Der folgende Text des aus Martinique stammenden und später am algerischen Befreiungskrieg teilnehmenden Marxisten und antikolonialen Theoretikers Frantz Fanon stammt aus dem Jahr 1957. Er erschien als dreiteilige Artikelreihe inmitten der Hochphase des Befreiungskriegs in der Zeitung El Moudjahid, dem Organ der Nationalen Befreiungsfront (FLN) Algeriens.
Der Text ist nicht nur ein spannendes historisches Dokument und ein wichtiger theoretischer Beitrag in der weltweiten kommunistischen und antiimperialistischen Debatte um Kolonialismus, nationale Befreiung und internationale Solidarität. Er ist auch deshalb hochaktuell, weil er sehr spannende Parallelelen zur heutigen Auseinandersetzung um Palästina aufweist: Wir empfehlen allen Lesern, in diesem Text einmal das Wort „Algerien“ durch „Palästina“ und das Wort „französisch“ in Bezug auf die Siedler durch „europäisch“ oder „zionistisch“ und in Bezug auf die politische Linke durch „deutsch“ zu ersetzen.
Algerien war seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1964 eine Siedlerkolonie, ähnlich dem zionistisch besetzten Palästina heute. Die Algerier leisteten dem französischen Kolonialismus erbittert Widerstand, genau wie die Palästinenser es gegen die Briten und die Zionisten spätestens ab 1920 taten. 1954 erhob sich das algerische Volk zu einem Befreiungskrieg, den es nach acht Jahren erbitterten Kampfes und großer Opfer schließlich gewann. Wie Israel heute griff das französische Siedler- und Kolonialregime damals zu äußerster Gewalt, zu flächendeckendem Terror und letztlich zu genozidaler Kriegsführung: Unter Einsatz der Luftwaffe, durch Aushungern und Masseninternierungen der algerischen Bevölkerung in Lager, mit Folter und Mord, unter Verletzung internationalen Rechts inklusive militärischer Angriffe auf Algeriens Nachbarländer sowie mittels faschistischer Terrororganisationen versuchten sie, den heldenhaften Freiheitskampf der Algerier in Blut zu ertränken. Letztlich erfolglos.
Im Fokus dieses Textes steht zwar nicht die Kolonialherrschaft über Algerien. Doch spricht Fanon hier einige elementare Wahrheiten über den Charakter des Siedlerkolonialismus und über die objektive Rolle der europäischen Siedler in den Kolonien aus, die so klar nur selten formuliert werden.
Auch seine damalige Kritik an der (nicht-kommunistischen) Linken in Frankreich passt sehr gut in die heutige Zeit, denn sie trifft in weiten Teilen auch auf die politische Linke in Deutschland heute zu: Fanon wirft den sich als progressiv verstehenden Kräften in der imperialistischen Metropole vor, ihre – in der Praxis extrem schwache und in ihren Auswirkungen kaum zu spürende – Solidarität auch noch an Bedingungen zu knüpfen, die für das algerische Volk nicht annehmbar sind: nämlich in diesem verzweifelten Kampf unter allen Umständen eine „weiße Weste“ zu waren.
Fanons Kritik am liberalen Antirassismus, der den Rassismus wie auch den (vermeintlichen) Kampf gegen ihn auf eine individuelle Ebene verschiebt, passt sehr gut in die heutige Zeit, in der es mehr um Befindlichkeiten, Identität, Privilegien und Selbstreflexion zu gehen scheint, als um Unterdrückung, Ausbeutung und Widerstand geht. Auch seine Definition von Kolonialismus ist – gerade angesichts seines beruflichen Hintergrunds und seiner Rezeption als Theoretiker der „Psychologie des Rassismus“ – erstaunlich simpel und sehr klar auf die Machtfrage ausgerichtet: Kolonialismus ist im Kern militärische Besatzung.
Fanons Kritik an der kommunistischen Bewegung wiederum, die von den Algeriern quasi ein Versprechen einforderte, dass ihr Land sich nach der nationalen Befreiung am sozialistischen Lager zu orientieren habe, erinnert – trotz der unterschiedlichen weltpolitischen Umstände – an die Vorbehalte von noch immer großen Teilen der sich als kommunistisch verstehenden Akteure in Deutschland, die dem palästinensischen Widerstand bzw. seinen stärksten Kräften „Islamismus“, „Nationalismus“ oder gar „Faschismus“ sowie seine Verbindungen zu (vermeintlich oder tatsächlich) reaktionären und pro-imperialistischen Regierungen in der Region vorwerfen.
Wir haben den Text unter Berücksichtigung des französischen Originals aus dem Englischen übersetzt.[1] Alle Fußnoten enthalten Erläuterungen der KO und gehören nicht zum Originaltext.
Die französischen Intellektuellen und Demokraten und die algerische Revolution
Eine der ersten Pflichten von Intellektuellen und demokratischen Elementen in kolonialistischen Ländern besteht darin, die nationalen Bestrebungen der kolonisierten Völker vorbehaltlos zu unterstützen. Diese Haltung beruht auf sehr wichtigen theoretischen Überlegungen: der Verteidigung eines Menschenbildes, das in den westlichen Ländern in Frage gestellt wird, der Weigerung, sich institutionell an der Erniedrigung und Negierung bestimmter Werte zu beteiligen, der gemeinsamen Interessen zwischen der Arbeiterklasse des Eroberungslandes und der Gesamtbevölkerung des eroberten und beherrschten Landes und schließlich dem Gefühl, dass die Regierung dazu gebracht werden muss, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu respektieren.
