English
русский
عربي

Deutschland raus aus der NATO?

Wir veröffentlichen hier das Skript eines Referats, das auf der XIV. Konferenz „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ vom 18. bis 21. Mai 2023 in Berlin gehalten wurde. Es behandelt die Frage, ob die Losung „Deutschland raus aus der NATO“ tauglich für eine Orientierung der Kämpfe der Arbeiterklasse in Deutschland ist.

Wir bedanken uns bei den Referenten und Organisatoren für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Auf ihrer Website sind viele weitere Beiträge zur Konferenz in Audio-, Video- und Textform dokumentiert. Der Text liegt hier in der Originalfassung vor, wurde also weder orthographisch noch anderweitig überarbeitet.

Das folgende Referat wurde gehalten von Max, Mitglied unserer Organisation, der KO.

Einleitung

Ich wurde angefragt zu der Losung „Deutschland raus aus der NATO“ zu sprechen. Mir ist die Vorbereitung darauf nicht leichtgefallen. Das liegt unter anderem daran, dass die Kommunistische Organisation hierzu bislang keine entwickelte Debatte als Grundlage geführt hat und auch daran, dass sehr unterschiedliche Ebenen angesprochen werden, wenn nach der Tauglichkeit, dass heißt dem Nutzen bzw. Schaden einer solchen Losung für die Arbeiterbewegung gefragt wird.

Die KO verwendet diese Losung immer wieder in Stellungnahmen, wie viele Organisationen in der Friedensbewegung, wie auch die DKP, in denen oftmals neben dem Austritt Deutschlands aus der NATO ebenfalls gefordert wird: „NATO raus aus Deutschland“. Aber welche Rolle spielt die Losung? In meinen Augen rangiert die Forderung auf dem Niveau einer Tageskampflosung und hat weniger die Qualität einer strategischen Kampforientierung. Zumindest, das kann ich für die KO sagen, gäbe es hierzu keine ausreichend ausgereifte Debatte darum, abgesehen davon, dass ganz grundsätzlich gesprochen, der Mangel an einer begründeten Strategie und Taktik für den Klassenkampf, zentrale zu leistende Aufgabe der Bewegung ist. Ob diese spezielle Losung dazu geeignet wäre den Klassenkampf zu entwickeln, dazu kann diese Diskussionsrunde hoffentlich einen Beitrag leisten. Eine umfassende Diskussion und Klärung um die notwendige Strategie für unseren Kampf um den Sozialismus in Deutschland steht aus.

Abgesehen von Richtigkeit einer solchen Losung auf Basis der Bewertung der Rolle und Entwicklung der NATO und des deutschen Imperialismus, fragt eine Beurteilung ebendieser Forderung auch nach dem Bewusstseinsstand der Arbeiterklasse und  -bewegung. Inwiefern ist eine Losung konkret dazu geeignet an einem vorhandenen Bewusstseinsstand der Arbeiterklasse anzuknüpfen und diesen zu leiten und voranzubringen? Man könnte und müsste sich also für eine umfassende Beantwortung der Frage von verschiedenen Seiten annähern. Interessant wäre auch die Parallele zu Forderungen eines Austritts aus der EU, zudem es außerdem einen großen Debattenfundus linker und kommunistischer Kräfte aus Großbritannien gibt, den man besprechen könnte. Ich will mich mit meinen kurzen Ausführungen allerdings darauf konzentrieren ein paar Gedanken zur Rolle der NATO und dem Kampf gegen sie für die deutsche Arbeiterklasse zu sagen.

