte hervorgehoben und kontextualisierende Informationen ausgeblendet werden. Beispielsweise beleuchtet die Tagesschau in Berichten wie „Kuba: Wirtschaftskrise“ die wirtschaftliche Notlage des Landes, ohne die US-Blockade als Hauptursache umfassend darzustellen.29 Auch die taz unterlässt es in Artikeln wie „Wirtschaftskrise auf Kuba“, die bestehenden Probleme im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Wirtschaftsembargo der USA darzustellen.30 Die sprachliche Gestaltung spielt ebenfalls eine zentrale Rolle in der Meinungsbildung. Begriffe wie „Diktatur“ oder „Einparteiendiktatur“ erzeugen negative Assoziationen und prägen die Wahrnehmung Kubas. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Wikipedia-Eintrag zu Kuba, der als oft genutzte Informationsquelle eine subtile, aber wirkungsvolle Form des Framings betreibt.31

Ein weiteres Mittel ist die Emotionalisierung. Bilder von Protesten, leeren Supermarktregalen oder verzweifelten Menschen schaffen eine emotionale Verbindung, die die Berichterstattung untermauert und eine bestimmte Deutung suggeriert. Journalisten entscheiden oft, auf welche Aspekte einer Geschichte sie ihren Fokus legen. Während westliche Medien häufig den Fokus auf einzelne gewaltsame Reaktionen auf Proteste in Kuba legen, soll dies den Eindruck eines repressiven Staates erwecken. Diese Techniken tragen dazu bei, dass die US-Blockade als zentraler Faktor für die wirtschaftliche Lage Kubas in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund tritt. Ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung wird von der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba e.V. geleistet, insbesondere durch die Rubrik „Kuba im Medienspiegel“ in der Zeitschrift „Cuba Libre“.32

6. Herausforderungen und Zukunftsaussichten: Internationalistische Solidarität als strategische Notwendigkeit für Kuba


Die Solidaritätsbewegung mit Kuba in Deutschland hat sich historisch unterschiedlich entwickelt, abhängig von den politischen Linien der BRD und DDR. Während die DDR eine klar definierte, staatlich unterstützte Solidarität praktizierte, formierte sich in der BRD eine Vielzahl kleiner, unabhängiger und oft pluralistischer Initiativen. Um die Solidaritätsarbeit zu bewahren, muss ihr politischer Kern als Teil des globalen antiimperialistischen und antikapitalistischen Kampfes gefestigt und verteidigt werden. Gleichzeitig ist es entscheidend, neue Wege zu finden, um die breite Gesellschaft zu erreichen und die Verbindung zu Kuba aufrechtzuerhalten.

Kuba ist aufgrund des von den USA geführten Wirtschaftskriegs und begrenzter Ressourcen stark auf internationale Unterstützung angewiesen. Beziehungen zu Ländern wie Venezuela, China und Russland ermöglichen es Kuba, wesentliche Güter zu importieren und die Wirtschaft zumindest teilweise zu stabilisieren. Dennoch bleibt die Solidaritätsarbeit aus westlichen Ländern, insbesondere aus Deutschland, unerlässlich, um auch Druck in den imperialistischen Zentren aufzubauen.

Die aufstrebende Rolle der BRICS-Staaten bietet Kuba neue wirtschaftliche Möglichkeiten und diplomatische Stärkung. 2024 wurde Kuba als Partnerland in die BRICS aufgenommen, zusammen mit anderen Ländern des Globalen Südens. Dies ist ein wichtiger Schritt für Havanna, um sich wirtschaftlich unabhängiger von der US-Blockade zu machen. Außenminister Bruno Rodríguez Parrilla betonte auf dem Gipfel in Kasan die zunehmende Bedeutung der BRICS als Hoffnungsträger für eine gerechtere Weltordnung, während die Dominanz der USA und der EU weiter schwindet. Dies spiegelt sich im wachsenden Einfluss der BRICS-Staaten wider, die sowohl ihren Anteil an der Weltwirtschaft ausbauen als auch strategisch wichtige Rohstoffe kontrollieren. Künftig könnten sie eine noch stärkere Rolle auf den globalen Märkten für Getreide und Energie spielen. Kuba bringt in das Bündnis bedeutende Vorkommen an Nickel, Chrom und Kobalt sowie Erfolge in der Pharma- und Biotechnologie ein. Die verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit innerhalb der BRICS könnte es Kuba erleichtern, US-Sanktionen zu umgehen, insbesondere durch die Nutzung alternativer Währungen und Finanzsysteme. Die Aufnahme Kubas und Boliviens in die BRICS wird als Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit betrachtet. Der nächste BRICS-Gipfel 2025 in Brasilien dürfte die Rolle Lateinamerikas weiter hervorheben.33 Die Kooperation mit Kuba folgt natürlich nicht nur politischen Solidaritätsmotiven, sondern ist auch von geopolitischen und ökonomischen Kalkülen geprägt. Einerseits bietet die BRICS-Kooperation eine strategische Möglichkeit, die US-Dominanz zu unterlaufen; andererseits bleibt sie innerhalb der kapitalistischen Weltordnung verhaftet und kann keine grundlegende Alternative zum Aufbau des Sozialismus darstellen.

Die ideologischen Debatten über den Entwicklungsstand des kubanischen Sozialismus und die Kritik an der kubanischen Regierung bergen die Gefahr, die eigentlichen Probleme zu verschleiern, den Kontext zu verschieben und den Druck auf Kuba zu erhöhen. Während solche Debatten wertvoll für die Einschätzung der Lage sein können, muss „solidarische Kritik“ klar von destruktiver Kritik unterschieden werden. Diese Doppelrolle muss in der solidarischen Analyse berücksichtigt werden, um eine realistische Einschätzung der Perspektiven für Kuba zu ermöglichen. Eine Entsolidarisierung mit der kubanischen Regierung hätte jedoch schwerwiegende Konsequenzen für den internationalen Klassenkampf und den Antiimperialismus. W. I. Lenin erklärte die Notwendigkeit des proletarischen Internationalismus folgendermaßen: „Die Herrschaft des Kapitals ist international. Das ist der Grund, weshalb auch der Kampf der Arbeiter aller Länder für ihre Befreiung nur dann Erfolg haben kann, wenn die Arbeiter gemeinsam gegen das internationale Kapital vorgehen … Die Vereinigung der Arbeiterklasse, ihr Zusammenschluss, beschränkt sich nicht auf die Grenzen eines Landes oder auf eine Nationalität: Die Arbeiterparteien verschiedener Staaten verkünden laut und vernehmlich die völlige Übereinstimmung (Solidarität) der Interessen und Ziele der Arbeiter der ganzen Welt … und schließen die Arbeiterklasse aller Nationalitäten und aller Länder zu einer einzigen großen Arbeiterarmee zusammen. Diese Vereinigung der Arbeiter aller Länder ist eine Notwendigkeit, dadurch hervorgerufen, daß die über die Arbeiter herrschende Kapitalistenklasse ihre Herrschaft nicht auf ein einzelnes Land beschränkt.“34 Lenins Analyse der internationalen Natur des Kapitals und der daraus resultierenden Notwendigkeiten der Arbeiter-Solidarität bietet einen zentralen Bezugspunkt für die Unterstützung Kubas im Kampf gegen imperialistische Blockaden und wirtschaftliche Aggressionen. Wie Lenin aufzeigte, ist die Herrschaft des Kapitals international organisiert, was sich in der heutigen Zeit besonders in der globalen Finanzstruktur, den Handelsbeziehungen und den Mechanismen von Sanktionen und Blockaden widerspiegelt.

Die Blockade gegen Kuba, die seit über sechs Jahrzehnten von den USA durchgeführt wird, ist ein Ausdruck dieser internationalen kapitalistischen Kontrolle. Sie zielt darauf ab, ein sozialistisches Land zu isolieren und wirtschaftlich zu schwächen, um es den Interessen des globalen Kapitals gefügig zu machen. Kubas Widerstand gegen diese Blockade und die konsequente Verteidigung seiner Errungenschaften durch den Aufbau des Sozialismus sind daher ein Kampf, der weit über die Landesgrenzen hinaus Bedeutung hat. Es ist ein direkter Schlag gegen die internationalen Mechanismen der kapitalistischen Unterdrückung. Die Notwendigkeit, dass Arbeiter aller Länder gemeinsam gegen das internationale Kapital vorgehen, findet ihre Entsprechung in der internationalen Solidaritätsbewegung mit Kuba. Indem Arbeiter, Gewerkschaften und antiimperialistische Organisationen weltweit die Blockade anprangern und Kuba praktisch unterstützen – sei es durch Spenden, den Austausch von Wissen oder die Verbreitung der Wahrheit über die Auswirkungen der Blockade – leisten sie einen Beitrag zur Schwächung der imperialistischen Strukturen. Diese Solidarität verdeutlicht, dass der Kampf der kubanischen Bevölkerung nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern ein integraler Bestandteil des internationalen Kampfes gegen die Vorherrschaft des Kapitals ist.

7. Organisationsformen der Kubasolidarität

In Deutschland haben sich verschiedene Formen der Solidarität bewahrt, die sich in den Organisationsstrukturen der Kubasolidaritätsbewegung widerspiegeln. Über die Jahrzehnte hinweg entstanden Netzwerke, Initiativen und Bündnisse, die sich der praktischen Unterstützung Kubas widmen und den antiimperialistischen Kampf auf internationaler Ebene stärken. Ihr Spektrum reicht von überregionalen Organisationen bis hin zu lokalen Gruppen, die auf vielfältige Weise zur Solidaritätsarbeit beitragen. Bereits in den 1970er Jahren schlossen sich in der BRD verschiedene Gruppen aus unterschiedlichen Bereichen und Regionen zusammen, um Kuba zu unterstützen. So leisteten etwa der Gesundheitsladen Berlin e.V. und das Pro Cuba – Komitee technische Unterstützung.35 Auch Gewerkschaften wie die IG Metall beteiligen sich aktiv an der Solidaritätsarbeit, etwa durch Resolutionen, Spendenkampagnen und politische Initiativen gegen die US-Blockade, zuletzt mit einem Antrag auf dem 25. Gewerkschaftstag 2023.36

Ein zentraler Akteur ist das 1993 gegründete Netzwerk Cuba – Informationsbüro e. V., das als Dachorganisation für mittlerweile 40 Solidaritätsgruppen fungiert, darunter Cuba Sí, die AG Kuba der Partei DIE LINKE und die Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba.37 Letztere ist die älteste Solidaritätsorganisation der BRD und organisiert regelmäßig Informationsveranstaltungen, Solireisen und Spendenkampagnen. Zudem veröffentlicht sie die Zeitschrift CUBA LIBRE, die über die Lage in Kuba und die Auswirkungen der US-Blockade informiert. Unter folgendem Link ist das Archiv der Zeitschrift CUBA LIBRE zu finden, das wertvolle Informationen bereitstellt: https://fgbrdkuba.de/cl/cuba-libre-archiv.php Seit 1991 setzt sich die AG Cuba Sí mit Solidaritätsprojekten in den Bereichen Landwirtschaft, Gesundheitswesen, Bildung und Kultur für das sozialistische Kuba ein. Außerdem gibt sie das vierteljährlich erscheinende Magazin Revista heraus. Ein Beispiel für ein Projekt ist die Kampagne „Milch für Kubas Kinder“, durch die bereits zahlreiche Landwirtschaftsprojekte erfolgreich umgesetzt wurden. Darüber hinaus werden jährlich mehrere Schiffscontainer mit dringend benötigten Hilfsgütern zur Unterstützung auf die Insel verschickt.38 Auch kommunistische Organisationen wie die DKP setzen sich aktiv gegen die US-Blockade ein und unterstützen Kuba durch verschiedene Solidaritätsprojekte. Nach 1990 leisteten sie zudem Hilfsmaßnahmen und trugen aktiv zur Herausgabe der deutschsprachigen Ausgabe der kubanischen Zeitung Granma bei.39 Ergänzt wird die Solidaritätsarbeit durch internationale Kampagnen wie Unblock Cuba!, die sich gegen das US-Embargo richten und durch Konferenzen, Reisen und Medienarbeit die weltweite Vernetzung der Solidaritätsbewegung fördern.40

8. Wie weiter?

Sowohl materielle als auch politische Solidarität müssen gezielter, wirkungsvoller und stärker auf das Dringliche fokussiert werden. Dazu gilt es, unsere begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen zu bündeln und die Zusammenarbeit zu intensivieren. Entscheidend sind Maßnahmen, die mit minimalem Aufwand maximale Wirkung entfalten – auch um die Medienblockade zu durchbrechen. Jede Aktion muss sorgfältig durchdacht und strategisch abgewogen werden. Mehr Anstrengung bedeutet nicht „mehr vom Gleichen“, sondern eine qualitative Verbesserung: höhere Effektivität, größere öffentliche Aufmerksamkeit und mehr Druck auf Entscheidungsträger.

Praktisch bedeutet Solidarität mit Kuba, konkrete Unterstützung zu leisten – sei es durch politische Aktionen, materielle Hilfe oder die Verbreitung von Informationen. Theoretisch gilt es, die kubanische Revolution als Teil des weltweiten Klassenkampfes zu verstehen und zu verteidigen. Für die Menschen in Kuba hat internationale Solidarität direkte Auswirkungen: Sie stärkt das Durchhaltevermögen angesichts der durch die US-Blockade verursachten wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Eine Schwächung dieser Solidarität würde die Lebensbedingungen weiter verschlechtern und die moralische Unterstützung für den Fortbestand des sozialistischen Projekts untergraben. Internationalistische Solidarität ist für Kuba daher eine strategische Notwendigkeit, um in einem feindlichen Umfeld zu bestehen und seine Revolution zu bewahren.

1Vgl. Schaaf, Günther (2002): Che Guevara, S. 120

2https://fidelcastroarchiv.blogspot.com/2007/08/das-imperium-und-die-unabhngige-insel.html

3https://www.kubakunde.de/neues/trump

4https://amerika21.de/2019/08/230202/kuba-cuba-tourismus-sanktionen-usa

5https://www.dw.com/de/trump-setzt-kuba-wieder-auf-terrorliste/a-56198744

6https://www.berliner-zeitung.de/news/trump-setzt-kuba-wieder-auf-us-terrorliste-china-spricht-von-tyrannei-li.2290394

7https://www.jungewelt.de/artikel/491890.usa-kuba-etwas-luft-f%C3%Bcr-kuba.html

8https://amerika21.de/2024/05/269796/usa-lockern-sanktionen-privatsektor-kuba

9https://amerika21.de/2024/07/270353/kriegswirtschaft-kuba-ministerrat

10Vgl. Langer, Heinz (2010): Zärtlichkeit der Völker – Die DDR und Kuba, S. 8

11ebd., S. 49

12ebd., S. 21

13Vgl. Langer, Heinz (2010): Zärtlichkeit der Völker – Die DDR und Kuba, S. 17

14Vgl. Langer, Heinz (2010): Zärtlichkeit der Völker – Die DDR und Kuba, S. 149 ff

15ebd., S. 160

16 Vgl. Langer, Heinz (2010): Zärtlichkeit der Völker – Die DDR und Kuba, S.36

17ebd., S. 23

18ebd., S. 48ff

19Die Hallstein-Doktrin besagte, dass die BRD die diplomatischen Beziehungen zu allen Staaten abbricht, die die DDR anerkennen, das heißt diplomatische Beziehungen zur DDR aufnehmen. Entsprechend konnten alle Staaten, die Beziehungen zur DDR aufnahmen, keine bundesdeutsche Entwicklungshilfegelder erhalten.

20https://quetzal-leipzig.de/printausgaben/ausgabe-06-07-lateinamerika-und-deutschland/tauziehen-um-kuba

21Vgl. Burchardt, Hans-Jürgen (2001): Kubas langer Marsch durch die Neunziger — eine Übersicht in Etappen, S. 25

22 ebd., S. 28

23Vgl. Hermsdorf, Volker (2016): Kuba – Aufbruch oder Abbruch? S.110

24https://de.granma.cu/mundo/2019-01-11/vom-gesang-der-spottdrossel-zu-dem-der-grille

25https://de.granma.cu/mundo/2021-06-01/millionen-us-dollar-fur-die-subversion-und-da-soll-kuba-keine-prioritat-sein

26http://de.cubadebate.cu/news/2021/06/11/die-usa-finanzieren-nichtregierungsorganisationen-zur-einmischung-kuba/

27https://www.fgbrdkuba.de/cl/cltxt/cl2024122-kuba-im-medienspiegel.php

28https://www.hrw.org/news/2020/07/23/cuba-repressive-rules-doctors-working-abroad

29https://www.tagesschau.de/ausland/kuba-wirtschaftskrise-101.html

30https://taz.de/Wirtschaftskrise-auf-Kuba/!5979812/

31https://de.wikipedia.org/wiki/Kuba

32http://www.cuba-libre-magazin.de/

33revista_2025-01, S.4ff

34LW, Bd. 2, S. 101 ff.

35http://www.cuba-libre-magazin.de/

36https://www.igmetall.de/download/20240321_25_oGT_Beschlussbuch_alle_Antr_ge_e2a291ba8b8d13ad70f7dd95415c871e4f41d3df.pdf

37Vgl. Hammer, Heinz u. Schwitalla, Frank (2013): Solidarität – Die Zärtlichkeit der Völker: 20 Jahre Netzwerk Cuba – Informationsbüro – e.V., S. 15

38https://cuba-si.org/projekte

39 https://www.unsere-zeit.de/wir-haben-unseren-internationalistischen-beitrag-geleistet-55952/

40https://www.jungewelt.de/artikel/424897.hintergrund-unblock-cuba.html

Brot und Rosen – heute wie damals!

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Heute ist internationaler Frauenkampftag. Ein Tag, der für den internationalen Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen steht, die besonders von Unterdrückung, Krieg und Ausbeutung steht. Ein Tag, den wir eigentlich jeden Tag begehen müssten und der weit in die Geschichte der Arbeiterbewegung zurückreicht: In Deutschland fand der Frauenkampftag erstmals 1911 statt, die Idee ging von sozialistischen Frauen aus. Die Forderung nach Brot und Rosen stellten amerikanische Textilarbeiterinnen auf – sie wollten sowohl materielle Teilhabe als auch Teilhabe an anderen Bereichen des Lebens, wie der Politik. Mit den Streiks der Frauen im russischen Petrograd 1917, die für Brot und Frieden streikten, wurde das Datum des internationalen Frauentags auf den 8. März gelegt.

Diese Wurzeln rücken in heutigen Diskussionen um den Kampf um die Rechte der Frau oft in den Hintergrund. Längst wurden die Kämpfe um die Befreiung der Frau kapitalistisch integriert. Sei es durch Modeketten, die T-Shirts mit „feministischen Slogans“ produzieren, durch bürgerliche Parteien oder durch Annalena Baerbocks „feministische Außenpolitik“, mit der sie versucht imperialistische Kriege gegen die Unterdrückten dieser Welt als fortschrittlich darzustellen. Oft geht es heute um Sprach- und Identitätspolitik, seltener um die materiellen Wurzeln der Unterdrückung der Frauen – durch mörderische Sanktionen und Kriege oder durch Gewalttaten und Armut. In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/ oder sexualisierter Gewalt und jede fünfte Frau ist von Altersarmut betroffen.

Frauenkampftag heißt Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung aller Unterdrückten Hand in Hand. Dieser Kampf kann nicht ohne die unterdrückten Frauen gewonnen werden. Frauenkampftag heißt aber auch Erinnern an unser Vorkämpfer, ihre Geschichten und Erfahrungen. Eine dieser Vorkämpferinnen ist Grete Groh-Kummerlöw, die Zeit ihres Lebens für die Befreiung der Menschen von den imperialistischen Fesseln kämpfte.

Zwei Genossinnen arbeiteten in den letzten Jahren an ihrer Biographie, die bald veröffentlicht wird. Heute wollen wir anlässlich des diesjährigen Frauenkampftages einen kurzen Ausschnitt daraus vorab veröffentlichen. Wir haben dazu die Einleitung sowie Ausschnitte aus einer Rede Gretes zum Frauenkampftag 1958 ausgewählt. Sie spricht darin viele Themen an, die auch heute noch aktuell sind: die notwendige Verbindung des Frauenkampfes mit antikolonialen Kämpfen, mit dem Kampf gegen einen dritten Weltkrieg und mit dem Kampf für den Sozialismus – in Gretes Fall, die in der DDR lebte und arbeitete, hieß das die Aufrechterhaltung und Ausweitung dessen.

Grete Groh-Kummerlöw

Sieben Jahrzehnte – Der Weg einer Kämpferin (1909 – 1980)

von Anna Martel und Ella Kallenberg

Die ursprüngliche Idee zur Beschäftigung mit dem Leben von Margarete Groh-Kummerlöw (genannt Grete) entstand aufgrund einer Ausschreibung des Weltgewerkschaftsbundes. Dieser rief dazu auf, sich mit Persönlichkeiten der internationalen Gewerkschaftsbewegung auseinanderzusetzen. Im Rahmen unserer Recherche fokussierten wir uns auf weibliche Gewerkschafterinnen, da deren Geschichten allzu oft unerzählt bleiben – und so stießen wir auf Grete Groh-Kummerlöw. Ihr Lebensweg beeindruckte uns sofort, da er durch die zentralen Kapitel der deutschen Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert führt. Sich mit ihrer Geschichte zu befassen bedeutet, sich mit der revolutionären Geschichte der deutschen Arbeiterklasse zu befassen. Grete Groh-Kummerlöws Lebensweg beginnt fünf Jahre vor dem ersten Weltkrieg. Sie wuchs in einer Arbeiterfamilie auf und erlebte unmittelbar die Schrecken des Krieges und die großen Nöte der Bevölkerung, die unter Armut und Hunger litt.

Grete war aber auch Teil des wachsenden Selbstbewusstseins der Arbeiterinnen und Arbeiter, erlebte das Erstarken der Gewerkschaften und den Aufbau der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Im Faschismus zögerte sie nicht, in den aktiven Widerstand zu gehen, und erfuhr hautnah die Befreiung durch die Rote Armee. Unmittelbar nach ihrer Befreiung aus dem Gefängnis und der Niederlage des deutschen Faschismus beteiligte sie sich an dem Wiederaufbau innerhalb der sowjetischen Zone und den Diskussionen darum. Für sie, die bereits zwei Weltkriege miterlebt hatte, stand fest: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Doch die Aufbauarbeit in der DDR war keinesfalls leicht oder ohne Widersprüche. Im Gegenteil war es trotz der Erfahrung des Faschismus schwierig, die Organisationen der Arbeiterklasse zu einen, die Frauen zu aktivieren und gemeinsam eine neue Gesellschaft aufzubauen. Gretes Biographie lehrt uns somit auch viel über die kleinteilige und geduldige Arbeit an der Basis, die für den Aufbau schlagkräftiger Organisationen damals wie heute relevant ist.

Die Gewerkschaftsarbeit blieb für Grete ihr ganzes Leben lang zentral, sowie die Aktivierung von Frauen für die Kämpfe ihrer Klasse. Grete spielte nicht nur im Aufbau der DDR, sondern auch international eine wichtige Rolle, so wurde sie beispielsweise 1953 in das höchste leitende Gremium des Weltgewerkschaftsbundes gewählt. Gretes Biografie gibt einen wichtigen Einblick in die Brutalität des Imperialismus und Faschismus, sowie in die Versuche der Arbeiter sich dagegen zu organisieren – bis hin zur Schaffung der höchsten Form der Organisierung gegen Faschismus und Imperialismus – der Schaffung eines sozialistischen Staates.

Dass Gretes Biographie trotz ihrer entschiedenen Rolle in der deutschen Gewerkschaftsbewegung weitgehend unbekannt ist, ist Ausdruck dessen, wie schlecht diese Geschichte aufgearbeitet ist und wie wenig Bezug in heutigen politischen Bewegungen darauf genommen wird. Wir leben in einer Zeit, in der Organisationen wie der Weltgewerkschaftsbund in Deutschland irrelevant und vergessen sind und die Gewerkschaften immer weniger Organe der aktiven Kämpfe gegen den Imperialismus sind, sich stattdessen mindestens von Führungsebene aus immer mehr mit ihm gemein machen. Zu verstehen, wieso es zu diesen Entwicklungen gekommen ist und um die Organisierung in Deutschland gegen Armut, Ausbeutung, Aufrüstung und Kriege wieder zu stärken, ist es notwendig, sich mit den historischen Erfahrungen, Problemen und Widersprüchen dieser Kämpfe auseinanderzusetzen. Gretes Biographie bietet einen ersten Einstieg dafür. Sie ermöglicht gleichzeitig den inspirierenden Lebensweg einer beeindruckenden Kommunistin kennenzulernen, die ihr Leben der Verbesserung der Lage der arbeitenden Bevölkerung, besonders der Arbeiterfrauen, widmete, sowie dem Kampf gegen den Faschismus und dem Aufbau des ersten Arbeiterstaats auf deutschem Boden.

[…]

Grete hielt 1958 eine Rede zum Internationalen Frauenkampftag. Sie betonte darin den Kampf gegen Unterdrückung und Krieg – gemeinsam von Frauen und Männern, internationalistisch und über die Grenzen hinweg. Diese Rede hat nicht an Aktualität verloren:

Wir begehen den internationalen Frauentag als Kampf- und Ehrentag der Frauen der ganzen Welt. Er steht im Zeichen des verstärkten Kampfes aller friedliebenden Menschen, aber besonders der Frauen, um die Erhaltung des Friedens.

Djamila, eine algerische Patriotin (22 Jahre) zum Tode verurteilt! Warum? Sie kämpfte: gegen den Kolonialismus und die blutige Unterdrückung des Volkes durch die französischen Imperialisten. Weil sie ihr Vaterland, die Freiheit und das Leben liebt. Mit 21 Jahren trat Djamila der Nationalen Befreiungsfront bei und wurde bald Kurier beim Stab der Befreiungsfront. Sie führte unerschrocken die schwierigsten Aufträge aus. Am 9. April 1957 wurde Djamila während einer Razzia im Araberviertel in Algerien von der Salwe einer Maschinenpistole getroffen, schwer verwundet brach Djamila zusammen.

Es begann ein schwerer Leidensweg durch die Gefangenschaft. Verhöre wurden durchgeführt, man folterte sie mit Strom, bis sie ohnmächtig zusammenbrach, man schlug sie, aber Djamila schwieg. Als sie am 26. April vom französischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde, rief sie ihren Henkern zu: „Mein Volk lebt und wird leben!“

Und ich weiß, daß das französische Volk und alle freiheitsliebenden Völker an seiner Seite stehen. Nun, liebe Frauen und Mädchen, daß ist in den letzten Tagen beweisen worden durch die große Internationale Solidarität aller friedliebenden Menschen und Persönlichkeiten der verschiedensten Länder, die die Aufhebung des Todesurteils forderten. Allein in Berlin sind über 5.000 Telegramme an den französischen Präsidenten geschickt worden. Hier wird durch unsere FDJ eine große Bewegung ausgelöst, weil Djamila ein [sic] junge leidenschaftliche Patriotin ist.

Ich erinnere an die Zeit des faschistischen Terrorregimes in Deutschland 1933 bis 1945. Auch hier haben wir mutige Frauen und Mädels in der antifaschistischen Widerstandsbewegung gehabt. Solche Frauen, wie Katja Neukirchner, Geschwister Scholl, auch meine Schwester ist ein Opfer des Faschismus im Plauener Gefängnis geworden, während ich meine Freiheit Dank der Sowjetarmee wieder erlangen konnte aus den Klauen der Faschisten.

In der DDR begehen wir den 8. März mit einer großen Volksinitiative für Frieden und Sozialismus. Ziel dabei: Unsere Republik weiter zu entwickeln und unsere Arbeiter-und-Bauern-Macht weiter zu festigen, mit guten Taten für unsere gemeinsame sozialistische Sache und damit für eine glückliche Zukunft unserer Kinder. Um diese glückliche Zukunft der Kinder zu sichern, erfordert es, einen neuen dritten Weltkrieg, der mit Atom- und Vernichtungswaffen geführt werden soll, zu verhindern. Das muß jeden [sic] zur persönlichen Verpflichtung werden, diesen Kampf so zu führen, als hängt es von seinem Tun und Handeln allein ab. Wir sind in der Lage, die Anschläge auf den Frieden zu verhindern, denn die Friedensbewegung ist ständig im Wachsen, sie hat sich stark erweitert und durch Taten gefestigt. Allein die Tatsache des Vorhandenseins des sozialistischen Lagers – 1/3 der Welt – 990 Millionen Menschen zeigt das Wachsen dieses großen sozialistischen Lagers.

Diese Kraft mit der Weltfriedensbewegung und der Sowjetunion an der Spitze mit ihrer konsequenten Friedenspolitik ist im Stande, die Aggressoren zurückzuschlagen. Die Sowjetunion beweist durch ihre Vorschläge immer auf’ s neue ihre ehrliche Friedenspolitik. Der Vorschlag einer Gipfelkonferenz der 4 Großmächte wurde von der USA abgelehnt. Dulles zeigt, daß er keinen Frieden will, indem er erneut die Vorschläge der Sowjetunion ablehnte, obwohl die Sowjetunion jetzt bereit war, auch eine Außenministerkonferenz einzuberufen, um damit aber dann die Gipfelkonferenz durchführen zu können. Das lehnte Dulles ab und Adenauer und Strauß gehörten mit in dieses Lager imperialistischen Kräfte, die weiterhin bestrebt sind, ihren Atomkrieg vorzubereiten.

Der Vorschlag Rabatzki, Außenminister Polen, eine atomwaffenfreie Zone in Europa zu schaffen, hat eine große Bewegung, international gesehen, ausgelöst. Aber auch in Westdeutschland stimmten immer weitere Schichten diesen Vorschlägen zu und befürworten einen solche atomwaffenfreie Zone. Auch in Parteikreisen des Bonner Kanzlers wird die Forderung laut nach Verhandlungen mit der Regierung der DDR. Die Menschen werden aufgerüttelt, da sie interessiert sind an einem atomwaffenfreien und Raketenabschußbasenfreien Raum, denn sie wollen leben und nicht in einem neuen Krieg zugrunde gehen. In Westdeutschland erleben die Menschen selbst, daß die Bundeswehr atomar aufgerüstet wird, daß amerikanische Raketenabschußbasen auf dem gebiert der Bundesrepublik geschaffen werden. Durch diese Tatsachen wenden sich die Menschen dem gemeinsamen Handeln zu und stellen das, was sie trennt, zurück.

Beweis dafür: Die 21 Hamburger Frauenorganisationen, die von der Bonner Regierung verlangten: alle Pläne zu fördern, die die Bundesrepublik zum atomwaffenfreien Raum machen. Oder: Wie jene 80 Frauen Westdeutschlands, die in der letzten Tagung des Deutschen Frauenrates am 22. Und 23.8.58 in Berlin gemeinsam mit den Vertreterinnen der DDR den Vorschlag unseres Ministerpräsidenten Otto Grotewohls auf Durchführung einer Volksabstimmung in beiden deutschen Staaten über diese lebenswichtigen Fragen zustimmten – ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedensten Organisationen. Er gibt die Möglichkeit, Kriege zu verhindern und den Frieden zu erhalten. Das muß den Frauen und Müttern für ihren Kampf neue Impulse geben. […]

Ich möchte schließen mit den Worten von Bertholt Brecht.

Ihr Mütter, da es Euch anheim gegeben,

Den Krieg zu dulden oder nicht zu dulden,

Ich bitt Euch, lasset Eure Kinder leben!

Daß sie Euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden:

Ihr Mütter, lasset Eure Kinder leben!“1

aus: Martel, Kallenberg (2025): Grete Groh-Kummerlöw -1909 – 1980. Sieben Jahrzehnte – Der Weg einer Kämpferin. Vorabveröffentlichung.

1 aus dem Nachlass´ Grete Groh-Kummerlöws, mit Genehmigung von F. Kummerlöw

Podcast #49 – Antifa und rechter Terror

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Wir hatten zwei Aktivisten der Migrantifa Rhein-Main zu Gast um über Hanau, die erstarkende Rechte und den Zustand der antifaschistischen Bewegung zu sprechen. 

Wo steht die Antifa und was kann sie aktuell leisten? Beide gehen scharf in die Kritik und bringen eigene Perspektiven ein.

Auf Grund eines kleinen Fehlers mussten wir den Podcast nochmal neu hochladen.

Vorwort Programmatische Thesen

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Fast sieben Jahre nach der Verabschiedung der „Programmatischen Thesen” (PT) auf der ersten Vollversammlung der KO 2018 haben sich nicht nur die politischen Verhältnisse, sondern auch wir uns als Organisation stark verändert. Sowohl der Charakter der PT als auch Teile ihres Inhalts passen nicht mehr zu uns als Organisation. Allerdings halten wir zentrale Punkte des Dokuments weiterhin für relevant und möchten es daher nicht einfach verwerfen. Zudem sagen sie viel darüber aus, woher wir kommen und welche Entwicklung wir vollzogen haben. Aus diesem Grund wollen wir das Dokument aus heutiger Perspektive einordnen- sowohl hinsichtlich seiner Entstehung als auch seiner Rolle in der Spaltung unserer Organisation im Jahr 2023 und der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Imperialismusthese. Vorab wollen wir kurz einordnen, wie wir nun mit diesem Dokument umgehen.

Der weitere Umgang mit den Programmatischen Thesen

Die PT haben ihre Funktion in einer spezifischen Phase des Gründungsprozesses erfüllt. Später wurden sie als Werkzeug zur Durchsetzung einer bestimmten politischen Linie missbraucht. Heute ist die KO ein anderer Zusammenhang, der sich über manche inhaltlichen Mängel der PT hinaus entwickelt hat und nicht zuletzt ein kollektiveres Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit und Klärung erlangt hat. Wir arbeiten weiterhin daran, unseren Bildungsstand anzuheben, die Klärungsarbeit fortzusetzen und unser Verständnis der Krise der Bewegung zu schärfen, weshalb wir aktuell noch keine komplette Überarbeitung des Dokuments vornehmen werden. So lange dienen uns die Programmatischen Thesen nicht mehr als unser Grundlagendokument, sondern als Teil der Geschichte unserer Organisation und wichtiges Arbeitsdokument, anhand dessen wir weiter diskutieren werden. Wir nutzen sie weiterhin, wenn wir mit neuen Interessierten an der KO diskutieren, jedoch nicht mehr als eine Art „Programm“, dem in allen Punkten zugestimmt werden muss, sondern als Reflexion und Vermittlung der inhaltlichen Diskussion in unserer Organisation.