Diese Unterstützung und Solidarität finden ihren Ausdruck vor der Zeit des bewaffneten Kampfes in der Abhaltung einiger Versammlungen und der Annahme von Anträgen. Manchmal, wenn es plötzlich zu einer sehr heftigen Repression kommt, die offensichtlich ein Vorbote einer gründlicheren, umfassenderen Repression ist (im Fall von Algerien die Wahl von M. Naegelen und die Verschwörung von 1950-1951),[2] werden eine Pressekampagne, Erklärungen, Warnungen und Appelle vorbereitet.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass kein einziger Aufklärungsversuch auf der Ebene der Bevölkerung des kolonialisierten Landes unternommen wird. Da sie keinen Einfluss auf das Volk hat, überzeugt sich die demokratische Linke, selbstreferentiell, in endlosen Artikeln und Studien davon, dass Bandung[3] die Totenglocke des Kolonialismus geläutet hat.
Aber es sind die wirklichen Menschen, die Bauern und Arbeiter, die informiert werden müssen. Unfähig, die Millionen Arbeiter und Bauern des kolonialistischen Volkes zu erreichen und die Realitäten des beginnenden Dramas zu erklären und zu kommentieren, sieht sich die Linke auf die Rolle einer Kassandra[4] reduziert. Sie kündigt Katastrophen an, aber da die öffentliche Meinung nicht ausreichend vorbereitet ist, werden diese Prophezeiungen, die in der Zeit vor dem Aufstand unerklärlich waren, zum Zeitpunkt der Explosion als Beweis der Mittäterschaft angesehen.
Eine schmerzhafte Ineffektivität
So wurde im besonderen Fall Algeriens die Linke paradoxerweise überrumpelt und erwies sich als hilflos, als nach der akuten voraufständischen Phase (1952–1953) die bewaffnete Phase (Sabotageakte, Razzien) begann.
Die französischen demokratischen Elemente und Intellektuellen sind mit dem Problem vertraut. Sie haben es aus nächster Nähe gesehen und lange studiert und kennen daher seine Komplexität, seine Tiefe und seine Spannung. Aber all dieses Wissen erweist sich als nutzlos, weil es in keinem Verhältnis zu den einfachen Ideen steht, die im Volk vorherrschen.
Mit diesem unbrauchbaren Wissen im Gepäck genießt die Linke den Status eines Propheten. Seit langem wiederholt sie an die Regierenden gerichtet immer wieder: „Ihr wart vorgewarnt. All das geschieht nur durch eure Schuld.“
In dieser sprudelnden Phase der Ausrichtung der Kräfte und Organisation des bewaffneten Kampfes des kolonisierten Volkes erleben wir teilweise eine Kommunikation zwischen dem aufständischen Volk und den demokratischen Elementen. Dies liegt daran, dass die Intellektuellen und die Demokraten die gegenwärtigen Führer des bewaffneten Kampfes sehr oft persönlich kennen. So entwickelt sich zwischen ihnen eine Art scheinbarer Komplizenschaft. Aber diese aktive Pseudosolidarität wird sehr schnell von den Ereignissen hinweggefegt. Im Laufe der zweiten Periode, die von Gefechten, Hinterhalten und Angriffen geprägt ist, neigt die Schuld, die man so großzügig auf die offiziellen Verantwortlichen geschoben hat, tatsächlich dazu, verlagert zu werden. Die Unterdrückung wird tiefer, organisierter, vielfältiger. Folterkammern entstehen. Über das gesamte algerische Staatsgebiet werden Dutzende und Hunderte Patrioten ermordet.
Das echte Volk, die Männer und Frauen, die Kinder und die Alten des kolonisierten Landes, halten es für selbstverständlich, dass Existenz im biologischen Sinne des Wortes und Existenz als souveränes Volk gleichbedeutend sind. Die einzige Möglichkeit, die einzige Rettung für dieses Volk besteht darin, so energisch wie möglich auf die genozidale Kampagne zu reagieren, die gegen es geführt wird.
Die Reaktion wird zunehmend absoluter.
Nationalismus und „Barbarei“
Hier stoßen wir auf ein doppeltes Phänomen. Zunächst führt eine ultrachauvinistische, nationalistische, patriotische Propaganda, die die impliziten rassistischen Elemente des kollektiven Bewusstseins der kolonialistischen Bevölkerung mobilisiert, ein neues Element ein. Es wird sofort klar, dass es nicht mehr möglich ist, die Kolonisierten zu unterstützen, ohne sich gleichzeitig der nationalen Linie zu widersetzen. Der Kampf gegen den Kolonialismus wird zu einem Kampf gegen die Nation. Der Rückeroberungskrieg wird vom kolonialistischen Land als Ganzem übernommen, und antikolonialistische Argumente verlieren ihre Wirksamkeit, werden zu abstrakten Theorien und verschwinden schließlich aus der demokratischen Literatur.
Im Falle Algeriens übernahm die französische Nation nach der Einberufung der Truppen im März 1955 den kolonialen Rückeroberungskrieg. Die Demonstrationen der Wehrpflichtigen waren zu diesem Zeitpunkt die letzten Symptome eines Krieges, dessen doktrinäre Motive keine Unterstützung in der Bevölkerung fanden.
Ab 1956 wurde der Algerienkrieg von der Nation akzeptiert. Frankreich will den Krieg, wie Guy Mollet[5] und Bourgès-Maunoury[6] ausdrücklich erklärt haben; und die Bevölkerung von Paris übermittelte Massus[7] Fallschirmspringern am 14. Juli 1957 die tiefe Dankbarkeit des Landes. Die Liberalen gaben den Kampf in diesem Stadium auf. Der Vorwurf des Verrats, dem sich die Gegner des Algerienkriegs aussetzten, wurde zu einer gewaltigen Waffe in den Händen der französischen Regierung. So stellten viele Demokraten Anfang 1957 ihre Proteste ein oder wurden von dem Geschrei nach Rache überwältigt, und ein schwerfällig strukturierter elementarer Patriotismus manifestierte sich, durchdrungen von gewalttätigem, totalitärem, kurz gesagt faschistischem Rassismus.
