English
русский
عربي

15 Jahre rassistischer Mord an Marwa El-Sherbini

Vorwort: Heute vor 15 Jahren wurde Marwa El-Sherbini in einem deutschen Gerichtssaal auf bestialische Weise vor den Augen ihrer Familie von einem deutschen Rassisten ermordet. Der Grund: Sie trug ein Kopftuch. Marwa war leider nur das erste von vielen Opfern explizit antimuslimischer rassistischer Gewalt in diesem Land.

Wir reposten hier eine Stellungnahme aus dem Jahr 2019, die auf die Besonderheiten und die Funktionen des antimuslimischen Rassismus eingeht. Dieser fünf Jahre alte Text ist unglücklicherweise noch immer hoch aktuell. Das einzige, was sich seither geändert hat, ist die Liste antimuslimischer Attacken, die inzwischen sehr viel länger geworden ist.

Außerdem muss heute die Verbindung zwischen antimuslimischem und antipalästinensischem Rassismus, die in dem Text von 2019 nur am Rande erwähnt wird, besonders hervorgehoben werden. Denn vor fünf Jahren hätten wir uns eine derartige antipalästinensische rassistische Hysterie, wie wir sie seit Oktober 2023 erleben, nicht vorstellen können. Die Zuschreibungen und Entmenschlichungen, wonach alle Araber Muslime, alle Muslime „Islamisten“, alle „Islamisten“ „Terroristen“ und alle „Terroristen“ zu eliminieren sind, spitzt sich aktuell im antipalästinensischen Rassismus auf eine Art zu, die im wahrsten Sinne des Wortes genozidal ist: Das massenhafte Abschlachten zehntausender Menschen in Gaza ist in den Augen der herrschenden Klasse in Deutschland und ihrer Propagandisten genauso legitim, wie die Ausbürgerung und Deportation propalästinensischer Migranten, Geflüchteter und Doppelstaatsbürger.

Damit bestätigt sich die These, die in diesem Text vor fünf Jahren aufgestellt wurde: Nämlich dass der antimuslimische Rassismus ähnlich wie der Antisemitismus der Nazis und im Gegensatz zu vielen anderen Formen von Rassismus dazu dient, sowohl nach innen zu spalten und Grundrechte abzubauen als auch zugleich nach außen imperialistische Kriege zu legitimieren.

Redaktion der Kommunistischen Organisation, 1.7.2024

Stellungnahme vom 1.7.2019

Heute vor zehn Jahren, am 1. Juli 2009, wurde die ägyptisch-stämmige Dresdnerin Marwa El-Sherbini in einem deutschen Gerichtssaal ermordet. Achtzehn mal stach der Mörder vor den Augen des Richters, der Anwälte und Zeugen und vor denen ihres Ehemannes und ihres damals dreijährigen Sohns auf die schwangere Frau ein. Als ihr Mann als einziger dazwischen ging, wurde er von einem herbeieilenden Polizisten angeschossen. Der Beamte zielte instinktiv auf den schwarzhaarigen, nicht auf den blonden Mann.

Islamfeindlichkeit, Imperialismus und Überwachung

Was Marwa und ihrer Familie angetan wurde, kam nicht aus heiterem Himmel und es sollte auch kein Einzelfall bleiben. Diese Tragödie war vielmehr das Ergebnis einer Hetzkampagne, die in der BRD jahrelang von Staat und Medien gegen Muslime geführt wurde und noch immer wird. Als mit der Konterrevolution 1989/91 dem Westen sein Feindbild verloren ging, suchte er händeringend nach einem neuen »Reich des Bösen«, mit dessen Existenz man Aufrüstung und Krieg begründen konnte. Der US-Politikwissenschaftler Samuel Huntington lieferte die ideologische Grundlage für diesen neuen Feind mit seiner Theorie vom »Kampf der Kulturen« zwischen dem vermeintlich freien Westen und dem angeblich rückständigen Islam. Seither führen die US- und EU-Imperialisten fast sämtliche Aggressionen unter dem Primat vom »Kampf gegen den Terror«: Ob die völlige Zerstörung des Irak und Libyens, die Besetzung Afghanistans, die Drohnenkriege in Pakistan und Yemen, die Einmischungen in Syrien, Somalia und Mali oder Israels Invasion in Libanon, der Terror gegen die Palästinenser und die sich aktuell wieder zuspitzende Kriegshetze der US-Regierung gegen den Iran.