Überblick über die Debatte

Zunächst allerdings zum Stand der Debatte, wie ich sie kenne. Gegner der Losung argumentieren wohl, grob gesprochen und zugespitzt: Die Forderung lenke ab vom aggressiven Weltmachtstreben des deutschen Imperialismus, der auf Grund seiner historisch gewachsenen Umstände von besonderer Aggressivität gezeichnet ist. Das deutsche Monopolkapital drängt zur Weltmacht und wird dafür früher oder später auch seine Haltung zum US-Imperialismus und zur NATO anpassen. Die Forderung aufzustellen, bedeutete letztlich (mindestens die Gefahr) auf dem Standpunkt von Teilen (einer Fraktion?) des deutschen Finanzkapitals landen, die verstärkt nach Autonomie drängen, und die EU zum eigenständigen militärischen Instrument entwickeln wollen. Es ist eine Position gegen den US-Imperialismus, nicht aber gegen das deutsche Finanzkapital. De facto würden die USA zum Hauptfeind erklärt werden.

Das Lager derjenigen „Linken“ und Antimilitaristen, die die Losung nutzen und für gut befinden ist breiter und daher schwieriger zu bestimmen. Ein Teil würde wohl in etwa argumentieren: Die NATO ist das größte und gefährlichste Militärbündnis der Welt. Die Bedrohung der Völker und Arbeiterklasse weltweit durch die NATO muss bekämpft werden. Ein Schlag zur Schwächung der NATO ist ein Sieg der fortschrittlichen Kräfte. Mit der Beteiligung Deutschlands in der NATO ist die BRD Teil der gewalttätigen Politik und wird zugleich zum Angriffsziel für Kriege. Es ist im Interesse der deutschen Arbeiterklasse, dass Deutschland aus der NATO austritt, sie schwächt und der aggressive Handlungsspielraum der BRD eingeengt wird.

Anders argumentieren sicherlich „souveränistische“ Vertreter der Sozialdemokratie, wobei Oskar Lafontaine wohl zu ihren prominentesten Köpfen gehört. In seinem 2022 erschienenen Buch „Ami, it’s time to go! – Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“ argumentiert er:

„Für all das (gemeint ist die Kriegspolitik der USA gegen Russland und China, MR) brauchen die USA Vasallen, die ihre aggressive Außenpolitik mittragen. Zu den treuesten Vasallen gehören die Europäer, allen voran Deutschland. Deswegen haben wir die Lage, in die wir jetzt geraten sind. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Wir müssen uns aus dieser Situation befreien. Wir können nicht eine Politik unterstützen, in der ein Staat sagt: »Ich muss alle anderen Staaten kleinhalten und muss sie durch Handelskriege schwächen, muss sie in ein militärisches Wettrüsten verwickeln oder Krieg gegen sie führen.« Dieses Bestreben der USA, die einzige Weltmacht zu sein und keinen ernsthaften Rivalen aufkommen zu lassen, bestimmt die weltpolitische Lage.“[1]

Bis zu einem gewissen Grad spiegelt die Position Lafontaines die Wirklichkeit wider, in dem er die auf die Wolfowitz-Doktrin der USA basierende Position zur alleinigen Weltmacht, beschreibt. Auf Basis dieser richtigen Anteile, die man nicht ausblenden sollte, zieht er in der Tat bereits den nicht mehr groß versteckten Schluss, Deutschland selbst müsse Großmacht werden, um gegen die aggressive Politik der USA opponieren zu können.

Nur für den Hintergrund, ein kleiner Bezug zur Linkspartei: Hier hatte sich der rechte Flügel 2011 in der Programmdiskussion durchgesetzt, in dem nunmehr die „Auflösung der NATO“ gefordert wird, weil sie nicht bereit waren die Position „Austritt aus der NATO“ zu akzeptieren. Gysi argumentierte diesen Schritt gegenüber dem US-Botschafter Philip Murphy 2009 bereits als einen taktischen Zug, um die Haltung zur NATO schwammig zu belassen. Es sei nötig gewesen, um eine radikalere Forderung zu unterbinden.[2] Nico Popp kommentiert die nun u.a. von Kipping gefordert Neubewertung der NATO in der jungen Welt am 28. März 2023 so:

„Kipping kündigt die 2011 ins Erfurter Programm aufgenommene Kompromissformel nun von rechts auf. Das ist nur konsequent: In einer Partei, in der diejenigen, die den Austritt aus der NATO fordern, so oder so keinerlei Rolle mehr spielen, können auch die alten Kompromisse zu den Akten gelegt werden. Dass Kipping keinerlei Ordnungsrufe vom Parteivorstand zu erwarten hat, ist selbstverständlich.“[3]

Entscheidend für die Bewertung der Losung ist das Verhältnis USA-Deutschland und die Rolle der NATO in diesem Verhältnis. Für diese Diskussionsrunde hier ist wohl die Frage, welche Bedeutung der Kampf gegen den US-Imperialismus für die deutsche Arbeiterklasse spielt, von besonderer Bedeutung. In dem 2012, im Buch „Neues vom Hauptfeind“, veröffentlichen Artikel „Entwicklung der deutschen Bourgeoisie seit dem Bauernkrieg“ kritisiert Erika die zu stark gegen die USA ausgerichtete Friedensbewegung der 80er Jahre, die sich gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung der Pershing II Raketen gewendet hat: 

„Ein deutscher Nationalismus wuchs fast unmerklich bei Massen heran, die vorher für ausgesprochen reaktionäre Bestrebungen nicht in Frage gekommen waren. Riesige Kundgebungen „für den Frieden“ klagten die USA und die Sowjetunion an und deckten den Hauptfeind im eigenen Land, der ungestört mit seinen „deutsch-deutschen Beziehungen“ an der Destabilisierung der DDR arbeiten konnte.“[4]

Ich denke, dass der Ablehnung der Losung „Deutschland raus aus der NATO“ eine ähnlich vermutete Gefahr für die Friedensbewegung dieser Tage zugrunde liegt. Hier wird die Kontroverse evtl. am deutlichsten. Sind die jährlich durchgeführten Blockaden der DKP vor der Militärbasis in Büchel, in der US-Nuklearwaffen als NATO-Kapazität liegen schlecht, weil sie von der eigentlichen Gefahr des deutschen Imperialismus ablenken? Muss denn der Kampf gegen die Aktivitäten der US-geführten NATO einem zugleich zum Parteigänger des deutschen Imperialismus machen? Geht es denn nicht das eine mit dem anderen zu verbinden?

Meine These zur Bewertung der Losung:

  • Die Haltung zu der Losung ist abhängig von der Analyse und Bewertung der konkreten Situation, es gibt keine generelle/allgemeine Position zu der Frage.
  • Gegenwärtig ist das deutsche Monopolkapital auf die NATO angewiesen.
    • Sie ist ein wichtiges Instrument für die Entwicklung des deutschen Imperialismus und zugleich ein Mittel des Imperialismus zur Unterdrückung der Völker und weltweiten Arbeiterklasse.
  • Die NATO zu bekämpfen, dieses Instrument zu schwächen und zu zerschlagen ist im grundsätzlichen Interesse der Arbeiterklasse in Deutschland und international.
  • Der Kampf gegen die NATO kann geführt werden, ohne Illusionen in den deutschen Imperialismus zu verbreiten und ohne in das Fahrwasser einer „souveränistischen“ Strategie des deutschen Finanzkapitals zu geraten.

Die Rolle der NATO, ihre Bedeutung für den deutschen Imperialismus

Einer Untersuchung der Rolle und Bedeutung der NATO für den deutschen Imperialismus möchte ich ein etwas längeres Zitat aus dem siebten Band der „Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung“ voranstellen. Bezogen wird sich auf die 50er Jahre, die Wiederbewaffnung und den NATO-Eintritt der BRD:

„In dem Maße, wie der westdeutsche Imperialismus ökonomisch und politisch erstarkte, traten seine alten expansionistischen und revanchistischen Ziele und Forderungen mehr und mehr in den Vordergrund. […] Wie seit Beginn seiner Existenz ist für den deutschen Imperialismus ein äußerst hohes Maß an Aggressivität charakteristisch. Diese besondere Aggressivität wird erstens durch die historische Situation bestimmt, die sich nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte. Der deutsche Imperialismus konnte nur wiedererstehen, indem er die staatliche Einheit Deutschlands zerstörte und Westdeutschland im Bunde mit dem amerikanischen Imperialismus in den Hauptstoßkeil der NATO gegen das sozialistische Lager verwandelte. […] Internationale Spannungen bildeten sein Lebenselixier, während jeder Schritt zur Entspannung seine Position untergrub. […]

Ein zweiter Faktor, der die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus bestimmt, ist das Wiederaufleben des alten Widerspruchs zwischen seiner ökonomischen Stärke und seinem politischen Einfluß in der Welt. […] [Dieser] Widerspruch […] bildete die Grundlage für seine Bestrebungen, die Vorherschafft in Westeuropa, besonders in den internationalen staatsmonopolistischen Organisationen, zu erobern und für seine aggressive neokolonialistische Politik auszunutzen.

Drittens wurzelt die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus in dem Widerspruch zwischen seinen weitgespannten expansionistischen Zielen und den vorhandenen ökonomischen, politischen und militärischen Mitteln. Diesen Widerspruch versuchen die aggressivsten Kreise des deutschen Imperialismus durch besonders abenteuerliche Methoden der Kriegsvorbereitung und Kriegsführung zu überwinden.“[5] (Hervorhebung durch MR)

Das Zitat gibt einen guten Einstieg für unsere Überlegungen. Die Kontinuität der Aggressivität des deutschen Imperialismus wird begründet u.a. mit dem bekannten Diktum, in den Worten von Strauß: „Wirtschaftlicher Riese – Politischer Zwerg“, die konkrete historische Situation wird herangezogen, um das Maß der Aggressivität für eine gegenwärtige Phase zu bestimmen. Bündnis mit und gewisse Unterordnung unter die US-geführte NATO wird aus dem Interesse des deutschen Finanzkapitals selbst erklärt. Interessant sind die Bemerkungen dazu, dass internationale Spannungen als Lebenselixier des deutschen Imperialismus beschrieben werden und die fehlenden wirtschaftlichen, politischen und militärische Mittel mit besonderer Aggressivität kompensiert würden.

Seitdem hat sich die Ausgangslage des deutschen Monopolkapitals stark verändert. Die Entwicklung ist bekannt, deshalb nur stichpunktartig und sehr grob: Mit der Konterrevolution, Einverleibung der DDR und EU-Osterweiterung; Vertiefte EU-Integration mit Maastricht und Lissabon; Deutschland geht aus der Krise von 2008 gestärkt als deutlicher Hegemon Europas hervor. Zusammen mit einer Russland-Politik, die eine Gleichzeitigkeit von aggressiver Zurückdrängung des Konkurrenten in Osteuropa und vertraglicher Integration insbesondere im Energiebereich bedeutete, setzte der deutsche Imperialismus erfolgreich seine langgehegten strategischen Expansionszielen und die Vorherrschaft über einen vereinigten europäischen Wirtschaftsraum durch. Der weitere Weg wird von Scholz in seiner Rede an der Karls-Universität letztes Jahr bereits vorgezeichnet[6]: Weitere EU-Osterweiterung mit dem West-Balkan, der Ukraine, Moldau und perspektivisch Georgien; Ersetzung des Konsens- durch Mehrheitsprinzip im Rat der EU, und weiteres mehr. Uns ist die neugewählte Akzentuierung als „aktive Gestaltungsmacht“ noch im Ohr, dass das Weißbuch der Bundeswehr von 2016 formulierte.[7] Das konzentrierte Eigentum der deutschen Finanzoligarchie impliziert mit Notwendigkeit die Großmachtambitionen des deutschen Imperialismus.