Die französische Regierung fand ihr zweites Argument im sogenannten Terrorismus. Die Bomben in Algier wurden vom Propagandadienst ausgenutzt. Unschuldige, verletzte Kinder, die nicht den Namen Borgeaud[8] trugen oder der klassischen Definition des „grausamen Kolonialisten“ entsprachen, bereiteten den französischen Demokraten unerwartete Probleme. Die Linke war schockiert; Sakamody[9] verstärkte diese Reaktion noch. In diesem Fall wurden zehn französische Zivilisten bei einem Hinterhalt getötet, und die gesamte französische Linke schrie einstimmig: Wir können euch nicht länger folgen! Die Propaganda wurde orchestriert, bohrte sich in die Köpfe der Menschen und zerstörte Überzeugungen, die bereits im Zerfall begriffen waren. Der Begriff der Barbarei tauchte auf, und man beschloss, dass Frankreich in Algerien die Barbarei bekämpfte.
Ein großer Teil der Intellektuellen, fast die gesamte demokratische Linke, brach zusammen und legte dem algerischen Volk seine Bedingungen vor: Verurteilen Sie Sakamody und die Bomben, und wir werden Ihnen weiterhin unsere freundliche Unterstützung gewähren.
Zu Beginn des vierten Jahres des nationalen Befreiungskrieges fiel die französische Linke angesichts der französischen Nation und der in der Rue Michelet[10] explodierten Bomben immer deutlicher durch ihre Abwesenheit auf.
Einige flüchteten sich ins Schweigen, andere wählten bestimmte Themen, die in regelmäßigen Abständen wieder auftauchen. Der Algerienkrieg muss beendet werden, denn er ist zu kostspielig (der Algerienkrieg wird wieder unpopulär, einfach weil er 1.200 Milliarden Francs kostet), er isoliert Frankreich oder ermöglicht dessen Ersetzung durch die Angelsachsen oder die Russen oder durch Nasser usw.
In Frankreich wird immer unklarer, warum der Algerienkrieg beendet werden muss. Man vergisst immer mehr, dass Frankreich in Algerien die Volkssouveränität mit Füßen tritt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker missachtet und Tausende von Männern und Frauen ermordet.
In Frankreich tendiert der Algerienkrieg bei den Linken dazu, zu einer Krankheit des französischen Systems zu werden, so wie die Instabilität der Ministerien. Die Kolonialkriege erscheinen als ein Nervenzucken, von dem Frankreich heimgesucht wird, ein Teil des nationalen Panoramas, ein vertrautes Detail.
Teil II
Seit 1956 haben sich französische Intellektuelle und Demokraten regelmäßig an die FLN[11] gewandt. Meistens haben sie entweder politische Ratschläge oder Kritik zu diesem oder jenem Aspekt des Befreiungskrieges gegeben. Diese Haltung der französischen Intelligenz darf nicht als Folge einer inneren Solidarität mit dem algerischen Volk interpretiert werden. Diese Ratschläge und diese Kritik sind mit dem schlecht unterdrückten Wunsch zu erklären, die Befreiungsbewegung der Unterdrückten selbst zu lenken.
So erklärt sich das ständige Schwanken der französischen Demokraten zwischen offenkundiger oder latenter Feindseligkeit und dem völlig unrealistischen Anspruch, „aktiv bis zum Ende“ zu kämpfen. Eine solche Verwirrung deutet auf einen Mangel an Vorbereitung auf konkrete Probleme und auf ein Versagen der französischen Demokraten hin, sich in das politische Leben ihres eigenen Landes einzuarbeiten.
Entlang dieser schwankenden Linie äußern die französischen Demokraten – die außerhalb des Kampfes stehen oder aber ihn von innen beobachten wollen, ja sogar in der Funktion von Zensoren und Beratern daran teilnehmen, da sie nicht in der Lage sind oder sich weigern, innerhalb des französischen Systems konkrete Grundlagen für ihren Kampf auszuwählen – Drohungen und praktizieren Erpressungen.
Die Pseudorechtfertigung für diese Haltung ist, dass man, um Einfluss auf die französische öffentliche Meinung zu nehmen, bestimmte Tatsachen verurteilen, unerwartete Auswüchse zurückweisen und sich von „Exzessen“ distanzieren müsse. In diesen Momenten der Krise, der direkten Opposition, wird von der FLN verlangt, ihre Gewalt gezielt einzusetzen und selektiv zu gestalten.
Der Mythos des französischen Algerien
Auf dieser Ebene können wir durch Reflexion eine wichtige Besonderheit der kolonialen Realität in Algerien entdecken. Innerhalb einer Nation ist es üblich und alltäglich, zwei antagonistische Kräfte zu identifizieren: die Arbeiterklasse und den bürgerlichen Kapitalismus. In einem Kolonialland erweist sich diese Unterscheidung als völlig unzureichend. Was die koloniale Situation definiert, ist vielmehr der undifferenzierte Charakter der Fremdherrschaft. Die koloniale Situation ist in erster Linie eine militärische Eroberung, die von einer Zivil- und Polizeiverwaltung fortgesetzt und verstärkt wird. In Algerien, wie in jeder Kolonie, betrachtet der ausländische Unterdrücker den Einheimischen als Markierung der Grenze seiner Würde und definiert sich selbst als eine unumstößliche Negierung der nationalen Existenz des kolonisierten Landes.