Die Entstehung der Programmatischen Thesen:

Die Programmatischen Thesen entstanden im Gründungsprozess der KO. Damals gab es das Bedürfnis, eine gemeinsame inhaltliche Grundlage festzuhalten, anhand derer wir uns gemeinsam organisieren und in der Bewegung verorten konnten. Uns war zum Beispiel wichtig, uns klar auf die Sowjetunion und die DDR als realen Sozialismus zu beziehen und uns damit von den Strömungen abzugrenzen, die diese wichtigen Kampferfahrungen negieren und der UdSSR und DDR den sozialistischen Charakter absprechen. Einerseits haben die Thesen diesen Zweck erfüllt, andererseits waren sie kein Ergebnis einer wirklich kollektiven Diskussion, sondern wurden in sehr kurzer Zeit von wenigen Genossen geschrieben und nur wenige waren zu ihrer Qualifizierung in der Lage. Auch im späteren Verlauf der KO zeigte sich immer wieder, dass viele ihrer Aspekte nicht tiefgehend durchdrungen wurden und teils nur oberflächlich darauf Bezug genommen wurde.  Die Diskussion um konkrete antiimperialistische Positionen war noch nie ausreichend in den Thesen abgedeckt. Die Bedeutung dieses Defizits zeigten uns jedoch erst die weltpolitischen Ereignisse auf, die unsere Diskussion darum beschleunigten.

Die KO wurde mit dem Ziel gegründet, der Krise der Bewegung entgegenzuwirken, insbesondere in Bezug auf inhaltlicher Klarheit, Verankerung in den Massen und Disziplin. Ein zentraler Baustein dabei ist ein inhaltlicher Klärungsprozess, da ein Mangel an Klarheit und Diskussionsbereitschaft über brennende Fragen der Bewegung erkannt wurde. Die programmatischen Thesen sollten als Rahmen für diesen Klärungsprozess dienen, weshalb sie auch offene Fragen beinhalten. Schon damals gab es allerdings verschiedene Haltungen zum Stellenwert dieser offenen Fragen. Einige Genossen fanden die Benennung zu erforschender Fragen unwichtig und legten mehr Wert auf eine klare Positionierung. Beim Lesen wird deutlich, dass einige dieser offenen Fragen in Widerspruch zu den formulierten Aussagen stehen. 

Dieser widersprüchliche Charakter war zwar von Anfang an vorhanden, allerdings wurde die programmatische Auslegung durch den praktischen Umgang, z.B. die Zustimmung zu den Thesen als Aufnahmevoraussetzung in die KO, gestärkt, was wir erst mit der Spaltung wirklich erkannten und problematisierten.

Die Verwendung der Thesen in der Spaltung

Mit der erfolgreichen Vertreibung der US-Besatzer aus Afghanistan 2021 begann in unserer Organisation eine Diskussion um die Bedeutung der nationalen Frage. Nach Beginn der russischen Militäroperation (MOP) in der Ukraine wurden dann besonders die Abschnitte, die das Imperialismusverständnis betreffen, auf den Prüfstand gestellt. Während die Thesen und Fragen zum Imperialismus ausgereicht hatten, um einen organisatorischen Ausgangspunkt zu schaffen, stießen wir in der Verortung des Ukrainekriegs auf Widersprüche in den Thesen und unserer Auslegung dieser. Die inhaltlichen Schwächen der PT und unsere mangelhafte Durchdringung der Thematik sowie der widersprüchliche Charakter des Dokumentes wurden zum Problem. Die PT wurden zum Gegenstand des politischen Konfliktes, der in der KO entstanden war und maßgeblich anhand des Dokumentes ausgetragen wurde.

In dieser Auseinandersetzung wurde deutlich, dass unterschiedliche Vorstellungen davon existierten, wie offen und umfassend die Streitfragen der Kommunistischen Bewegung untersucht werden sollten und welche konkrete Bedeutung sie für die politische Arbeit haben sollten. Für die allermeisten stand ein ernsthaftes Interesse an der Klärung lange Zeit im Vordergrund. Allerdings wurde der Begriff des Klärungsprozesses offenbar sehr unterschiedlich verstanden- eine Differenz, die erst mit der Diskussion um die MOP wirklich sichtbar wurde. Im Prozess der Spaltung negierte ein Teil der Organisation den offenen Charakter der PT und der an sie angelehnten Fragen jedoch vollständig und erhob sie zum Programm. Dabei wurden bestimmte Aspekte der Thesen dogmatisch verabsolutiert und eine konkrete Beschäftigung mit der Weltlage ignoriert. Mit Verweis auf die PT wurde behauptet, eine Positionierung, die die russische Intervention in der Ukraine nicht als imperialistischen Krieg bezeichne, verstoße gegen die PT und damit gegen die Organisationsprinzipien der KO. Damit wurde die Diskussion auf eine formale Ebene verschoben und die PT in ein Instrument zur Spaltung der Organisation verwandelt. Eine inhaltliche Diskussion und kollektive Bildung und Auseinandersetzung wurde verunmöglicht. Damit einher ging auch die Instrumentalisierung des Revisionismusbegriffs als Kampfbegriff gegen alle Positionen, die nicht dieser speziellen Interpretation der PT entsprachen. Das schematische, von der „Pyramidentheorie“ der KKE beeinflusste Imperialismusverständnis, das in den PT angelegt ist, hat sich dabei als Einfallstor für eine opportunistische Distanzierung von der sich zuspitzenden politischen Lage herausgestellt. Die Gleichsetzung der Konfliktparteien hat einer äquidistanten Position zu den internationalen Konflikten den Weg geebnet, die im Moment sich zuspitzender Verhältnisse einen politischen Rückzug erlaubt und im entscheidenden Punkt nicht in Opposition zu den Herrschenden geht.

Den abgespaltenen Teil der KO (jetzt: „Kommunistische Partei (KP)“), der die Diskussion nicht im Sinne einer offenen Klärung geführt und die produktive Debatte sowie die Demokratie in der Organisation unter anderem durch Parallelstrukturen untergraben hat, bezeichnen wir im Folgenden als Spalter.

Zur inhaltlichen Widersprüchlichkeit der Programmatischen Thesen (PT)

In den PT werden weitreichende Aussagen getroffen, die durch die offenen Fragen am Ende der jeweiligen Kapitel relativiert und zum Teil infrage gestellt werden. Exemplarisch soll hier der Abschnitt zum Imperialismus beleuchtet werden, mit dem wir uns tiefergehend beschäftigt haben, da er im Zentrum der Auseinandersetzung stand.

Die Thesen betonen zu Recht den ökonomischen Kern des Imperialismus, was natürlich nach wie vor gültig ist. Es gilt, sich deutlich von jeder Auffassung des Imperialismus abzugrenzen, die ihn auf „aggressive Außenpolitik“ verkürzt. Lenin analysierte den Imperialismus als Herrschaftsordnung mit einer spezifischen Entwicklung. In den Thesen wird jedoch eine Vorstellung nahegelegt, die die systemischen Merkmale des Imperialismus auf jegliche kapitalistischen Staaten überträgt und damit die konkrete historische Entwicklung unbeachtet lässt. Entsprechend wird der heutige Kapitalismus als „imperialistischer Kapitalismus“ (S. 8) bezeichnet, ohne klarzustellen, ob damit alle bestehenden kapitalistischen Staaten als imperialistisch gelten oder ob der Begriff auf eine bestimmte Entwicklungsstufe des Kapitalismus verweist.

Dass es eine Herrschaft bestimmter imperialistischer Staaten in der Welt gibt, die sich historisch entwickelt hat, wird negiert, und sogar als Gegensatz zum ökonomisch-systemischen Charakter des Imperialismus (Gesetzmäßige Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus) dargestellt (vgl. S. 10).

Dass an anderer Stelle die „imperialistischen Zentren“ als Akteure der imperialistischen Weltordnung benannt werden (vgl. S. 9), bringt die unausgereifte theoretische Durchdringung und die Widersprüchlichkeit des in den PT formulierten Imperialismusverständnisses zum Ausdruck.

Von den Spaltern wurde aus den Thesen konstruiert, dass es weder eine Vorherrschaft bestimmter imperialistischer Staaten gebe noch einen qualitativen Unterschied zwischen verschiedenen kapitalistischen Staaten, bspw. USA und Mexiko, oder Deutschland und Griechenland. Dem widersprechen wir. Wir verstehen Lenins Imperialismusbroschüre als Untersuchung einer internationalen Herrschaftordnung, mit einigen „Räubern“ an der Spitze, die historisch gewachsen sind und nicht ohne weiteres ausgetauscht werden können. Zentral ist der monopolistische und parasitäre Charakter des Imperialismus, der sich auf Ausplünderung und Aneignung von Wert aus den unterdrückten Staaten stützt. Auch wenn Lenins Schrift keine aktuelle Analyse ersetzen kann, legt sie weiterhin den Grundstein für diese. Es gibt eine weltweite Herrschaftsordnung, an deren Spitze historisch gewachsen die USA und ihre mächtigsten Verbündeten stehen und diese Herrschaftsordnung erhalten. Anhand dieser Ordnung wird der Rest der Welt ökonomisch, politisch und militärisch in unterschiedlichem Maße eingebunden und unterworfen. Der Imperialismus ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts in diese konkrete Form getreten und muss als solche bekämpft und gestürzt werden. Ob der Imperialismus mit der Herrschaft der USA untergeht, ist offen und liegt an der Entwicklung der Kämpfe der Arbeiterklasse und der unterdrückten Völker der Welt. Der Imperialismus ist also ein Stadium des Kapitalismus und nicht einfach eine Form von Politik. Dieses Stadium tritt nicht abstrakt oder beliebig in die Welt, sondern in Form der Staaten, die am meisten Kapital akkumuliert haben, am stärksten ihre Macht ausdehnen konnten und durch eine Kolonial- und Herrschaftsordnung, die sie über die Welt errichteten, diese ausplündern konnten und können. Lediglich von quantitativen Unterschieden zwischen den Staaten und gegenseitiger Abhängigkeit zu sprechen, verschleiert diese realen Herrschaftsverhältnisse.

Aus dieser Perspektive und angesichts der Analyse der konkreten Entwicklungen der letzten Jahre müsste auch die Diskussion um den „objektiven Antiimperialismus“ differenzierter geführt werden. Die Thesen wenden sich gegen den Begriff des „objektiven Antiimperialismus“, der zum Teil auf Russland angewendet wurde. Auf Seite 10 heißt es, dass „die Vorstellung, der Imperialismus sei die Vorherrschaft einiger ‚westlicher‘ oder ‚nördlicher‘ Staaten wie der USA, Westeuropas und Japans“ per se falsch sei. Weiter heißt es, der Imperialismus sei „ein globales System gesellschaftlicher Beziehungen, das alle kapitalistischen Länder umfasst, nicht nur die USA, Japan und Westeuropa. Auch andere Staaten, in denen (monopol-)kapitalistische Verhältnisse bestehen, wie etwa China, können keinen antiimperialistischen Charakter annehmen.“ Hier wird eine vorschnelle und nicht belegte Einordnung Chinas vorgenommen, die Herrschaft der imperialistischen Staaten wird relativiert.

Kapitalistischen Staaten kann kein „objektiver Antiimperialismus“ als Charaktereigenschaft per se zugeschrieben werden, sie agieren in einer Weise, die durch die Herrschafts- und Klassenverhältnisse getragen ist und auch schnell umschlagen kann. Jedoch kann das konkrete Wirken von kapitalistischen Staaten, in Feindschaft zu den herrschenden imperialistischen Zentren, antiimperialistisch sein und dem antiimperialistischen Kampf zuträglich sein. Es kann temporäre Interessensüberschneidungen zwischen den Kapitalisten der unterdrückten Länder und den Interessen der Arbeiterklasse geben. Diese müssen klug genutzt werden. Das per se abzulehnen bedeutet, sich der konkreten Analyse und damit auch der Ausarbeitung von Strategie und Taktik anhand der realen Verhältnisse zu entziehen und in linksradikalen Phrasen zu verfallen, die Antiimperialismus zu einer leeren Worthülse machen.

Insbesondere zum Charakter und der Rolle Chinas sind die Aussagen der PT problematisch und zeugen von vorschnell getroffenen Aussagen ohne gründliche Kenntnisse. Allerdings haben wir uns in den Thesen zugleich den Auftrag gegeben, die Verhältnisse in China besser zu verstehen, was wir weiterhin als wichtige Aufgabe sehen.  

Für die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse der unterdrückten Länder ist relevant, ob sie auch Bündnispartner in Staaten wie China, Russland oder Iran finden können, die es ihnen ermöglichen, besser gegen die imperialistischen Staaten zu kämpfen. Diese realen Fragen nach Kräfteverhältnissen und ihren Auswirkungen auf antiimperialistische Kämpfe tun die Thesen ab, indem sie solche Überlegungen als Illusion in einen „imperialistischen Weltfrieden“ abstempeln (vgl. S.9) – solche falschen Hoffnungen auf einen friedfertigen Imperialismus gibt es natürlich und sie müssen kritisiert werden, sie bilden jedoch nicht die gesamte Diskussion um den größeren Einfluss von Staaten wie Russland und China ab.  

Bezüglich zwischenimperialistischer Konkurrenz und temporärer imperialistischer Bündnisse lässt sich feststellen, dass es seit dem Zweiten Weltkrieg in dem Sinne keine direkten militärischen Konflikte zwischen imperialistischen Staaten gegeben hat und sich die Bündnisse im westlichen Block eher vertieft haben. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Imperialismus friedfertig geworden ist. Im Gegenteil, überall auf der Welt werden Stellvertreterkriege geführt und Länder im Chaos gehalten, um die imperialistische Vorherrschaft zu sichern. Was genau diese Veränderung in der Austragung von Konkurrenz und militärischer Auseinandersetzung bedeutet, müsste weiter untersucht werden.  

In der Imperialismusthese fehlt die Rolle des Neokolonialismus. Durch die fortschreitende Unterdrückung vieler Staaten durch neokoloniale Mechanismen muss nationale Souveränität weiterhin ein zentrales Thema von Antiimperialisten sein (in den PT unter These 6 erwähnt). Nicht etwa nur in Palästina und der Westsahara, sondern auch in vielen formal unabhängigen Staaten z.B. in Lateinamerika, Afrika, Südostasien, die weiterhin weitgehend durch ausländisches Kapital beherrscht werden, sei es durch zweckgebundene Kredite, Strukturanpassungsprogramme oder andere Mechanismen, die diese Länder an dem Aufbau einer eigene Industrieproduktion hindern und somit den Kampf für nationale Souveränität in den Vordergrund rücken.

Sowohl die Herrschaftsmechanismen des Imperialismus als auch die Stellen, an denen diese bröckeln, müssen genauer untersucht werden. Das betrifft das Kreditwesen, Sanktionen, Währungen und auch das Verhältnis der herrschenden imperialistischen Staaten zueinander. Die Potentiale und Grenzen von Bündnissen wie BRICS oder ALBA müssen besser verstanden werden. Das Verhältnis des Kampfes um nationale Souveränität zum Kampf um Sozialismus muss konkret untersucht werden, sowie die konkrete Einordnung Russlands und Chinas.

Wie weiter?

Zum künftigen Umgang mit den Thesen haben wir zu Beginn dieses Vorworts bereits etwas gesagt. Wir haben in den letzten Jahren Positionierungen zum Thema Imperialismus gesammelt, in Vertiefungsgruppen an spezifischen Themen gearbeitet, Veranstaltungen durchgeführt und Diskussionsbeiträge veröffentlicht. Mit dem Studiengang wollen wir unsere Arbeit zu den brennenden Fragen der Bewegung auf solidere Füße stellen und damit auch der Klärung der Fragen, die in den PT enthalten sind, näherkommen.

NVA – Friedensarmee im Kampf gegen Kolonialismus!

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Am 1. März 1956 wurde die Nationale Volksarmee (NVA) der DDR gegründet. Seither beging man diesen Tag im sozialistischen Deutschland als Ehren- und Gedenktag. Die NVA wurde nicht nur als Friedensarmee gegründet, sie ist auch tatsächlich die einzige nationale Armee eines deutschen Staates, die nie Krieg geführt, nie andere Länder bedroht und nie ein anderes Land überfallen hat. 

Doch die NVA hat nicht nur geholfen, den Frieden in Europa zu sichern und den Sozialismus in Ostdeutschland zu verteidigen. Vielmehr hat sie auch aktiv Solidarität mit den antikolonialen Befreiungsbewegungen geleistet. Am Beispiel Afrikas wollen wir den diesjährigen 1. März nutzen, ein paar Schlaglichter auf diese weithin unbekannte Seite Armee der DDR zu werfen.

Afrika-Solidarität der DDR

Praktische Solidarität der DDR mit den afrikanischen Ländern begann bereits in den 1950er Jahren, als sich die Deutsche Demokratische Republik nicht nur politisch und diplomatisch, sondern auch materiell auf die Seite Ägyptens stellte: Nachdem Israel, Großbritannien und Frankreich Ägypten 1956 als Reaktion auf die Verstaatlichung des Suez-Kanals überfallen hatten, sammelte die DDR Spenden für das Land und druckte dafür u. a. eine der beiden ersten Solidaritätsbriefmarken (Zuschlagmarken).1 Auch das algerische Volk bekam während seines Befreiungskrieges (1954-62) materielle Hilfe in Höhe von 18 Millionen Mark aus der DDR, finanziert aus Spenden der Bevölkerung. Ab 1957 wurden verwundete Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront (FLN) Algeriens in der DDR behandelt und rund 400 Algerier erhielten dort nicht nur Asyl, sondern auch ein kostenloses Studium oder eine Fachausbildung. Darüber hinaus organisierte die DDR Propaganda, um Deutsche, die in der französischen Fremdenlegion auf Seiten der Kolonialisten kämpften, zum Desertieren zu bewegen.2

Es folgte vor allem in den 1960er und 1970er Jahren die immer aktivere Unterstützung weiterer nationaler Befreiungsbewegungen und die Entwicklung geschwisterlicher Verhältnisse zu verschiedenen national befreiten Staaten Afrikas, von denen einige sozialistische Entwicklungswege einschlugen. Diese Solidarität hatte verschiede Ebenen und Dimensionen: auf Regierungsebene, aber in vielen Fällen auch insbesondere über Massenorganisationen wie den FDGB und die FDJ sowie durch das Solidaritätskomitee der DDR, durch Diplomatie, Solidaritätsbekundungen und Aufklärungsarbeit, aber auch durch ökonomischen Handel zu Vorzugsbedingungen, humanitäre Hilfe, die Entsendung von politischen und wirtschaftlichen Experten und Beratern, durch die kostenlose Ausbildung von Facharbeitern, Medizinern und Akademikern – und nicht zuletzt durch militärische Unterstützung.3

Beitrag der NVA

Spätestens ab 1967 unterstützte die DDR, dem Beispiel der Sowjetunion, der Tschechoslowakei  und Bulgariens folgend, verschiedene afrikanische Befreiungsbewegungen auch mit militärischer Hilfe in Form von unentgeltlichen Waffenlieferungen.4 Diese „nichtzivile“ Hilfe erhielten der ANC (Südafrika), die FRELIMO (Mosambik), die MPLA (Angola), die PAIGC (Guinea-Bissau), die POLISARIO (Westsahara), die SWAPO (Namibia) und die ZAPU (Simbabwe). Die Waffen wurden aus Beständen der NVA, des Ministeriums für Staatssicherheit und der Volkspolizei entnommen.5

Nach der zionistischen Aggression 1967 leistete die DDR Ägypten materielle Solidarität im militärischen Bereich in Höhe von 44 Millionen Mark. Unter anderem übergab die NVA der ägyptischen Armee, deren Luftwaffe von Israel fast vollständig zerstört worden war, 50 Jagdflieger und bildete entsprechendes Personal aus.6 Angeblich soll die DDR-Führung zwei Tage nach Beginn des Überfalls sogar über die Entsendung bewaffneter NVA-Verbände nach Ägypten nachgedacht haben.7 1969 und 1970 drängte Walter Ulbricht gegenüber Moskau darauf, dass die Entsendung „von Freiwilligen aus sozialistischen Ländern“ nach Ägypten „notwendig“ sei, um die arabischen Staaten in ihrem Kampf gegen Israel zu unterstützen. Dazu kam es jedoch offenbar nie, jedenfalls nicht aus der DDR.8

Allerdings entsandte das sozialistische Deutschland Militärberater in befreundete afrikanische Länder mit antikolonialen und teilweise sozialistischen Regierungen, vor allem nach Angola, Äthiopien, Kongo-Brazzaville, Mosambik, Sambia und Simbabwe.9 Ab 1975 bildete die NVA dann auch Soldaten befreundeter Staaten und Kämpfer nationaler Befreiungsbewegungen auf deutschem Boden aus. 1982 wurde dafür eigens eine Militärakademie geschaffen. Bis 1990 wurden mehr als 1150 Offiziere aus afrikanischen Ländern zur Aus- und Weiterbildung in die DDR geschickt.10 Die Kosten übernahm in den allermeisten Fällen – und im Fall von nationalen Befreiungsbewegungen, die noch nicht die Staatsmacht übernommen hatten, immer – die DDR.

Antikoloniale Solidarität ist Klassenkampf

Die Anerkennung der Legitimität und Notwendigkeit der antikolonialen Befreiungsbewegungen bedeutet auch, die Errungenschaften der DDR auf dem Gebiet der antikolonialen Solidarität anzuerkennen: Keine soziale Bewegung in der BRD – ob damals oder heute – hat auch nur annähernd etwas leisten können, das dem entspricht, was die DDR den kämpfenden Völkern an praktischer, materieller Solidarität entgegenbringen konnte: Aufbau- und echte Entwicklungshilfe, Bildung und Ausbildung, Waffen und Training.

Schon damals und vor allem im Rückblick werden die NVA und die internationale Tätigkeit der DDR von bürgerlichen Propagandisten gerne auf dieselbe Stufe mit der imperialistischen und neokolonialen Politik des Westens gestellt. Dabei wird die NVA auch gerne in die Nähe der faschistischen Wehrmacht gestellt („Honeckers Afrika Korps“11). Diese haltlose Gleichsetzung sieht aber vom Wesentlichen ab: Während der Westen stets reaktionäre Regime aufbaute und unterstütze, stand die DDR immer auf der genau anderen Seite. Politisch wurden Beziehungen auf Augenhöhe und wirtschaftlich Verträge zum gegenseitigen Nutzen oder gar zum Nachteil der DDR geschlossen. Nicht ökonomische Privat- und Profitinteressen, sondern der Kampf gegen den Imperialismus stand hinter der Solidarität mit den Befreiungsbewegungen. Vereint waren diese und die DDR im internationalen Klassenkampf. Teil dieses Klassenkampfs waren und sind im Übrigen auch die Solidaritätsbewegungen in der Bundesrepublik – ob damals für Südafrika, Namibia und Simbabwe oder heute für Palästina und Kongo.

Als deutsche Kommunisten, die sich positiv auf die DDR beziehen, können wir mit Recht stolz auf dieses Kapitel praktischer internationaler Solidarität zurückblicken: Es beweist, dass der Sozialismus auf Völkerfreundschaft und Internationalismus beruht – ganz im Gegensatz zum Kapitalismus, mit seiner Konkurrenz und seinem Drang zu Aggression. Und es beweist, dass ein Deutschland möglich ist, das die Welt nicht mit Krieg und Ausbeutung überzieht, sondern im Gegenteil geschwisterlich an der Seite der Völker steht und ihre Kämpfe um Freiheit, Selbstbestimmung und sozialen Fortschritt unterstützt.

Von der DDR und der NVA lernen, heißt internationale Solidarität lernen!

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Solidarit%C3%A4t_(Zuschlagmarke) ↩︎
  2. Helmut Nimschowski: Der nationale Befreiungskrieg des algerischen Volkes (1954-1962), Militärverlag der DDR 1984, S. 94. ↩︎
  3. Wir empfehlen hierzu die verschiedenen Artikel der Internationalen Forschungsstelle DDR (IFDDR): https://ifddr.org/publikationen/freundschaft/  ↩︎
  4. https://www.jungewelt.de/beilage/art/494220 ↩︎
  5. Hans-Georg Schleicher / Ilona Schleicher: Waffen für den Süden Afrikas. Die DDR und der bewaffnete Befreiungskampf. In: Ulrich van der Heyden / Ilona Schleicher / Hans-Georg Schleicher (Hrsg.): Engagiert für Afrika. Die DDR und Afrika II, LIT-Verlag 1994, S. 10-19. ↩︎
  6. Klaus Storkmann: Geheime Solidarität. Militärbeziehungen und Militärhilfen der DDR und die „Dritte Welt“, Ch. Links 2012, S. 206, 561. ↩︎
  7.  Karin Hartewig: Jüdische Kommunisten in der DDR und ihr Verhältnis zu Israel. In: Wolfgang Schwanitz (Hrsg.): Jenseits der Legenden. Araber, Juden, Deutsche, Dietz Verlag Berlin 1994, S. 134. ↩︎
  8. Storkmann: Geheime Solidarität, S. 205. ↩︎
  9. Bernhard Schöne: Die NVA und das subsaharische Afrika. Zu den militärischen Auslandsbeziehungen der DDR. In: Ulrich van der Heyden / Ilona Schleicher / Hans-Georg Schleicher (Hrsg.): Die DDR und Afrika. Zwischen Klassenkampf und neuem Denken, LIT-Verlag 1993, S. 35. ↩︎
  10.  Storkmann: Geheime Solidarität, S. 612-14. ↩︎
  11.  https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-1980-10.html  ↩︎

Update Syrien-Dossier: Ohne Volk kein Antiimperialismus 

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Wir erweitern unser Dossier zu Syrien um einen Artikel von Willi Langthaler, der am 18. Dezember 2024 auf der Seite der Antiimperialistischen Koordination (AIK) erschienen ist. Obwohl dem Text nach mehr als zwei Monaten aufgrund der Dynamiken vor Ort sicherlich eine Aktualisierung gut tun würde – es kam wiederholt zu gewaltsamen konfessionalistischen Auseinandersetzungen in Syrien sowie an der libanesischen Grenze, die meisten kommunistischen und sozialistischen Parteien Syriens sind mittlerweile verboten und das neue HTS-Regime hat sich für unbestimmte Zeit zur alleinigen Regierung erklärt, biedert sich zunehmend offen an die pro-imperialistischen Staaten in der Region an und hat seinen anti-iranischen und Anti-Hisbollah-Kurs um eine konfrontative Haltung gegenüber Russland ergänzt; außerdem wurde gestern bekannt, dass Abdullah Öcalan die PKK nicht nur dazu aufgerufen hat, mit der Türkei Friedensverhandlungen zu führen, sondern sich auch aufzulösen – haben wir uns entschieden, diesen Text zu spiegeln, weil er als einer der sehr wenigen aus einer antiimperialistischen Haltung heraus das System der Baath-Herrschaft kritisiert. 

Dabei argumentiert der Text nicht auf einer moralischen Ebene, sondern setzt sich sachlich und kritisch mit den subjektiven Fehlern und Schwächen der Syrischen Arabischen Republik (SAR) auseinander, die dazu geführt haben, dass es den imperialistischen Angriffen letztlich keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte und nach 13 Jahren Krieg plötzlich in kürzester Zeit zusammenbrach. Die Hauptaussage spiegelt sich bereits im Titel wider: Antiimperialistische Kämpfe sind nicht zu gewinnen, wenn das Volk nicht für sie gewonnen und mobilisiert wird.  

Eine weitere These, die der Genosse Langthaler aufstellt, ist die, dass der große Sieger in Syrien nicht der US-Imperialismus, sondern die Türkei ist – und dass das einen wichtigen Unterschied ausmacht.  

Von diesen beiden Einschätzungen ausgehend wirft der Text einen Blick auf die Perspektiven des antiimperialistischen Kampfs in Syrien nach dem Sturz der SAR. 

Redaktion der Kommunistischen Organisation 

Über die Perspektiven Syriens unter türkischer Schirmherrschaft 

Da sind die einen, die ob des Sturzes Assads naiv über den Einzug von Freiheit und Demokratie gemeinsam mit dem Westen jubeln. Und da sind die anderen, die schwarz in schwarz vom Ende des Widerstands sprechen. Fast als wäre die Geschichte zum Stillstand gekommen, wie 1989/91. Indes ist Vor- und Weitsicht geboten, denn vieles bleibt offen, auch die Perspektiven. 

Ausgangspunkt ist jedenfalls der totale Kollaps, die völlige innere Verrottung eines Regimes, das schon seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr auf eigenen Beinen zu stehen vermochte. In dem Moment, in dem die iranische und russische Unterstützung, und jene der Hisbollah, ausblieb, fiel alles in sich zusammen. Welch Unterschied zu Gaddafi und Saddam, die buchstäblich bis zum letzten Atemzug kämpften. Assad setze sich einfach ab und ließ das Desaster zurück. 

Vorab methodisch: der Nahe Osten ist sein vielen Jahrzehnten DER neuralgische Punkt des imperialistischen Weltsystems. Dort treffen die Widersprüche am stärksten auf einander, kommen mit Gewalt zum Ausdruck und zeigen eine globale Tendenz an. Einerseits kämpft das US-Empire mit allen Mitteln, auch jenen des Genozids, um seine Fortexistenz. Andererseits bewegen sich die Völker, leisten Widerstand, wie man in unglaublicher Weise bei den Palästinensern sieht. Die regionalen Regime müssen, um sich zu halten, diesen Druck reflektieren aber gleichzeitig niederhalten. Sie haben in den letzten zwei Jahrzehnten mehr Spielraum von den USA errungen und/oder diese an direkter Kontrolle verloren. Sie haben ein äußerst labiles Staatensystem gebildet, das sich bei jeder Krise neu konfiguriert. Jedes Mal besteht das Risiko des Volksaufstandes, des Bürgerkriegs und auch des Volkskriegs. Und natürlich auch der imperialistischen Intervention, die nicht zur Stabilisierung beiträgt! Die permanente israelische Aggression ist der Stachel im Fleisch, die niemanden zur (kapitalistischen) Ruhe kommen lässt. Unerwartete Wendungen, jähe Rekonfigurationen in einem regionalen Multipolarismus stehen auf der Tagesordnung. Ein Krieg folgt dem anderen mit der Gefahr einer umfassenden kriegerischen Eskalation, deren Ausgang ungewiss ist. 

Implosion 

Das syrische Regime und vor allem Assad als Person an der Spitze haben keinen Widerstand geleistet. Nach so vielen Jahren des Bürgerkriegs auch mit gewissen militärischen Erfolgen von Assad ist das doch verwunderlich. Warum kam es so weit? 

Ausschlaggebend war wohl die Entscheidung von Teheran und in der Folge auch Moskau, dass es keinen Sinn mehr hat Assad weiter zu unterstützen, denn der Kampf schien bereits verloren. Hinter den Kulissen hat wohl Ankara mit Versprechungen und Garantien diese Entscheidungen erleichtert. Als dieser Entzug an Unterstützung klar wurde, als man unten merkte, dass es oben keinen Willen mehr zum Kampf gab, brach das ganze System in Windeseile in sich zusammen. 

Historisch gesehen steht hinter dieser totalen Isolierung und Selbstaufgabe eine grundlegende Entscheidung des syrischen Baathismus, nämlich gegen den aufkommenden politischen Islam, der in der gesamten Region zur vielgestaltigen, aber dominanten politischen Kraft wurde, die harte Linie des systematischen Ausschlusses und der militärischen Gewalt zu verfolgen. In Algerien nannte man diese Generale „Eradicateurs“, die Auslöscher. Diese Linie war früher oder später zum Scheitern verurteilt, denn sie isolierte ihrerseits das Regime von der großen Mehrheit, weichte die antiimperialistische Haltung auf und machte sie von äußerer Unterstützung abhängig. Im Namen des Säkularismus wurde sie zur Diktatur konfessioneller Minderheiten, zuletzt auch mit immer mehr neoliberalen Zügen. 

In der säkularistischen Erzählung wird der politische Islam und vor allem der Jihadismus organisch dem Imperialismus zugerechnet. Doch das ist eine, zugegeben hartnäckige, Apologie der gescheiterten Erben der (links)nationalistischen Regime. Nach dem Niedergang und der weitgehenden Kapitulation des arabischen Nationalismus, wurde das antiimperialistische Moment in den Massen zunehmend von verschiedenen Strömungen des politischen Islam repräsentiert (natürlich nicht von allen), die zuvor noch vom Westen als Alternative um Linksnationalismus bevorzugt und unterstützt worden waren. Die Re-Islamisierung ist ein vielschichtiges und klassenübergreifendes Phänomen in der gesamten islamischen Welt. Sie hängt kausal mit dem Scheitern der kommunistischen und Arbeiterbewegung sowie jenem der nationalen Befreiungsbewegungen zusammen. Die kulturelle Islamisierung ist so stark und tief, dass sich ihr (fast) alle Klassen und politischen Kräfte anpassen (müssen), um nicht davongeschwemmt zu werden. Natürlich bedienen sich ihrer auch proimperialistische Regime, allen voran Saudi-Arabien. Aber sie hat gleichzeitig ein starkes Massenelement, das auch Momente der Selbstbestimmung und des Antiimperialismus enthält. Das beste Beispiel dafür ist Hamas in Palästina, die in einer einst säkularisierten Gesellschaft die Führung des Widerstands gegen den Imperialismus und Zionismus übernommen hat. Ähnliches gilt für die Taliban, die die westliche Besatzung aus dem Land geworfen haben – um nur zwei Beispiele zu nennen. 

Jetzt könnte man einwenden, dass Assad ja mit einer Form des politischen Islam, jedoch schiitisch, wie er im Iran die Staatsmacht repräsentiert, sehr eng kooperierte. Doch genau das isolierte ihn in Syrien nur noch mehr, weil es den sunnitisch-schiitischen Gegensatz bediente und vertiefte. 