Unübersehbar auch die Rückschläge und Widersprüche zwischen dem USA-Imperialismus und der BRD, die uns die Sprengung von Nord-Stream-II wohl am deutlichsten vor Augen führt. In einem kürzlich, im April 2023, veröffentlichten Strategiepapier des „European Council On Foreign Relations“ (ECOR) unter dem Titel „Die Kunst der Vasallisierung: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die transatlantischen Beziehungen verändert hat“, wird behauptet, dass ebendiese Beziehungen auf das Niveau des Kalten Krieges zurückgeworfen worden wären. Materielle Grundlage dafür bildet laut Autoren, die wachsende Kluft in wirtschaftlicher Stärke, zugunsten der USA:

„Der Fokus auf den Niedergang Amerikas im Vergleich zu China und die jüngsten innenpolitischen Umwälzungen in den USA haben einen wichtigen Trend im transatlantischen Bündnis der letzten 15 Jahre verdeckt. Seit der Finanzkrise 2008 sind die USA im Vergleich zu ihren europäischen Verbündeten immer mächtiger geworden. Die transatlantischen Beziehungen sind nicht ausgewogener geworden, sondern werden immer mehr von den USA dominiert. Die mangelnde Handlungsfähigkeit der Europäer in der Russland-Ukraine-Krise ist auf dieses wachsende Machtungleichgewicht im westlichen Bündnis zurückzuführen. Unter der Regierung Biden sind die USA immer mehr bereit, diesen wachsenden Einfluss geltend zu machen.“[8]

Umso lauter werden die, bereits seit der Trump-Administration deutlicher vernehmbaren, Stimmen einer strategischen Autonomie Europas. Wobei sich die führenden Vertreter des deutschen Finanzkapitals dabei einig zu sein scheinen: Ohne die USA und die NATO geht es nicht, zumindest noch nicht. Angedacht ist eine strategische Autonomie an der Seite und als Teil der NATO, mit der längerfristigen Option auf völlige Eigenständigkeit.

Das eben erwähnte Papier von ECOR schlägt sechs Entwicklungsziele für eine strategische Autonomie der EU vor:

  • Aufbau einer unabhängigen Kapazität zur Unterstützung der Ukraine in einem langen Krieg.
  • Verstärkte Entsendung westeuropäischer Streitkräfte in den Osten, die in einigen Fällen die US-Streitkräfte ersetzen könnten.
  • Stärkung der europäischen militärischen Fähigkeiten und der Fähigkeit zu eigenständigem Handeln sowohl innerhalb als auch außerhalb der NATO.
  • Die Bildung einer geoökonomischen NATO zwischen USA, EU und dem Vereinigten Königreich. (Wirtschafts-NATO)
  • Schaffung einer besonderen Verteidigungspartnerschaft zwischen der EU und Großbritannien.

Diese Ziele, so die Autoren des Papiers, „sind in keiner Weise ein Versuch, die Europäer von ihrem amerikanischen Verbündeten abzukoppeln. Sie zielen vielmehr darauf ab, einen fähigeren und verantwortungsvolleren europäischen Partner zu schaffen, der die USA in ihren kommenden Kämpfen wollen und brauchen werden.“[9]

Olaf Scholz bringt sein Verständnis der strategischen Autonomie in seiner Rede vom 9. Mai 2023 so auf den Punkt:

„Die Vereinigten Staaten bleiben Europas wichtigster Verbündeter. Und dabei gilt: In dem Maße, in dem wir nun mehr in unsere Sicherheit und Verteidigung investieren, in zivile Resilienz, in technologische Souveränität, in zuverlässige Lieferketten, in unsere Unabhängigkeit bei kritischen Rohstoffen, in diesem Maße sind wir unseren transatlantischen Freunden bessere Verbündete.“[10]

Den gleichen Ton trifft auch ein im März 2022 verabschiedeter „Strategischer Kompass“ des EU-Gipfeltreffens, den Jürgen Wagner so zusammenfasst:

„Die NATO spielt in ihm (dem strategischen Kompass, MR) weiter die erste Geige, gleichzeitig werden politisch, operativ und industriell die Voraussetzungen für eine deutlich größere Eigenständigkeit geschaffen, um im Falle schwerer Konflikte in eine Vollautonomie übergehen zu können.“