Der Status des Ausländers, des Eroberers, des Franzosen in Algerien ist der Status eines Unterdrückers. Der Franzose in Algerien kann nicht neutral oder unschuldig sein. Jeder Franzose in Algerien unterdrückt, verachtet, dominiert. Die französische Linke, die ihren eigenen Fantasievorstellungen gegenüber nicht gleichgültig und unempfindlich bleiben kann, nahm in der Zeit vor dem Befreiungskrieg in Algerien widersprüchliche Positionen ein.
Was ist Kolonialismus?
Die französischen Demokraten haben die Tatsachen bewusst vereinfacht, indem sie beschlossen, dem, was nie aufgehört hat, militärische Eroberung und Besatzung zu sein, den Namen „Kolonialismus“ zu geben. Der vom Unterdrücker geschaffene Begriff des Kolonialismus ist zu affektiv, zu emotional. Er verlagert ein nationales Problem auf eine psychologische Ebene. Aus diesem Grund ist das Gegenteil des Kolonialismus nach Auffassung dieser Demokraten nicht die Anerkennung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung, sondern die Notwendigkeit eines weniger rassistischen, offeneren und liberaleren Verhaltens auf individueller Ebene.
Kolonialismus ist keine Form individueller Beziehungen, sondern die Eroberung eines nationalen Territoriums und die Unterdrückung eines Volkes: das ist alles. Es ist keine bestimmte Art menschlichen Verhaltens oder ein Muster von Beziehungen zwischen Individuen. Jeder Franzose in Algerien ist gegenwärtig ein feindlicher Soldat. Solange Algerien nicht unabhängig ist, muss diese logische Konsequenz akzeptiert werden. Herr Lacoste[12] zeigt, dass er dies verstanden hat, durch seine „Oberflächenmobilisierung“ der in Algerien lebenden Franzosen und Französinnen.
Am Ende dieser Analyse stellen wir fest, dass wir der Nationalen Befreiungsfront keineswegs einige ihrer Aktionen in den Städten[13] vorwerfen sollten. Vielmehr sollten wir die Anstrengungen würdigen, die sie dem Volk auferlegt.
Gerade weil die französischen Demokraten nicht begriffen haben, dass Kolonialismus nichts weiter als militärische Beherrschung ist, haben sie ein widersprüchliches Extrem erreicht.
Als Opfer des Mythos des französischen Algeriens[14] gründen die Parteien der Linken auf algerischem Territorium algerische Sektionen der französischen politischen Parteien. Die Slogans, die Programme, die Kampfmethoden sind identisch mit denen der „Metropole“. Eine bis vor kurzem unangefochtene doktrinäre Position rechtfertigt diese Haltung. In einem Kolonialland, so hieß es früher, gibt es gemeinsame Interessen zwischen dem kolonisierten Volk und der Arbeiterklasse des kolonialisierten Landes. Die Geschichte der Befreiungskriege der kolonisierten Völker ist die Geschichte der Nichtbestätigung dieser These.
Kolonialismus ist nicht Herr Borgeaud
Das algerische Volk hat sich als widerstandsfähig gegenüber der vereinfachten Bildsprache erwiesen, wonach der Kolonialist ein besonderer Menschentyp ist, den man leicht erkennen kann. So wurde behauptet, dass nicht alle Franzosen in Algerien Kolonialisten sind und dass es unterschiedliche Grade des Kolonialismus gibt. Nun charakterisieren weder Herr Borgeaud noch Herr de Sérigny[15] den französischen Kolonialismus in Algerien in seiner Gesamtheit. Der französische Kolonialismus und die französische Unterdrückung in Algerien bilden ein zusammenhängendes Ganzes, das nicht unbedingt die Existenz von Herrn Borgeaud erfordert. Die französische Herrschaft ist die Gesamtheit der Kräfte, die sich der Existenz der algerischen Nation entgegenstellen, und für die Algerier ist Herr Blachette[16] konkret nicht „kolonialistischer“ als ein Polizist, ein Dorfpolizist oder ein Schullehrer.
Der Algerier erlebt den französischen Kolonialismus als ein undifferenziertes Ganzes, nicht aus Einfältigkeit oder Fremdenfeindlichkeit, sondern weil in Wirklichkeit jeder Franzose in Algerien Beziehungen zu den Algeriern unterhält, die auf Gewalt basieren. Die Erwähnung von Sonderfällen, in denen Franzosen ungewöhnlich nett zu Algeriern sind, ändert nichts an der Art der Beziehungen zwischen einer ausländischen Gruppe, die die Attribute der nationalen Souveränität an sich gerissen hat, und dem Volk, das sich der Ausübung der Macht beraubt sieht. Keine persönliche Beziehung kann diesem grundlegenden Fakt widersprechen: dass die französische Nation durch ihre Bürger die Existenz der algerischen Nation bekämpft.
In Kolonien, die ausschließlich von Besatzungstruppen gehalten werden, wird das Kolonialvolk nur durch Soldaten, Polizisten und Techniker vertreten. Unter diesen Bedingungen kann sich das Kolonialvolk in Unkenntnis der Tatsachen flüchten und behaupten, unschuldig an der Kolonisierung zu sein. In Siedlungskolonien hingegen wird diese Flucht vor sich selbst unmöglich.
Denn gemäß der berühmten Formel eines französischen Staatschefs „gibt es keinen einzigen Franzosen, der nicht einen Cousin in Algerien hat“, sieht sich die gesamte französische Nation in das Verbrechen gegen ein Volk verwickelt und ist heute Komplize der Morde und Folterungen, die den Algerienkrieg kennzeichnen.