Ein Ausgleich, eine Integration eines Teils des sunnitischen politischen Islam in das Regime auf antiimperialistischer, nationaler und demokratischer Grundlage wäre unumgänglich gewesen. Die Auslöscher halten dem entgegen, dass dies nicht ginge. Doch auch die andere Seite macht historische Erfahrungen und Wandlungen durch. Die konfessionalistischen, extremistischen und terroristischen Tendenzen sind überwiegend gescheitert. Die politische Aufgabe eines einschließenden Antiimperialismus wäre gewesen, den politischen Islam aufzufächern, zu differenzieren, die antiimperialistischen, weniger konfessionalistischen, sozialeren Tendenzen zu fördern und einzubeziehen. 

Das Assad-Regime verweigerte sich systematisch einer solchen Operation und wurde darin von Teheran und Moskau auch noch bestärkt. Es konnte nur untergehen und ist für die Katastrophe, die es hinterlässt, selbst verantwortlich. 

Großer Sieger Türkei – unverhofft 

Der eigentliche Architekt hinter dem Umsturz ist die Türkei Erdogans. Das Konzept war von Anfang an die Massenbewegung des Arabischen Frühlings gegen das Regime zu nutzen und ein System nach türkischem Modell zu fördern. Das Projekt wurde zutreffend auch Neoosmanismus genannt. Doch der daraus resultierende Bürgerkrieg brachte große Komplikationen mit sich. Er beförderte eine Jihadisierung, die selbst Ankara aus dem Ruder lief. Insbesondere den USA ging das entschieden zu weit, trotz der tiefen Feindschaft zu Assad. Im Sommer 2013, als Obama mit seinen „Roten Linien“ alles für ein Bombardement nach irakischem Vorbild aufgebaut hatte, wurde das kurzfristig abgesagt, denn das hätte eine unmittelbare Machtübernahme unkontrollierbarer Jihadis gebracht, die man nicht wollte. In der Schlacht um Kobane 2014 schlugen sich die USA und ihre Alliierten dann auf die Seite der kurdischen PYD (von der Herkunft her eine linksnationalistische Bewegung) und halfen ISIS niederzuringen – gegen den Willen der Türkei, die mit Hilfe von ISIS Assad stürzen wollten. 2016 setzte Washington dann in Unterstützung des irakischen Regimes mit dem Angriff auf Mosul dem Islamischen Staat ein Ende. Das sind alles bedeutende historische Ereignisse, die der simplizistischen und islamophoben Schablone, die die sunnitischen Jihadisten pauschal als Werkzeug der USA und Israels betrachtet, zuwiderlaufen. 

Ab 2015 griff dann Russland systematisch auf Seiten Damaskus ein. Der Iran war mit Truppen und Milizen eigentlich fast von Anfang an beteiligt gewesen. Mit ihrer Hilfe gelang es 2016 Aleppo, eines der Zentren der sich islamisierenden Volksrevolte, mit äußerster Härte zurückzuerobern. Erdogan schien gescheitert, Moskau der Sieger. (Pax russiana? Schon damals meldeten wir Zweifel an, ob das nachhaltig sein würde.) 

Es entwickelte schließlich eine Pattsituation, die das zwiespältige Verhältnis zwischen der Türkei und Russland ausdrückte. Ankara installierte im Nordwesten eine Zone direkter Kontrolle mittels einer arabischen Marionettenarmee, auch um die Kurden zumindest von der türkischen Grenze wegzudrängen. In der Provinz Idlib erlaubten sie ein jihadistisches Kalifat. Das ermöglichte einerseits deren Kampfkraft zu erhalten und zu nutzen, andererseits diese im türkischen Sinn zu domestizieren. 

Der Kreml musste ab 2022 seine Kräfte auf die Ukraine konzentrieren, was wiederum Ankara ermöglichte den Druck auf die Kurden zu erhöhen, die, wenn nötig, nicht nur mit den USA, sondern auch mit Russland und Assad kooperierten. 

Alle Seiten schienen sich mit diesem Arrangement abgefunden zu haben und auf bessere Zeiten zu warten. Niemand, wohl nicht einmal die Türkei, dürfte mit dieser enormen inneren Aushöhlung Assads berechnet haben. 

Für die Türkei und Erdogan persönlich ist das ein nicht zu unterschätzender Erfolg, zumal er seine Feinde und gleichzeitig Kooperationspartner Iran und Russland beim Umsturz praktisch mit ins Boot geholt hat. 

Niemand soll sich täuschen und glauben, dass die Türkei eine Marionette der USA und schon gar nicht Israels ist. Ankara ist natürlich NATO-Mitglied und weiß, dass der Herr der Welt in Washington sitzt und respektiert werden will. Aber der neoosmanische Ansatz bedeutet auch, angesichts der schwindenden Macht der USA, die sich ergebenden Spielräume maximal zu nutzen und da und dort auch die Spielregeln zu überdehnen. Es sind mit allen Nachbarn Beziehungen zu unterhalten, man spielt sie gegebenenfalls gegen einander aus, dabei immer fest die eigenen Interessen im Blick, ohne sich in zu große Abhängigkeit zu begeben. So hat die Türkei und Israel gemeinsam Aserbaidschan gegen Armenien unterstützt. Die Türkei liefert Waffen an die Ukraine und hat sich dennoch nicht dem Embargo gegen Russland angeschlossen. Im Gegenteil, sie ist eine der wenigen möglichen Vermittler. Und sie unterstützt (gemeinsam mit Qatar) in der arabischen Welt die Muslimbrüder, die für die prowestlichen autoritären Regime nicht nur am Golf der ärgste innere Feind sind, und unterhält dennoch Beziehungen zu diesen Regimen. 

Aber auch die Türkei kann Syrien nicht alles diktieren. Vor allem gilt es nun ein neues Regime zu errichten und da bedarf es innerer Kräfte, die den Neuaufbau des Staates auch tragen können. Sowas kann nicht von außen diktiert werden. Alle diesbezüglichen Versuche der USA in der Region sind in den letzten Jahrzehnten kläglich gescheitert. Die Türkei wird sicher nicht mit der gleichen Hybris ans Werk gehen. 

HTS-Regierung? 

Bis vor kurzem figurieren „Hayat Tahrir al Shams“ (HTS) noch als Terroristen. Doch wir wissen, dass der Terrorvorwurf was Instrumentelles hat. Alle Gegner der USA sind grundsätzlich Terroristen. Wenn sie die Seite wechseln, dann werden sie plötzlich zu Freischärlern oder gar Befreiungskämpfern. Der Terror- und Völkermordstaat Nr. 1, Israel, ist sowieso die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“. Man sollte also den Begriff am besten gar nicht verwenden oder nur ganz eng begrenzt verwenden, denn er dient analytisch unscharf nur zur Bezeichnung von Feinden. 

HTS kommt ursprünglich von ISIS. Die Spaltung kam vor allem wegen des auf Syrien beschränkten Machtanspruch der Nusra (dem Vorläufer der HTS), während ISIS eine territorial nicht begrenzte Konzeption eines islamischen Staates verfolgte. HTS rückte schrittweise vom takfiristischen Konzept ab, das de facto die anderen jihadistischen Gruppen als gefährlichste Feinde betrachtet, und versuchte die Jihadis unter ihrer Führung zu vereinigen. Mit dem Kalifat in Idlib kam die Aufgabe der öffentlichen Verwaltung dazu, die innere Konflikte dämpfen und um Konsens heischen muss. Und es bedurfte der guten Beziehungen zur Türkei, die das ganze Unternehmen wiederum für die „internationale Gemeinschaft“ akzeptabel halten musste. („Gordischer Knoten Idlib“ – eine Betrachtung von 2020 als der russische Druck auf Idlib noch stark war.) 

Haben die Jihadisten nur Kreide gefressen oder haben sie wirkliche eine Wandlung durchgemacht? Letztlich ist die Frage müßig. Denn sie sind unheimlich schwach und stehen vor den Trümmern eines Staates, den sie nicht ersetzen können. Unter Strafe des baldigen Scheiterns haben sie verkündet, dass 

  • die staatlichen Institutionen erhalten bleiben sollen 
  • die Minderheiten, die aus Angst vor den Jihadis das Regime unterstützt oder zumindest geduldet haben, nichts zu befürchten haben 
  • es eine einschließende Regierung geben wird 
  • die nationale Einheit erhalten werden soll 
  • russische und iranische Einrichtungen gesichert bleiben. 

Es gab bereits unmittelbar nach dem Umsturz einige konfessionelle, revanchistische Morde, die aber begrenzt geblieben zu sein scheinen. Wenn sich HTS nicht an ihre Versprechen hält, dann werden sie nicht in der Lage sein einen Herrschaftsapparat zu bilden, denn die wirtschaftliche und soziale Lage ist dramatisch. Es bedarf sofortiger energischer Maßnahmen um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Ansonsten droht der baldige Zerfall, die Fortsetzung des Bürgerkriegs und die Balkanisierung – was alles den angesammelten politischen Kredit der jihadistischen Islamisten schnell verbrauchen würde. 

Völlig offen bleibt, was mit den bewaffneten Organen des Staates passieren wird. Sind sie in der Lage eine neue Polizei und Armee aufzustellen, während Israel alles was es kann zerstört? Werden sie versuchen untere Ränge der alten Exekutive zu aktivieren, um wieder auf die Beine zu kommen? Wie wird die Übergabe in den Ministerien und allen anderen staatlichen Apparaten funktionieren? 

Und natürlich werden sie versuchen ausländische Unterstützung zu bekommen, zu aller erst aus der Türkei, der arabischen Welt aber auch vom Imperialismus, der seinerseits versuchen wird, das neue Regime möglichst weit unter Kontrolle zu bringen. Hilfe kommt nie ohne Bedingungen und ohne Eigennutz. 

Ein sehr wichtiger Gradmesser wird die Reaktion auf die enorme israelische Aggression sein, die bisher völlig unbeantwortet blieb. Israel hat nicht nur große neue Gebiete am Golan erobert. Der Kolonialstaat hat auch in hunderten Luftangriffen einen großen Teil des militärischen Großgeräts Syriens zerstört. Sollte die neue Regierung dagegen nicht mobilisieren, wird sie viel an politischem Prestige einbüßen. Trifft sie Maßnahmen, wird sie zunächst einem überlegenen Feind gegenübertreten und destabilisierende Niederlagen einstecken müssen. Zudem steht die imperialistische Gnade auf dem Spiel. Erste Zeichen deuten darauf hin, dass HTS einem Zusammenstoß mit Israel ausweichen will. 

Die Positionierung der neuen Regierung wird in etwa die Resultante der beschriebenen Kräfte sein, jedenfalls kein glattes Marionettenregime, sondern sich in etwa auf der Linie der Türkei bewegen. 

Die weitverbreitete linke These, dass HTS das direkte Werkzeug Israels und des Westens sei, ist hier schon an vielen Passagen falsifiziert worden. Es gibt aber tatsächlich Kräfte in Syrien, die sehr direkt an den USA hängen. Das sind einerseits die über Jordanien versorgten bewaffneten Kräfte im Süden wie die Syrian Free Army (SFA)(die weniger islamistisch sind) und das sind seit 2014 die Kurden. HTS hat sich im scharfen Gegensatz zu den USA und den Kurden etabliert, zuerst im Rahmen des Islamischen Staates und dann im Idliber Kalifat. Alles andere kann die Schlachten um Kobane und Mosul nicht erklären. Alles deutet darauf hin, dass die Türkei ihr eigenes Spiel spielt und im Gegensatz zu Washington den Jihadismus als ihr Werkzeug einzusetzen vermag. Die USA wollen das nicht machen, weil sie nicht kontrollierbar sind. Warum hätten sie sonst auf die Kurden gesetzt? 

Knackpunkt Kurden 

Die USA haben nicht nur Israel als Werkzeug um jede Regierung in Damaskus unter Kontrolle zu halten (letztlich auch Baath), sondern sie verwenden dazu auch die Kurden. Wenn die Türkei und Syrien Washingtons Interessen ausreichend bedient, dann könnten jene die Unterstützung der Kurden zurückziehen. Wenn nicht, behalten sie diese als Faustpfand. Zudem sind auch die Kurden keine reinen Marionetten. Sie mögen entsprechend der Kräfteverhältnisse zum Zurückweichen und zu schwerwiegenden Kompromissen bereit sein, die Selbstaufgabe werden sie nicht betreiben.(„Benutzen oder benutzt werden?“ – Kommentar zur Stretegie der kurdischen Führung in Syrien 2017) 

Das kann leicht der Auslöser eines neuen (Bürger)kriegs werden, zumal sich schon zuvor einige Golfstaaten auch der Kurden gegen die Achse Ankara-Doha unterstützen. 

Positionierung der kommunistischen und demokratischen Parteien 

Bekanntlich befanden sich einige der kommunistischen, linken und auch demokratischen Parteien im Orbit von Baath. Sie waren entsprechend auch geduldet je nach dem Grad ihrer Nähe. Natürlich gab es darüber eine starke Auffächerung und Schattierungen, über die wir gegenwärtig keine genauen Kenntnisse verfügen. 

In ihren Stellungnahmen (KP Syrienarabische KPenehemalige „innere“ Opposition) nach dem Umsturz haben sofort neben der Einhaltung der Versprechen Jolanis ein schnelles und gemeinsames Vorgehen gegen die israelische Aggression eingefordert. In der gegenwärtigen Lage scheint das im Sinne einer antiimperialistischen, demokratischen und sozialen Ausrichtung die richtige Intervention zu sein. 

Niederlage bekämpfen wie in Osteuropa? 

Handelt es sich denn nicht um eine Niederlage oder gar Konterrevolution wie bei der Wende in Osteuropa und der Sowjetunion? Bedarf es daher nicht der Frontalopposition gegen die Restauration wie damals? 

In einem großen historischen Bogen handelt es sich natürlich um eine Niederlage. Der Baathismus hat seinen letzten Atemzug getan und hat kapituliert, weil niemand ihm mehr folgen wollte. Viele Hyänen zerren nun am Kadaver und zerreißen auch die verbliebenen (vielfach formalen) antiimperialistischen Aspekte. Doch die Niederlage war unvermeidlich, denn Assad konnte und wollte die Macht nicht teilen – was im antiimperialistischen Sinn aber unbedingt notwendig gewesen wäre. 

Ein altbürgerliches, rein geopolitisches Denken vermag diesen inneren Aspekt nicht zu erfassen. Es sieht nur, dass Russland und der Iran dadurch geschwächt werden. Werden sie auch, aber sie haben diesen schweren, ja unverzeihlichen politischen Fehler mitbegangen und mitgetragen. 

Viele glauben nun, dass der palästinensische Widerstand damit erledigt wäre. Natürlich ist es ein weiterer schwerer Schlag unter sehr vielen anderen. Doch der Widerstand hängt nicht ursächlich von der Unterstützung durch den Iran, Syrien oder Hisbollah ab. Er wird auch unter den extremsten Bedingungen weitergehen und seine politische Wirkung in Arabien und der Welt entfalten. Hamas hat dennoch den Umsturz begrüßt, obwohl sie Unterstützung aus Damaskus erhalten hatten. (Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass sie als Brücke zwischen den verschiedenen antiimperialistischen Tendenzen dienen werden können.) 

Die „Achse des Widerstands“ war und ist wichtig und leistet einen Beitrag, selbst nach diesem Fiasko. Doch deren Intervention ist keineswegs problemlos. Diese „Achse“ enthält ein Moment der Anmaßung, weil sie die antiimperialistischen Kräfte der arabischen Welt, meist sunnitisch kulturalisiert, unter die Führung von Teheran und einen schiitischen politischen Islam zwingt. Wer sich dagegen stellt, den trifft automatisch (und oft unberechtigt) der Vorwurf proimperialistisch zu sein. Im Irak hat das ein historisches Desaster und die konfessionelle Spaltung mit befeuert (wobei natürlich auch die andere Seite Mitschuld trägt). („Bürgerkrieg im Irak“ – Kommentar aus dem Jahre 2007) 

Es gibt zudem eine Art historische Konstante in der arabischen Welt: die arabischen Staaten sind durch den Stachel Israel so schwach und rachitisch, dass sie gegen die israelische faschistische Militärmaschine immer verlieren. Lediglich im Volkskrieg ist ihnen beizukommen. Das hat man im Libanon gesehen und das sieht man auch heute in Gaza. 

Sozial gesehen macht der Umsturz keinen großen Unterschied, vorher neoliberaler peripherer Kapitalismus, nachher im Wesentlichen das gleiche. Politisch geht ein verbrauchter, isolierter, ausgetrockneter Antiimperialismus unter und es kommt eine weite Koalition an politisch-islamischen Kräften jeweils mit Unterstützern aus den umgebenden Ländern an die Macht, deren Massenbasis antiimperialistisch eingestellt ist. Das heißt nicht, dass daraus ein antiimperialistisches Regime entstehen wird. Aber unter dem Massendruck stehen sie auf jeden Fall. 

In Osteuropa folgten im Gegensatz dazu der Konterrevolution bleierne Jahre der liberalen Reaktion mit der freiwilligen Unterordnung unter die USA. In Syrien geht der Kampf weiter – wenn auch unter völlig neuen Bedingungen. Antiimperialistische Einstellungen, Strömungen und Kräfte haben nach wie vor erhebliche Bedeutung, demokratische und soziale Kräfte hatten und haben es sehr schwer. Offene Unterordnung unter den Westen gibt es kaum. 

Die Aufgaben bleiben nach wie vor monströs und die neue Führung ist wie die alte dazu wohl kaum in der Lage: Die Einheit des Landes in der Vielfalt neu zu schaffen, die israelische Aggression und den Imperialismus abzuwehren, die Wirtschaft auf die Beine zu bekommen und dabei Richtung sozialer Gerechtigkeit zu drängen, möglichst demokratische Verhältnisse herzustellen. 

Die gleiche historische Aufgabe der Differenzierung der islamisch-politischen Kräfte, derer sich Baath verweigerte, liegt nun an den verbliebenen antiimperialistischen, demokratischen und sozialen Kräften. 

Der Richtige zur richtigen Zeit

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Ausblick nach der Bundestagswahl

Die Wahlen sind vorbei und als Sieger gehen AfD und CDU hervor. Während die CDU sich zur Vollstreckerin der Zeitenwende erklärt, ist die AfD schon jetzt ein wesentlicher Faktor für die Kriegsvorbereitung. Ob die neue Regierung im Gegensatz zur Ampel-Koalition die gesamte Legislatur durchhalten wird, ist noch offen. Ein Blick in andere Länder wie Frankreich zeigt, dass die Krise des Imperialismus auch die politische Instabilität erhöht. Eine Regierungsbeteiligung der AfD steht zwar aktuell noch nicht an – nach den nächsten Wahlen wird das vermutlich anders aussehen. Wir werfen einen kurzen Blick auf die zentralen Punkte, die wir aus der Wahl mitnehmen können. Einiges davon haben wir in unserer Broschüre zu Zeitenwende und Kriegsvorbereitung weiter ausgeführt.

Krise heißt Kriegsvorbereitung

Der deutsche Imperialismus steckt in der Krise. Hintergrund ist die Bedrohung der imperialistischen Ordnung unter der Vorherrschaft der USA, die wohl als allgemeine Krise des Imperialismus verstanden werden muss. Ursula von der Leyen beschrieb diese Lage kürzlich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos so: „Die auf Zusammenarbeit ausgerichtete Weltordnung, wie wir sie uns vor 25 Jahren vorgestellt haben, ist nicht Wirklichkeit geworden. Stattdessen sind wir in eine neue Ära des rauen geostrategischen Wettbewerbs eingetreten (…) der Wettlauf hat begonnen.“

Und daher müssen die USA den Krieg gegen China wollen. Mit der Wahl Trumps werden sich die Aggressionen gegen die Volksrepublik noch verstärken und die aktuellen Verhandlungen im Ukraine-Krieg müssen als Teil dieser Kriegsvorbereitung verstanden werden: Der Konflikt soll eingefroren werden, um ein noch engeres Bündnis zwischen China und Russland zu verhindern und China so zu schwächen. Der deutsche Imperialismus kann (noch) nicht ohne die USA, und muss sich dem Kurs im Wesentlichen anpassen. Die widersprüchlichen Interessen werden mit immer härteren Bandagen ausgehandelt – Stichwort Zollpolitik. Einigkeit besteht jedoch in der Vorbereitung des Krieges zur Aufrechterhaltung ihrer Weltordnung. Deutschland soll bis 2029 kriegsbereit gegen Russland sein. Daran ändern weder die Verhandlungen im Ukraine-Krieg noch die Ablösung der Ampel-Koalition durch eine neue Bundesregierung etwas. Im Gegenteil: Die Kriegsvorbereitung wird in der kommenden Legislatur noch verstärkt werden.

Vollstrecker für die Zeitenwende

Der Tenor der Herrschenden vor der Wahl ging ungefähr so: Die Militarisierung sei zu langsam, zu träge, zu ineffektiv. 2% des BIP für Militärausgaben seien das absolute Minimum, eigentlich müsse man mindestens über 3,5% kommen und ein neues Sondervermögen von mindestens 300 Milliarden sei sowieso schon längst überfällig. Das Motto der Wahl: Vollstrecker für die Zeitenwende und Kriegsvorbereitung gesucht!

Die CDU mit Neu-Kanzler Merz titelt „Der Richtige zur richtigen Zeit“ und trifft damit einen Punkt: Mit ihren angekündigten Angriffen auf Arbeitslose, Migranten und Werktätige zugunsten einer verstärkten Kriegsvorbereitung scheint die schwarze Partei tatsächlich die richtige politische Kraft für die aktuelle Zeit zu sein. Voraussichtlich wird sich die CDU die SPD mit ins Boot holen – eine politische Kraft, die immer stärker an politischen Einfluss verloren hat, insbesondere in den Gewerkschaften. Hier entsteht eine Lücke, die in näherer Zukunft nochmal zu wichtigen Dynamiken und Einflusskämpfen führen kann. Es scheint fast so, als wäre auch hier die AfD potentiell am ehesten aufgestellt den Kampf um freiwerdende Plätze der SPD aufzunehmen.

Keine Kriegsvorbereitung ohne Rechte und Faschisten

Der AfD-Sieg bringt zum Ausdruck, dass Teile der herrschenden Klasse sehr bewusst und gezielt diese Partei nicht nur aufgebaut, sondern so weit gestärkt haben, dass sie an diese Stelle kommen konnte und sollte. Darin stimmen sie mit den Herrschenden der USA überein. Das ist der zweite wichtige Faktor. Beides weist darauf hin, dass der Krieg gegen Russland, nach einer möglichen Neugruppierung durch die anlaufenden Verhandlungen, intensiviert werden soll. Dafür ist insbesondere in Deutschland, als größte Macht in Europa, ein ultra-reaktionärer Kurs notwendig. Aufrüstung, Mobilisierung und Kriegsführung werden ohne weitreichenden Sozial- und Demokratieabbau nicht möglich sein, ohne Verhetzung und Verrohung der Gesellschaft. Sie muss weiter nach rechts gebracht werden. Ihr, und insbesondere der Arbeiterklasse, wird zugesetzt werden müssen. Im Zweifelsfall ist dann auch Terror notwendig.

Die AfD hält dafür nicht nur die entsprechende Ideologie bereit, sondern auch das Personal. Sie ist die Sammelpartei der faschistischen Kräfte. Vom ehemaligen Institut für Staatspolitik über Höcke bis hin zu den Straßenterror-Gruppen sind alle relevanten faschistischen Strukturen an die AfD angedockt oder Teil von ihr. In den letzten Jahren und insbesondere im Wahlkampf ist die AfD trotz aller „Brandmauer“-Beteuerungen normalisiert und gestärkt worden. Durch das Abstimmungsmanöver von Merz im Bundestag, aber auch durch BSW, das nicht nur mit zugestimmt hatte, sondern permanent von der Berechtigung der AfD-Forderungen gesprochen hatte.

Ideologisch haben die AfD bzw. die Medien und die sie lenkenden Kreise eine ideologische Oberhoheit gewonnen. Ihre scheinbar für Frieden und Verhandlungen verbreiteten Parolen sind nicht nur von geringer Bedeutung im Wahlkampf gewesen, sondern sie sind von ihrer Bedeutung her ohnehin gering, da die AfD vor allem für Aufrüstung, Wehrpflicht und Kriegsfähigkeit steht. Diese durchzusetzen ist die Hauptsache. Dass Leute zunächst glauben sollen, die AfD wende sich gegen einen Krieg gegen Russland, nutzt ihr und ihrer Politik, aber es entspricht nicht den politisch zu erwartenden Tatsachen. Die offenen Werbemaßnahmen der US-Republikaner für die AfD sind eindeutig: Sie wollen, dass diese Partei Deutschland zu einer Kriegsmacht aufbaut, die den Krieg gegen Russland fortsetzt und sie sich dafür umso aggressiver gegen China wenden können.

Aufgebaut für ein Ziel: Krieg und Krise

Die AfD hat ideologische Siege errungen, insbesondere was die Verhetzung und Aufstellung von Sündenböcken anbetrifft, als auch die Verrohung. Aber auch die Verbreitung des Nationalismus, die Akzeptanz für Geschichtsrevisionismus und Militarismus und eine starke Hand. Es kann sein, dass sie bei bestimmten Teilen der Bevölkerung auch schnell wieder an Zuspruch verlieren wird. Das ist nicht so relevant. Relevant ist, dass es ihr gelungen ist, Teile der Gesellschaft fest, um sich zu scharen und zu binden. Das konnte sie auch, weil erfahrene Stratege und ehemalige CDU-Politiker wie Gauland daran stark gearbeitet haben. Gauland, der auch Kubitschek vom Institut für Staatspolitik aktiv in die Strategieentwicklung der Partei eingebunden hat.

CDU-Konservative, die Nazi-Parteien aufbauen. Das ist kein neues Phänomen. Ähnlich war es bei der Deutschen Volksunion in den 70er Jahren und bei den Republikanern in den 80ern. Dieses Mal ist der Unterschied, dass die Planungen des deutschen Imperialismus sehr weitreichend sind und nicht nur die Abschaffung des Asylrechts durchzusetzen sind (wie in den 90er Jahren) oder die Ostverträge zu verhindern bzw. möglichst schwer zu verhandeln (wie in den 60er/70er Jahren), sondern es darum geht einen größeren Krieg zu organisieren.

Die Angriffe werden schärfer

Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt, dass uns in der nächsten Legislatur ein massiver Angriff auf die Arbeiterklasse erwartet. Das Bürgergeld soll abgeschafft und durch eine Grundsicherung mit Arbeitszwang ersetzt werden. Das Asylsystem wird weiter ausgehöhlt und damit schrittweise abgeschafft. Die Arbeitszeit soll „flexibilisiert“, Ruhezeiten verkürzt und eine Einschränkung des Streikrechts durchgesetzt werden. Die Monopole sollen in noch größerem Ausmaß mit den Steuerabgaben der Arbeiterklasse subventioniert werden. Repressive Maßnahmen werden weiter zunehmen. Gerade gegen politische Organisationen, die vermeintliche „Feindpropaganda“ verbreiten, also Inhalte, die der deutschen Staatsräson widersprechen. Darüber hinaus deutet viel darauf hin, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht mit der neuen Regierung vollstreckt wird.

Keine konsequente Anti-Kriegspartei im Bundestag 

Tatsächliche Anti-Kriegspositionen sind im nächsten Bundestag nicht vorhanden. Die Linke ist ideologisch völlig auf den Sanktions- und Aufrüstungskurs eingeschwenkt und wurde als „soziale“ und „moderne“ Partei von den Medien selbst gehypt, nachdem abgesichert war, dass sie nicht ernsthaft gegen den Kriegskurs und die Waffenlieferungen und schon gar nicht ernsthaft gegen die Staatsräson steht. Neben der teilweisen Befürwortung von Waffenlieferungen oder Verschärfung der Sanktionen, ist der neuste Vorfall ihre Mitwirkung beim sogenannten Grünbuch, das den Kriegsverlauf gegen Russland im Jahr 2030 simuliert. Das BSW hat es nicht in den Bundestag geschafft. Sie haben sich zwar bisher noch konsequent gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine und Israel gestellt, sowie als einzige Partei gegen die Antisemitismus-Resolution gestimmt. In ihrer Migrationspolitik jedoch schwimmt sie auf Zeitenwende-Kurs und macht mit Aussagen wie `Putin ist ein Verbrecher` oder `Terror der Hamas` klare Zugeständnisse an die NATO-Propaganda. Dies bedeutet jedoch nicht, dass zwischen den Parteien im Bundestag keine Unterschiede existieren bzw. sie gleichgesetzt werden können. Es ist durchaus gut, wenn Parteien im Bundestag abweichende Positionen zur Aufrüstung einbringen, gegen die Wehrpflicht stimmen oder Anfragen stellen können. Eine klare und konsequente Anti-Kriegsposition können wir jedoch nicht erwarten.

Wir Kommunisten laufen hinterher, nicht voran

Das Programm der Herrschenden ist klar: Alles für den Krieg gegen China und Russland. Die Antwort der linken und kommunistischen Bewegung darauf ist leider alles andere als klar: Die einen begreifen die Verhinderung der AfD als dringendste Aufgabe und sehen daher ein Bündnis mit den anderen Kriegsparteien als notwendig an. Die anderen postulieren, dass es zwischen den Parteien keine Unterschiede gebe. Die einzige Antwort sei Klassenkampf, konkreter bestimmt wird dieser jedoch nicht. Auch während des Wahlkampfes hat sich diese fehlende Klarheit gezeigt: Während manche Gruppen für die Wahl der Linkspartei zur Verhinderung der AfD aufriefen, plädierten anderen für den Boykott und wieder andere formulierten indirekt eine Wahlempfehlung für das BSW.

Die Entwicklungen sind schnell, der Klassenkampf von oben nimmt zu. Organisiert werden muss der Widerstand gegen die weiteren Milliardenpakete, gegen die verschärften Asylgesetze, gegen die gesteigerten Abschiebungen, gegen die sozialen Angriffe und die weiteren Spaltungen durch Repression, Chauvinismus und Verhetzung. Doch wir Kommunisten hinken hinterher und erfahren, wie sich unserer politischer Handlungsrahmen immer weiter verengt. Wir nehmen uns als KO keineswegs davon aus, wenn wir das Feststellen und Schwierigkeiten dabei haben, konkrete Orientierung aufzustellen. Nötig ist eine korrekte Analyse der aktuellen Lage: Wir müssen verstehen, welche Widersprüche und Probleme sich dem deutschen Imperialismus aktuell stellen, welche Methoden der Herrschaftssicherung er anwendet und welche Rolle dabei die jeweiligen politischen Akteure spielen, insbesondere die AfD als neue, einflussreiche Kraft. Darauf aufbauend brauchen wir eine Taktik gegen die Zeitenwende, die konkret und realistisch an der Lage und dem Bewusstseinsstand der Arbeiterklasse anknüpft. Es ist klar, dass wir dies nicht als Einzel-Organisation erreichen können – das wäre Selbstüberschätzung – sondern wir diese Aufgabe als gesamte Bewegung angehen müssen.

„Selenskij will uns umbringen!“ Solidaritätsaufruf der Kononovich-Brüder

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Deutsch:

Wir teilen hier den Aufruf der Kommunisten und Antifaschisten Michail und Aleksandr Kononovich, die in der Ukraine verhaftet wurden und an die Front geschickt werden sollen. Die beiden wurden bereits 2022 verhaftet und stehen seit 2023 unter Hausarrest. Wir rufen zu schnellen Protestaktionen vor der Botschaft und den Konsulaten der Ukraine auf! Ihr Leben hängt nun in unseren Händen!

„Ein offizieller Appell an die Weltföderation der demokratischen Jugend sowie an Linke und Antifaschisten auf der ganzen Welt! Hallo Genossen, wir sind die politisch inhaftierten antifaschistischen und kommunistischen Brüder Mikhail und Alexander Kononovich. Wir wurden gerade von der Polizei festgenommen. Das Regime beschuldigt uns, in der gesamten Ukraine auf der Fahndungsliste zu stehen und dem Militärdienst auszuweichen, wir wollen nicht in den Krieg ziehen. Liebe Genossen, wir appellieren offiziell an den Weltverband der demokratischen Jugend, an die Rockband „Banda Bassotti“, an die Kommunisten, an die Linken und an die ukrainische Regierung. Kommunisten, Linke, Antifaschisten aus Europa und den USA, Genossen, gehen zu unserer Verteidigung zu den ukrainischen Botschaften und Konsulaten auf der ganzen Welt! Zelenskys Regime will uns offiziell töten, uns in den Krieg schicken und uns dort töten oder uns wegen neuer Anschuldigungen als Ausreißer des Militärdienstes ins Gefängnis bringen. Das Regime kann uns nicht nach dem Gesetz verurteilen und deshalb will es uns töten! Liebe Genossen, wir bitten um Eure Hilfe, unser Leben liegt in Euren Händen!“

English:

We are sharing the appeal of communists and anti-fascists Mikhail and Aleksandr Kononovich, who were arrested in Ukraine and are to be sent to the front. The two were arrested in 2022 and have been under arrest since 2023. We call for quick protest actions in front of the embassy and consulates of Ukraine! Their lives are now in our hands!

“An official appeal to the World Federation of Democratic Youth and to leftists and anti-fascists all over the world! Hello comrades, we are the politically imprisoned anti-fascist and communist brothers Mikhail and Alexander Kononovich. We have just been arrested by the police. The regime accuses us of being on the wanted list throughout Ukraine and of evading military service, we don’t want to go to war. Dear comrades, we officially appeal to the World Association of Democratic Youth, to the rock band “Banda Bassotti”, to the communists, to the leftists and to the Ukrainian government. Communists, leftists, anti-fascists from Europe and the USA, comrades, go to the Ukrainian embassies and consulates around the world !!!! in our defense. Zelensky’s regime wants to officially kill us, send us to war and kill us there or put us in prison on new charges of being runaways from military service. The regime cannot convict us according to the law and that is why it wants to kill us! Dear comrades, we ask for your help, our lives are in your hands!”

Русский:

Мы публикуем обращение коммунистов и антифашистов Михаила и Александра Кононовичей, которые были задержаны в Украине и должны быть отправлены на фронт. Они были арестованы в 2022 году и с 2023 года находятся под домашним арестом. Мы призываем к быстрым акциям протеста перед посольством и консульствами Украины! Их жизни теперь в наших руках!