Auch wenn sich im letzteren Fall die Meinungsmacher in der EU zurzeit aus Eigeninteressen zurückhalten,1 ist Islamfeindlichkeit spätestens seit 9/11 nicht mehr aus dem herrschenden Diskurs in der Bundesrepublik wegzudenken. Muslime wurden nach den Anschlägen von New York (2001), Madrid (2004) und London (2005) zunehmend unter Generalverdacht gestellt. »Der Islam« wurde in den Medien zunehmend mit Terror gleich gesetzt. Alex W., Marwas Mörder, hatte sein Opfer dieser allgegenwärtigen Darstellung entsprechend als »Islamistin« und »Terroristin« bezeichnet. Von staatlicher Seite wird die Angstmache vor Anschlägen vor allem genutzt, um Überwachungsmaßnahmen auszubauen und den Abbau von Grundrechten zu legitimieren. Jüngstes Beispiel ist die geplante Aberkennung der Staatsbürgerschaft von Personen, die sich angeblich ausländischen »Terrororganisationen« angeschlossen haben. Dieses Gesetz richtet sich nicht nur gegen IS-Kämpfer, sondern wird vor allem türkische, kurdische, palästinensische und libanesische Aktivisten treffen.

Spaltung und Sexismus

Ein Jahr nach dem Mord an Marwa erschien Sarrazins rassistisches und arbeiterfeindliches Propagandawerk »Deutschland schafft sich ab«. Darin behauptet er, sowohl Menschen mit niedrigeren Bildungsabschlüssen oder die von Hartz IV betroffen sind, als auch Muslime im Allgemeinen seien genetisch minderwertig und eine Belastung für die Gesellschaft. Damit brach der ehemalige Finanzsenator Berlins nicht nur das vermeintliche Tabu, endlich wieder offen rassistisch argumentieren zu dürfen. Er lenkte auch davon ab, dass seine Partei, die SPD, mit ihrer Politik eines aggressiven Klassenkampfs von oben (Agenda 2010 etc.) die Hauptlast an der zunehmenden sozialen Polarisierung und der Verelendung von immer größeren Teilen der Arbeiterklasse trug. Seither wurde die »Sarrazin-Debatte« immer wieder mit weiteren Scheindebatten um Armut, Kriminalität und Zuwanderung gemischt. Dabei werden antimuslimische Klischees oft mit anderen rassistischen Stereotypen verknüpft, etwa im Fall der sog. »Clan-Kriminalität« oder der immer wiederkehrenden Antisemitismus-Vorwürfe im Kontext des Palästina-Konflikts.

Im selben Jahr wie Sarrazin veröffentlichte auch Alice Schwarzer ihr Buch »Die große Verschleierung«. In einem zugehörigen Interview bezeichnete sie den islamischen Hijab als »Flagge des Islamismus«. Alex W. dachte genauso wie Schwarzer. Marwa war wegen ihres Kopftuchs als Muslima zu erkennen. Als er sie auf einem Spielplatz als »Islamistin« beschimpfte, zeigten ihn Zeugen an. Wie er in einem Schreiben an das Gericht klarstellte, empfand er es als tiefe Schande, dass er in erster Instanz gegen eine muslimische Frau verloren hatte und zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Der Mord an Marwa wurde aber erst als rassistisch und als Ehrenmord betrachtet, als man Alex W. zu einem »Russlanddeutschen« gemacht und somit aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgesondert hatte. Denn Frauen, vor allem muslimische, können, so wird vermittelt, nur Opfer von »fremdem« Sexismus werden – durch grabschende Nordafrikaner etwa, oder archaische muslimische Väter, Brüder oder Ehemänner.

Die Realität sieht anders aus. Muslimische Frauen sind besonders häufig Opfer rassistischer Übergriffe: von Beschimpfungen, über Anrempeln, Anspucken oder Versuchen, das Kopftuch herunter zu reißen. In den Medien und der Politik sind sie Opfer ihrer Familie, Kultur, Religion etc., und zugleich Täterinnen, weil sie sich angeblich nicht emanzipieren wollen. Besonders perfide sind dabei Forderungen nach Kopftuchverboten, die Rechtskonservative genauso wie bürgerliche »Feministinnen« einfordern. Dabei handelt es sich de facto um Berufsverbote und einen massiven Angriff auf das Recht der Frau, am Arbeits- und damit am sozialen Leben teil zu haben. Statt sie zu »befreien« werden sie in ökonomische Abhängigkeit gedrängt. Zudem sind in erster Linie Frauen Ziel dieser Kampagnen, die in akademischen Berufen arbeiten. Am untersten Ende der Lohnskala dagegen sind Kopftuchträgerinnen gerne gesehen.