Der authentische französische Demokrat kann nicht einfach gegen Herrn Borgeaud oder Herrn Blachette sein; er muss es vermeiden, willkürlich ein paar Sündenböcke zu wählen, die nicht in der Lage sind, die 130 Jahre kolonialer Unterdrückung auszudrücken. Der französische Demokrat muss die Kolonisierung als Ganzes in ihrer Kategorie der militärischen und polizeilichen Unterdrückung beurteilen und verurteilen. Er muss sich davon überzeugen, dass jeder Franzose in Algerien so reagiert, wie Herr Borgeaud. Denn es gibt keinen Franzosen in Algerien, dessen Existenz nicht durch diese Herrschaft gerechtfertigt wäre.
Da der französische Demokrat aus Mangel an Mut oder aus Analyseunfähigkeit diese Haltung nicht einnehmen kann, greift er ständig auf Abstraktionen als Bezugspunkte zurück: Der Kolonialismus im Allgemeinen stirbt aus, der Kolonialismus ist unmenschlich, Frankreich muss seiner Geschichte treu bleiben. Dabei vergisst er bewusst, dass der Kolonialismus einen wichtigen Teil der französischen Geschichte ausmacht.
Kolonialismus ist die Organisierung der Beherrschung einer Nation nach militärischer Eroberung. Der Befreiungskrieg ist kein Versuch von Reformen, sondern die grandiose Anstrengung eines Volkes, das mumifiziert wurde, sein eigenes Genie wiederzuentdecken, seine Geschichte neu aufzunehmen und seine Souveränität geltend zu machen.
Im Rahmen der NATO weigern sich die Franzosen, unter dem Befehl des deutschen Generals Speidel[17] zu dienen, sind aber bereit, gegen das algerische Volk zu kämpfen. Doch streng genommen sollte die Treue zum Geist der französischen Résistance die Franzosen, die den Dienst unter Speidel als geschmacklos empfinden, dazu bewegen, nach ihrer eigenen Logik den Kampf unter Massu oder Salan[18] zu verweigern.
Teil III
Die Männer, die Frankreich regieren, haben offensichtlich recht, wenn sie behaupten, dass das Algerienproblem die Grundfesten der Republik erschüttert. Seit einigen Jahren wird der Mythos des französischen Algeriens auf eine harte Probe gestellt, und in das französische Bewusstsein hat sich eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Wahrheit dieser These eingeschlichen.
Auf internationaler Ebene sind die Auswirkungen dieser Zerstörung spürbar. Diese Fortschritte haben jedoch das Problem der Mystifizierung, die durch Jahrzehnte falscher Lehren und systematischer Geschichtsfälschung entstanden ist, nicht völlig gelöst.
Der Preis der Mystifizierung
Bei genauerer Betrachtung der kolonialen Beziehungen zwischen Algerien und Frankreich fällt auf, dass das algerische Territorium aufgrund der Bedingungen seiner Eroberung für Frankreich immer eine mehr oder weniger reale Vergrößerung darstellte. Zu keiner Zeit hat Frankreich seine Eigentumsrechte an Afrika südlich der Sahara oder an irgendeinem anderen Teil des „Französischen Imperiums“ in identischer Form erklärt. Afrika südlich der Sahara mag als französisches Territorium deklariert worden sein, aber nie wurde entschieden, dass Afrika südlich der Sahara Frankreich sei.
Frankreichs Recht in Afrika basierte eher auf einem Eigentumsrecht, während in Algerien von Anfang an Identitätsbeziehungen bekräftigt wurden. Wir haben gesehen, dass die französischen Demokraten, mit wenigen Ausnahmen, ihre Haltung dieser Ansicht angepasst haben. Französische politische Parteien haben die Notwendigkeit, die sie gefühlt haben, dieser Mystifizierung Gehorsam leisten, nicht verborgen. In einer Rede vor den kommunistischen Studenten am 17. März 1957 in Paris rechtfertigte sich Laurent Casanova[19] als Antwort auf die Kritik der kommunistischen Jugend an ihm hinsichtlich der Haltung der französischen Kommunistischen Partei in Bezug auf das Algerienproblem damit, dass er sie aufforderte, „die spontane Haltung der französischen Volksmassen zu dieser Frage“ zu berücksichtigen.
Da das französische Nationalbewusstsein 130 Jahre lang von einem einfachen Grundprinzip geprägt war – Algerien ist Frankreich –, sehen wir uns heute mit instinktiven, leidenschaftlichen und antihistorischen Reaktionen konfrontiert, zu einem Zeitpunkt, zu dem ein großer Teil der französischen Bevölkerung rational erkennt, dass ihrem Interesse am besten durch die Beendigung des Krieges und die Anerkennung eines unabhängigen algerischen Staates gedient wird.
Nie zuvor war der Grundsatz, dass niemand einen anderen ungestraft versklavt, so wahr. Nachdem Frankreich das algerische Volk über ein Jahrhundert lang domestiziert hat, ist es nun Gefangener seiner Eroberung und unfähig, sich davon zu lösen, neue Beziehungen zu definieren und neue Wege einzuschlagen.
Ein abscheulicher Kuhhandel
Es wäre jedoch ein großer Fehler zu glauben, das Problem sei mit diesen psychologischen Überlegungen erledigt. Die Begegnungen mit den Vertretern der französischen Linken bringen viel komplexere Bedenken zum Vorschein. So stehen wir gerade in der Frage der Zukunft des unabhängigen Algeriens vor zwei widersprüchlichen Forderungen, die übrigens auf einer höheren Ebene der manichäischen Vorstellung von Gut und Böse entsprechen, die seit einigen Jahren die Welt spaltet.