Догогые товарищи, мы политически заключённые антифашисты и коммунисты братья Михаил и Александр Кононович. Мы только что были задержаны полицией. Нас режим обвиняет, что мы находимся во все украинском розыске и уклоняемся воинской службы и не хотим идти на войну. Дорогие товарищи, официально обращаемся к всемирной федерации демократической молодёжи, рок-группе Банде Бассоти, к левым и антифашистам Европы и США. Товарищи, выходите к посольствам и консульствам Украины. Режим Зеленского хочет нас официально убить. Они нас хотят отправить на войну и убить нас или посадить в тюрьму по-новому обвинению как уклонистов от воинской службой они не могут осудить на по закону и поэтому хотят нас убить. Дорогие товарищи, обращаемся за помощью, наша жизнь ваших руках!

Español:

Compartimos el llamamiento de los comunistas y antifascistas Mijaíl y Aleksandr Kononovich, detenidos en Ucrania y que van a ser enviados al frente. Los dos fueron detenidos en 2022 y están bajo arresto domiciliario desde 2023. ¡Llamamos a acciones rápidas de protesta frente a la embajada y consulados de Ucrania! ¡Sus vidas están ahora en nuestras manos!

¡Una apelación oficial a la Federación Mundial de Juventudes Democráticas y a los izquierdistas y antifascistas de todo el mundo! Saludos compañeros, somos los hermanos Mijail y Alexander Kononovich, antifascistas, comunistas y presos politicos. Acabamos de ser detenidos por la policía. El régimen nos acusa de estar en una lista de personas buscadas en toda Ucrania y de evadir el servicio militar — no queremos marchar a la guerra. Queridos compañeros, apelamos oficialmente a la Asociación Mundial de la Juventud Democrática, a la banda de musica rock «Banda Bassotti», a los comunistas, a los izquierdistas y al gobierno ucraniano. Comunistas, izquierdistas, antifascistas de Europa y de EEUU, compañeros, vayan a las embajadas y a los consulados ucranianos de todo el mundo en nuestra defensa!!! El régimen de Zelensky quiere matarnos oficialmente, enviarnos a la guerra y matarnos allí, o meternos en la cárcel bajo nuevos cargos de ser fugitivos del servicio militar. ¡El régimen no puede condenarnos según la ley y por eso quiere matarnos! Queridos compañeros, os pedimos por ayuda, ¡nuestras vidas están en vuestras manos!

Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück: Zu den Verhandlungen zwischen Russland und den USA

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Ein Kommentar von Alexander Kiknadze

Erstmals seit 2021 laufen wieder Verhandlungen zwischen Russland und den USA. Der amerikanische Vizepräsident kritisiert auf der Münchener Sicherheitskonferenz die EU für einen Mangel an Demokratie und fordert im gleichen Atemzug größere Militärausgaben der EU-Staaten. Die Politik in Deutschland läuft einerseits Sturm, weil sie bei der Erklärung, warum Verhandlungen mit Russland nun doch plötzlich möglich seien, in Erklärungsnot gerät. Anderseits werden die Aussagen von Hegseth und Vance als „Chance“ für Europa interpretiert, sich jetzt ernsthaft selbstständig aufstellen zu können.

Was passiert?

Der Westen hat sein 2022 formuliertes Kriegsziel nicht erreicht: Russland wurde keine vollständige strategische Niederlage zugeführt. Russland hat dem Westen in der Ukraine eine Grenze aufgezeigt. Auch wenn die Nachwirkungen der Sanktionen noch in den Sternen stehen, zurzeit erfüllen sie ihre Wirkung nicht. Ganz im Gegenteil scheinen sie die Desintegration des Westens, und die Integration des sogenannten globalen Südens mit Russland und China zu stärken. Auch die Waffenlieferungen erzielen keine besonderen Fortschritte auf dem Kampffeld. Als letzter Eskalationsschritt wurde dann Ende 2024 der russische Wille und die Fähigkeit, einen Nuklearkrieg zu führen, praktisch ausgetestet: Auf diesen Beschuss des eigenen Territoriums durch westliche Mittelstreckenraketen hat Russland seinerseits deeskaliert: mit dem Einsatz der leeren, durchaus aber nuklear bestückbaren Oreshnik-Rakete haben sie gezeigt, dass sie praktisch in der Lage wären, symmetrisch auf solche Angriffe zu reagieren. Nach diesem Warnschuss mit dieser neuartigen Rakete zogen sich die westlichen Militärs zurück und mussten diese neue Lage beraten. In den hiesigen Medien ist davon seitdem nicht mehr viel zu hören.

Die USA sind also an eine Grenze gestoßen. Sie gehen deshalb nun einen Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück. Ihnen wurde praktisch aufgezeigt, dass mit dieser Kriegsführung Russland keine strategische Niederlage zugeführt wird- ganz im Gegenteil. Der Konflikt wurde in den letzten drei Jahren auf eine globale Ebene gehoben. Er wird deshalb nun in der Dimension eines baldigen Weltkriegs gedacht. Der wird nun praktisch vorbereitet.

Dafür braucht es wohl nun- erstmal- eine Atempause in der Ukraine. Um einen großen Krieg gegen China ernsthaft führen zu können, muss das russisch-chinesische Bündnis getrennt werden. Es braucht darüber hinaus eine EU, die ökonomisch, militärisch und ideologisch-geistig bereit ist, in Europa einen Krieg führen zu können und zu wollen. So weit sind sie noch nicht. Der Waffenstillstand soll Zeit verschaffen. Er soll mit Zuckerbrot ( Angebot der Lockerung der Sanktionen und Wiedereinführung der russisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen, Anerkennung der Territorialgewinne) und Peitsche (Androhung der Verschärfung von Sanktionen, weitere Aufrüstung der Ukraine) erreicht werden. Es werden in diesen Verhandlungen also genau die Waffen gegen Russland in Anschlag gebracht, die man bereits seit 2014 gegen das Land nutzt.

Die ökonomische, militärische und geistige Zurichtung Europas auf Krieg geht vor allem mit Faschisten. Diese Kräfte formieren sich schon längst in Europa und werden nun auch, zuletzt bei der CPAC-Konferenz, öffentlichkeitswirksam von den Republikanern unterstützt. Die AfD in Deutschland fordert (bisher) als einzige Partei 5% des BIP für Militärausgaben. Sie fordern eine geistige Wende in Deutschland, die an die alte, militaristische Werte anknüpft, sie stehen für Geschichtsrevisionismus von rechts und wollen von Moralpredigten gegen den neuen deutschen Militarismus nichts hören. Sie stehen für einen aktuell gemäßigteren Kurs gegenüber Russland: Mit Bezug auf Bismarcks Russlandpolitik argumentierte Alexander Gauland in seinen „außenpolitischen Thesen“1, dass die Politik der Ampelregierung gegenüber Russland „unrealistisch“ sei. Ihr Problem mit der Ampelregierung ist nicht, dass dass sie Krieg gegen Russland führt, sondern wie sie das tut. Abhilfe tut not. Die AfD ist keine prorussische Partei.

Der Aufschrei über den vermeintlichen Nichteinbezug der EU in die amerikanisch-russischen Gespräche geht nicht an die Adresse der USA. Er ist ein Weckruf nach innen, an die Bevölkerung der EU: „Jetzt sei es an der Zeit“, die EU wirtschaftlich und militärisch wirklich zu einem Schwergewicht aufzubauen, das in der Lage ist Krieg zu führen. Mehr Aufrüstung, wirtschaftliche Abkopplung von China und Russland, gemeinsame Anstrengungen zu mehr Koordination in den militärischen Aktivitäten, geistige Wende etc. Das sind genau die Dinge, die aus den USA gefordert werden. Und hier treffen sich CDU, SPD, Grüne, FDP, zum Teil auch BSW und Linke mit der AfD.

Für die Bevölkerung der Ukraine wird der Waffenstillstand teuer erkauft. Die Regierung wird mit 500 Mrd. USD, dem dreifachen des ukrainischen BIP von 2023, zu Rückzahlungen gezwungen, die den Versailler Vertrag bei weitem übertreffen. Es ist klar, dass die Ukraine mit einem solchen Deal wirtschaftlich endgültig in den Status einer finanziell erpressbaren Kriegskolonie gebracht wird. Wer diese Zukunft der Ukraine mit seinem Gesicht „regieren“ soll, ist aktuell Gegenstand von Auseinandersetzungen vor Ort: Vor kurzem wurden Selenskijs wichtigste Widersacher Petro Poroshenko und Igor Kolomojskij sanktioniert; regierungskritische ukrainische Medien schreiben, dass ihnen Verhaftung drohe, weil sie mit ihrer Medienmacht Selenskij den Kopf kosten könnten2.

Die russische Regierung versteht diese Entwicklungen. Ob die Ambitionen, mit dem Vorsitzenden des Direktinvestitionsfonds und Ex-Goldman-Sachs Banker Dmtri Kiryliev die russisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen wieder aufzubauen, Ausdruck von Opportunismus oder ein Ausnutzen der Situation mit dem Ziel der Lockerung der Sanktionen ist, wird sich am Ergebnis zeigen. Unabhängig davon sind Präsident und Regierung deutlich: An ihrer Position, dass die ursprünglichen Kriegsziele, also die vollständige Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine, erreicht werden müssen, hat sich nichts geändert. Alle Regierungsmitglieder lassen verlautbaren, dass ein Waffenstillstand nicht akzeptiert würde, sollten ebendiese Ursachen des Konflikts nicht beseitigt werden. Westliche „Sicherheitsgarantien“ mit Truppenstationierungen an den neuen Grenzen sind für Russland inakzeptabel. Sie wissen, was Minsk II gebracht hat.

In den Kreisen der Friedensbewegung werden die jüngsten Verhandlungen manchmal als große Hoffnung bezeichnet. Ein nachvollziehbares Gefühl nach drei Jahren Eskalations- und Militarisierungskurs in Deutschland. Es darf aber nicht davon ablenken, was das Ziel der Verhandlungen seitens des Imperialismus in der Sache ist: Die Vorbereitung auf den nächsten, größeren Krieg.

1https://www.youtube.com/watch?si=45wI1_DxwId0A9j8&v=5uPdKosfDno&feature=youtu.be (letzter Aufruf 24.2.25)

2https://strana.today/articles/analysis/480002-sanktsii-protiv-petra-poroshenko-i-kolomojskoho-chto-eto-znachit.html (letzter Aufruf 24.2.25)

Das blutende Herz Afrikas: Dossier zu den Hintergründen der aktuellen Ereignisse in der DR Kongo

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Am 26. Januar 2025 nahmen die von Ruanda unterstützen M23-Rebellen, die seit Jahrzehnten die Demokratische Republik Kongo terrorisieren, Nord Kivu und weitere rohstoffreiche Regionen im Osten des Kongos ein.

Allein zwischen dem 26. Januar und dem 7. Februar sind laut UN 3000 Kongolesen getötet und 2880 verletzt worden. Außerdem soll es in Goma zu mindestens 165 Vergewaltigungen und der Bombardierung von zwei Krankenhäusern gekommen sein.1

Der Kongo wird seit Jahrzehnten im Kriegszustand gehalten, mit fatalen Folgen für die Bevölkerung und die gesamte Region. Schätzungsweise 6 Millionen Menschen wurden seit dem Beginn der Konflikte in den 1990er Jahren getötet. Millionen wurden zu Flüchtlingen, die kaum Zugang zu Grundversorgung haben. Die Bevölkerung lebt in Angst vor den Übergriffen der Rebellengruppen – Vergewaltigungen und die Rekrutierung von Kindersoldaten sind an der Tagesordnung. 

Dabei spielen die Nachbarländer Uganda und Ruanda eine wesentliche Rolle. Es ist bekannt, dass Ruanda die M23-Miliz unterstützt, sowie eigene Truppen im Kongo hat.2 Ruanda und seine westlichen Verbündeten verdienen massiv an Rohstoffen, die aus dem Kongo geraubt werden. Immer wieder werden Stimmen laut, die aufzeigen, dass Ruanda viel mehr Rohstoffe exportiert als es selbst abbaut.3 Seltene Rohstoffe, an denen der Osten des Kongos besonders reich ist. Die EU schloss beispielsweise erst vor einem Jahr ein umfangreiches Abkommen über „Wertschöpfungsketten für Nachhaltige Rohstoffe“4 mit Ruanda. Dabei geht es um den Handel mit genau diesen Rohstoffen, die illegal unter katastrophalen Bedingungen aus dem Kongo gewonnen werden.5

Auch über den Raub von Rohstoffen hinaus gilt Ruanda den westlichen Staaten als zuverlässiger Partner. So verhandelten mehrere europäische Staaten über die Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda.6 Kein Wunder also, dass Ruanda als Vorzeigestaat in Afrika gilt. Dabei geht Kagame, der ruandische Präsident, mit massiver Brutalität gegen jegliche Opposition vor. 

Beschäftigt man sich tiefergehend mit den Hintergründen der Situation in der DR Kongo, muss man sich unweigerlich auch mit Ruanda auseinandersetzen. Dabei fällt schnell auf, welches Propagandageflecht Kagames Weg an die Macht und Ruandas Rolle in der Region umgibt. Im Westen wurde ein Narrativ aufgebaut, nach dem Kagame und seine Ruandische Patriotische Front (FPR) Freiheitskämpfer gewesen seien. Außerdem wird eine Einteilung propagiert, nach der Hutu kollektiv Täter und Tutsi kollektiv Opfer seien. Während der Genozid an den Tutsi 1994 allgemein bekannt ist, sind die genozidalen Handlungen von Kagames FPR an den Hutu in Europa weitgehend unbekannt. Einen UN-Bericht von 2010, der feststellt, dass die Gewalttaten gegen Hutu im Kongo als Genozid eingestuft werden können und dass Ruanda für diese Gewalt verantwortlich ist,7 versuchte Kagames Regime zu unterbinden. Letztlich erschien er verspätet und blieb eher unbekannt.8

Durch imperialistische Logik muss der Kongo bluten: Schon die dortige belgische Kolonialherrschaft war besonders grausam. Am 17.1.1961 wurde der erste kongolesische Premierminister, Patrice Lumumba, durch Kompradoren und westliche Geheimdienste ermordet. Die Imperialisten wollen an die Rohstoffe und solange die DR Kongo im Chaos versinkt, stehen diese dem Weltmarkt billig zur Verfügung, ohne dass ihre eigentlichen Eigentümer – die Kongolesen – davon profitieren. Dass das Schicksal Kongos zentrale Bedeutung für den Befreiungskampf des gesamten Kontinents hat, sahen viele Revolutionäre schon in den 1960er Jahren: „Lasst uns niemals vergessen: Im Kongo steht unser aller Schicksal auf dem Spiel“, hielt Frantz Fanon fest.9 Lumumba selbst sprach vom Kongo als dem „Herzen des großen Afrika“.10 Und Kwame Nkrumah erklärte nach Lumumbas Ermordung vor der UNO: „Der Kongo ist das Herz Afrikas, jede Wunde, die dem Kongo zugefügt wird, ist eine Wunde für ganz Afrika.“11

In westlichen Medien findet sich kaum je eine Meldung zum Kongo. Wenn doch, dann wird der Kriegszustand als etwas Tragisches, aber Unlösbares dargestellt. Fast schon, als sei im Kongo kein anderer Normalzustand möglich. Verschwiegen bleiben das revolutionäre Erbe von Lumumba und seinen Anhängern, die noch nach seinem Tod gegen das Mobutu-Regime kämpften, oder der Widerstand der Kongolesen gegen die aktuellen Angriffe.

Um zumindest einen ersten Einstieg in das Thema zu ermöglichen, spiegeln wir im Folgenden drei Texte zur aktuellen Situation im Kongo, die wir aus dem Englischen übersetzt haben.

1. Ein Solidaritätsstatement von Pan Africanism Today (PAT), einer  Nachrichtenplattform fortschrittlicher afrikanischer Organisationen mit Sitz in Johannesburg (Südafrika), die u. a. Mitglied in der International Peoples Assembly (IPA) ist. Das englische Original findet ihr hier.


2. Ein Solidaritätsstatement der West African Peoples Organization (WAPO) zur aktuellen Situation.


3. Einen recht langen und zeitlosen Text vom Tricontinental: Institute for Social Research, der die kolonialen Wurzeln der heutigen Probleme im Kongo darstellt, aber vor allem den Widerstand der Kongolesen in verschiedenen historischen Phasen hervorhebt. Der Text klärt auch darüber auf, inwiefern sich der westliche Kampf gegen China im Kongo widerspiegelt: Er zeichnet nach, welche Rolle China konkret in den letzten Jahren in der DR Kongo spielte und hinterfragt kritisch, dass die Aufmerksamkeit für die Situation im Kongo im Westen erst dann größer wurde, als auch die Rolle Chinas im Rohstoffabbau im Kongo kritisiert wurde. Das englische Original findet ihr hier.


4. Ein aktuelles Statement der Communist Party Marxist aus Kenia (CPM-K), welches auf die Rolle Ruandas und anderer afrikanischer Staaten, die Propaganda um die Ereignisse der Region in den letzten 30 Jahren und auch die Rolle imperialistischer Akteure im Kongo eingeht.
Einiges, was der Text der CPM-K darstellt, mag westliche Leser – auch Kommunisten und Menschen, die nicht-westliche und nicht-bürgerliche Medien verfolgen – verwundern, da, wie oben dargestellt, viele Aspekte der Geschichte der Region in der hiesigen Berichterstattung ausgelassen wurden. Damit keine Missverständnisse entstehen, sei hier noch einmal klargestellt, dass der Text den Genozid an den Tutsi keinesfalls leugnet, sondern ihn kontextualisiert, wie uns die Genossen der CPMK auf Anfrage noch einmal bestätigten. Das englische Original findet ihr hier.


  1. https://news.un.org/en/story/2025/02/1159896 ↩︎
  2. https://docs.un.org/en/s/2024/432 ↩︎
  3. https://peoplesdispatch.org/2024/12/30/the-drcs-historic-case-against-apple-over-blood-minerals-in-its-supply-chain/ ↩︎
  4. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_24_822 und https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9865 ↩︎
  5. https://www.aljazeera.com/features/2024/5/2/blood-minerals-what-are-the-hidden-costs-of-the-eu-rwanda-supply-deal ↩︎
  6. Während Dänemark und Großbritannien direkt mit Ruanda verhandelten, (https://zetkin.forum/publications/import-deport-european-migration/#denmark; https://www.bbc.com/news/explainers-61782866) reisten CDU/CSU im Alleingang nach Kigali. (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9594
    ↩︎
  7. https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/Countries/CD/DRC_MAPPING_REPORT_FINAL_EN.pdf ↩︎
  8. https://www.dw.com/de/brisanter-un-bericht-%C3%BCber-genozid-im-kongo/a-5975619 ↩︎
  9. Frantz Fanon: Lumumba’s Death. Could We Do Otherwise? In: Toward the African Revolution, Grove Press (USA) 1969, S. 197. ↩︎
  10. Heinrich Loth: Kongo – heißes Herz Afrikas. Geschichte des Landes bis auf unsere Tage, Deutscher Verlag der Wissenschaften (DDR) 1965, S. 5. ↩︎
  11. https://www.youtube.com/watch?v=7p_u4D4w47o ↩︎

Palästina und die DDR – Solidarität aus Staatsräson?

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Diskussionsveranstaltung am 28. Februar in Berlin.

Während in der BRD die bedingungslose Unterstützung Israels spätestens ab 1952 zunehmend zur „Staatsräson“ wurde, hat die DDR Israel nie anerkannt und stattdessen die palästinensische Befreiungsbewegung tatkräftig unterstützt und wurde zu einem wichtigen Bündnispartner der palästinensischen Befreiungsbewegung. Was waren die Hintergründe dieser Politik? Wie sah die Solidarität konkret aus? Welche Widersprüche gab es? Und was bedeutete das Ende der DDR für die Palästinenser?

Diese Fragen diskutieren wir im MEZ am 28. Februar 2025, 19.00 Uhr, mit Leon Wystrychowski.

Ort: Spielhagenstraße 13, 10585 Berlin-Charlottenburg, nahe U-Bhf. Bismarckstraße (U2 und U7) und Bus 109.

Das MEZ führt diese Veranstaltung gemeinsam mit der Kommunistischen Organisation (KO) durch.

Kostenbeitrag: 3 Euro

Zum Verhältnis von nationaler Selbstbestimmung und sozialistischer Revolution

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Kommentierte Zitatesammlung mit Zitaten von Lenin, Stalin und der III. Internationale

Vertiefungsgruppe 11 zum Thema Nationale Souveränität

erstellt von Batya Shumi

Redaktioneller Hinweis: Wir empfehlen den Beitrag im PDF-Format zu lesen, da der Beitrag viele lange Zitate enthält, die in Textkästen optisch hervorgehoben sind. Außerdem sind im PDF-Dokument die wichtigen Stellen in den Zitaten optisch markiert.

Dieser Text ist im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine und der Imperialismusdiskussion entstanden. Wir haben 2022 beschlossen uns kollektiv der Einschätzung des Charakter und der Vorgeschichte des Krieges zu widmen.
Hierfür wurden verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die sich u.a. mit den Interessen und der Politik des westlichen imperialistischen Block, mit Russlands Ukrainepolitik sowie mit den Erkenntnissen der sozialistischen Arbeiterbewegung zum Imperialismus und der Bedeutung der Nationalen Frage beschäftigen.

Einleitung

In welchem Verhältnis steht der Kampf um nationale Souveränität zu dem Kampf für den Sozialismus? Diese Auseinandersetzung ist so alt wie der Wissenschaftliche Sozialismus selbst und damit auch seither Gegenstand starker Auseinandersetzungen in der kommunistischen Weltbewegung. Marx war stets an den ökonomischen Beziehungen zwischen den (sich noch bildenden) Nationen interessiert. Ursprünglich hatte er noch einen „Sechs-Bücher-Plan“, der die Darstellung des Weltmarktes anstrebte (1). Dieses Vorhaben musste er mit der Erstellung des Hauptmanuskript des Kapital Band 3 1865/65 stark eingrenzen (2). Bekanntlich setzten er und Engels sich bereits mit dem Verhältnis der Prosperität und Entwicklung einer Arbeiteraristokratie in England einerseits und der Unterdrückung Indiens andererseits auseinander. Besonders genau verfolgten sie auch die Deutsch-Französischen Kriege, unter anderem in Publikationen der „Neue Rheinische Zeitung“ und der „Pall Mall Gazette“(3), stets mit einem Blick auf die notwendige Orientierung der Arbeiterbewegung. Diese Orientierung wechselten sie dabei mehrfach, abhängig von den Bedingungen und Kontexten des Krieges, beispielsweise je nachdem, ob Deutschland oder Frankreich gerade einen Angriffs- oder Verteidigungskrieg führten (4). Engels, seit seiner Beteiligung an der badisch-pfälzischen Revolution 1849 auch liebevoll „der General“(5) genannt, entwickelte sich im Verlauf seiner Biographie zu einem bedeutenden Militärtheoretiker, der 1888 mit einer beeindruckenden Genauigkeit den 1.Weltkrieg und dessen Schrecken vorhersagte, einschließlich eines daraus resultierenden Sieges der Arbeiterklasse, auch wenn ihre Interessen dabei vorerst „in den Hintergrund drängen“(6) würden.

Zweifelsfrei wurde Lenin ein Experte zu diesem Krieg und beantwortete in dessen Analyse sowohl ökonomische Fragen des kapitalistischen Weltmarktes, als auch Fragen der notwendigen Orientierung der Arbeiterbewegung auf diesen und andere Kriege. Im Zuge dessen und fortan in der Entwicklung der III. Internationale entstand eine sehr ausführliche Diskussion unter/zwischen den Bolschewiki und anderen Sozialisten weltweit bezüglich des Verhältnisses von sozialistischer Revolution und nationaler Befreiung. In dieser Phase wurde sehr viel Literatur produziert, welche sich heute für Kommunisten lohnt zu studieren.

Die sich damals ergebenden Fragen liegen heute weltweit wieder auf dem Tisch – sei es in Bezug auf die Einschätzung des Ukraine-Krieges, die Besatzung Palästinas, die Strategie der PKK oder die Entwicklung in der Sahelregion, Afghanistan, Taiwan und Syrien. Zu all diesen Themen gibt es unter Kommunisten weltweit, insbesondere in Westeuropa, Dissense hinsichtlich der Lageeinschätzung sowie der möglichen Orientierung der Arbeiterklasse in Bezug auf die jeweiligen nationalen Bewegungen.

Besonders deutlich wurde dies mit der Verschärfung des Ukraine-Krieges im Februar 2022. Ein heftiger Streit entbrannte zwischen kommunistischen Parteien und Organisationen. Die Kontroverse über die Militäroperation der Russischen Föderation (RF) und den Imperialismus wird innerhalb der kommunistischen Bewegung intensiv diskutiert. In Europa wurde diese Debatte bislang vor allem von drei kommunistischen Parteien öffentlich geführt: der KKE (Kommunistische Partei Griechenlands), der RKAP (Russische Kommunistische Arbeiterpartei) und der KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation). Wir veröffentlichten ein Dossier (7).

Inhaltlich geht es dabei sowohl um die konkrete Analyse des Imperialismus als auch um die Bedeutung des Faschismus und der nationalen Frage. Besonders relevant ist die Kontroverse zwischen der KKE und der RKAP, da beide Parteien eng miteinander verbunden waren und sich gegenseitig aufeinander bezogen haben. Die KKE vertritt die Position, dass in der heutigen Epoche des Imperialismus – noch anders als zur Lebenszeit Lenins – nationale Befreiungsbewegungen entweder nicht mehr existieren (8), oder nicht mehr im Interesse des Proletariats sein können, wenn diese nicht gleichzeitig einen Kampf für den Sozialismus darstellen, da jenes Land unmittelbar auch danach streben würde, im imperialistischen Weltsystem aufzusteigen – heute sei nämlich (fast) jeder Staat imperialistisch, da sich überall Monopole herausgebildet hätten (9). Anhänger dieses Verständnisses des Imperialismus verurteilten das militärische Agieren Russlands als imperialistischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und orientierten praktisch darauf, dass die Arbeiter sowohl Russlands als auch der Ukraine die Waffen gegen ihre eigene Regierung wenden oder sprachen sogar von einem „gerechten Verteidigungskrieg“ seitens der Ukraine (10).

Dieser Einschätzung steht jene gegenüber, die das Agieren Russlands als gerechten Krieg oder Verteidigungskrieg (11) gegen den NATO-Expansion betrachtet und vor den fatalen weltweiten Folgen für die Arbeiterbewegung warnt, sollte es zu einer erfolgreichen Annexion Russlands durch die NATO kommen. Die RKAP bezeichnet Russland als schwaches imperialistisches Land, welches jedoch einen unterstützenswerten Verteidigungskrieg führt. Dieser habe kurzfristige Interessensüberschneidungen mit der Arbeiterklasse, da diese sich in ähnlicher Form gegen einen Angriff des Finanzkapitals hätte wehren müssen, um die Souveränität der Nation aufrecht erhalten zu können.

Im Zuge dieser Auseinandersetzung bildete sich auch im Oktober 2022 die World Antiimperialist Platform (WAP), welche sich in ihrer Gründungserklärung inhaltlich von den Thesen der KKE distanzierte und regelmäßig Beiträge veröffentlicht – beispielsweise von der KP Chile – welche die Theorie der KKE ausführlich kritisch diskutieren (12). Der Dissens spaltete auch das internationale Netzwerk European Communist Initiative (ECI) (13) – KKE-nahe Parteien kündigten einseitig das Netzwerk auf, da zu viele andere Parteien sich an der WAP beteiligten. Auch die Kommunistische Organisation spaltete sich unter anderem an der Einschätzung des Ukraine-Krieges.

Die Auseinandersetzung um den Ukraine-Krieg wird anhand von zahlreichen konkreten Fragen geführt, die alte Debatten beinhalten und bei denen grundlegend strategischen Fragen für Kommunisten aufgeworfen werden: Ist es relevant, wie stark der Einfluss von verschiedenen Bourgeoisien auf andere kapitalistische Staaten ist? Kann es im Imperialismus noch Verteidigungskriege oder nationale Befreiungskriege geben? Stellt der Imperialismus heute immer noch ein Unterdrückungsverhältnis dar, mitsamt kolonialen Abhängigkeiten, oder müsste seit der „Entkolonialisierung“ eher von gegenseitigen Abhängigkeiten gesprochen werden? Wie haben sich Kommunisten zu verhalten, wenn Nationalitäten oder ganze Nationen unterdrückt werden?

Im Zuge der Spaltung der KO Januar 2023 wurde vielfach beobachtet, dass beide „Seiten“ häufig mit denselben Leninzitaten widersprüchliche Argumentationsstränge verfolgten. Besonders Vertreter der Abspaltung der KO, die sich mittlerweile KP nennt, nutzten dabei häufig den Vorwurf des Revisionismus und warfen anderen vor, die Thesen Lenins zum Imperialismus zu negieren (14). Oft wird sich in solchen Auseinandersetzungen nicht ausreichend inhaltlich und vor allem wenig kontextualisiert auf Erfahrungen, theoretischen Ausarbeitungen und Kampfschriften von den „Klassikern“, Marx, Engels, Lenin und Stalin bezogen. Stattdessen werden einige wenige Zitate als Autorität genutzt, um jeweils vorschnelle Positionen zu beziehen. Diese Positionen haben eine unglaublich hohe Tragweite und Relevanz für den Klassenkampf – entsprechend stellt die Auseinandersetzung darum, was die Thesen der Klassiker sind, selbst schon einen Gegenstand des ideologischen Klassenkampfes dar. Die Theorien und strategischen Orientierungen der III. Internationale sind nichts anderes als Abstraktionen ihrer Bestandteile, sie sind kondensierte Kampferfahrungen der Arbeiterklasse, die historisch entstanden sind.

Jene, die bewusst oder unbewusst den Diskussionsstand vergangener Kämpfe revidieren oder ignorieren, werden objektiv den ideologischen Klassenkampf für die herrschende Kapitalistenklasse und gegen die Unterdrückten dieser Welt führen. Gerade zur nationalen Frage fehlt es jedoch dabei an einer Ausarbeitung dessen, was die Ergebnisse der Diskussionen der III. Internationale zum Verhältnis von nationaler Souveränität und Revolution sind – anders ließe sich nur mit sophistischen Methoden bestimmen, welche der Parteien in diesem Streit Revisionismus betreiben würden. Lenin schreibt in einer Kritik an sophistischen Herangehensweisen, dass es darauf ankommt:

„nicht einzelne Tatsachen herauszugreifen, sondern den Gesamtkomplex der auf die betreffende Frage bezüglichn Tatsachen zu betrachten, ohne eine einzige Ausnahme, denn sonst taucht unvermeidlich der Verdacht, und zwar der völlig berechtigte Verdacht auf, dass die Tatsachen willkürlich ausgewählt oder zusammengestellt sind, daß nicht der objektive Zusammenhang und die objektive wechselseitige Abhängigkeit der historischen Erscheinungen in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, sondern daß es sich um ein ’subjektives‘ Machtwerk zur Rechtfertigung einer vielleicht schmutzigen Sache handelt.“ (15)

Dieser Beitrag hat nicht den Anspruch, zu allen oben genannten Fragen Position zu beziehen, wie es ein Diskussionsbeitrag tun würde. Den Gesamtkomplex, einschließlich eines Blickes in die heutige politische Ökonomie des Imperialismus und der Darstellung dessen, wie konkret nationale Unterwerfungen heute aussieht, kann auch der folgende Text nicht behandeln. Stattdessen ziele ich hier darauf ab, eine leider immer noch unterentwickelte Debatte zu qualifizieren, indem der Stand der Debatte zur Phase der III. Internationale in einer relativen Vollständigkeit aufgearbeitet wird.

Hierfür wurde eine höchstmöglich vollständige Sammlung von Zitaten als Recherchehilfe für all jene erstellt, die sich mit den Thesen von den wichtigsten Kämpfern der III. Internationale zur Nationalen Befreiung auseinandersetzen und diese aufarbeiten wollen, um beispielsweise die Frage zu klären, welche Akteure den Diskussionsstand des bisherigen Höhepunktes der Kommunistischen Weltbewegung wirklich revidieren und welche ihn verteidigen.

1. Methode und Darstellungsweise

Insgesamt wurden 24 Texte von Lenin, Stalin sowie einige Protokolle und Beschlüsse der KI bis zum VI. Weltkongress exzerpiert, welche zwischen 1903-1938 verfasst wurden. Auf Basis dessen wurden strategische „Grundannahmen“ der III. Internationale herausgearbeitet. Dieses Dokument ist eine kommentierte Sammlung von Zitaten, die jeweils in 20 programmatischen Grundannahmen einsortiert und kurz kommentiert werden.

Anfangs legte ich den Fokus auf das Herausarbeiten möglichst klarer Definitionen zu Begriffen wie Nation, Nationalität, Annexion etc. Das ist zwar zum Teil gelungen (siehe Abschnitt 3.1.), jedoch stellte ich fest, dass dies nicht Gegenstand der vielen Auseinandersetzungen war. Die meisten Schriften stritten stattdessen um klare Handlungsorientierungen zu nationalen Befreiungsbewegungen und beschäftigten sich mit Fehlern, die im Zuge dessen gemacht werden können.

Aufgrund der Annahme, die in den Texten bestätigt wurde, dass der Imperialismus eine qualitativ höhere Entwicklungsstufe mit eigenen Gesetzmäßigkeiten darstellt, welche Marx und Engels noch nicht ausreichend beobachten und darstellen konnten, sowie der Feststellung, dass Lenin, Stalin und die Ausarbeitungen der Genossen der III. Internationale ohnehin reichlich mit Zitaten von Marx und Engels gefüllt sind, konzentrierte ich mich darauf, insbesondere die Entwicklung der Strategie der III. Internationale zu untersuchen.