Aufstieg der Rechten

In der Politik profitierten von der islamfeindlichen Hetze in den letzten Jahren vor allem die rechtsradikalen Parteien und Organisationen, die den Sprung geschafft und entweder den Antisemitismus weitgehend durch den antimuslimischen Rassismus ersetzt haben oder ihren Antisemitismus ungestört fortsetzen können, weil in der Öffentlichkeit der Fokus auf einen vermeintlich besonders gefährlichen »muslimischen Antisemitismus« gelegt wird, obwohl immer noch neun von zehn antisemitische Übergriffe von rechts Gesinnten verübt werden. Während PEGIDA2 und AfD lange Zeit von der »Lügenpresse« sprachen, taten sie in Wahrheit nichts anderes, als permanent das zu wiederholen, was seit Jahren bei Spiegel, Focus, Stern und Co. zu lesen war. Ihre politischen Forderungen sind meist nur plakative Zuspitzungen dessen, was auch von Politikern aus SPD, Grünen, CDU und CSU längst zu hören ist. Trotzdem schaffen sie es damit, den Kurs der herrschenden Politik weiter nach rechts zu ziehen.

Neben diesem Rechtstrend auf der offiziellen politischen Bühne wurden wir in der letzten Zeit immer wieder Zeugen rassistischen Terrors. Marwa war das erste Todesopfer des explizit antimuslimischen Rassismus in Deutschland. 2015 erschoss in den USA ein Mann gezielt drei junge Muslime, im März diesen Jahres massakrierte ein Attentäter 51 Menschen in zwei Moscheen in Neuseeland und in den letzten Wochen rief eine neofaschistische »Atomwaffendivision« zur Ermordung von Muslimen in Berlin, Frankfurt am Main und Köln auf.

Kampf gegen Rassismus

Als Kommunisten kämpfen wir gegen jede Form von Rassismus und sind grundsätzlich mit allen Betroffenen solidarisch. Für uns ist der Kampf gegen Rassismus immer Teil des Klassenkampfs. Denn, wie schon Malcolm X feststellte, wird es Rassismus geben, solange es den Kapitalismus gibt. Zudem ist die Mehrheit der Muslime in Deutschland Teil der Arbeiterklasse. Darum ist auch jede Attacke gegen das Leben und die Rechte von Muslimen in diesem Land ein Angriff auf unsere gesamte Klasse! Diese Angriffe gilt es entschieden zurück zu schlagen. Grundrechte, also die Errungenschaften vergangener Kämpfe, wie das Recht auf Arbeit, das Selbstbestimmungsrecht der Frau oder die Meinungs- und Glaubensfreiheit, müssen wir ohne Wenn und Aber verteidigen!

Zehn Jahre nach Marwas Tod sind Rassismus, Islamfeindlichkeit und rechter Terror noch allgegenwärtiger als damals. Für uns kann das nur bedeuten, unseren Kampf für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Ausgrenzung, Unterdrückung und Krieg mit allen Mitteln fortzusetzen.

In Gedenken an Marwa El-Sherbini.

Zusammen kämpfen gegen Rassismus und antimuslimische Hetze!
Hoch die internationale Solidarität!

  1. Wie stark die BRD und die anderen EU-Staaten auf die vor allem von Israel und den USA vorangetriebene antiiranische Linie einschwenken, ist von Zeit zu Zeit unterschiedlich. Seit dem 7. Oktober, der Teilnahme der libanesischen Hisbollah und der jemenitischen Ansarallah im Kampf an der Seite Gazas und dem militärischen Schlagabtausch zwischen Israel und Iran im Frühjahr 2024 nahm die antiiranische Hetze in Deutschland wieder enorm zu. ↩︎
  2. PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) war eine neurechte, islamfeindliche Bewegung, die 2014 aufkam und in verschiedenen Städten wie Dresden, Duisburg, Frankfurt am Main und Leipzig zum Teil über Jahre wöchentlich aufmarschierte, um gegen Geflüchtete und Muslime zu hetzen. ↩︎

Aktuelles

Deutschland in der Zeitenwende: droht ein neuer Faschismus?

Die Ukraine und Israel als Vorbild, Notstandsgesetze und Berufsverbote für eine wehrhafte Demokratie, Wehrpflicht und Kriegswirtschaft gegen Russland. Deutschlands Weg in einen offenen Krieg gegen Russland, das politische Projekt „Zeitenwende“, schafft klare Tatsachen.

Gemeinsam in die Gegenoffensive: Das Komitee gegen das PSDU-Verbot braucht unsere Solidarität!

Das neugegründete Komitee gegen das Verbot von Palästina Solidarität Duisburg (PSDU) unterstützt den Kampf der ehemaligen Mitglieder von PSDU, die sich mit juristischen Mitteln gegen das Vereinsverbot sowie weitere Repressalien zur Wehr setzen. Dieser politische Kampf ist nicht nur einer für die Rechte der unmittelbar von dem Verbot und der Schikane Betroffenen. Es ist ein Kampf für die gesamte Palästinasolidaritätsbewegung und zur Verteidigung unser aller Grundrechte! Solidarität ist unsere wichtigste Waffe. Daher sind wir alle gefragt! Verschaffen wir diesem Kampf Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit: Ladet die Genossen für Vorträge ein, thematisiert das Verbot und den Kampf dagegen und verbreitet die Statements und Erklärungen des Komitees!