Die nicht-kommunistische Linke versichert uns ihre Unterstützung, verspricht, in unserem Namen zu handeln, verlangt aber von uns die Garantie, dass Algerien niemals in den kommunistischen Block oder in den sogenannten neutralen Block[20] fallen wird. Der Antikolonialismus dieser Demokraten ist daher nicht vorbehaltlos und bedingungslos, sondern setzt eine präzise politische Entscheidung voraus. An Argumenten mangelt es ihnen freilich nicht. Der Austausch des französischen Kolonialismus gegen den roten oder gegen den nasseristischen „Kolonialismus“ erscheint ihnen als eine negative Entwicklung, denn, so behaupten sie, in der gegenwärtigen historischen Stunde großer Zusammenschlüsse sei eine Ausrichtung zwingend, und ihr Rat ist nicht verschleiert: man müsse sich für den westlichen Block entscheiden.
Diese nicht-kommunistische Linke ist im Allgemeinen zurückhaltend, wenn wir ihr erklären, dass das algerische Volk sich zunächst vom französischen Kolonialjoch befreien muss. Die französische nicht-kommunistische Linke weigert sich, sich auf die strikte Grundlage der Entkolonialisierung und der nationalen Befreiung zu beschränken, und fleht uns an, die beiden Bemühungen zu kombinieren: die Ablehnung des französischen Kolonialismus und des sowjetisch-neutralen Kommunismus.
Dasselbe Problem, einer entgegengesetzten Dynamik folgend, entsteht bei der französischen kommunistischen Linken. Die französische Kommunistische Partei, so sagt sie, könne nur bestimmte nationale Befreiungsbewegungen unterstützen, denn welchen Vorteil hätte es für uns französische Kommunisten, wenn der amerikanische Imperialismus Algerien übernehmen würde? Auch hier werden von uns Garantien verlangt. Wir werden unter Druck gesetzt, Versprechen und Zusicherungen abzugeben.
Es ist offensichtlich, dass solche Schwierigkeiten die antikolonialistische Aktion der französischen Linken behindern. Das liegt daran, dass das noch nicht unabhängige Algerien bereits zu einem Zankapfel auf internationaler Ebene geworden ist. Für wen soll Algerien denn befreit werden? Seit drei Jahren wiederholt das algerische Volk unaufhörlich, dass es sich um seiner selbst willen befreien wolle, dass es ihm vor allem wichtig sei, seine Souveränität zurückzugewinnen, seine Autorität zu etablieren, seine Humanisierung, seine wirtschaftliche und politische Freiheit zu erreichen; aber diese offensichtlichen Ziele scheinen keine Akzeptanz zu finden.
Das algerische Volk erlebt seine Geburt in die Unabhängigkeit inmitten furchtbaren Leidens und schon jetzt wird mit ungewohnter Aggressivität um die kleinste Unterstützung gefeilscht. So hört man nicht selten, wie gewisse demokratische Franzosen zu uns sagen: Helft uns, euch zu helfen. Was klar bedeutet: Gebt uns eine Vorstellung davon, welche Richtung ihr danach einschlagen wollt.
Dieser Aufruf, der immer auf individueller Ebene zwischen Franzosen und Algeriern ausgesprochen wird, stellt sicherlich einen der schmerzhaftesten Aspekte des Kampfes um die Unabhängigkeit dar. Manche französischen Demokraten sind manchmal schockiert über die Ernsthaftigkeit des algerischen Kämpfers. Das liegt daran, dass der Gesamtcharakter des Krieges, den wir führen, Auswirkungen auf die nicht weniger radikale Art und Weise hat, in der wir individuelle Auseinandersetzungen führen. Und wir müssen zugeben, dass es uns unerträglich ist zu sehen, wie einige Franzosen, die wir für unsere Freunde hielten, sich uns gegenüber wie Händler verhalten und diese abscheuliche Art der Erpressung mit Solidarität praktizieren, die mit grundlegenden Einschränkungen unserer Ziele einhergeht.
Eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit
Wenn wir die Haltung der französischen Linken in Hinblick auf die Ziele unseres Kampfes untersuchen, stellen wir fest, dass keine Fraktion die Möglichkeit einer wirklichen nationalen Befreiung zugibt.
Die nicht-kommunistische Linke räumt ein, dass der Kolonialstatus verschwinden muss. Aber zwischen der Auflösung des Kolonialregimes – das sie auf ein Regime der Bevorzugung reduzieren, innerhalb dessen ein Kastenkampf[21] herrscht – und der Anerkennung einer algerischen Nation, die unabhängig von Frankreich ist, hat diese Linke eine Vielzahl von Etappen, Unteretappen, originellen Lösungen und Kompromissen eingefügt.
Es ist klar, dass für diesen Teil der Linken das Ende des Algerienkriegs eine Art internationalen Föderalismus und eine erneuerte Französische Union[22] mit sich bringen muss. Unsere Meinungsverschiedenheit mit dieser französischen Meinung ist daher weder psychologischer noch taktischer Natur, wie manche behaupten. Die Linksradikalen, die Minderheitssozialisten und der linke Flügel der MRP[23] haben die Idee einer algerischen Unabhängigkeit nicht akzeptiert. Positionen, die mit der Formel beginnen: „Wir stimmen im Wesentlichen überein, aber nicht in den Methoden …“ sind daher grundlegend falsch.
Die kommunistische Linke ihrerseits, die die Notwendigkeit der Entwicklung der Kolonialländer hin zur Unabhängigkeit proklamiert, fordert die Aufrechterhaltung besonderer Beziehungen zu Frankreich. Solche Positionen zeigen deutlich, dass selbst die sogenannten extremistischen Parteien der Ansicht sind, dass Frankreich Rechte in Algerien hat und dass die Lockerung der Herrschaft nicht notwendigerweise das Verschwinden aller Verbindungen bedeutet. Diese Geisteshaltung nimmt die Gestalt eines technokratischen Paternalismus an, einer unaufrichtigen Warnung vor der Gefahr des Rückschritts.