Die Debatte zur nationalen Souveränität wurde von 1903-1929 intensiv geführt, bis auf eine Ausnahme (16) sind Texte aus dieser Periode der Forschungsgegenstand gewesen. Stets wurde bei der Ausarbeitung die Epoche der Texte im Blick behalten, indem Achtsamkeit gegenüber der Frage herrschte, ob Strategiefragen bspw. bezüglich der Überwindung der Zarenmonarchie geäußert wurden, oder ob diese damals als allgemein gültige, programmatische Strategie in der Phase des Imperialismus (17) formuliert wurden. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie die nationale Selbstbestimmung innerhalb von sozialistischen Staaten gehandhabt wurde, wurde nicht fokussiert behandelt, auch wenn wir hier zu einigen Ergebnissen kamen; siehe Fußnote (18).

Die methodische Herangehensweise umfasste die Lektüre der im Folgenden aufgezählten Texte mit dem Ziel, Grundannahmen herauszuarbeiten. Dabei fokussierte ich mich vor allem auf allgemeine Orientierungen mit programmatischem Charakter. „Allgemeine Orientierungen“ bedeutet hierbei nicht, dass dogmatische Leitsätze herausgearbeitet werden sollen. Wie später deutlich wird, lehnten die Bolschewiki eine dogmatische Verallgemeinerung der Strategie bzgl. nationaler Befreiungen ab; stattdessen wurde die jeweilige nationale Bewegung in den Kontext der weltweiten Gesamtrevolution analysiert. Entsprechend wird angestrebt, die analytischen Werkzeuge, Variablen und Gedankengänge nachvollziehen zu können, mit denen die Bolschewiki arbeiteten, um sich in ein Verhältnis zu konkreten Kämpfen zur nationalen Souveränität stellen zu können.

Folgende Texte wurden gesichtet. Links und genauere Verweise finden sich im Quellenverzeichnis am Ende des Dokuments:

  • Lenin, Das Manifest der armenischen Sozialdemokraten (1903)
  • Lenin, Die nationale Frage in unserem Programm (1903)
  • Lenin, Entwurf für das Parteiprogramm der KPR(B) (1919)
  • Lenin, Resolutionsentwurf über die Stellung des „Bund“ in der Partei (1903)
  • Lenin, Resolution über die Nationale Frage (1913)
  • Lenin, Über die „national-kulturelle“ Autonomie (1913)
  • Lenin, Kritische Bemerkungen zur Nationalen Frage (1913)
  • Lenin, Über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung (1914)
  • Lenin: Sozialismus und Krieg (1915)
  • Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916)
  • Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916)
  • Lenin, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (1920)
  • Lenin, Über die „Junius“-Broschüre (1916)
  • Stalin, Marxismus und nationale Frage (1913)
  • Stalin, Gegen den Föderalismus + Anmerkung (1917)
  • Stalin, Rede über die nationale Frage (1917)
  • Stalin, Die Organisation der Russischen Föderativen Republik (1918)
  • Stalin, Der Oktoberumsturz über die nationale Frage (1918)
  • Stalin, Die Politik der Sowjetmacht in der nationalen Frage in Russland (1920)
  • Stalin, Zur Behandlung der nationalen Frage (1921)
  • Stalin, Vorwort zu dem 1920 herausgegebenen Sammelband von Aufsätzen zur nationalen Frage (1920)
  • Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus (Kapitel 6 und 7 zur nationalen Frage) (1924)
  • Stalin, Die nationale Frage und der Leninismus
  • Autorenkollektiv, Geschichte der KPdSU(b)
  • Kommunistische Internationale, Leitsätze und Ergänzungsthesen über die National- und die Kolonialfrage (1920)
  • Kommunistische Internationale, Beschluss „Zur Orientfrage“ (1922)
  • Kommunistische Internationale, zahlreiche Protokolle der Weltkongresse bis zum VI-Weltkongress

Zwei Texte von Stalin mit vielversprechendem Titel wurden aufgrund von mangelnder Verfügbarkeit und Kapazität nicht gesichtet:

  • Stalin, Referat über die nationalen Momente im Partei- und Staatsaufbau (1923)
  • Stalin, Welche Auffassung hat die Sozialdemokratie von der nationalen Frage? (1904)

Zudem sei angemerkt, dass eine Sichtung von Komintern Dokumenten auch anhand von Sekundärliteratur stattfand. Besonders hilfreich war hier die hervorragende Studie des Trotzkisten Kai Schmidt-Soltau zur antikolonialen Strategiedebatte in der KI (19).

Um die Grundaussagen in diesen Texten darzustellen, werden sie abschnittsweise zuerst in einer Zusammenfassung thesenhaft wiedergegeben. Im Anschluss werden dann die Zitate angehängt, aus denen wir die These jeweils von Lenin und Stalin als Positionierung herauslesen. Das führt zu einer Darstellung mit einer sehr hohen Anzahl an teilweise längeren Zitaten. Wir empfehlen für die leichtere Lesbarkeit daher die PDF-Version, in der die Zitate in Textkästen eingefasst sind.

Auch wenn die Auseinandersetzungen ineinandergreifen und nur schwer künstlich zu trennen sind, sind vor allem zwei Debatten im Fokus der gesichteten Literatur erkennbar. Zum einen die Auseinandersetzung zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen (Abschnitt 2), zum anderen die Kritiken an den sogenannten Bundisten, welche die Theorie der „national-kulturellen Autonomie“ vertraten (Abschnitt 3). Folgend die Darstellung der Grundannahmen zur nationalen Selbstbestimmung.

2. Revolution und Selbstbestimmungsrecht der Nationen

2.1. Selbstbestimmungsrecht im Programm von Kommunistischen Parteien

Zusammenfassung: Es muss Teil des Programms von Kommunistischen Parteien sein, für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen offensiv einzutreten. Dies gilt für die gesamte Phase des Imperialismus, da nationale Unterdrückung Wesen des Imperialismus ist.

Diese These zieht sich wie ein roter Faden durch mindestens 12 der von uns gelesenen Texte, die alle davon ausgehend weiter erörtern, was praktisch darunter zu verstehen ist. Daher bildet sie auch die Überschrift dieses Teilabschnitts. Im folgenden Zitat liefert Lenin ein Argument, wieso dieser Kampf auch unter kapitalistischen Verhältnissen zu führen sei, in Verbindung mit dem Kampf für den Sozialismus:

„Der Imperialismus ist die höchste Stufe der Entwicklung des Kapitalismus. Das Kapital ist in den fortgeschrittenen Ländern über den Rahmen des Nationalstaates hinausgewachsen; es hat Monopole an Stelle der Konkurrenz gestellt und alle objektiven Voraussetzungen für die Verwirklichung des Sozialismus geschaffen. Deshalb steht in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten von Amerika der revolutionäre Kampf des Proletariats um die Niederwerfung der kapitalistischen Regierungen und die Expropriation der Bourgeoisie auf der Tagesordnung. Der Imperialismus erzeugt einen solchen Kampf, indem er die Klassengegensätze ungemein verschärft, die Lage der Massen in ökonomischer Hinsicht – Trusts, Teuerung – sowie in politischer Hinsicht verschlimmert, Wachstum des Militarismus, Kriege, Verstärkung der Reaktion, Befestigung und Erweiterung des nationalen Druckes und des kolonialen Raubes verursacht. Der siegreiche Sozialismus muß die volle Demokratie verwirklichen, folglich nicht nur vollständige Gleichberechtigung der Nationen realisieren, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen durchführen, das heißt das Recht auf freie politische Abtrennung anerkennen. Sozialdemokratische Parteien, die durch ihre ganze Tätigkeit sowohl jetzt als während und nach der Revolution nicht zu beweisen imstande sein werden, daß sie die unterjochten Nationen befreien und ihre eigenen Beziehungen zu denselben auf dem Boden der freien Vereinigung aufbauen werden – eine solche Vereinigung aber würde zur lügnerischen Phrase ohne die Freiheit der Abtrennung – derartige Parteien würden Verrat am Sozialismus begehen.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S. 144f)

„Für das Recht der von der Zarenmonarchie unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung, d. h. auf Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates, muß die sozialdemokratische Partei unbedingt vertreten. Das verlangen sowohl die Grundprinzipien der internationalen Demokratie im allgemeinen als auch im besonderen die unerhörte nationale Unterdrückung der Mehrheit der Bevölkerung Rußlands durch die Zarenmonarchie, die, verglichen mit den Nachbarstaaten in Europa und Asien, die reaktionärste und barbarischste Staatsordung darstellt. Das verlangt ferner die Sache der Freiheit der großrussischen Bevölkerung selbst, die nicht imstande sein wird, einen demokratischen Staat zu errichten, solange nicht der großrussische Schwarzhunderternationalismus ausgerottet ist, der durch die Tradition einer Reihe blutiger Abrechnungen mit nationalen Bewegungen gestützt wird und der nicht nur von der Zarenmonarchie und allen reaktionären Parteien, sondern, besonders in der Periode der Konterrevolution, auch von dem der Monarchie liebedienernden großrussischen bürgerlichen Liberalismus großgezüchtet wird.“ (Lenin: Resolution über die nationale Frage (1913), LW 19, S. 421)

„Die Forderung nach Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes für jede Nationalität bedeutet an und für sich nur, daß wir, die Partei des Proletariats, uns immer und unbedingt gegen jeden Versuch auflehnen müssen, die Selbstbestimmung des Volkes durch Gewalt oder Ungerechtigkeit von außen zu beeinflussen. Wenn wir diese unsere negative Pflicht (des Kampfes und Protestes gegen die Gewalt) stets erfüllen, so sorgen wir selber von uns aus für die Selbstbestimmung nicht der Völker und Nationen, sondern des Proletariats innerhalb jeder Nationalität. Somit muß das allgemeine, grundlegende, stets verbindliche Programm der Sozialdemokraten Rußlands nur in der Forderung der vollständigen Gleichberechtigung der Staatsbürger (unabhängig von Geschlecht, Sprache, Religion, Rasse, Nationalität usw.) und ihres Rechtes auf freie demokratische Selbstbestimmung bestehen.“ (Lenin: Das Manifest der armenischen Sozialdemokraten (1903), LW 6, S. 323)

2.2. Was heißt Selbstbestimmungsrecht?

Zusammenfassung: Selbstbestimmungsrecht heißt Recht auf Lostrennung und Bildung eines selbstständigen Staates. Das Selbstbestimmungsrecht ist eine Reaktion gegen nationale Unterdrückung.

„Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden, d.h. der unterdrückten Nation, so daß diese Forderung nicht der Forderung der Abtrennung, der Zerstückelung, der Bildung kleiner Staaten gleich ist. Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung. Je mehr die demokratische Organisation des Staates bis zur vollständigen Freiheit der Abtrennung ausgestaltet ist, desto seltener und schwächer wird in der Praxis das Bestreben nach Abtrennung sein, denn die Vorteile der großen Staaten sind sowohl vom Standpunkt des ökonomischen Fortschritts als auch von demjenigen der Interessen der Massen zweifellos, wobei diese Vorteile mit dem Kapitalismus steigen.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S.147f)

2.3. Kampf um das Recht auf Selbstbestimmungsrecht im Kapitalismus

Zusammenfassung: Verweise darauf, dass nationale Selbstbestimmung erst vollständig im Sozialismus durchführbar sei, sind zwar abstrakt richtig, die Ablehnung des Kampfes dagegen jedoch opportunistisch und fatal. Auch wenn unvollständig, ist das Recht auf Selbstbestimmung auch im Kapitalismus/ Imperialismus erkämpfbar und zu erkämpfen.

Hier hat Lenin vor allem stark gegen polnische Kommunisten und Rosa Luxemburg polemisiert. Beide vertraten die Ansicht, dass nationale/gerechte Kriege in Europa nicht mehr möglich seien und dass das programmatische Vertreten von nationaler Selbstbestimmung im Interesse der Bourgeoisie sei, da diese Forderung erstens von ihr ausgenutzt werden könne, zweitens eine utopische Forderung sei, die Illusionen schüre. In mindestens fünf Texten wurde ausführlich gegen diese Ansichten argumentiert.

Folgend einige aussagekräftige Ausführungen, die ersten beiden zur „abstrakten Richtigkeit“:

„Unter dem Kapitalismus kann die nationale (und überhaupt die politische) Unterdrückung nicht beseitigt werden. Dazu ist die Aufhebung der Klassen, d.h. die Einführung des Sozialismus unerläßlich. Doch wenn der Sozialismus auch auf der Ökonomik begründet ist, erschöpft er sich doch keineswegs darin. Zur Beseitigung der nationalen Unterdrückung ist ein Fundament notwendig – die sozialistische Produktion – aber auf diesem Fundament bedarf es noch einer demokratischen Organisation des Staates, einer demokratischen Armee usw. Hat das Proletariat den Kapitalismus in den Sozialismus umgestaltet, so schafft es die Möglichkeit für die völlige Beseitigung der nationalen Unterdrückung; diese Möglichkeit wird „nur“ – „nur“! dann zur Wirklichkeit werden, wenn die Demokratie auf allen Gebieten vollständig durchgeführt sein wird – bis zur Festlegung der Staatsgrenzen entsprechend den „Sympathien“ der Bevölkerung, bis zur völligen Freiheit der Lostrennung einschließlich. Auf dieser Basis wird ihrerseits in der Praxis die absolute Beseitigung auch der kleinsten nationalen Reibungen, des geringsten nationalen Mißtrauens erfolgen und damit die beschleunigte Annäherung und Verschmelzung der Nationen, die durch das Absterben des Staates vollendet werden wird. Das ist die Theorie des Marxismus, von der sich unsere polnischen Kollegen irrigerweise entfernt haben.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 331)

„[…] Die kommunistischen Parteien müssen nicht nur in ihrer gesamten Propaganda und Agitation […] die Verletzungen der Gleichberechtigung der Nationen […] unentwegt anprangern. Notwendig ist auch erstens eine ständige Aufklärung darüber, daß nur die Sowjetordnung imstande ist, den Nationen wirkliche Gleichberechtigung zu geben […]; zweitens müssen alle kommunistischen Parteien die revolutionären Bewegungen in den abhängigen oder nicht gleichberechtigten Nationen (z.B. in Irland, unter den Negern Amerikas usw.) und in den Kolonien direkt unterstützen.“ (Lenin, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (1920). LW; Bd.31, S.135ff)

Eine Ausführung, warum der Kampf im Kapitalismus keine opportunistische Illusion ist, sondern im Gegenteil die Ablehnung dessen eine Form des Opportunismus:

„Die ganze alte Polemik der polnischen Sozialdemokraten gegen die Selbstbestimmung der Nationen ist auf dem Argument aufgebaut, daß sie in der kapitalistischen Gesellschaft „undurchführbar“ sei. Die ökonomische Unmöglichkeit der Selbstbestimmung müßte durch eine ökonomische Analyse bewiesen werden, so wie wir die Undurchführbarkeit eines Verbots der Maschinen oder der Einführung von Arbeitsgeld u.dgl.m. nachweisen. Niemand versucht auch nur, eine solche Analyse zu geben. Überhaupt ist die politische Demokratie nur eine der möglichen Formen (wenn auch theoretisch für den „reinen“ Kapitalismus die normale Form) des Überbaus über dem Kapitalismus. Wie die Tatsachen zeigen, entwickeln sich sowohl der Kapitalismus als auch der Imperialismus bei jeder politischen Form und ordnen sich alle Formen unter. Deshalb ist es auch theoretisch grundfalsch, von der „Undurchführbarkeit“ einer der Formen und einer der Forderungen der Demokratie zu sprechen. […] Subjektiv wollen die polnischen Genossen den Marxismus „vertiefen“, sie tun das aber ganz ungeschickt. Objektiv sind ihre Phrasen über die Undurchführbarkeit Opportunismus, da stillschweigend vorausgesetzt wird: „undurchführbar“ ohne eine Reihe von Revolutionen, wie im Imperialismus überhaupt die ganze Demokratie, alle ihre Forderungen undurchführbar sind. Das Durcheinander ist geradezu köstlich: die Selbstbestimmung setzt die Freiheit der Lostrennung vom Unterdrückerstaat voraus (das liegt auf der Hand, und wir haben das in unseren Thesen besonders hervorgehoben); davon zu sprechen, daß der Anschluß an einen gegebenen Staat dessen Zustimmung voraussetzt, ist in der Politik ebenso „nicht üblich“, wie man in der Ökonomik nicht von der „Zustimmung“ des Kapitalisten, Profite einzustecken, oder des Arbeiters, Arbeitslohn zu erhalten, spricht! Davon zu sprechen wäre lächerlich.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 332f)

Im selben Text, in Auseinandersetzung mit polnischen Kommunisten, präsentiert Lenin eine weitere Argumentationslinie, in der er darstellt, warum die Anerkennung der Tatsache, dass die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts „ohne eine Reihe von Revolutionen“ nicht durchführbar sei, kein Argument gegen den Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist. Vielmehr ist es ein Argument dafür, sich für dieses Recht einzusetzen und diese Bemühungen mit revolutionären Kämpfen zu verbinden, da solche Kämpfe bereits in ihrem Wesen revolutionär sind. Sie bieten einen Anlass für „Massenaktionen und revolutionäre Kämpfe gegen die Bourgeoisie“:

„Im zweiten Falle ist diese Behauptung unvollständig und ungenau. Denn nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie sind beim Imperialismus nur unvollständig, verstümmelt und als eine seltene Ausnahme (zum Beispiel die Abtrennung Norwegens von Schweden im Jahre 1905) „durchführbar“. Die Forderung der sofortigen Befreiung der Kolonien, die von allen revolutionären Sozialdemokraten aufgestellt wird, ist ebenfalls beim Kapitalismus ohne eine Reihe von Revolutionen „undurchführbar“. Aber daraus folgt keinesfalls der Verzicht der Sozialdemokratie auf den sofortigen und entschiedenen Kampf für alle diese Forderungen. Das wäre ja nur in die Hand der Bourgeoisie und Reaktion gespielt. Ganz im Gegenteil, man muß alle diese Forderungen nicht reformistisch, sondern entschieden revolutionär formulieren, sich nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Legalität beschränken, sondern diesen Rahmen zerbrechen, sich nicht mit dem parlamentarischen Auftreten und äußerlichen Protesten begnügen, sondern die Massen mit in den aktiven Kampf hineinziehen, den Kampf um jede demokratische Forderung bis zum direkten Ansturm des Proletariats auf die Bourgeoisie verbreiten und anfachen, das heißt ihn zur sozialistischen Revolution, die die Bourgeoisie expropriiert, führen. Die sozialistische Revolution kann nicht nur aus einem großen Streik oder einer Straßendemonstration oder einem Hungeraufstand, einer Militärempörung oder einer Meuterei in den Kolonien, sondern aus einer beliebigen politischen Krise, wie der Dreyfus-Affäre oder dem Zaberninzident, oder im Zusammenhang mit dem Referendum in der Frage der Abtrennung der unterdrückten Nationen und ähnlichem mehr aufflammen. […] Die Verstärkung der nationalen Unterjochung in der Ära des Imperialismus bedingt für die Sozialdemokraten nicht den Verzicht auf den „utopischen“, wie ihn die Bourgeoisie bezeichnet, Kampf für die Freiheit der Abtrennung der Nationen, sondern ganz im Gegenteil eine verstärkte Ausnutzung aller Konflikte, die auch auf diesem Boden entstehen, als Veranlassung für Massenaktionen und revolutionäre Kampfe gegen die Bourgeoisie.“ (Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S. 146f)

2.4. Wann sollte das Selbstbestimmungsrecht unterstützt werden?

Zusammenfassung: Das Selbstbestimmungsrecht programmatisch zu unterstützen, heißt nicht, in jedem Fall auch praktisch dafür zu kämpfen. Allgemeingültige Handlungsorientierungen zur nationalen Frage sind abzulehnen und durch eine dialektische Analyse zu ersetzen. Ob Kommunisten eine Absonderung/Eingliederung unterstützen, hängt erstens von den Interessen des Gesamtproletariats ab, zweitens von dem Willen der Bevölkerung, drittens davon, ob die Gebiete sich dadurch an einen reaktionären Staat angliedern oder sich von einem solchen absondern (Verweis auf demokratische Rechte von Minderheiten). All das erfordert eine dialektische Analyse mit den historischen Verhältnissen von den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen als Ausgangspunkt. Nationale Bewegungen müssen im Kontext des Kampfes für den Sozialismus begriffen werden – sie müssen für den Kampf des Sozialismus nutzbar gemacht werden.

Eine Ausführung darüber, warum immer anhand der konkreten Verhältnisse entschieden werden muss, ob eine Lostrennung einer Nation zu unterstützen ist (und die nationale Bourgeoisie hier häufig Fallstricke strickt):

„Die Frage des Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung (d. h. darauf, daß die staatliche Verfassung die Gewähr gibt, daß die Frage der Lostrennung auf völlig freie und demokratische Art entschieden werden kann) darf nicht verwechselt werden mit der Frage der Zweckmäßigkeit der Lostrennung dieser oder jener Nation. Diese letztere Frage muß von der sozialdemokratischen Partei in jedem einzelnen Falle vollkommen selbständig vom Standpunkt der Interessen der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung und der Interessen des Klassenkampfes des Proletariats für den Sozialismus gelöst werden. Die Sozialdemokratie muß dabei im Auge behalten, daß die Gutsbesitzer, die Pfaffen und die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen ihr Bestreben, unter den Arbeiter Zwietracht zu säen sie zu verdummen, nicht selten hinter nationalistischen Losungen verstecken, während sie hinter ihrem Rücken mit den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie der herrschenden Nation zum Nachteil der werktätigen Massen aller Nationen Abkommen schließen.“ (Lenin: Resolution über die nationale Frage (1913), LW 19, S. 421)

Stalin fasst zusammen: „Die konkreten historischen Verhältnisse als Ausgangspunkt, eine dialektische Stellung der Frage als einzig richtige Fragestellung – das ist der Schlüssel zur Lösung der nationalen Frage“ (Stalin: Marxismus und Nationale Frage (1913) Stalin Werke 2, S. 175) und liefert beispielhafte Details, wie dabei vorzugehen ist:

„Die Nation hat das Recht, sich autonom einzurichten. Sie hat sogar das Recht, sich loszutrennen. Aber das heißt noch nicht, daß sie das unter allen Umständen tun muß, daß Autonomie oder Separation immer und überall für die Nation, das heißt für ihre Mehrheit, das heißt für die werktätigen Schichten, von Vorteil sein wird. Alles das sind Fragen, deren Beantwortung von den konkreten historischen Verhältnissen abhängt, in denen die gegebene Nation lebt. Mehr noch. Wie überhaupt alles, ändern sich auch die Verhältnisse, und eine Entscheidung, die im gegebenen Augenblick richtig ist, kann sich zu einer anderen Zeit als gänzlich unannehmbar erweisen. Die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen, unter denen eine Nation lebt, sind der einzige Schlüssel zur Entscheidung der Frage, wie sich nämlich diese oder jene Nation einrichten, welche Formen ihre künftige Verfassung annehmen soll. Dabei ist es möglich, daß sich für jede Nation eine besondere Lösung der Frage erforderlich macht. Wenn irgendwo eine dialektische Stellung der Frage notwendig ist, so eben hier, in der nationalen Frage. Deswegen müssen wir uns entschieden gegen eine sehr verbreitete, aber auch sehr summarische Methode der „Lösung“ der nationalen Frage wenden, die ihren Ursprung vom „Bund“ herleitet. Anders in Rußland. In Rußland haben wir erstens „Gott sei Dank kein Parlament“. Zweitens – und das ist die Hauptsache – bildet in Rußland nicht die nationale Frage, sondern die Agrarfrage die Achse des politischen Lebens. Darum ist das Schicksal der russischen Frage und somit auch der „Befreiung“ der Nationen in Rußland mit der Lösung der Agrarfrage, das heißt mit der Vernichtung der Überreste der Leibeigensdiaft, das heißt mit der Demokratisierung des Landes verbunden. Daraus läßt sich denn auch erklären, warum in Rußland die nationale Frage nicht als eine selbständige und entscheidende Frage, sondern als ein Teil der allgemeinen und wichtigeren Frage der Befreiung des Landes von seinen Fesseln hervortritt. Noch einmal: Die konkreten historischen Verhältnisse als Ausgangspunkt, eine dialektische Stellung der Frage als einzig richtige Fragestellung – das ist der Schlüssel zur Lösung der nationalen Frage.“ (Stalin: Marxismus und Nationale Frage (1913), Stalin Werke 2, S.171)

Auch Lenin warnt davor, stets die Strategie der Bourgeoise im Auge zu haben und das Interesse des Gesamtproletariates zu berücksichtigen:

„Es gibt keine der demokratischen Forderungen, die nicht unter bestimmten Umständen als Werkzeug des Betruges gegen die Arbeiter von seiten der Bourgeoisie dienen konnte oder gedient hätte. Daher wäre es theoretisch grundsätzlich falsch, eine der politischen Forderungen der Demokratie, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in dieser Hinsicht auszusondern und den übrigen Forderungen entgegenzustellen. In der Praxis kann das Proletariat nur dann seine Selbständigkeit bewahren, wenn es den Kampf für alle demokratischen Forderungen, die Republik nicht ausgenommen, dem revolutionären Kampf für die Niederwerfung der Bourgeoisie unterordnet. Anderseits, im Gegensatz zu den Proudhonisten, die das nationale Problem „im Namen der sozialen Revolution“ verneinten, hob Marx in erster Linie, indem er hauptsächlich die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern im Auge hatte, das grundlegende Prinzip des Internationalismus und des Sozialismus hervor: Nie kann ein Volk, das and’re Völker unterdrückt, frei sein.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S. 151)

Gerade in einem imperialistischen Krieg besteht laut Lenin diese Gefahr. Er betrachtet den Ersten Weltkrieg als einen imperialistischen Krieg, weil dieser um die Aufteilung der Kolonien geführt wurde, die Unterdrückung fremder Nationen bezweckte (einschließlich im Inland) und die Lohnsklaverei festigte. Unter solchen Bedingungen müsse das Proletariat die Waffen umgehend umdrehen:

„Es ist nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber (Deutschland) zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern. Die Sozialisten haben den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen. Zu diesem Zweck müssen die Sozialisten vor allem dem Volk die Wahrheit sagen, nämlich, daß dieser Krieg in dreifachem Sinne ein Krieg der Sklavenhalter für die Verstärkung der Sklaverei ist. Er wird geführt 1. zur Festigung der Kolonialherrschaft durch „gerechtere” Aufteilung und weitere, mehr „solidarische” Ausbeutung der Kolonien; 2. zur verstärkten Unterdrückung der fremden Nationen in den Ländern der „Großmächte selbst denn sowohl Österreich wie auch Rußland (Rußland in viel stärkerem und höherem Grade als Österreich) halten sich nur mittels dieser Unterdrückung, die sie durch den Krieg noch verschärfen; 3. zur Festigung und Verlängerung der Lohnsklaverei, denn das Proletariat wird durch ihn gespalten und niedergehalten, während die Kapitalisten davon profitieren, da sie sich am Krieg bereichern, die nationalen Vorurteile schüren und die Reaktion stärken, die in allen, selbst in den freiesten und republikanischen Ländern ihr Haupt erhoben hat.“ (Lenin: Sozialismus und Krieg (1915), LW 21, S. 304)

Ein Krieg, in dem Nationen sich jedoch gegen ihre Unterdrückung wären, ist ein gerechter Krieg, mit dem Sozialisten sympathisieren:

„Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Rußland usw. den Krieg erklärten, so wären das „gerechte“ Kriege, „Verteidigungskriege, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber – über die „Groß“mächte – sympathisieren.“ (Lenin: Sozialismus und Krieg (1915), LW 21, S. 301)

2.4. Annexionen

Zusammenfassung: „Eine Annexion ist eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Nation, eine Festlegung der Staatsgrenzen entgegen dem Willen der Bevölkerung“. [Gewalt kann kein Argument sein, warum man dagegen ist]. Kommunisten stellen sich gegen Annexionen. Gegen Annexionen zu sein bedeutet für das Selbstbestimmungsrecht zu sein.

Dieser Abschnitt dient zur Ergänzung für die konkrete Einschätzung, ob eine nationale Bewegung unterstützt werden soll. Hier geht es teilweise um Definitionsfragen; der Wille der Bevölkerung ist zentral für das Urteil über Annexionen:

„Zum Begriff der Annexion gehören üblicherweise 1. der Begriff der Gewalt (gewaltsame Angliederung) 2. der Begriff der nationalen Fremdherrschaft (Angliederung eines „fremden“ Gebiets usw.) und – manchmal – 3. der Begriff der Verletzung des Status quo. Darauf haben wir in den Thesen hingewiesen, und dieser unser Hinweis ist nicht kritisiert worden. (…) Eine Annexion ist eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Nation, eine Festlegung der Staatsgrenzen entgegen dem Willen der Bevölkerung. [Gewalt kann kein Argument sein, warum man dagegen ist, Anm. d V.]. Gegen Annexionen sein bedeutet für das Selbstbestimmungsrecht sein.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 334f)

Weiter eine Definition, welche Lenin auf einer Rede vorlas, mit der Forderung, dass die Regierung folgende Bestimmung von Annektionen in einem Dekret verabschiedet:

„Unter Annexion oder Aneignung fremder Territorien versteht die Regierung, im Einklang mit dem Rechtsbewußtsein der Demokratie im allgemeinen und der werktätigen Klassen im besonderen, jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne daß diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch unmißverständlich, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte oder mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist, und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern lebt. Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsch – gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde —‘ das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der annektierenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.“ (Lenin: Rede über den Frieden (1917). LW 26, S.240)

2.5. Klasseninhalt von nationalen Bewegungen

Zusammenfassung: Nationale Bewegungen sind im Wesen Bewegungen der Bourgeoisie. Das heißt jedoch nicht, dass „das Proletariat nicht [selbstständig] gegen die Politik der Unterdrückung der Nationalitäten kämpfen soll“. Insgesamt können nationale Bewegungen unterschiedliche Inhalte mit unterschiedlicher Klassenbasis vertreten. Das Proletariat ist die Klasse, die bei einer nationalen Unterdrückung am meisten betroffen ist. Den Kampf dagegen abzulehnen, heißt die Entwicklung des Proletariats zu hemmen.

Das Argument hier ähnelt dem in Abschnitt 2.3. Stalin geht hier mit Beispielen jedoch tiefer auf das Argument ein, die Unterstützung nationaler Bewegungen unterstütze die Bourgeoisie. Er erklärt, dass diese Bewegungen durchaus Bewegungen aus der Bourgeoisie sind:

„Wenn es anderseits beispielsweise in Georgien keinen einigermaßen ernst zu nehmenden antirussischen Nationalismus gibt, so vor allem deswegen, weil es dort keine russischen Gutsbesitzer und keine russische Großbourgeoisie gibt, die einen derartigen Nationalismus unter den Massen nähren könnten. In Georgien gibt es einen antiarmenischen Nationalismus, dies kommt aber daher, weil es dort noch eine armenische Großbourgeoisie gibt, die die noch nicht erstarkte georgische Kleinbourgeoisie niederringt und sie zu einem antiarmenischen Nationalismus drängt. Der Inhalt der nationalen Bewegung kann natürlich nicht überall der gleiche sein: Er wird ganz und gar durch die verschiedenartigen Forderungen bedingt, die von der Bewegung aufgestellt werden. In Irland trägt die Bewegung den Charakter einer Agrarbewegung, in Böhmen einen „Sprachencharakter“; hier verlangt man staatsbürgerliche Gleichberechtigung und Freiheit des Glaubensbekenntnisses, dort „eigene“ Beamte oder einen eigenen Landtag. In den verschiedenartigen Forderungen schimmern mitunter die verschiedenartigen Merkmale durch, die für die Nation im allgemeinen kennzeichnend sind (Sprache, Territorium usw.). Beachtung verdient der Umstand, daß man nirgends Forderungen nach dem Bauerschen allumfassenden „Nationalcharakter“ antrifft. Das ist auch begreiflich: der „Nationalcharakter“ an und für sich ist etwas Ungreifbares, und J. Strasser bemerkt ganz richtig: „… was sollen wir in der Politik … mit ihm anfangen?“ Aus dem Gesagten wird klar, daß der nationale Kampf unter den Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus ein Kampf der bürgerlichen Klassen untereinander ist. Manchmal gelingt es der Bourgeoisie, das Proletariat in die nationale Bewegung hineinzuziehen, und dann scheint der nationale Kampf äußerlich ein Kampf „des ganzen Volkes“ zu sein, aber nur äußerlich. Seinem Wesen nach bleibt er stets ein bürgerlicher Kampf, der hauptsächlich für die Bourgeoisie vorteilhaft und ihr genehm ist. Daraus folgt aber keineswegs, daß das Proletariat nicht gegen die Politik der Unterdrückung der Nationalitäten kämpfen soll. Beschränkung der Freizügigkeit, Entziehung des Wahlrechts, Knebelung der Sprache, Verringerung der Zahl der Schulen und sonstige Repressalien treffen die Arbeiter in nicht geringerem, wenn nicht in höherem Maße als die Bourgeoisie. Eine solche Lage kann die trete Entwicklung der geistigen Kräfte des Proletariats der unterworfenen Nationen nur hemmen. Man kann nicht ernstlich von einer vollen Entfaltung der geistigen Anlagen des tatarischen oder des jüdischen Arbeiters sprechen, wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben wird, seine Muttersprache in Versammlungen und Vorträgen zu gebrauchen, wenn ihm seine Schulen geschlossen werden.“ […]

Die Politik nationalistischer Repressalien ist aber für die Sache des Proletariats auch noch in anderer Hinsicht gefährlich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit breiter Schichten von den sozialen Fragen, von den Fragen des Klassenkampfes ab und lenkt sie auf nationale Fragen, auf „gemeinsame“ Fragen des Proletariats und der Bourgeoisie hin. Dies aber schafft einen günstigen Boden für die verlogene Predigt einer „Interessenharmonie“, für die Vertuschung der Klasseninteressen des Proletariats, für die geistige Knechtung der Arbeiterschaft. Dadurch wird der Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten ein ernstliches Hindernis bereitet. Wenn ein beträchtlicher Teil der polnischen Arbeiter bis jetzt in der geistigen Knechtschaft der bürgerlichen Nationalisten verharrt, wenn er bis jetzt abseits von der internationalen Arbeiterbewegung steht, so hauptsächlich deswegen, weil die althergebrachte antipolnische Politik der „Machthabenden“ den Boden für eine solche Knechtschaft schafft und die Befreiung der Arbeiter aus dieser Knechtschaft erschwert. Die Politik der Repressalien bleibt aber nicht hierbei stehen. Vom „System“ der Unterdrückung geht sie nicht selten zum „System“ der Verhetzung der Nationen über, zum „System“ des Gemetzels und der Pogrome. Natürlich ist dieses „System“ nicht überall und nicht immer möglich, aber wo es möglich ist – wo nämlich die elementaren Freiheiten fehlen – nimmt es nicht selten erschreckende Ausmaße an und droht, die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter in Blut und Tränen zu ertränken. Der Kaukasus und Südrußland bieten nicht wenige Beispiele dafür. „Teile und herrsche“ – das ist das Ziel der Verhetzungspolitik. Und soweit eine derartige Politik Erfolg hat, ist sie das größte Übel für das Proletariat, ist sie ein höchst ernstliches Hindernis für die Sache des Zusammenschlusses der Arbeiter aller Nationalitäten eines Staates. Die Arbeiter sind jedoch interessiert an der völligen Vereinigung aller ihrer Klassengenossen zu einer einheitlichen internationalen Armee, an ihrer raschen und endgültigen Befreiung aus der geistigen Knechtschaft der Bourgeoisie, an der vollen und freien Entfaltung der geistigen Kräfte ihrer Mitbrüder, welcher Nation sie auch angehören mögen. Darum kämpfen die Arbeiter und werden auch weiter kämpfen gegen die Politik der Unterdrückung der Nationen in allen ihren Formen, von den raffiniertesten bis zu den brutalsten, ebenso wie gegen die Politik der Verhetzung in allen ihren Formen. Darum proklamiert die Sozialdemokratie aller Länder das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Recht auf Selbstbestimmung, das heißt: Nur die Nation selbst hat das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen; niemand hat das Recht, sich in das Leben einer Nation gewaltsam einzumischen, ihre Schulen und, sonstigen Einrichtungen zu zerstören, ihre Sitten und Gebräuche umzustoßen, ihre Sprache zu knebeln, ihre Rechte zu schmälern.“ (Stalin: Marxismus und Nationale Frage (1913), Stalin Werke 2, S.169f)

Das Proletariat darf sich in diesem Kampf nicht einvernehmen lassen und sollte anstreben, seine Selbständigkeit zu wahren:

„fünftens die Notwendigkeit, einen entschiedenen Kampf zu führen gegen die Versuche, den bürgerlich-demokratischen Befreiungsströmungen in den zurückgebliebenen Ländern einen kommunistischen Anstrich zu geben. […] Die Kommunistische Internationale muß ein zeitweiliges Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie der Kolonien und der zurückgebliebenen Ländern eingehen, darf sich aber nicht mit ihr verschmelzen, sondern muß unbedingt die Selbständigkeit der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer Keimform wahren.“ (Lenin, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (1920) LW 31, S.137/138)

2.6. Nationaler Krieg

Zusammenfassung: In imperialistischen Angriffskriegen muss die Arbeiterklasse die Waffen umdrehen und in einen Klassenkrieg gegen die eigene Bourgeoisie umwandeln. Eine „Vaterlandsverteidigung“ bzw. nationale Kriege sind auch in der Ära des Imperialismus möglich. Diese allgemein als „Verteidigung der Rechte der eigenen Bourgeoisie auf die Unterdrückung fremder Völker“ zu bezeichnen, ist schädlich. Der Begriff des Imperialismus darf nicht schablonenhaft angewandt werden. „Eine solche Gleichgültigkeit führt zu Chauvinismus.“ Wer die Unterstützung eines Aufstandes in annektierten Gebieten ablehnt, wird umgekehrt zum Annexionisten. Pazifismus und Gleichgültigkeit über „Sieg oder Niederlage“ ist abzulehnen.

Lenin kämpfte sehr entschieden gegen die Auffassung, dass es im Imperialismus keine gerechten Kriege mehr gäbe, und stellte sogar dar, dass selbst imperialistische Staaten gerechten Kriege führen können. Die polnischen Kommunisten vertraten die Auffassung, dass eine Vaterlandsverteidigung in der Ära des Imperialismus lediglich „die Verteidigung der Rechte der eigenen Bourgeoisie auf Unterdrückung und Ausplünderung fremder Völker“ sei. Ähnliche Aussagen trifft Rosa Luxemburg in der von ihr unter dem Pseudonym Junius verfassten „Junius-Broschüre“. Diese Broschüre theoretisierte die Aussagen der polnischen Genossen noch weiter und veranlasste Lenin dazu, eine längere Kritik an dieser Ansicht zu verfassen. Es folgen drei zentrale Zitate dazu aus der Auseinandersetzung mit den polnischen Kommunisten. Anschließend werden Hauptaussagen aus Lenins Kritik „Über die „Junius“-Broschüre“ zitiert:

„In Punkt 3 des ersten Abschnitts ihrer Thesen erklären die polnischen Genossen mit aller Bestimmtheit, daß sie gegen jegliche Annexionen sind. […] Was heißt das? Wie ist das zu verstehen? „Den Ausgangspunkt des Kampfes gegen Annexionen bildet die Ablehnung jeder Vaterlandsverteidigung …“ Aber als „Vaterlandsverteidigung“ kann man jeden nationalen Krieg und jeden nationalen Aufstand bezeichnen, und das ist auch bisher allgemein so üblich gewesen. Wir sind gegen Annexionen, aber … wir verstehen das so, daß wir gegen den Krieg der Annektierten für ihre Befreiung von denen sind, die sie annektiert haben; wir sind gegen den Aufstand der Annektierten, der ihre Befreiung von den Annektierenden bezweckt! Ist das etwa nicht eine annexionistische Behauptung? Die Verfasser der Thesen motivieren ihre … merkwürdige Behauptung damit, daß die Vaterlandsverteidigung „in der Ära des Imperialismus“ eine Verteidigung der Rechte der eigenen Bourgeoisie auf die Unterdrückung fremder Völker sei. Aber das ist nur in Bezug auf den imperialistischen Krieg richtig, d.h. den Krieg zwischen imperialistischen Mächten oder Mächtegruppen, wenn beide kriegführenden Seiten nicht nur „fremde Völker“ unterdrücken, sondern auch darum Krieg führen, wer mehr fremde Völker unterdrücken soll! […] Offenbar stellen die Verfasser die Frage der „Vaterlandsverteidigung“ ganz und gar nicht so, wie unsere Partei sie stellt. Wir lehnen die „Vaterlandsverteidigung“ im imperialistischen Krieg ab. Das ist vollkommen klar sowohl im Manifest des Zentralkomitee unserer Partei als auch in den Berner Resolutionen gesagt, die in der deutsch und französisch erschienenen Broschüre „Sozialismus und Krieg“ veröffentlicht wurden. Wir haben das auch in unseren Thesen zweimal betont. Augenscheinlich lehnen die Verfasser der polnischen Thesen die Vaterlandsverteidigung überhaupt ab, d.h. auch in einem nationalen Krieg, da sie vielleicht nationale Kriege „in der Ära des Imperialismus“ als unmöglich erachten. […] Jedenfalls wird wohl kaum jemand zu bestreiten wagen, daß die annektierten Länder Belgien, Serbien, Galizien, Armenien ihren „Aufstand“ gegen die Staaten, durch die sie annektiert worden sind, „Vaterlandsverteidigung“ nennen werden und mit Recht so nennen werden. […] Von Marxismus, von revolutionärem Geist überhaupt ist in dieser Betrachtung keine Spur zu finden. Wollen wir den Sozialismus nicht preisgeben, so müssen wir jeden Aufstand gegen unseren Hauptfeind, die Bourgeoisie der Großmächte, unterstützen, wenn es nicht ein Aufstand einer reaktionären Klasse ist. Lehnen wir die Unterstützung eines Aufstands annektierter Gebiete ab, so werden wir – objektiv – zu Annexionisten. […] es gibt keinen Unterschied, „weder einen ökonomischen noch einen politischen“ noch überhaupt einen logischen, zwischen der „Anerkennung“ der Selbstbestimmung“ und dem „Protest“ gegen Annexionen.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 337ff)

„Die polnischen Genossen hingegen, die die europäischen Annexionen für „unabänderlich“ und nationale Kriege für „unmöglich“ halten, schlagen sich selbst, wenn sie „gegen“ die Annexionen ausgerechnet mit Argumenten kämpfen, die ausgehen von nationalen Kriegen! Ausgerechnet mit Argumenten wie dem, daß durch Annexionen die Annäherung und Verschmelzung der Arbeiter verschiedener Nationen erschwert wird! Mit anderen Worten: Um gegen Annexionen Einwände zu machen, sind die polnischen Sozialdemokraten gezwungen, ihre Argumente jenem theoretischen Rüstzeug zu entlehnen, das sie selbst prinzipiell verwerfen. Noch anschaulicher wird das bei der Kolonialfrage.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 343)

„Selbstverständlich ist es ganz lächerlich, das Selbstbestimmungsrecht darum abzulehnen, weil daraus angeblich die Anerkennung der „Vaterlandsverteidigung“ hervorgehen muß. Mit demselben Recht – das heißt mit demselben Unrecht – berufen sich die Sozialchauvinisten in den Jahren 1914-1916, um die „Vaterlandsverteidigung“ zu rechtfertigen, auf jede beliebige Forderung der Demokratie (zum Beispiel die der Republik) oder auf jede beliebige Formulierung des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung. Der Marxismus lehnt die Vaterlandsverteidigung im imperialistischen Krieg 1914 bis 1916 auf Grund einer konkret-historischen Analyse der Bedeutung dieses Krieges ab, und nicht ausgehend von einem „allgemeinen Prinzip“ oder einem einzelnen Programmpunkt. Ebenso hat der Marxismus aufgrund einer solchen Analyse in Europa die Landesverteidigung zum Beispiel in solchen Kriegen wie denen der Großen Französischen Revolution oder der Garibaldianer anerkannt.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S. 150)

Und nun die Auseinandersetzung mit Luxemburg:

„Es hat in der Geschichte manche Kriege gegeben, die trotz aller Greuel, Bestialitäten, Leiden und Qualen, die mit jedem Krieg unvermeidlich verknüpft sind, fortschrittlich waren, d. h. der Entwicklung der Menschheit Nutzen brachten, da sie halfen, besonders schädliche und reaktionäre Einrichtungen (z. B. den Absolutismus oder die Leibeigenschaft) und die barbarischsten Despotien Europas (die türkische und die russische) zu untergraben. Wir müssen daher die historischen Besonderheiten eben des jetzigen Krieges untersuchen. […] In der Epoche des Imperialismus kann es auch „gerechte“ Kriege geben, das sind die Kriege der unterdrückten, abhängigen Staaten gegenüber den sie unterdrückenden imperialistischen Großmächten. „Wenn zum Beispiel morgen Marokko an Frankreich, Indien an England, Persien oder China an Rußland usw. den Krieg erklärten, so wären das ‚gerechte‘ Kriege, ‚Verteidigungskriege‘, unabhängig davon, wer als erster angegriffen hat, und jeder Sozialist würde mit dem Sieg der unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten Staaten über die Unterdrücker, die Sklavenhalter, die Räuber – über die ‚Groß’mächte sympathisieren.“ (Lenin: Sozialismus und Krieg (1915), LW 21, S. 299ff)

Nicht alle Kriege sind imperialistische Kriege:

„Die Unrichtigkeit dieses Arguments ist augenfällig. Selbstverständlich ist es ein Grundsatz der marxistischen Dialektik, daß alle Grenzen in der Natur und in der Gesellschaft bedingt und beweglich sind, daß es keine einzige Erscheinung gibt, die nicht unter gewissen Bedingungen in ihr Gegenteil umschlagen könnte. Ein nationaler Krieg kann in einen imperialistischen umschlagen und umgekehrt. Ein Beispiel: Die Kriege der Großen Französischen Revolution begannen als nationale Kriege und waren auch solche. Diese Kriege waren revolutionär, sie dienten der Verteidigung der großen Revolution gegen eine Koalition konterrevolutionärer Monarchien. Als aber Napoleon das französische Kaiserreich errichtete und eine ganze Reihe seit langem bestehender, großer, lebensfähiger Nationalstaaten Europas unterjochte, da wurden die nationalen französischen Kriege zu imperialistischen, die nun ihrerseits nationale Befreiungskriege gegen den Imperialismus Napoleons erzeugten.“ (Lenin: Über die „Junius“-Broschüre (1916), LW 22, S. 314)

„Daß der gegenwärtige imperialistische Krieg, der Krieg von 1914 bis 1916, in einen nationalen Krieg umschlägt, ist deshalb in hohem Grade unwahrscheinlich, weil die Klasse, in der sich die Vorwärtsentwicklung verkörpert, das Proletariat ist, das objektiv danach strebt, diesen Krieg in einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie umzuwandeln, ferner aber auch deshalb, weil die Kräfte beider Koalitionen sich nur unerheblich voneinander unterscheiden und das internationale Finanzkapital überall eine reaktionäre Bourgeoisie geschaffen hat. Aber man kann ein solches Umschlagen nicht für unmöglich erklären: wenn das Proletariat Europas auf 20 Jahre hinaus ohnmächtig bliebe; wenn dieser Krieg mit Siegen in der Art der Siege Napoleons und mit der Versklavung einer Reihe lebensfähiger Nationalstaaten endete; wenn der außereuropäische Imperialismus (der japanische und der amerikanische in erster Linie) sich ebenfalls noch 20 Jahre halten könnte, ohne, z. B. infolge eines japanisch-amerikanischen Krieges, in den Sozialismus überzugehen, dann wäre ein großer nationaler Krieg in Europa möglich. Das wäre eine Rückentwicklung Europas um einige Jahrzehnte. Das ist unwahrscheinlich. Es ist aber nicht unmöglich, denn zu glauben, die Weltgeschichte ginge glatt und gleichmäßig vorwärts, ohne manchmal Riesensprünge rückwärts zu machen, ist undialektisch, unwissenschaftlich, theoretisch unrichtig.“ (Lenin: Über die „Junius“-Broschüre (1916), LW 22, S. 315)

„Ein Beispiel: England und Frankreich haben im Siebenjährigen Krieg um Kolonien gekämpft, d.h. einen imperialistischen Krieg geführt (der ebenso auf der Basis der Sklaverei und der Basis des primitiven Kapitalismus wie auf der gegenwärtigen Basis des hochentwickelten Kapitalismus möglich ist). Frankreich wird besiegt und verliert einen Teil seiner Kolonien. Einige Jahre später beginnt der nationale Befreiungskrieg der nordamerikanischen Staaten gegen England allein. Frankreich und Spanien, die selbst noch Teile der heutigen Vereinigten Staaten besitzen, schließen aus Feindschaft gegen England, d. h. aus ihren imperialistischen Interessen heraus, einen Freundschaftsvertrag mit den Staaten, die sich gegen England erhoben haben. Französische Truppen schlagen zusammen mit den amerikanischen die Engländer. Wir haben es hier mit einem nationalen Befreiungskrieg zu tun, in dem die imperialistische Rivalität ein hinzugekommenes Element ohne ernste Bedeutung ist – im Gegensatz zu dem, was wir im Kriege 1914-1916 sehen (das nationale Element im Österreichisch-Serbischen Krieg hat keine ernste Bedeutung im Vergleich mit der alles bestimmenden imperialistischen Rivalität). Daraus ist ersichtlich, wie sinnlos es wäre, den Begriff Imperialismus schablonenhaft anzuwenden und aus ihm die ‚Unmöglichkeit‘ nationaler Kriege zu folgern. Ein nationaler Befreiungskrieg beispielsweise eines Bündnisses von Persien, Indien und China gegen diese oder jene imperialistischen Mächte ist durchaus möglich und wahrscheinlich, da er sich aus der nationalen Befreiungsbewegung dieser Länder ergeben würde, wobei das Umschlagen eines solchen Krieges in einen imperialistischen Krieg zwischen den jetzigen imperialistischen Mächten von sehr vielen konkreten Umständen abhinge, für deren Eintreten zu bürgen lächerlich wäre.“ (ebd., LW 22, S. 316)

„Drittens darf man selbst in Europa nationale Kriege in der Epoche des Imperialismus nicht für unmöglich halten. Die „Ära des Imperialismus“ hat den jetzigen Krieg zu einem imperialistischen gemacht, sie wird unweigerlich (solange nicht der Sozialismus kommt) neue imperialistische Kriege erzeugen, sie hat die Politik der jetzigen Großmächte zu einer durch und durch imperialistischen gemacht, aber diese ‚Ära‘ schließt keineswegs nationale Kriege aus, z. B. von Seiten der kleinen (nehmen wir an, annektierten oder national unterdrückten) Staaten gegen die imperialistischen Mächte, wie sie auch im Osten Europas nationale Bewegungen in großem Maßstab nicht ausschließt.“ (ebd., LW 22, S. 316f)

„Wir sind nicht nur deshalb so ausführlich auf die Unrichtigkeit der Behauptung, daß es ‚keine nationalen Kriege mehr geben kann‘, eingegangen, weil sie offensichtlich theoretisch falsch ist. Es wäre natürlich sehr traurig, wenn die ‚Linken‘ in einer Zeit, in der die Gründung der III. Internationale nur auf dem Boden des nicht vulgarisierten Marxismus möglich ist, der Theorie des Marxismus gegenüber einen Mangel an Sorgfalt bekunden würden. Aber auch in praktisch-politischer Hinsicht ist dieser Fehler sehr schädlich, denn daraus wird die unsinnige Propaganda für die ‚Entwaffnung‘ abgeleitet, da es angeblich keine anderen Kriege mehr geben könne als reaktionäre; daraus wird die noch unsinnigere und direkt reaktionäre Gleichgültigkeit den nationalen Bewegungen gegenüber abgeleitet. Eine solche Gleichgültigkeit wird zum Chauvinismus, wenn Angehörige der europäischen ‚großen’ Nationen, d. h. der Nationen, die eine Masse kleiner und kolonialer Völker unterdrücken, mit hochgelehrter Miene erklären: ‚Nationale Kriege kann es nicht mehr geben!‘ Nationale Kriege gegen imperialistische Mächte sind nicht nur möglich und wahrscheinlich, sie sind unvermeidlich, sie sind fortschrittlich und revolutionär, obgleich natürlich zu ihrem Erfolg entweder die Vereinigung der Anstrengungen einer ungeheuren Zahl von Bewohnern unterdrückter Länder (Hunderte Millionen in dem von uns angeführten Beispiel Indiens und Chinas) erforderlich ist oder eine besonders günstige Konstellation der internationalen Lage (z. B. die Lähmung einer Einmischung imperialistischer Mächte infolge ihrer Schwächung, ihres Krieges, ihres Antagonismus u. dgl. m.) oder der gleichzeitige Aufstand des Proletariats einer der Großmächte gegen die Bourgeoisie (dieser in unserer Aufzählung letzte Fall ist der erste vom Standpunkt des Wünschenswerten und für den Sieg des Proletariats Vorteilhaften).“ (ebd., LW 22, S. 317f)

„Denselben Fehler begeht Junius in seinen Ausführungen über das Thema, was besser sei: Sieg oder Niederlage? Er zieht die Schlußfolgerung, daß beides gleich schlecht sei (Ruin, vermehrte Rüstungen usw.). Das ist nicht der Standpunkt des revolutionären Proletariats, sondern eines pazifistischen Kleinbürgers. wenn man von der „revolutionären Intervention“ des Proletariats spricht – davon aber sprechen, leider zu allgemein, Junius und die Leitsätze der Gruppe Internationale –, so muß die Frage unbedingt von einem anderen Standpunkt aus gestellt werden: 1. Ist eine „revolutionäre Intervention“ ohne die Gefahr einer Niederlage möglich? 2. Ist es möglich, die Bourgeoisie und die Regierung des eigenen Landes zu geißeln, ohne dieselbe Gefahr heraufzubeschwören? 3. Haben wir nicht immer gesagt, und lehrt die historische Erfahrung der reaktionären Kriege nicht, daß Niederlagen das Werk der revolutionären Klasse erleichtern?“ (ebd., LW 22, S. 324)

Diese Kritik entwickelte Lenin bereits 1914/15 in seiner Schrift „Sozialismus und Krieg“:

„Die Sozialisten können ihr großes Ziel nicht erreichen, ohne gegen jede Art von nationaler Unterdrückung zu kämpfen. Sie müssen daher unbedingt fordern, daß die sozialdemokratischen Parteien der unterdrückenden Länder (insbesondere der sog. „Großmächte“) das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen anerkennen und verfechten, und zwar ausdrücklich im politischen Sinne des Wortes, d.h. als Recht auf politische Lostrennung. Ein Sozialist, der einer großstaatlichen oder kolonienbeherrschenden Nation angehört und dieses Recht nicht verteidigt, ist ein Chauvinist.“ (Lenin: Sozialismus und Krieg (1915), LW 21, S. 317f)

2.7. Assimilierung und Zentralisation von Nationen

Zusammenfassung: Grundsätzlich streben Kommunisten eine möglichst große Freiheit des kapitalistischen Warenverkehrs an und begrüßen jede Assimilierung und Zentralisation von Nationen zueinander, sofern diese nicht auf Privilegien beruht.

„Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – jawohl, unbedingt. Kampf für jedwede nationale Entwicklung, für die „nationale Kultur“ überhaupt – keinesfalls. Das Proletariat aber ist nicht nur nicht geneigt, die nationale Entwicklung jeder Nation zu verteidigen, sondern warnt im Gegenteil die Massen vor solchen Illusionen. Es setzt sich für die vollste Freiheit des kapitalistischen Wirtschaftsverkehrs ein und begrüßt jede Assimilierung von Nationen mit Ausnahme der gewaltsam durchgeführten oder der auf Privilegien gestützten.“ (Lenin: Kritische Notizen zur nationalen Frage (1913), LW 20, S. 20)

„Die Marxisten verhalten sich der Föderation und der Dezentralisation gegenüber selbstredend feindlich, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Kapitalismus für seine Entwicklung möglichst große und möglichst zentralisierte Staaten verlangt. Bei sonst gleichen Bedingungen wird das klassenbewusste Proletariat stets für den größeren Staat sein. Der zentralisierte große Staat ist ein gewaltiger historischer Schritt vorwärts auf dem Wege von der mittelalterlichen Zersplitterung zur künftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt, und einen anderen Weg zum Sozialismus als über einen solchen (mit dem Kapitalismus unlösbar verknüpften) Staat gibt es nicht und kann es nicht geben. Der demokratische Zentralismus schließt die lokale Selbstverwaltung mit einer Autonomie der Gebiete, die sich durch besondere Wirtschafts- und Lebensbedingungen, durch eine besondere nationale Zusammensetzung des Bevölkerungsbestandes usw. auszeichnen, nicht nur nicht aus, sondern verlangt im Gegenteil sowohl das eine wie das andere. Bei uns wird fortwährend der Zentralismus mit Willkür und Bürokratie verwechselt. […] [Es folgt Auseinandersetzung mit Luxemburg, die es wohl mit der Autonomie übertreibt, Anmerkung des Autors] Aber die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung ist nur einer der wichtigsten wirtschaftlichen Faktoren, jedoch nicht der einzige und nicht der wichtigste von ihnen. Die Städte spielen beispielsweise unter dem Kapitalismus eine überaus wichtige wirtschaftliche Rolle, und die Städte zeichnen sich überall – sowohl in Polen als auch in Litauen, in der Ukraine wie in Großrussland usw. – durch die bunteste nationale Zusammensetzung der Bevölkerung aus. Es ist sinnlos und unmöglich, die Städte aus „nationalen“ Gründen von den zu ihnen tendierenden Marktflecken und Distrikten zu trennen. Deshalb dürfen sich die Marxisten nicht ganz und ausschließlich auf den Boden des „national-territorialen“ Prinzips stellen.“ (Ebd., LW 20, S. 31ff)

„Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden, d.h. der unterdrückten Nation, so daß diese Forderung nicht der Forderung der Abtrennung, der Zerstückelung, der Bildung kleiner Staaten gleich ist. Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung. Je mehr die demokratische Organisation des Staates bis zur vollständigen Freiheit der Abtrennung ausgestaltet ist, desto seltener und schwächer wird in der Praxis das Bestreben nach Abtrennung sein, denn die Vorteile der großen Staaten sind sowohl vom Standpunkt des ökonomischen Fortschritts als auch von demjenigen der Interessen der Massen zweifellos, wobei diese Vorteile mit dem Kapitalismus steigen. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts ist nicht gleichbedeutend mit der Anerkennung des Prinzips der Föderation. Man kann ein entschiedener Gegner dieses Prinzips, ein Anhänger des demokratischen Zentralismus sein, aber der nationalen Nichtgleichberechtigung die Föderation als den einzigen Weg zum vollständigen demokratischen Zentralismus vorziehen. Eben von diesem Standpunkt aus zog der Zentralist Marx sogar die Föderation zwischen Irland und England der Gewaltunterjochung Irlands durch England vor. Das Ziel des Sozialismus ist nicht nur Aufhebung der Kleinstaaterei und jeder Absonderung von Nationen, nicht nur Annäherung der Nationen, sondern auch ihre Verschmelzung. Und eben, um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir einerseits die Massen über den reaktionären Charakter der Idee von Renner und Bauer (sogenannte „national-kulturelle Autonomie“) aufklären, anderseits aber die Befreiung der unterdrückten Nationen nicht in allgemeinen weitschweifigen Phrasen, nicht in nichtssagenden Deklamationen, nicht in der Form der Vertröstung auf den Sozialismus, sondern in einem klar und präzis formulierten politischen Programm fordern, und zwar in spezieller Bezugnahme auf die Feigheit und Heuchelei der „Sozialisten“ der unterdrückenden Nationen. Wie die Menschheit zur Abschaffung der Klassen nur durch die Übergangsperiode der Diktatur der unterdrückten Klasse kommen kann, so kann sie zur unvermeidlichen Verschmelzung der Nationen nur durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung. das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückten Nationen kommen.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916) LW 22, S. 147f)

2.8. Imperialistische, abhängige und koloniale Staaten

Zusammenfassung: Es ist zu kategorisieren zwischen imperialistischen, abhängigen und kolonialen Staaten – die Arbeiterklasse muss dort jeweils ihre Kampforientierung anpassen. Kommunisten müssen das „Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus, die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende hervorheben“. Hieraus ergeben sich zwei Tendenzen der Nationalen Frage. Für die unterdrückenden Nationen gilt: „daß sie die Freiheit der Lostrennung der unterdrückten Länder propagieren und verfechten. Ohne das gibt es keinen Internationalismus.

„Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten einer unterdrückenden Nation, der keine solche Propaganda treibt, als Imperialisten und Schurken zu behandeln.“ Für die unterdrückten Nationen gilt: „Umgekehrt muß der Sozialdemokrat einer kleinen Nation den Schwerpunkt seiner Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: „freiwillige Vereinigung“ der Nationen. Er kann, ohne seine Pflichten als Internationalist zu verletzen, sowohl für die politische Unabhängigkeit seiner Nation als auch für ihren Anschluß an den Nachbarstaat X, Y, Z usw. sein. In allen Fällen aber muß er gegen die kleinnationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isolation kämpfen, für die Berücksichtigung des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen des Teils unter die Interessen der Gesamtheit.“

Lenin unterscheidet drei Kategorien von Staaten und leitet in ihnen eine andere Strategie ab, Stalin und Lenin sprechen dabei von „zwei Tendenzen der nationalen Frage“. Wir sehen darin keinen Widerspruch, da Lenin ein Zwischenstadium beschreibt. Folgend die Textstelle, in denen Lenin die drei Kategorisierungen vornimmt:

„Die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder Westeuropas und die Vereinigten Staaten von Amerika. Die bürgerlich-fortschrittliche nationale Bewegung ist hier längst beendet. Jede dieser „großen“ Mächte unterdrückt fremde Nationen in den Kolonien sowie im eigenen Lande. Die Aufgaben des Proletariats der herrschenden Nationen sind hier eben dieselben, wie sie im 19. Jahrhundert in England in Bezug auf Irland waren. Osteuropa: Österreich, der Balkan und insbesondere Rußland. Hier hat das 20. Jahrhundert besonders die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen entwickelt und den nationalen Kampf verschärft. Das Proletariat dieser Länder kann die Aufgaben der konsequenten Durchführung der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht erfüllen und den sozialistischen Revolutionen der anderen Länder nicht beistehen, ohne das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu verteidigen. Besonders schwierig und wichtig ist hier die Aufgabe der Verschmelzung des Klassenkampfes der Arbeiter der unterdrückten und der der unterdrückenden Nationen. Die Halbkolonien, wie China, Persien, die Türkei. und alle Kolonien mit einer Bevölkerung von zirka 1.000 Millionen Menschen. Die bürgerlich-demokratischen Bewegungen sind hier teilweise kaum im Anfangsstadium, teilweise noch lange nicht beendet. Die Sozialisten haben nicht nur die bedingungslose und sofortige Befreiung der Kolonien zu fordern – diese Forderung bedeutet aber politisch nichts anderes als die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen – sondern sie müssen auch revolutionäre Elemente in den bürgerlich-demokratischen nationalen Befreiungsbewegungen in diesen Ländern entschieden unterstützen und ihrer Auflehnung, ihren Aufständen, respektive ihrem revolutionären Kriege gegen die sie unterjochenden imperialistischen Staaten beistehen.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S. 152ff)

Die zwei Tendenzen des „zweigeteilten Proletariats“ bei Lenin:

„Wichtig ist nicht, ob ein Fünfzigstel oder ein Hundertstel der kleinen Völker sich schon vor der sozialistischen Revolution befreien wird, wichtig ist vielmehr, daß das Proletariat in der imperialistischen Epoche, kraft objektiver Ursachen, sich in zwei internationale Lager geteilt hat, von denen das eine durch die Brocken, die vom Tische der Bourgeoisie der Großmächte abfallen – unter anderem auch infolge der doppelten und dreifachen Ausbeutung der kleinen Nationen -, korrumpiert worden ist, das andere aber sich nicht selbst befreien kann, ohne die kleinen Nationen zu befreien und ohne die Massen in anti-chauvinistischem, d.h. antiannexionistischem Geist, d.h. im Geist der „Selbstbestimmung“ zu erziehen.

Diese wichtigste Seite der Sache ignorieren die polnischen Genossen, die die Dinge nicht von dem in der Epoche des Imperialismus zentralen Standpunkt, nicht vom Standpunkt der zwei Lager des internationalen Proletariats aus betrachten. […] Die polnischen Sozialdemokraten finden unser Programm „national-reformistisch“. Man vergleiche die beiden praktischen Vorschläge miteinander: 1. für die Autonomie (die polnischen Thesen III, 4) und 2. für die Freiheit der Lostrennung. Dadurch und nur dadurch unterscheiden sich unsere Programme voneinander! Ist es nicht klar, daß gerade das erste Programm zum Unterschied vom zweiten reformistisch ist? Reformistisch ist eine Veränderung, welche die Grundlagen der Macht der herrschenden Klasse nicht untergräbt, sondern nur ein Zugeständnis ihrerseits unter Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft ist. Das Revolutionäre untergräbt die Grundlage der Macht. Das Reformistische im nationalen Programm hebt nicht alle Privilegien der herrschenden Nation auf, schafft keine volle Gleichberechtigung, beseitigt nicht jedwede nationale Unterdrückung. Die „autonome“ Nation ist mit der „herrschenden“ Nation nicht gleichberechtigt; die polnischen Genossen hätten das unbedingt bemerken müssen, wenn sie nicht (genauso wie unsere alten „Ökonomisten“) die Analyse der politischen Begriffe und Kategorien hartnäckig außer acht ließen. […].“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 350f)

Lenin stand auch dafür ein, dass die Analyse der weltweit zweigeteilten Arbeiterklasse im Imperialismus und die daraus abgeleiteten unterschiedlichen Schwerpunkte in der Strategie programmatisch festgehalten werden, sonst werde der „Internationalismus zu leeren Worten“:

„Als Gegengewicht zu dieser spießbürgerlichen opportunistischen Utopie muß das Programm der Sozialdemokratie als das Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus die Einteilung der Nationen in unterdrückte und unterdrückende hervorheben. Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders unangenehmen Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muß die Freiheit der politischen Abtrennung der von „seiner“ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern. Andernfalls wird der Internationalismus des Proletariats zu leeren Worten; weder Vertrauen noch Klassensolidarität unter den Arbeitern der unterdrückten und der unterdrückenden Nation sind möglich; die Heuchelei der reformistischen und Kautskyschen Vertreter des Selbstbestimmungsrechts, die sich über die von „ihren eigenen Nationen“ unterdrückten und in „ihrem eigenen“ Staate gewaltsam zurückgehaltenen Nationen ausschweigen, bleibt dabei immer noch nicht entlarvt. Anderseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrate und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen. Denn die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen mißbraucht beständig die Losungen der nationalen Befreiung um die Arbeitet zu betrügen: in der inneren Politik benutzt sie diese Losungen zur reaktionären Verständigung mit der Bourgeoisie der herrschenden Nation (zum Beispiel die Polen in Österreich und Rußland, die eine Abmachung mit der Reaktion treffen zur Unterdrückung der Juden und Ukrainer); in der äußeren Politik bemüht sie sich, sich mit einer der wetteifernden imperialistischen Regierungen zu verständigen, um ihre räuberischen Ziele zu verwirklichen (die Politik der kleinen Balkanstaaten u.a.m.). Die Tatsache, daß der Kampf gegen eine imperialistische Regierung für die nationale Freiheit unter bestimmten Bedingungen von einer andern „Großmacht“ für ihre ebenfalls imperialistischen Ziele ausgenutzt werden kann, kann die Sozialdemokratie ebensowenig bewegen, auf die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu verzichten, wie die mehrfachen Fälle der Ausnutzung der republikanischen Losungen durch die Bourgeoisie in ihrer politischen Betrügerei und Finanzräuberei zum Beispiel in romanischen Ländern die Sozialdemokratie auf ihren Republikanismus zu verzichten bewegen können.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S. 149f)

Auch sprach sich Lenin für einen gewissen Respekt gegenüber dem Nationalgefühl von unterdrückten Ländern aus – im Kontrast zur Anpassung unterdrückter Völker zur europäischen Kultur:

„In der nationalen Frage besteht die Politik des Proletariats, das die Staatsmacht erobert hat, […] darin, unbeirrt die Annäherung und den Zusammenschluß der Arbeiter und Bauern aller Nationen in ihrem revolutionären Kampf für den Sturz der Bourgeoisie in der Praxis zu verwirklichen. Die Erreichung dieses Ziels erfordert die völlige Befreiung der kolonialen und der anderen bisher unterdrückten oder nicht gleichberechtigten Nationen […] Die Arbeiter jener Nationen, die im Kapitalismus Unterdrücker waren, müssen besonders behutsam sein gegenüber dem Nationalgefühl der unterdrückten Völker […].“ (Lenin, Entwurf für das Parteiprogramm der KPR(B) (1919). LW; Bd.29, S.111)

Stalin fasst das in eigenen Worten zusammen:

„Für den Imperialismus sind diese beiden Tendenzen unversöhnliche Widersprüche, denn der Imperialismus kann nicht leben, ohne Kolonien auszubeuten und sie gewaltsam im Rahmen des „einheitlichen Ganzen“ festzuhalten, denn der Imperialismus kann nur durch Annexionen und koloniale Eroberungen, ohne die er, allgemein gesprochen, undenkbar ist, die Nationen einander näher bringen. Für den Kommunismus dagegen sind diese Tendenzen nur zwei Seiten ein und derselben Sache, der Sache der Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus, denn der Kommunismus weiß, dass die Vereinigung der Völker in einer einheitlichen Weltwirtschaft nur auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens und freiwilligen Übereinkommens möglich ist, er weiß, dass der Weg zur Bildung einer freiwilligen Vereinigung der Völker über die Lostrennung der Kolonien von dem „einheitlichen“ imperialistischen „Ganzen“, über ihre Umwandlung in selbständige Staaten führt.“ (Stalin: Über die Grundlagen des Leninismus (1924), Stalin Werke 6, S. 78f)

2.9. Befreiung von Kolonien

Zusammenfassung: Die Befreiung der Kolonien ist nichts anderes als die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Diese Losung ist jedoch nicht nur für die Kolonien relevant, sondern auch in Europa. Eine vollständige Befreiung von Kolonien erweist sich außerhalb des Sozialismus als schwierig, weil diese kein Kapital besitzen. Kolonien können sich nur schwer vom Finanzkapital entreißen. Revolutionäre Befreiungsbewegungen sind unter europäischen Verhältnissen „eher möglich, eher zu verwirklichen, hartnäckiger, zielbewußter und schwerer zu besiegen als in den Kolonien“.