Es wird argumentiert: Was werden Sie tun, nachdem Sie alle Verbindungen zu Frankreich abgebrochen haben?
Man braucht Techniker, Geld, Maschinen…
Nicht einmal die katastrophale Aussicht auf ein Algerien, das von Wüste verschlungen, von Sümpfen durchzogen und von Krankheiten heimgesucht wird, bleibt uns in der Kampagne, die uns stoppen soll, erspart.
Die Kolonialisten erzählen dem französischen Volk in ihrer Propaganda: Frankreich kann ohne Algerien nicht leben.
Die französischen Antikolonialisten sagen den Algeriern: Algerien kann ohne Frankreich nicht leben.
Die französischen Demokraten sind sich des kolonialistischen oder – um einen neuen Begriff zu verwenden – neokolonialistischen Charakters ihrer Haltung nicht immer bewusst.
Die Forderung nach besonderen Beziehungen zu Frankreich ist eine Reaktion auf den Wunsch, die kolonialen Strukturen intakt zu halten. Es handelt sich hierbei um eine Art Terrorismus des Notwendigen, bei dem entschieden wird, dass nichts, was in Algerien von Wert ist, außerhalb Frankreichs konzipiert oder realisiert werden kann. In der Tat führt die Forderung nach besonderen Bindungen zu Frankreich zu dem Willen, Algerien auf ewig auf der Stufe eines unmündigen und geschützten Staates zu halten. Aber auch auf die Entschlossenheit, bestimmte Formen der Ausbeutung des algerischen Volkes zu garantieren. Es ist zweifellos ein Beweis für ein schwerwiegendes Scheitern, die revolutionären Implikationen des nationalen Kampfes zu verstehen.
Ist es zu spät?
Die französischen Demokraten müssen die Widersprüche überwinden, die ihre Positionen sterilisieren, wenn sie eine echte Demokratisierung mit den Kolonialisten erreichen wollen. Nur wenn die französische demokratische Meinung ohne Vorbehalte ist, kann ihr Handeln wirksam und entscheidend sein.
Weil die Linke unbewusst dem Mythos des französischen Algeriens folgt, geht ihr Handeln nicht über die Hoffnung auf ein Algerien hinaus, in dem mehr Gerechtigkeit und Freiheit herrschen würde, oder höchstens ein Algerien, das weniger direkt von Frankreich regiert wird. Der leidenschaftliche Chauvinismus der französischen öffentlichen Meinung in der Algerienfrage übt Druck auf diese Linke aus, lässt sie zu übertriebener Vorsicht neigen, erschüttert ihre Prinzipien und versetzt sie in eine paradoxe und zunehmend unproduktive Lage.
Das algerische Volk ist der Ansicht, dass die französische Linke im Rahmen des Algerienkriegs nicht alles getan hat, was sie hätte tun sollen. Es geht uns nicht darum, die französischen Demokraten anzuklagen, sondern ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Haltungen zu lenken, die unserer Meinung nach den Prinzipien des Antikolonialismus widersprechen.
Es ist vielleicht angebracht, die Haltung der Sozialistischen Internationale zu dieser Frage in Erinnerung zu rufen. Niemand hat vergessen, dass die französische Delegation unter der Leitung von Herrn Pineau[24] 1956 von der Internationale verurteilt wurde und dass Herr Bevan[25] 1957 auf dem Sozialistischen Kongress von Toulouse öffentlich seine Enttäuschung und seinen Zorn über den Rassismus und Kolonialismus der SFIO[26] zum Ausdruck brachte.
Seit 1954 kämpft das algerische Volk für die nationale Unabhängigkeit. Es geht um ein vor über einem Jahrhundert erobertes Gebiet, das seinen Willen zum Ausdruck bringt, sich als souveräne Nation zu etablieren. Die französische Linke sollte diese Bemühungen vorbehaltlos unterstützen. Weder die Anwesenheit einer europäischen Minderheit noch Sakamody können oder sollten die Entschlossenheit einer authentischen Linken beeinträchtigen. Wir haben gesehen, dass die Propaganda von Herrn Lacoste immer wieder behauptet, dass Frankreich in Algerien gegen die Barbarei kämpft. Die Linke muss sich gegen diese Kampagne immun zeigen und das Ende des Krieges und die Anerkennung der Unabhängigkeit Algeriens fordern.
Wie wir gesehen haben, ist es vorgekommen, dass gewisse Demokraten auf die folgende Argumentation zurückgriffen: Wenn Sie möchten, dass unsere Hilfe weitergeht, verurteilen Sie diese und jene Taten. Der Kampf eines Volkes um seine Unabhängigkeit muss also transparent sein, wenn es die Unterstützung der Demokraten genießen will.
Hier kann man paradoxerweise die Haltung von Herrn Guy Mollet erkennen, der, um seinen Krieg fortsetzen zu können, eine Schutzkommission ernennt, mit der Aufgabe, auf „Exzesse“ aufmerksam zu machen, um damit die schlechten Soldaten auf spektakuläre Weise von der guten, wahren und fruchtbaren französischen Armee zu isolieren.
Die Aufgaben der französischen Linken
Die FLN wendet sich an die gesamte französische Linke und fordert sie auf, sich in diesem vierten Jahr konkret im Kampf für den Frieden in Algerien zu engagieren.