„In unseren Thesen heißt es, daß die Forderung der sofortigen Befreiung der Kolonien unter dem Kapitalismus ebenso „undurchführbar“ ist (d.h. undurchführbar ohne eine Reihe von Revolutionen und nicht von Dauer ohne den Sozialismus) wie die Selbstbestimmung der Nationen, die Wahl der Beamten durch das Volk, die demokratische Republik usw. – und daß anderseits die Forderung der Befreiung der Kolonien nichts anderes ist als die „Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen“. Die polnischen Genossen haben auf kein einziges dieser Argumente geantwortet. Sie haben versucht einen Unterschied zwischen „Europa“ und den Kolonien zu konstruieren. Nur in bezug auf Europa werden sie zu inkonsequenten Annexionisten und weigern sich, die Annexionen, die bereits erfolgt sind, rückgängig zu machen. Für die Kolonien dagegen proklamieren sie die unbedingte Forderung: „Fort aus den Kolonien!“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 344)

„Der ökonomische Unterschied zwischen den Kolonien und den europäischen Völkern – wenigstens der Mehrzahl der letzteren – bestand früher darin, daß die Kolonien wohl in den Warenaustausch, aber noch nicht in die kapitalistische Produktion einbezogen wurden. Der Imperialismus hat hier Wandel geschaffen. Imperialismus bedeutet unter anderem auch Kapitalexport. Die kapitalistische Produktion wird in immer beschleunigterem Tempo auch in die Kolonien verpflanzt. Sie aus ihrer Abhängigkeit vom europäischen Finanzkapital herauszureißen ist unmöglich. Vom militärischen Standpunkt wie auch vom Standpunkt der Expansion (Ausdehnung) ist die Lostrennung der Kolonien in der Regel erst zusammen mit dem Sozialismus zu verwirklichen, unter dem Kapitalismus hingegen entweder als Ausnahmefall oder aber um den Preis einer Reihe von Revolutionen und Aufständen sowohl in der Kolonie als auch in der Metropole. […] Die Kolonien haben kein oder fast kein eigenes Kapital, und anders als auf dem Wege der politischen Unterwerfung können sie sich unter den Verhältnissen des Finanzkapitals kein Kapital beschaffen. Was bedeutet nun angesichts all dessen die Forderung, die Kolonien sofort und bedingungslos zu befreien? Ist es nicht klar, daß sie viel „utopischer“ ist in dem vulgären, karikiert-„marxistischen“ Sinne des Wortes „Utopie“, in dem es von den Herren Struve, Lensch, Cunow und in ihrem Gefolge leider auch von den polnischen Genossen gebraucht wird? Unter „Utopismus“ ist hier nämlich das Abgehen vom spießbürgerlich Gewohnten, darunter auch alles Revolutionäre zu verstehen. Aber revolutionäre Bewegungen aller Art darunter auch nationale sind unter europäischen Verhältnissen eher möglich, eher zu verwirklichen, hartnäckiger, zielbewußter und schwerer zu besiegen als in den Kolonien, […] Die werktätigen Massen, die sich vom Joch der Bourgeoisie befreien, werden aus allen Kräften ein Bündnis und eine Verschmelzung mit den großen und fortgeschrittenen sozialistischen Nationen anstreben, gerade um diese „Kulturhilfe“ zu erhalten, wenn nur die Unterdrücker von gestern das hochentwickelte demokratische Gefühl der Selbstachtung einer lange Zeit hindurch unterdrückten Nation nicht verletzen, wenn ihr nur Gleichheit auf allen Gebieten eingeräumt wird, darunter auch beim staatlichen Aufbau, beim Versuch, einen „eigenen“ Staat zu schaffen. Unter dem Kapitalismus bedeutet dieser „Versuch“ Kriege, Isolierung, Abgeschlossenheit, engstirnigen Egoismus der privilegierten kleinen Nationen (Holland, Schweiz). Im Sozialismus werden sich die werktätigen Massen selbst aus den obenerwähnten rein ökonomischen Motiven nirgends zur Abschließung verstehen, und die Mannigfaltigkeit der politischen Formen, die Freiheit des Austritts aus dem Staatsverband, die Erfahrung des staatlichen Aufbaus – all dies wird, solange nicht jeder Staat überhaupt abgestorben ist, die Grundlage bilden für ein reiches Kulturleben, die Gewähr bieten für die Beschleunigung des Prozesses der freiwilligen Annäherung und Verschmelzung der Nationen.“ (ebd., LW 22, S. 344ff)

2.10. Gewichtung von Befreiungsbewegungen

Zusammenfassung: Das Interesse an der Befreiung einiger großer und größter Völker steht höher als die Befreiungsbewegungen kleiner Nationen, weil das einen härteren Schlag gegen den Imperialismus bedeutet und die nationalen Befreiungen kleinerer Nationen begünstigt. Die Forderung der Demokratie muss im Weltausmaß anhand einer konkreten Analyse betrachtet werden, und nicht isoliert.

„Den polnischen Marxisten zufolge war Marx einfach ein Wirrkopf, der „gleichzeitig“ entgegengesetzte Dinge sagte. Das ist ganz falsch, und das ist ganz und gar kein Marxismus. Gerade die Forderung der „konkreten“ Analyse, die die polnischen Genossen aufstellen, um sie nicht anzuwenden, verpflichtet uns zu untersuchen, ob die verschiedenartige Einstellung Marx‘ zu den verschiedenen konkreten „nationalen“ Bewegungen nicht ein und derselben sozialistischen Weltanschauung entsprang. Ein kurzer Einblick in das, was Marx und Engels in den Jahren 1848/1849 geschrieben haben, wird jedem, der sich für den Marxismus nicht nur interessiert, um ihn mit einer Handbewegung abzutun, zeigen, daß Marx und Engels damals klar und eindeutig „ganze reaktionäre Völker“, die als „russische Vorposten“ in Europa dienten, den „revolutionären Völkern“ – Deutschen, Polen und Ungarn – gegenüberstellten. Das ist eine Tatsache. Und auf diese Tatsache ist damals zweifellos richtig hingewiesen worden, denn 1848 fochten die revolutionären Völker für die Freiheit, deren Hauptfeind der Zarismus war, während die Tschechen usw. wirklich reaktionäre Völker, Vorposten des Zarismus waren.Was sagt uns dieses konkrete Beispiel, das wir konkret analysieren müssen, wenn wir dem Marxismus treu bleiben wollen? Nur, daß 1. die Interessen der Befreiung einiger großer und größter Völker Europas höher stehen als die Interessen der Befreiungsbewegung kleiner Nationen; 2. daß die Forderung der Demokratie im gesamteuropäischen Ausmaß – jetzt muß man sagen: im Weltausmaß – betrachtet werden muß und nicht isoliert. Und sonst nichts.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 347f)

„Die Befreiung der Kolonien ist nur zusammen mit der Befreiung der Metropolen möglich. Die Arbeiter und Bauern nicht nur von Amman, Algier, Bengalien, sondern auch von Persien und Armenien erhalten die Möglichkeit einer selbständigen Existenz erst dann, wenn die Arbeiter Englands und Frankreichs Lloyd George und Clemenceau gestürzt und die Staatsmacht in ihre Hände genommen haben. […] Wenn das kapitalistische Europa die rückständigen Weltteile zwangsweise in den kapitalistischen Strudel hineingezogen hat, so wird das sozialistische Europa den befreiten Kolonien zu Hilfe kommen mit seiner Technik, seiner Organisation, seinem geistigen Einfluß, um deren Übergang zur planmäßig organisierten sozialistischen Wirtschaft zu erleichtern.“ (Protokoll des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale – Moskau 22.Juni bis 12.Juli 1921 -; Hamburg 1921.; S. 177)

2.11. Reserve für den Imperialismus

Zusammenfassung: Der Imperialismus kann „ohne die politische und ökonomische Versklavung der nicht vollberechtigten Nationen und der Kolonien nicht bestehen“. Kolonien und abhängige Länder fungieren als Reserve und überaus wichtige Kraftquelle des Imperialismus. Eine Unterstützung von Befreiungsbewegungen ist eine Notwendigkeit, um den Imperialismus als Ganzes zu schwächen. Nationale Befreiungsbewegungen führen zu einer Krise des Imperialismus. „Der Sieg der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern und die Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus sind jeweils unmöglich ohne die Bildung und Festigung einer gemeinsamen revolutionären Front“.

Auch wenn sich hierzu mehrere Textstellen bei Lenin finden, die teilweise bereits zitiert wurden, fasst Stalin vor allem die Argumentation der „Kraftquelle“ sehr gut zusammen. Gerade im Kontext des bekannten Zitates bei Marx; „Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird“, wird in diesem Abschnitt deutlich, dass das von Marx nicht idealistisch gemeint war, im Sinne einer moralischen Frage. Stattdessen wird hier eine Gesetzmäßigkeit deutlich, die historische Kontinuität hat: Sofern eine Nation andere Unterdrückt, kann sie nicht in der Lage, eine sozialistische Revolution durchzuführen, weil die Bourgeoisie durch die Unterwerfung anderer Nationen eine zentrale Kraftquelle besitzt, welche Ressourcen bietet, um die Arbeiterklasse im eigenen Land zu unterwerfen.

„Früher pflegte man die nationale Frage reformistisch zu behandeln, als eine gesonderte, selbständige Frage, ohne Zusammenhang mit der allgemeinen Frage der Herrschaft des Kapitals, des Sturzes des Imperialismus, der proletarischen Revolution. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, dass der Sieg des Proletariats in Europa möglich sei ohne direktes Bündnis mit der Befreiungsbewegung in den Kolonien […]. Der Leninismus hat den Beweis erbracht, und der imperialistische Krieg und die Revolution in Rußland haben bestätigt, dass die nationale Frage nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution und auf dem Boden der proletarischen Revolution gelöst werden kann, dass der Weg zum Siege der Revolution im Westen über das revolutionäre Bündnis mit der Befreiungsbewegung der Kolonien und der abhängigen Länder gegen den Imperialismus führt. Die Frage ist die: Sind die im Schoße der revolutionären Befreiungsbewegung der unterdrückten Länder vorhandenen revolutionären Möglichkeiten bereits erschöpft oder nicht, und falls sie nicht erschöpft sind, besteht begründete Hoffnung darauf, diese Möglichkeiten für die proletarische Revolution nutzbar machen, die abhängigen und kolonialen Länder aus einer Reserve der imperialistischen Bourgeoisie zu einer Reserve des revolutionären Proletariats, zu seinem Bundesgenossen machen zu können? Der Leninismus bejaht diese Frage, das heißt, er vertritt die Ansicht, dass im Schoße der nationalen Befreiungsbewegung der unterdrückten Länder revolutionäre Potenzen vorhanden sind, und hält es für möglich, diese für den Sturz des gemeinsamen Feindes, für den Sturz des Imperialismus nutzbar zu machen.“ (Stalin: Grundlagen des Leninismus (1924), Stalin Werke 6, S. 75f)

a. Die Welt ist in zwei Lager geteilt: in das Lager einer Handvoll zivilisierter Nationen, die über das Finanzkapital verfügen und die die gewaltige Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs ausbeuten, und in das Lager der unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Kolonien und der abhängigen Länder, die diese Mehrheit bilden;

b. die Kolonien und die abhängigen Länder, die vom Finanzkapital unterdrückt und ausgebeutet werden, bilden eine gewaltige Reserve und eine überaus wichtige Kraftquelle des Imperialismus;

c. der revolutionäre Kampf der unterdrückten Völker in den abhängigen und kolonialen Ländern gegen den Imperialismus ist der einzige Weg zu ihrer Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung;

d. die wichtigsten kolonialen und abhängigen Länder haben bereits den Weg der nationalen Befreiungsbewegung beschritten, die zur Krise des Weltkapitalismus führen muss;

e. die Interessen der proletarischen Bewegung in den entwickelten Ländern und dernationalen Befreiungsbewegung in den Kolonien erheischen die Vereinigung dieser beiden Arten der revolutionären Bewegung zu einer gemeinsamen Front gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Imperialismus;

f. der Sieg der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern und die Befreiung der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus sind unmöglich ohne die Bildung und Festigung einer gemeinsamen revolutionären Front;

g. die Bildung einer gemeinsamen revolutionären Front ist unmöglich ohne direkte und entschiedene Unterstützung der Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker durch das Proletariat der unterdrückenden Nationen gegen den „vaterländischen“ Imperialismus, denn „ein Volk, das andere Völker unterdrückt, kann nicht frei sein“ (Engels);

h. diese Unterstützung bedeutet die Verfechtung, Verteidigung und Verwirklichung der Losung: Recht der Nationen auf Lostrennung, auf selbständige staatliche Existenz;

i. ohne Verwirklichung dieser Losung ist es unmöglich, die Vereinigung und das Zusammenwirken der Nationen in einer einheitlichen Weltwirtschaft in die Wege zu leiten, die die materielle Basis für den Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt bildet;

j. diese Vereinigung kann nur eine freiwillige Vereinigung sein, die auf der Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und der brüderlichen Beziehungen der Völker zustande kommt.“ (ebd., Stalin Werke 6, S. 78)

„Der imperialistische Krieg hat gezeigt, und die revolutionäre Praxis der letzten Jahre hat ein übriges Mal bestätigt, dass

1. die nationale und die koloniale Frage von der Frage der Befreiung von der Macht des Kapitals nicht zu trennen sind;

2. der Imperialismus (die höchste Form des Kapitalismus) ohne die politische und ökonomische Versklavung der nicht vollberechtigten Nationen und der Kolonien nicht bestehen kann;

3. die nicht vollberechtigten Nationen und die Kolonien ohne den Sturz der Macht des Kapitals nicht befreit werden können;

4. der Sieg des Proletariats ohne die Befreiung der nicht vollberechtigten Nationen und der Kolonien vorn Joch des Imperialismus nicht von Dauer sein kann.“ (Stalin: Zur Behandlung der nationalen Frage (1921), Stalin Werke 5, S. 36)

Das Bild der Imperialistischen Reserve wird auch deutlich in einem KI Beschluss 1921, in dem festgehalten wurde, dass die Parteien der KI angehalten sind:

„die ausgebeuteten Kolonialvölker in ihren Kämpfen gegen den Imperialismus [zu] unterstützen, um den endgültigen Zusammenbruch des imperialistischen Weltsystems zu fördern“ (KI, Protokoll des III. Weltkongress, S. 177)

Auf dem zweiten Weltkongress der KI fasste der Koreaner Pak Din-Schun zusammen:

„Der zweite Weltkongreß der Kommunistischen Internationale muß seine ernste Aufmerksamkeit dem Osten zuwenden, wo das Schicksal der Weltrevolution sich entscheiden kann, da derjenige als Sieger aus diesem letzten Kriege der Arbeit mit dem Kapital hervor gehen wird, der es versteht, an die unterjochten Völker des Ostens heranzutreten und sie zu seinen Bundesgenossen in diesem letzten Krieg zu machen. […] Die Unmöglichkeit dieses Sieges ohne die Zusammenarbeit mit den kolonialen Völkern ist so klar, daß sie keines weiteren Beweises bedarf. Die Geschichte der ruhmlos untergegangenen Zweiten Internationale hat deutlich gezeigt, daß, solange die Weltbourgeoisie noch ein Machtreservoir in den Kolonien überhaupt und in Asien insbesondere besitzt, sie den verzweifelsten Ansturm des aufständischen Proletariats zurückschlagen kann.“ (Pak Din-schun; Der revolutionäre Osten und die nächsten Aufgaben der Kommunistischen Internationale; in: Die Kommunistische Internationale; Nr.12 1920, S.233-238.)

2.12. Es gibt keine „reine“ Revolution

Zusammenfassung: In Krisenzeiten nehmen nationale Aufstände gegen den Imperialismus gesetzmäßig zu und nationale Aufstände gegen den Imperialismus treiben diesen umgekehrt in die Krise. Sie zu unterstützen ist unbedingt notwendig. Die Vorstellung, die Klassenbasis dieser Aufstände müsse eine reingewaschene proletarische Klassenbasis sein, bevor die Aufstände unterstützt werden, wird abgelehnt. „Wer eine „reine“ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.“ Solche Vorstellungen erweisen sich objektiv als opportunistische Unterstützung des Imperialismus. Es ist wichtig, dass unterdrückte Nationen sich in ein Verhältnis zu ihren unterdrückenden Nationen stellen.

Lenin beschreibt die nationale Unterdrückung als „Grundlage“ der Macht für den Imperialismus:

„Wenn alle rein demokratischen Forderungen imstande sind, beim schon beginnenden Ansturm der Proletarier gegen die Grundlagen der Macht der Bourgeoisie der Revolution im gewissen Sinne im Wege zu stehen, so wird die Notwendigkeit, die Freiheit aller unterjochten Völker (das heißt das Selbstbestimmungsrecht) zu verkünden und zu verwirklichen, ebenso aktuell während der sozialistischen Revolution, wie sie es für den Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution war, zum Beispiel in Deutschland im Jahre 1848 oder in Rußland im Jahre 1905.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916), LW 22, S. 155)

Und eben deshalb muss für die Revolution jene Grundlage dem Imperialismus entzogen werden:

„Die Auffassungen der Gegner der Selbstbestimmung führen zu der Schlußfolgerung, daß die Lebensfähigkeit der kleinen, vom Imperialismus unterdrückten Nationen schon erschöpft sei, daß sie dem Imperialismus gegenüber keinerlei Rolle spielen könnten, daß die Unterstützung ihrer rein nationalen Bestrebungen zu nichts führen werde u.dgl.m. Die Erfahrung des imperialistischen Krieges 1914-1916 widerlegt faktisch derartige Schlußfolgerungen. Der Krieg wurde zur Epoche der Krise für die westeuropäischen Nationen, für den gesamten Imperialismus. Jede Krise räumt mit dem Konventionellen auf, sprengt die äußeren Hüllen, fegt das Überlebte hinweg, legt die tieferen Triebfedern und Kräfte bloß. Was hat sie nun vom Standpunkt der Bewegung der unterdrückten Nationen zutage gefördert? […] [Lenin listet folgend Aufstände auf, Anmerkung des Autors]

Selbstverständlich ist diese Liste bei weitem nicht vollständig. Und dennoch zeigt sie, daß Flammen nationaler Aufstände im Zusammenhang mit der Krise des Imperialismus sowohl in den Kolonien als auch in Europa aufloderten, daß die nationalen Sympathien und Antipathien trotz drakonischer Drohungen und Repressalien zum Ausbruch kamen. Und dabei war die Krise des Imperialismus noch weit entfernt vom Höhepunkt ihrer Entwicklung: die Macht der imperialistischen Bourgeoisie war noch nicht untergraben (der Krieg „bis zur Erschöpfung“ kann dahin führen, hat aber noch nicht dahin geführt): die proletarischen Bewegungen innerhalb der imperialistischen Mächte sind noch sehr schwach. Was wird aber sein, wenn der Krieg zur vollen Erschöpfung führt oder wenn die Macht der Bourgeoisie, sei es auch nur in einem Lande, unter den Schlägen des proletarischen Kampfes so ins Wanken gerät wie die Macht des Zarismus im Jahre 1905?

Denn zu glauben, daß die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: „Wir sind für den Sozialismus“, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: „Wir sind für den Imperialismus“, und das wird dann die soziale Revolution sein! Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen „Putsch“ zu schimpfen.

Wer eine „reine“ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution. Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich -, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewußte Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhaßten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken „entledigen“ wird. Ein Kampf der unterdrückten Nationen in Europa, der imstande wäre, zu Aufständen und Straßenkämpfen, zur Verletzung der eisernen Disziplin des Heeres und des Belagerungszustands zu führen – ein solcher Kampf würde „die revolutionäre Krise in Europa“ in ungleich höherem Grade „verschärfen“ als ein viel weiter entwickelter Aufstand in einer entlegenen Kolonie. Ein Schlag von gleicher Stärke, welcher der Macht der englischen imperialistischen Bourgeoisie durch einen Aufstand in Irland versetzt wird, hat eine hundertmal größere politische Bedeutung als ein gleicher Schlag in Asien oder in Afrika. Die Generalstäbe sind im gegenwärtigen Krieg eifrig bemüht, jede nationale und revolutionäre Bewegung im Lager ihrer Gegner auszunutzen, die Deutschen – den irischen Aufstand, die Franzosen – die tschechische Bewegung usw. Und von ihrem Standpunkt aus handeln sie vollkommen richtig. Man kann sich einem ernsthaften Krieg gegenüber nicht ernsthaft verhalten, ohne die geringste Schwäche des Gegners auszunutzen, ohne jede Chance aufzugreifen, um so mehr, als man nicht im voraus wissen kann, in welchem Augenblick und mit welcher Kraft hier oder dort dieses oder jenes Pulverfaß „explodiert“. Wir wären sehr schlechte Revolutionäre, wenn wir es nicht verstünden, im großen Befreiungskampf des Proletariats für den Sozialismus jede Volksbewegung gegen die einzelnen Bedrängnisse des Imperialismus zur Verschärfung und Ausweitung der Krise auszunutzen. Wenn wir einerseits auf tausenderlei Art zu erklären und zu wiederholen begännen, daß wir „gegen“ jede nationale Unterdrückung sind, anderseits aber den heldenhaften Aufstand des beweglichsten und intelligentesten Teils gewisser Klassen einer unterdrückten Nation gegen ihre Unterdrücker als „Putsch“ bezeichnen wollten – so würden wir auf ein ebenso stumpfsinniges Niveau hinabgleiten wie die Kautskyaner.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 361ff)

Das hat, wie bereits an anderen Stellen zitiert, eine enorme Priorität:

„Die Forderung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen hat, entgegen der falschen Behauptung der polnischen Sozialdemokraten, in unserer Parteiagitation keine geringere Rolle gespielt als z.B. die Volksbewaffnung, die Trennung von Kirche und Staat, die Wahl der Beamten durch das Volk und andere von den Spießbürgern als „utopisch“ bezeichnete Forderungen. […] Schon damals ist eine Tatsache zutage getreten, die man nicht umgehen darf: die Opportunisten verschiedener Nationen, der Ukrainer Jurkewitsch, der Bundist Libman, der russische Lakai der Potressow und Co. Semkowski traten für die Argumente Rosa Luxemburgs gegen das Selbstbestimmungsrecht ein! Was bei der polnischen Sozialdemokratin nur eine irrige theoretische Verallgemeinerung der besonderen Verhältnisse der Bewegung in Polen war, das hat sich in der Praxis, in einem weiten Rahmen, unter den Verhältnissen nicht eines kleinen, sondern eines großen Staates, im internationalen und nicht im engen polnischen Maßstab objektiv sofort als opportunistische Unterstützung des großrussischen Imperialismus erwiesen. Die Geschichte der politischen Gedankenrichtungen (zum Unterschied von den Auffassungen einzelner) hat die Richtigkeit unseres Programms bestätigt. Bei Trotzki – man nehme seine Artikel „Nation und Wirtschaft“ im „Nasche Slowo“ – sehen wir seinen gewohnten Eklektizismus: einerseits würden die Nationen durch die Wirtschaft verschmolzen, anderseits durch die nationale Unterdrückung zersplittert. Und die Schlußfolgerung? Die Schlußfolgerung ist, daß die herrschende Heuchelei nicht entlarvt wird, daß die Agitation ohne Leben bleibt und das Wichtigste, Grundlegende, Wesentliche, der Praxis Nächstliegende gar nicht berührt – das Verhältnis zu der Nation, die von „meiner“ Nation unterdrückt wird. Martow und die anderen Auslandssekretäre haben es vorgezogen, den Kampf ihres Kollegen und Mitsekretärs Semkowski gegen die Selbstbestimmung |368| einfach zu vergessen – eine recht bequeme Vergeßlichkeit! Was immer die subjektiv „edlen“ Absichten Trotzkis und Martows sein mögen, objektiv unterstützen sie durch ihre ausweichende Haltung den russischen Sozialimperialismus. Die imperialistische Epoche hat alle „Groß“mächte zu Unterdrückern einer Reihe von Nationen gemacht, und die Entwicklung des Imperialismus wird unvermeidlich auch in der internationalen Sozialdemokratie zu einer klareren Scheidung der Strömungen in dieser Frage führen.“ (Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916), LW 22, S. 366ff)

2.13. Die Versklavung durch den Imperialismus

Zusammenfassung: In der nationalen Frage dürfen keine abstrakten und keine formalen Prinzipien in den Vordergrund rücken. Es muss klar erkannt und benannt werden, welche Länder imperialistisch sind und welche unterdrückt und abhängig. Die Arbeiterklasse muss sich herauslösen vom Begriff der Volksinteressen. Eine verschwindende Minderheit der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder versklavt kolonial und finanziell die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung auf der Welt – das darf nicht vertuscht werden.

Folgendes wurde in Punkt zwei als „programmatischen Thesenentwurf“ von Lenin für die III. Internationale verfasst:

„Die kommunistische Partei, die dem Kampf des Proletariats um die Abschüttelung des Jochs der Bourgeoisie bewußt Ausdruck verleiht, darf entsprechend ihrer grundlegenden Aufgabe, die bürgerliche Demokratie zu bekämpfen und die Verlogenheit und Heuchelei dieser Demokratie zu entlarven, auch in der nationalen Frage keine abstrakten und keine formalen Prinzipien in den Vordergrund rücken, sondern muß ausgehen: erstens von einer genauen Einschätzung der konkreten historischen und vor allem der ökonomischen Situation; zweitens von einer klaren Herauslösung der Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlechthin, der die Interessen der herrschenden Klasse bedeutet; drittens von einer ebenso klaren Unterscheidung zwischen unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten und unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten Nationen, im Gegensatz zu dem bürgerlichdemokratischen Lug und Trug, vermittels dessen man die der Epoche des Finanzkapitals und des Imperialismus eigene koloniale und finanzielle Versklavung der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs durch eine verschwindende Minderheit der reichsten fortgeschrittenen kapitalistischen Länder zu vertuschen sucht.“ (Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (1920) (2. Kongress der KI))

Besonders aufschlussreich ist hierbei, an welchen Punkten Lenin diese Positionierung zur nationalen Souveränität von der II. Internationale abgrenzt:

„Der Beschluß des Londoner internationalen sozialistischen Kongresses im Jahre 1896, der das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennt, muß auf Grund der oben aufgestellten Thesen ergänzt werden, mit dem Hinweis auf die besondere Unentbehrlichkeit dieser Forderung unter der Herrschaft des Imperialismus; auf die historische Bedingtheit und den Klassencharakter aller Forderungen der politischen Demokratie, der vorliegenden nicht ausgenommen; auf die Notwendigkeit, die konkreten Aufgaben der Sozialdemokratie der unterdrückenden Nationen von denen der Sozialdemokratie der unterdrückten zu unterscheiden; auf die inkonsequente, rein äußerliche und infolgedessen in ihrer politischen Bedeutung heuchlerische Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen von seiten der Opportunisten und Kautskyaner; auf die tatsächliche Ähnlichkeit zwischen den Chauvinisten und denjenigen Sozialdemokraten, besonders der Nationen der „Großmächte“ (Großrussen, Anglo-Amerikaner, Deutsche, Franzosen, Italiener, Japaner u.a.), die nicht auf der Freiheit der Abtrennun die Notwendigkeit, den Kampf für diese sowie für alle grundlegenden Forderungen der politischen Demokratie dem unmittelbaren revolutionären Massenkampf für die Beseitigung der kapitalistischen Ordnung und für die Verwirklichung des Sozialismus unterzuordnen.“ (Lenin: Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916) )

2.14. Zu Nationalismus und Pazifismus

Zusammenfassung: „Nackte, formale, rein deklarative und praktisch zu nichts verpflichtende Anerkennung“ der Gleichberechtigungen der Nationen von Kommunisten sind abzulehnen. Der spießbürgerliche Nationalismus und Pazifismus ist eine Erscheinung des Opportunismus. „Somit ist in den bereits vollauf kapitalistischen Staaten, in denen Arbeiterparteien bestehen, die tatsächlich die Avantgarde des Proletariats darstellen, der Kampf gegen die opportunistischen und kleinbürgerlich-pazifistischen Einstellungen des Begriffs und der Politik des Internationalismus die erste und wichtigste Aufgabe.“

Dieser Punkt ist die strategische Konsequenz von Abschnitt 2.13. und wird deshalb ebenfalls in Lenins programmatischen Vorschlag für die Komintern genannt:


„9. Auf dem Gebiet der innerstaatlichen Beziehungen kann sich die nationale Politik der Komintern nicht auf jene nackte, formale, rein deklarative und praktisch zu nichts verpflichtende Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen beschränken, auf die sich die bürgerlichen Demokraten beschränken – einerlei, ob sie sich offen als solche bekennen oder sich, wie die Sozialisten der II. Internationale, mit dem Namen von Sozialisten tarnen. Die kommunistischen Parteien müssen nicht nur in ihrer gesamten Propaganda und Agitation – sowohl von der Parlamentstribüne herab als auch außerhalb des Parlaments – die Verletzungen der Gleichberechtigung der Nationen und der Garantien der Redite der nationalen Minderheiten, die in allen kapitalistischen Staaten trotz ihrer „demokratischen“ Verfassungen dauernd Platz greifen, unentwegt anprangern. Notwendig ist auch erstens eine ständige Aufklärung darüber, daß nur die Sowjetordnung imstande ist, den Nationen wirkliche Gleichberechtigung zu geben, indem sie zunächst die Proletarier und dann die gesamte Masse der Werktätigen im Kampf gegen die Bourgeoisie zusammenfaßt; zweitens müssen alle kommunistischen Parteien die revolutionären Bewegungen in den abhängigen oder nicht gleichberechtigten Nationen (z.B. in Irland, unter den Negern Amerikas usw.) und in den Kolonien direkt unterstützen. Ohne diese letzte, besonders wichtige Voraussetzung bleibt der Kampf gegen die Unterdrückung der abhängigen Nationen und der Kolonien sowie die Anerkennung ihres Rechts auf staatliche Lostrennung ein verlogenes Aushängeschild, wie wir das bei den Parteien der II. Internationale sehen.

10. Das Bekenntnis zum Internationalismus in Worten und seine Ersetzung in der Tat, in der gesamten Propaganda, Agitation und praktischen Arbeit, durch spießbürgerlichen Nationalismus und Pazifismus ist eine ganz gewöhnliche Erscheinung nicht nur in den Parteien der II. Internationale, sondern auch in solchen, die aus dieser Internationale ausgetreten sind, ja mitunter sogar in solchen, die sich jetzt als kommunistisch bezeichnen. Der Kampf gegen dieses Übel, gegen die am tiefsten eingewurzelten kleinbürgerlich-nationalen Vorurteile, rückt um so mehr in den Vordergrund, je aktueller die Aufgabe wird, die Diktatur des Proletariats umzuwandeln aus einer nationalen Diktatur (d.h. einer Diktatur, die nur in einem einzigen Lande besteht und die Weltpolitik nicht zu bestimmen vermag) in eine internationale (d.h. in die Diktatur des Proletariats zumindest in einigen fortgeschrittenen Ländern, die einen entscheidenden Einfluß auf die ganze Weltpolitik ausüben könnte).

Der kleinbürgerliche Nationalismus behauptet, die alleinige Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen sei bereits Internationalismus, und läßt (ganz abgesehen davon, daß eine solche Anerkennung nur ein Lippenbekenntnis ist) den nationalen Egoismus unangetastet, während der proletarische Internationalismus verlangt: erstens, daß die Interessen des proletarischen Kampfes in jedem einzelnen Lande den Interessen des proletarischen Kampfes im Weltmaßstab untergeordnet werden; zweitens, daß die Nation, die den Sieg über die Bourgeoisie erringt, fähig und bereit ist, die größten nationalen Opfer für den Sturz des internationalen Kapitals zu bringen. Somit ist in den bereits vollauf kapitalistischen Staaten, in denen Arbeiterparteien bestehen, die tatsächlich die Avantgarde des Proletariats darstellen, der Kampf gegen die opportunistischen und kleinbürgerlich-pazifistischen Einstellungen des Begriffs und der Politik des Internationalismus die erste und wichtigste Aufgabe.“ (Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (1920) (2. Kongress der KI), LW 31, S. 135ff)

3. Kritik an der Theorie der „national-kulturellen Autonomie“

Ab 1907 entfaltete sich die Debatte um das Theoriekonstrukt der „national-kulturellen Autonomie“. Die österreichischen Sozialdemokraten (20) Otto Bauer und Rudolf Springer (Pseudonym von Karl Renner) vertraten die Position, jede Nationalität innerhalb einer Nation solle, unabhängig vom Territorium, eine Autonomie über dessen Schulwesen, Ökonomie, Sprache, Kulturbedürfnisse etc. haben. Die Theorie der „national-kulturellen Autonomie“ besagt somit, die Nation als solche beruhe auf der Gemeinsamkeit des „Charakters und der Kultur“.

Die sogenannten Bundisten – anfangs eine säkulare sozialistische Partei, durch die Anerkennung dieser Theorie später eine Vernetzung jüdischer Sozialisten- und die Menschewiki übernahmen die Theorie von Bauer und Springer, während Lenin und Stalin scharf gegen sie argumentierten. Rosa Luxemburg argumentierte stellenweise ähnlich wie die Bundisten und war deshalb Teil der Auseinandersetzung.

Die Ansichten der Bundisten finden sich heute in der internationalen Kommunistischen Bewegung kaum in ihrer ursprünglichen Form wieder (21). Sie berühren jedoch an vielen Punkten die Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsrecht der Nationen,was bereits im letzten Kapital ausgeführt wurde, und sind deshalb Teil dieser. Da die Debatte auch recht intensiv geführt wurde, werden im Folgenden die Grundaussagen von Lenin und Stalin aufgeführt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde auch um den Begriff der Nation selbst gestritten, weshalb auch Stalins Definition dargestellt wird.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Lenin und Stalin die „national-kulturelle Autonomie“ als eine falsche Reaktion auf die Unterdrückung von Nationalitäten innerhalb eines Staates ablehnten. Stattdessen haben sie erstens für den Kampf für eine vollständige Demokratisierung ohne Privilegien einer Nationalität argumentiert, um die Organisierung der Arbeiterklasse in gemeinsamen Organisationen zu fördern und große Wirtschaftsräume zu begünstigen. Zweitens, wenn ein gemeinsames demokratisches Staatsgebiet in einer Föderation oder einem Zentralstaat nicht möglich war, traten sie für das Selbstbestimmungsrecht der Nation ein – welches vor allem das Recht auf Abspaltung und Bildung eines eigenen Staates/Eingliederung in einen anderen Staat bedeutet (siehe 2.2.). Zweiteres wurde im letzten Kapitel ausführlich dargestellt und wird deshalb hier nicht erneut wiederholt, auch wenn diese Orientierung im unmittelbaren Kontext der Debatte um die „national-kulturelle Autonomie“ steht.

3.1. Zur Definition von Nation

Zusammenfassung: „Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“

Die Überschrift ist ein direktes Zitat von Stalins Definition der Nation in: Stalin: Marxismus und Nationale Frage (1913). In dem ersten Kapitel ist auch die Herleitung und Begründung dieser Definition zu lesen, welche sich stark von jener der Bundisten abgrenzt. Die wichtigsten Passagen daraus werden folgend zitiert:

„Eine Nation ist vor allem eine Gemeinschaft, eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen. […] Also ist die Nation keine Rassen- und keine Stammesgemeinschaft, sondern eine historisch entstandene Gemeinschaft von Menschen. […] Also ist die Nation kein zufälliges und kein ephemeres Konglomerat, sondern eine stabile Gemeinschaft von Menschen. Aber nicht jede stabile Gemeinschaft ergibt eine Nation. Auch Osterreich und Rußland sind stabile Gemeinschaften, jedoch nennt sie niemand Nationen.

Rolle der Sprache: Wodurch unterscheidet sich die nationale Gemeinschaft von der Staatsgemeinschaft? Unter anderem dadurch, daß die nationale Gemeinschaft ohne gemeinsame Sprache undenkbar ist, während für den Staat eine gemeinsame Sprache nicht unbedingt erforderlich ist. Also Gemeinschaft der Sprache als eines der charakteristischen Merkmale der Nation. Das bedeutet natürlich nicht, daß verschiedene Nationen immer und überall verschiedene Sprachen sprechen, oder daß alle, die ein und dieselbe Sprache sprechen, unbedingt eine Nation bilden. Gemeinsame Sprache für jede Nation, aber nicht unbedingt verschiedene Sprachen für verschiedene Nationen!

Rolle des Territoriums: „Aber warum bilden beispielsweise die Engländer und die Nordamerikaner, trotz der gemeinsamen Sprache, nicht eine Nation? Vor allem deswegen, weil sie nicht zusammen, sondern auf getrennten Territorien leben. Eine Nation bildet sich nur im Ergebnis eines lang, andauernden und regelmäßigen Verkehrs, im Ergebnis eines Zusammenlebens der Menschen von Generation zu Generation. Ein lang andauerndes Zusammenleben ist aber ohne gemeinsames Territorium unmöglich. Die Engländer und die Amerikaner bevölkerten früher ein und dasselbe Territorium, England, und bildeten eine Nation. Dann siedelte ein Teil der Engländer aus England nach einem neuen Territorium, nach Amerika, über und bildete hier, auf dem neuen Territorium, im Laufe der Zeit eine neue, die nordamerikanische Nation. Die verschiedenen Territorien haben zur Bildung von verschiedenen Nationen geführt.

Rolle der Gemeinschaft des Wirtschaftslebens, wirtschaftliche Verbundenheit als eine der charakteristischen Besonderheiten der Nation: „Man nehme etwa die Georgier. Die Georgier aus der Zeit vor der Reform lebten auf gemeinsamem Territorium und sprachen eine Sprache, und dennoch bildeten sie, streng genommen, nicht eine Nation, denn, zerfallen in eine ganze Anzahl voneinander getrennter Fürstentümer, konnten sie kein gemeinsames Wirtschaftsleben führen, bekriegten sich jahrhundertelang, ruinierten einander, hetzten einander die Perser und die Türken auf den Hals. Die kurzlebige und zufällige Vereinigung von Fürstentümern, die herzustellen manchmal irgendeinem vom Glück begünstigten Herrscher gelang, berührte bestenfalls nur die administrative Oberfläche, sie zerschlug sich bald an den Launen der Fürsten und der Gleichgültigkeit der Bauern. Anders konnte es bei der wirtschaftlichen Zersplitterung Georgiens gar nicht sein … Georgien trat als Nation erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung, als die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Entfaltung des Wirtschaftslebens des Landes, die Entwicklung der Verkehrswege und das Aufkommen des Kapitalismus eine Arbeitsteilung unter den einzelnen Gebieten Georgiens herbeiführten, die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Fürstentümer endgültig durchbrachen und sie zu einem Ganzen zusammenfügten. Dasselbe muß auch von den anderen Nationen gesagt werden, die das Stadium des Feudalismus durchgemacht und den Kapitalismus in ihrem Lande entwickelt haben.

Rolle der psychischen Wesensart: „Natürlich ist die psychische Wesensart, oder, wie sie anders genannt wird, der „Nationalcharakter“, an und für sich für den Beobachter etwas Ungreifbares, insofern sie aber in der einer Nation gemeinsamen Eigenart der Kultur ihren Ausdruck findet, ist sie greifbar und darf nicht ignoriert werden. Es erübrigt sich zu sagen, daß der „Nationalcharakter“ nicht etwas ein für alle mal Feststehendes ist, sondern sich mit den Lebensbedingungen ändert; aber da er in jedem gegebenen Augenblick existiert, drückt er der Physiognomie der Nation seinen Stempel auf.“ (Stalin: Marxismus und Nationale Frage (1913), Stalin Werke 2, S. 163f)

3.2. Einheitliche Organisationen der Arbeiterklasse

Zusammenfassung: Kommunisten streben einheitliche Organisationen der Arbeiterklasse an, die sich nicht nach Nationalitäten spalten.

Das ist die Grundaussage einer Resolution, die Lenin verfasste:

„Die Interessen der Arbeiterklasse erfordern die Verschmelzung der Arbeiter sämtlicher Nationalitäten eines Staates in einheitlichen proletarischen – politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, kulturellen usw. – Organisationen. Nur eine solche Verschmelzung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten in einheitlichen Organisationen gibt dem Proletariat die Möglichkeit, einen siegreichen Kampf zu führen gegen das internationale Kapital und gegen die Reaktion und ebenso auch gegen die Agitation und die Bestrebungen der Gutsbesitzer, Pfaffen und bürgerlichen Nationalisten aller Nationen, die ihre antiproletarischen Bestrebungen gewöhnlich unter der Flagge der „nationalen Kultur“ durchsetzen. Die die ganze Welt umfassende Arbeiterbewegung bringt die internationale Kultur des Proletariats hervor und entwickelt sie mit jedem Tag mehr.“ (Lenin: Resolution über die nationale Frage (1913))

3.3. Kampf um nationalen Frieden

Zusammenfassung: Der Kampf um nationalen Frieden bedeutet den Kampf für völlige Gleichberechtigung aller Nationalitäten innerhalb eines Staates.

„Soweit in der kapitalistischen Gesellschaft, die auf Ausbeutung, Bereicherung und Kampf aller gegen alle begründet ist, der nationale Friede möglich ist, ist er nur bei einer konsequenten, restlos demokratischen, republikanischen Staatsordnung erreichbar, die die völlige Gleichberechtigung aller Nationen und Sprachen gewährleistet, wenn keine obligatorische Staatssprache festgesetzt ist, die Bevölkerung mit Schulen versorgt ist, in denen in allen Landessprachen unterrichtet wird, und in die Verfassung ein Grundgesetz aufgenommen wird, das jedwedes Privileg einer der Nationen und jedwede Verletzung der Rechte einer nationalen Minderheit für ungültig erklärt. Besonders notwendig ist dabei eine großzügige Gebietsautonomie und eine völlig demokratische lokale Selbstverwaltung, bei Bestimmung der Grenzen der sich selbst verwaltenden und autonomen Gebiete auf Grund der durch die örtliche Bevölkerung selbst vorzunehmenden Berücksichtigung der wirtschaftlichen und Lebensverhältnisse, der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung usw.“ (Lenin: Resolution über die nationale Frage (1913), LW 19, S. 419f)

„Derjenige, der die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und verteidigt und nicht jede nationale Unterdrückung und Ungleichheit bekämpft, ist kein Marxist, er ist nicht einmal ein Demokrat.“ (Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage (1913), LW 20, S. 13) „Auffallend ist vor allem die gänzlich unbegreifliche und durch nichts zu rechtfertigende Unterschiebung der nationalen Autonomie für die Selbstbestimmung der Nationen. Von zwei Dingen eins: Entweder hat Bauer die Selbstbestimmung nicht begriffen, oder er hat sie begriffen, engt sie aber aus irgendeinem Grunde bewußt ein. Denn es ist unzweifelhaft, daß: a) die national-kulturelle Autonomie die Integrität des Nationalitätenstaates voraussetzt, während die Selbstbestimmung über den Rahmen dieser Integrität hinausgeht; b) die Selbstbestimmung der Nation die ganze Fülle der Rechte einräumt, die nationale Autonomie dagegen nur „kulturelle“ Rechte. Dies zum ersten. Zweitens ist in der Zukunft sehr wohl ein Zusammentreffen innerer und äußerer Konjunkturen möglich, bei dem sich diese oder jene Nationalität entschließt, aus dem Nationalitätenstaat, sagen wir aus Österreich, auszutreten – haben doch die ruthenischen Sozialdemokraten auf dem Brünner Parteitag erklärt, sie seien bereit, „die beiden Teile“ ihres Volkes zu einem Ganzen zu vereinigen. [24*] Wie soll man es dann mit der „für die Arbeiterklasse aller Nationen notwendigen“ nationalen Autonomie halten? Was ist das für eine „Lösung“ der Frage, die die Nationen mechanisch in das Prokrustesbett der Staatsintegrität hineinzwängt?“ (Stalin: Marxismus und nationale Frage (1913), Stalin Werke 2, S. 178)

3.4. Zur Kultur in einem Staat

Zusammenfassung: Die Kultur innerhalb eines Staates hat grundsätzlich Elemente von jeder in ihre lebenden Klasse. Die „Nationale Kultur“ im Allgemeinen ist jene der herrschenden Klassen, sie ist bürgerlich oder reaktionär. Es gilt, zu identifizieren, welche Formen der Internationalen Kultur es gibt und diese zu entwickeln und zu fördern. Die Unterstützung einer nationalen Bewegung kann im Interesse des Proletariats sein, da dieses am meisten von den Repressalien betroffen ist.

„In jeder nationalen Kultur gibt es – wenn auch unentwickelte – Elemente demokratischer und sozialistischer Kultur, da jede Nation eine werktätige und ausgebeutete Masse besitzt, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. Aber in jeder Nation gibt es auch eine bürgerliche Kultur (und in der Mehrzahl der Fälle eine noch erzreaktionäre und klerikale), und zwar nicht nur in der Form von „Elementen“, sondern als herrschende Kultur. Deshalb ist die „nationale Kultur“ im Allgemeinen die Kultur der Agrarier, der Pfaffen und der Bourgeoisie. Diese grundlegende, für den Marxisten, elementare Wahrheit hat der Bundist unbeachtet gelassen und mit seinem Wortschwall „aus der Welt geredet“, d. h. er hat den Abgrund zwischen den Klassen, anstatt ihn aufzudecken und aufzuhellen, in Wirklichkeit vor dem Leser verschleiert. […] Wenn wir die Losung der „internationalen Kultur der Demokratie und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt“ ausgeben, entnehmen wir jeder nationalen Kultur lediglich ihre demokratischen und sozialistischen Elemente; nur diese entnehmen wir und nur ausschließlich als Gegengewicht gegen die bürgerliche Kultur, den bürgerlichen Nationalismus jeder Nation.“ (Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage (1913), LW 20, S. 8f)

„Der Inhalt der nationalen Bewegung kann natürlich nicht überall der gleiche sein: Er wird ganz und gar durch die verschiedenartigen Forderungen bedingt, die von der Bewegung aufgestellt werden. In Irland trägt die Bewegung den Charakter einer Agrarbewegung, in Böhmen einen „Sprachencharakter; hier verlangt man staatsbürgerliche Gleichberechtigung und Freiheit des Glaubensbekenntnisses, dort „eigene“ Beamte oder einen eigenen Landtag. In den verschiedenartigen Forderungen schimmern mitunter die verschiedenartigen Merkmale durch, die für die Nation im allgemeinen kennzeichnend sind (Sprache, Territorium usw.). Beachtung verdient der Umstand, daß man nirgends Forderungen nach dem Bauerschen allumfassenden „Nationalcharakter“ antrifft. Das ist auch begreiflich: der „Nationalcharakter“ an und für sich ist etwas Ungreifbares, und J. Strasser bemerkt ganz richtig: „… was sollen wir in der Politik … mit ihm anfangen?“ Das sind im allgemeinen die Formen und der Charakter der nationalen Bewegung. Aus dem Gesagten wir klar, daß der nationale Kampf unter den Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus ein Kampf der bürgerlichen Klassen untereinander ist. Manchmal gelingt es der Bourgeoisie, das Proletariat in die nationale Bewegung hineinzuziehen, und dann scheint der nationale Kampf äußerlich ein Kampf „des ganzen Volkes“ zu sein, aber nur äußerlich. Seinem Wesen nach bleibt er stets ein bürgerlicher Kampf, der hauptsächlich für die Bourgeoisie vorteilhaft und ihr genehm ist. Daraus folgt aber keineswegs, daß das Proletariat nicht gegen die Politik der Unterdrückung der Nationalitäten kämpfen soll. Beschränkung der Freizügigkeit, Entziehung des Wahlrechts, Knebelung der Sprache, Verringerung der Zahl der Schulen und sonstige Repressalien treffen die Arbeiter in nicht geringerem, wenn nicht in höherem Maße als die Bourgeoisie. Eine solche Lage kann die trete Entwicklung der geistigen Kräfte des Proletariats der unterworfenen Nationen nur hemmen. Man kann nicht ernstlich von einer vollen Entfaltung der geistigen Anlagen des tatarischen oder des jüdischen Arbeiters sprechen, wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben wird, seine Muttersprache in Versammlungen und Vorträgen zu gebrauchen, wenn ihm seine Schulen geschlossen werden.“ (Stalin: Marxismus und nationale Frage (1913), Stalin Werke 2, S. 169f)

3.5. Zu Einheitssprachen

Zusammenfassung: Einheitssprachen sind anzustreben und werden auch durch die ökonomische Entwicklung gefördert, sofern demokratische Elemente konsequent umgesetzt werden. Es müssen auch Minderheiten ihre eigene Sprache sprechen können, ohne benachteiligt zu werden. Wenn möglich, ist das Ziel eine Annäherung von Nationalitäten.

„Sobald sämtliche Privilegien wegfallen und die Aufdrängung einer der Sprachen aufhört, werden alle Slawen leicht und schnell einander verstehen lernen und vor dem „furchtbaren“ Gedanken, nicht zurückschrecken, dass im gemeinsamen Parlament die Reden in verschiedenen Sprachen zu hören sein werden. Die Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs werden vom selbst diejenige Sprache des gegebenen Landes bestimmen, deren Kenntnis der Mehrheit im Interesse der wirtschaftlichem Beziehungen förderlich ist. Und diese Bestimmung wird um so zwingender sein, als die Bevölkerung der verschiedenen Nationen sie freiwillig annehmen wird, sie wird um so rascher erfolgen und um so umfassender sein, je konsequenter die Demokratie und je schneller infolgedessen die Entwicklung des Kapitalismus sein wird. Die Liberalen treten auch an die Sprachenfrage, wie an alle politischen Fragen, wie heuchlerische Krämer heran, in der Weise, dass sie die eine Hand (offen) der Demokratie, die andere (hinter dem Rücken) den Fronherren und der Polizei entgegenstrecken. Wir sind gegen Privilegien, schreit der Liberale, aber hinter dem Rücken erhandelt er von den Fronherren für sich dieses oder jenes Privileg. So ist jeder liberalbürgerliche Nationalismus, nicht nur der großrussische (er ist infolge seines gewalttätigen Charakters und seiner Verwandtschaft mit den Herren von der Art Purischkjewitschs schlimmer als die anderen), sondern auch der polnische, jüdische, ukrainische, georgische und jeder andere. Die Bourgeoisie aller Nationen sowohl in Österreich als auch in Russland betreibt unter der Losung der „nationalen Kultur“ in Wirklichkeit die Spaltung der Arbeiter, die Schwächung der Demokratie und den Kuhhandel mit den Fronherren, denen sie die Volksrechte und die Volksfreiheit verschachert. Die Losung der Arbeiterdemokratie heißt nicht „nationale Kultur“, sondern internationale Kultur der Demokratie und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt. Mag die Bourgeoisie das Volk mit Hilfe allerhand „positiver“ nationaler Programme betrügen, der klassenbewusste Arbeiter wird ihr entgegnen: Es gibt eine einzige Lösung der nationalen Frage (so weit ihre Lösung in der Welt des Kapitalismus, in der Welt des Profits, des Haders und der Ausbeutung überhaupt möglich ist), und diese Lösung ist die konsequente Demokratie.“ (Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage (1913), LW 20, S. 5f)

„Die großrussischen und ukrainischen Arbeiter müssen gemeinsam und, solange sie in einem Staate leben, in engster organisatorischer Einheit und Verschmelzung die gemeinsame oder internationale Kultur der proletarischen Bewegung verteidigen und die Frage der Sprache, ihrer Propaganda sowie die Frage der Berücksichtigung der lokalen und rein nationalen Besonderheiten mit absoluter Duldsamkeit behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung des Marxismus. Jede Befürwortung der Trennung der Arbeiter der einen Nation von denen der anderen, jeder Angriff auf das marxistische „Assimilantentum“, jede Gegenüberstellung einer nationalen Kultur in ihrer Gesamtheit und einer anderen angeblich ein Ganzes darstellenden nationalen Kultur in Fragen, die das Proletariat betreffen usw., ist bürgerlicher Nationalismus, gegen den ein erbarmungsloser Kampf geführt werden muss.“ (Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage (1913), LW 20, S. 18)

3.6. Zur Trennung des Schulwesens

Zusammenfassung: Die Trennung des Schulwesens ist schädlich.

„Die Trennung des Schulwesens innerhalb der Grenzen eines Staates nach Nationalitäten ist vom Standpunkt der Demokratie den allgemeinen und den Interessen des Klassenkampfes des Proletariats im Besonderen unbedingt schädlich. Gerade in einer solchen Trennung besteht der in Russland von allen bürgerlichen Parteien des Judentums und von den kleinbürgerlichen, opportunistischen Elementen verschiedener Nationen angenommene Plan der sogenannten „national-kulturellen“ Autonomie oder der „Schaffung von Einrichtungen, die die Freiheit der nationalen Entwicklung garantieren.“ (Lenin: Resolution über die nationale Frage (1913), LW 19, 420)

„Wenn die Ökonomik die in einem Staate lebenden Nationen miteinander verbindet, so ist der Versuch, sie in den „kulturellen“ und namentlich in den Schulfragen ein für allemal voneinander zu trennen, sinnlos und reaktionär. Im Gegenteil, man muss in der Schulfrage die Vereinigung der Nationen erstreben, damit in der Schule das vorbereitet werde, was im Leben verwirklicht wird.“ (Lenin: Über die „national-kulturelle“ Autonomie (1913), LW 19, S. 499)

„Die Arbeiter können durch das Propagieren einer solchen Idee und noch mehr durch die Teilung der Volksschulen nach Nationalitäten zersplittert, voneinander getrennt und geschwächt werden, während den Kapitalisten, deren Kinder aufs Beste mit reichen Privatschulen und besonders angestellten Lehrern versorgt sind, auf keinen Fall von irgendwelcher „national-kulturellen Autonomie“ irgendeine Zersplitterung oder irgendeine Schwächung droht.“ (Lenin: Über die „national-kulturelle“ Autonomie (1913), LW 19, S. 500)

„Ein eigenes Programm“ in einer eigenen nationalen Schule! … Die Marxisten, mein lieber Nationalsozialist, besitzen ein. allgemeines Schulprogramm, das z. B. unbedingt die weltliche Schule fordert. Vom Standpunkt der Marxisten ist in einem demokratischen Staate nirgends und niemals eine Abweichung von diesem allgemeinen Programm zulässig (seine Vervollständigung durch irgendwelche „lokalen“ Fächer, Sprachen usw. erfolgt durch Beschluss der lokalen Bevölkerung), Aus dem Grundsatz der „Entziehung des Schulwesens aus der Kompetenz des Staates“ und seine Übergabe an die Nationen folgt jedoch, dass wir Arbeiter in unserem demokratischen Staate es den „Nationen“ anheimstellen, Volksgelder für die klerikale Schule zu verwenden! Herr Libman hat, ohne es selbst bemerkt zu haben, das Reaktionäre der „national-kulturellen Autonomie“ in anschaulicher Weise demonstriert!“ (Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage (1913), LW 20, S. 28f)

4. Fazit

Ziel dieser Arbeit war eine möglichst vollständige Darstellung der Ergebnisse der Auseinandersetzungen der Klassiker zur nationalen Frage von 1905-1938 herauszuarbeiten, um aktuelle Kontinuitäten, Brüche und Revisionen mit Erkenntnissen des wissenschaftlichen Kommunismus festzustellen. Die Kommunisten um die III. Internationale haben die Auseinandersetzung vom Verhältnis von Revolution und Souveränität sehr stark entfaltet geführt, dabei strategische und taktische Leitsätze entwickelt, sowie klare Begriffe zur Nation herausgearbeitet. Diese Ergebnisse können in einem kurzen Fazit nur schlecht zusammengefasst werden – sie werden aber bereits durch den Überblick der Grundannahmen im Inhaltsverzeichnis deutlich.

Was jedoch durch diese Ausarbeitung unbestreitbar erkennbar ist: Die programmatischen Dokumente, an denen Lenin und Stalin mitwirkten, haben den Imperialismus als ein Weltsystem aufgefasst, welches eine Einteilung der Nationen in viele unterdrückte und wenige unterdrückende betrachtet. Das sei das „Grundlegende, Wesentliche und Unvermeidliche beim Imperialismus (These 2.8.)“. Das wird nicht nur durch unmissverständliche Textpassagen deutlich, sondern auch dadurch, dass alle strategisch-programmatischen Komponenten der III. Internationale ihren Kampf zum Verhältnis zur nationalen Unterdrückung setzten. Auch vertraten sie, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung – welche die rein ökonomische Versklavung schon damals mitdachte – eine unbedingte Notwendigkeit für sozialistische Revolutionen darstellt. Der erfolgreiche Kampf schwäche nämlich die imperialistischen Staaten ökonomisch, militärisch und hemme die Entwicklung einer Arbeiteraristokratie in ihnen. Entsprechend wurden verschiedene Grundstrategien für Kommunisten in unterdrückenden und unterdrückten Ländern ausgearbeitet. Auch wenn sich die Kommunisten zu dieser Zeit einig waren, dass nationale Bewegungen in erster Linie bürgerliche Bewegungen waren, wurden diese im Kontext des Beitrages zur sozialistischen Revolution betrachtet und offensiv unterstützt, sofern sie den Interessen des weltweiten Proletariats nicht schadeten. Dies wurde als absolute Notwendigkeit angesehen, um auch in den imperialistischen Zentren eine siegreiche Revolution zu ermöglichen. Die Darstellung der wichtigsten Akteure der III. Internationale, die den Imperialismus als ein Konstrukt der internationalen Ausbeutung einer Handvoll Länder begreifen, beschreibt ihn nicht als die gegenwärtige Form des weltweiten Kapitalismus, sondern als ein wesentliches und unumkehrbares Entwicklungsstadium, ohne das der Kapitalismus nicht überlebensfähig wäre. Daher äußert sich seine Überwindung folgerichtig unter anderem in der Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen.

Entweder argumentiert man, dass die wesentlichen, von Lenin dargelegten Eigenschaften des Imperialismus nicht mehr bestehen und daher die Strategie zur Revolution geändert werden muss. In diesem Fall ist man verpflichtet, dies transparent darzulegen und zu belegen, anstatt den Wandel der Strategie zu verschleiern, indem man sich positiv auf Lenins Ausarbeitungen beruft und gleichzeitig ehrliche Kommunisten des Revisionismus bezichtigt.

Oder aber man geht davon aus, dass wir weiterhin im Imperialismus leben – dann muss die Ablehnung des Kampfes gegen konkrete imperialistische Aggressionen als Kampfansage gegen den Kommunismus markiert werden.

Jene Kommunisten, die sich heute positiv auf die Klassiker beziehen, gleichzeitig jedoch eine Einteilung der Welt in unterdrückende und unterdrückte Länder sowie die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen ablehnen, haben sich entweder nicht mit den Ausarbeitungen der Bolschewiki und anderer Revolutionäre zur nationalen Frage auseinandergesetzt oder sie missbrauchen bewusst die Autorität und Geschichte der III. Internationale für eine schmutzige Sache.

„Ein Sozialist, der direkt oder indirekt die bevorzugte Stellung einzelner Nationen auf Kosten der anderen unterstützt, der sich mit der Sklaverei in den Kolonien abfindet, der Unterscheidungen macht zwischen Menschen verschiedener Rassen und Hautfarben, der der Bourgeoisie in den Metropolen hilft, ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten, statt den bewaffneten Aufstand in den Kolonien zu unterstützen, so beispielsweise ein großbritannischer Sozialist, der nicht mit allen Mitteln die Aufstände in Irland, Ägypten und Indien gegen die Londoner Plutokratie fördert, – ein solcher `Sozialist` verdient, wenn nicht eine Kugel, so doch ein Brandmal, keinesfalls jedoch ein Mandat oder das Vertrauen des Proletariats.“ (22)

Quellenverzeichnis

Autorenkollektiv, Geschichte der KPdSU(b). Dietz Verlag 1973.

KI, Leitsätze und Ergänzungsthesen über die National- und die Kolonialfrage (1920). In: Organ des EKKI Nr.13. Online: https://www.marxists.org/deutsch/zeitschriften/komm-intern/1920/v01-n13-1920.pdf

Kommunistische Internationale, Beschluss „Zur Orientfrage“ (1922)

KI, Protokolle der Weltkongresse bis zum VI-Weltkongress. In: Die Kommunistische Internationale – Auswahl von Dokumenten der Kommunistischen Inter-nationale von der Gründung bis zum VI. Weltkongreß 1917-1927; Dietz, Berlin 1955.

Lenin, Das Manifest der armenischen Sozialdemokraten (1903) In: LW 6, S. 320-323.

Lenin, Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916). In: LW 22, S. 326-368.

Lenin, Die nationale Frage in unserem Programm (1903). In: LW 6, S. 452-460.

Lenin, Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen (1916) In: LW 22, S. 144-195.

Lenin, Kritische Bemerkungen zur Nationalen Frage (1913) In: LW 20, S. 1-37.

Lenin, Resolution über die Nationale Frage (1913) In: LW 19, S. 419-422

Lenin, Resolutionsentwurf über die Stellung des „Bund“ in der Partei (1903). In: LW 7, S. 254ff

Lenin, Sozialismus und Krieg (1915). In: LW 21, S.295-341.

Lenin, Über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung (1914) In: LW 20, S.395-461.

Lenin, Über die „Junius“-Broschüre (1916). In: LW 22, S. 310-325.

Lenin, Über die „national-kulturelle“ Autonomie (1913) In: LW 19, S. 498-502.

Lenin, Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und kolonialen Frage (1920). In: LW 31, S. 132-139.

Stalin, Marxismus und nationale Frage (1913). In: Stalin Werke 2, S. 266-333.

Stalin, Gegen den Föderalismus + Anmerkung (1917). In: SW 3, S. 18ff.

Stalin, Rede über die nationale Frage (1917) In: SW 3, S.30ff.

Stalin, Die Organisation der Russischen Föderativen Republik (1918) In: SW 3, S. 58.

Stalin, Der Oktoberumsturz über die nationale Frage (1918). In: SW4, S.136f.

Stalin, Die Politik der Sowjetmacht in der nationalen Frage in Russland (1920). In: SW4, S.202f.

Stalin, Zur Behandlung der nationalen Frage (1921). In: SW 5, S. 34-37.

Stalin, Vorwort zu dem 1920 herausgegebenen Sammelband von Aufsätzen zur nationalen Frage (1920). SW4, S.327ff.

Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus (Kapitel 6 und 7 zur nationalen Frage) (1924). In: SW 6, S. 39-101.

Stalin, Die nationale Frage und der Leninismus (1929). Dietz Verlag, 1951.

Verweise

(1) Vgl. MEW 29: 312
(2) MEW 25: 839
(3) Hier veröffentlichte Engels zum Deutsch-Französischen Krieg über 60 Artikel
(4) MEW 17, Vorwort S.IV
(5) https://www.preussen-im-rheinland.de/spezial/friedrich-engels-1820-1895/von-guerilla-und-generalen/
(6) MEW 21: 350ff

(7) https://kommunistische-organisation.de/diskussion-imperialismus/dossier-die-kontroverse-zwischen-kke-kprfund-
rkap/
(8) bis auf Palästina und die Westsahara
(9) Siehe bspw.: 1. „KKE (V. Opsimos): Lenins Theorie über den Imperialismus und ihre Verzerrungen, KOMEP,
02/2017; 2. der Artikel „On Imperialism – The Imperialist Pyramid“ von A. Papariga, 3. „Die Aktualität der leninistischen
Theorie des Imperialismus“ von Makis Papadopoulos, (KOMEP 2016/4)
(10) https://thecommunists.

(11) Lenin nutzt die formulieren „revolutionärer Krieg“ oder „gerechter Krieg“, aber auch „Verteidigungskrieg“ in
Anlehnung an Clausewitz
(12) Ein vierteiliger Beitrag in der Platform No.2-6. Teil 1 hier: https://waporgan.org/?p=2484
(13) https://www.initiative-cwpe.org/en/news/ON-THE-TERMINATION-OF-THE-ACTIVITY-OF-THE-EUROPEAN-
COMMUNIST-INITIATIVE/

(14) Vgl. Bspw.: https://kommunistischepartei.de/diskussion/der-revisionismus-in-unseren-reihen/#sdfootnote60anc
(15) LW 23: 286.

(16) Geschichte der KPdSU (1938)

(17) Lenin stellt in seiner Imperialismusschrift dar, dass diese etwa ab 1905 begann.
(18) Auch im Sozialismus ist das Selbstbestimmungsrecht zu vertreten. Das stellt Lenin sehr gut in „Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung (1916)“ dar. Wichtige Übergangsform zum Sozialismus ist die Föderation. Die Annäherung an den Sozialismus durch die
Föderation ist mit dem Kampf für Selbstbestimmung in den Kolonien und Abhängigen Ländern zu verbinden.
Die Föderation ist eine Notwendigkeit für den Aufbau des Sozialismus, weil sonst erstens militärisch unterlegen,
zweitens wirtschaftlich zu schwach. (These 7, In: Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und
kolonialen Frage (1920) (2. Kongress der KI))

(19) Kai Schmidt-Soltau (1994) Eine Welt zu gewinnen! Die antikoloniale Strategie-Debatte in der Kommunistischen
Internationale zwischen 1917 und 1929 unter besonderer Berücksichtigung der Theorien von Manabendra
Nath Roy. Online: http://www.schmidt-soltau.de/PDF/German/1994_Eine_Welt_zu_gewinnen.pdf

(20) darüber hinaus auch die österreichische Partei
(21) außer in der Kurdenfrage oder in anderen Diasporaorganisationen

(22) Sinowjew auf dem Kongreß der Völker des Ostens in Baku (1920). Vgl.: Protokoll des I. Kongresses der Völker
des Orients, Baku 1-8. Sept. 1920; Petrograd 1920 (russ.); aber auch: Almanach der Kommunistischen Internationale;
Hamburg 1921; S.50-84.