Es kann zu keinem Zeitpunkt die Rede davon sein, dass französische Demokraten sich uns anschließen oder ihr Land verraten. Ohne ihre Nation aufzugeben, muss die französische Linke dafür kämpfen, dass die Regierung ihres Landes die Werte respektiert, die wir das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, die Anerkennung des nationalen Willens, die Liquidierung des Kolonialismus und gegenseitige und bereichernde Beziehungen zwischen freien Völkern nennen.
Die FLN wendet sich an die französische Linke und an die französischen Demokraten und fordert sie auf, jeden Streik der französischen Bevölkerung gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, neue Steuern und die Einschränkung der demokratischen Freiheiten in Frankreich zu unterstützen, die allesamt direkte Folgen des Algerienkriegs sind.
Die FLN fordert die französische Linke auf, ihre Informationskampagnen zu intensivieren und den französischen Massen weiterhin die Charakteristika des Kampfes des algerischen Volkes, die ihm zugrunde liegenden Prinzipien und die Ziele der Revolution zu erklären.
Die FLN zollt den Franzosen ihren Respekt, die den Mut hatten, sich zu weigern, gegen das algerische Volk zu den Waffen zu greifen und die nun im Gefängnis sitzen.
Diese Beispiele müssen vermehrt werden, damit allen und vor allem der französischen Regierung klar wird, dass das französische Volk diesen Krieg ablehnt, der in seinem Namen gegen das Recht der Völker, zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung und gegen die Herrschaft der Freiheit geführt wird.
[1] Eine – leider in Teilen fehlerhafte und sogar unkenntlicherweise gekürzte – deutsche Übersetzung findet sich in dem Sammelband Für eine afrikanische Revolution, der 28 Aufsätze von Fanon enthält. Er erschien 1972 erstmals in der BRD und wurde 2022 vom März-Verlag dankenswerter Weise neu aufgelegt.
[2] Marcel-Edmond Naegelen war ein sozialdemokratischer Politiker, der während seiner Amtszeit als Generalgouverneur Algeriens für massive Wahlfälschungen verantwortlich war.
[3] 1955 fand in der indonesischen Hauptstadt Bandung eine afro-asiatische Konferenz statt, die als Geburtsstunde der Bewegung der Blockfreien Staaten gilt.
[4] Gestalt aus der griechischen Mythologie, die dazu verdammt ist, Unheil korrekt vorherzusagen, während ihr aber niemand glaubt.
[5] Sozialdemokratischer Ministerpräsident Frankreichs 1956/57 und Chef der Sozialistischen Partei von 1946 bis 1969.
[6] Liberaler Ministerpräsident Frankreichs 1957.
[7] Jacques Massu war französischer General und führte die französischen Kolonialtruppen u. a. in der Schlacht um Algier, wobei er zu flächendeckendem Terror und zu Folter griff. Zuvor hatte er bereits als Befehlshaber gegen die nationale Befreiungsbewegung in Vietnam gekämpft und war an der Dreier-Aggression, gemeinsam mit Großbritannien und Israel, gegen Ägypten beteiligt.
[8] Henri Borgeaud war ein französischer Siedler, Kolonialpolitiker und galt als einer der reichsten Großgrundbesitzer Algeriens.
[9] Gegend etwa 50 Kilometer südöstlich von Algier.
[10] Straße im französischen Viertel von Algier, in der während der Schlacht um Algier u. a. ein Café in die Luft gesprengt wurde.
[11] Nationale Befreiungsfront Algeriens.
[12] Robert Lacoste war Sozialdemokrat und 1956-58 als Algerienminister für die Bekämpfung der algerischen Befreiungsbewegung zuständig, wobei er eine Strategie von Zuckerbrot (Reformen) und Peitsche (Terror) verfolgte.
[13] In den algerischen und später auch den französischen Städten verfolgte die FLN eine Strategie der Stadtguerilla, was Attentate gegen Behörden und Politiker, Bushaltestellen, Cafés, Kinos usw. einschloss.
[14] Ab 1848 war Algerien offiziell Teil des französischen Mutterlands, und keine Kolonie mehr.
[15] Alain de Sérigny war der Herausgeber des L’Echo d’Alger, der größten Tageszeitung im kolonialen Algerien und strikter Verteidiger der französischen Kolonialherrschaft.
[16] Georges Blachette war Papiermonopolist, Politiker und Eigentümer des Journal d’Alger.
[17] Hans Speidel war im Ersten Weltkrieg Leutnant der Reichswehr, im Zweiten Weltkrieg Chef des Stabes der Heeresgruppe B der faschistischen Wehrmacht und als Bundeswehr-General 1957-63 zugleich Oberbefehlshaber der NATO-Landstreitkräfte in Mitteleuropa.
[18] Raoul Salan war 1952-53 Oberbefehlshaber der französischen Truppen im Krieg gegen Indochina und 1956-58 Oberbefehlshaber im Algerienkrieg.
[19] Hochrangiges Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) und 1946-58 Abgeordneter der KPF in französischen Parlament.
[20] Gemeint sind die Nichtpaktgebundenen Staaten.
[21] Der Begriff spiel auf den Klassenkampf an. Hier sind wohl aber nicht sozialökonomische Klassen gemeint, zumal Fanon über das Verständnis von Nicht-Kommunisten spricht, sondern durch politische und rechtliche Diskriminierung und Privilegierung festgeschrieben Gesellschaftsgruppen.
[22] Neokoloniales Projekt des französischen Imperialismus, um seine ehemaligen Kolonien an sich zu binden.
[23] Volksrepublikanische Bewegung, christlich-konservative Partei in Frankreich.
[24] Christian Pineau war sozialdemokratischer Politiker und 1956-58 Außenminister Frankreichs.
[25] Walisischer Politiker und Mitglied der britischen Labor-Partei.
[26] Französische Sozialistische Partei, sozialdemokratische Partei in Frankreich.