Und weiter:

„Sollten die USA aber den europäischen Begehrlichkeiten nach einer deutlich gleichberechtigteren Partnerschaft „auf Augenhöhe“ auf Dauer eine Absage erteilen, mag sich das auch ändern – und der Strategische Kompass legt wesentliche Grundlagen dafür, dass dies dann auch möglich wäre.“[11]

In Frankreich wird die strategische Autonomie traditionell offensiver formuliert als in Deutschland. Töne für einen Austritt aus der NATO sind aber auch hier von den Eliten, abgesehen vom Lager um Le Pen, nicht zu vernehmen, ist Frankreich doch auch erst seit 2009, unter Sarkozy wieder voll in die NATO-Strukturen integriert worden. In Deutschland sind selbst aus den Reihen der AfD die Vertreter für einen NATO-Austritt um Björn Höcke von der Parteiführung 2016 gebremst worden und auch zuletzt bezieht sich Gauland im Bundestag positiv auf die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die NATO, wenngleich er die Hoffnung damit verknüpft, den europäischen Einfluss gegen die USA zu stärken.

Souveränistische Positionen, wie sie wohl mit am prominentesten von Oskar Lafontaine vertreten werden, finden innerhalb der führenden Kreise der politischen Vertreter des Finanzkapitals und ihren Denkfabriken keinen vernehmbaren Widerhall. „Deutschland raus aus der NATO“ wird gegenwärtig von den Sachverwaltern des deutschen Finanzkapitals nicht vertreten. Sie brauchen die NATO zur eigenen Entwicklung, noch. Und Deutschland nutzt die NATO geschickt zu ebendieser Stärkung der Eigenständigkeit, wie das hohe Maß an Führungsrolle in der Ostsee und im Baltikum zeigen.[12]

Die NATO bildet einen Block gegen Russland und China

Im Zuge des Krieges der NATO gegen Russland erlebt das Kriegsbündnis die von Stoltenberg und anderen anvisierte „Revitalisierung“, die von den Transatlantikern nach den durch Trump vertieften Bruchlinien erhofft wurde. Der NATO-Gipfel 2022 verabschiedete ein Strategiepapier, dass dasjenige von 2010 ablöst und sehr deutliche Parameter festlegt. Darin heißt es:

„Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum“

„Die erklärten Ambitionen der Volksrepublik China (VRC) und ihre Machtpolitik stellen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte in Frage.“

„Die NATO ist sich des Wertes einer stärkeren und leistungsfähigeren europäischen Verteidigung bewusst, die einen positiven Beitrag zur transatlantischen und globalen Sicherheit leistet und die die NATO ergänzt und mit ihr zusammenarbeitet. Initiativen zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben und zur Entwicklung kohärenter, sich gegenseitig verstärkender Fähigkeiten bei gleichzeitiger Vermeidung unnötiger Überschneidungen sind der Schlüssel zu unseren gemeinsamen Bemühungen, den euro-atlantischen Raum sicherer zu machen.“[13]

Von der Leyen unterstrich diese strategische Linie in ihrer „State of the Union-Rede“ im September 2022 nochmals:

„Die EU zielt im Machtkampf gegen Russland und China auf eine globale Blockbildung, strebt eine umfassende Ausdehnung des westlichen Blocks an und wird im Inneren gegen „trojanische Pferde“ auswärtiger Mächte vorgehen.“[14]

Der Feind wird umfassend, politisch, wirtschaftlich und militärisch bestimmt: Russland und China. Zugleich wird die Entwicklung, die bereits seit der Konterrevolution 1990 die strategische Orientierung der „neuen NATO“ leitet, fortgeführt: Weltweites und proaktives Agieren des Kriegsbündnisses. „Out of Area-“ und „Out of Defence-“ Einsätze wurden ab 1999 Bestandteil der NATO-Strategie. Das bedeutete, auch wenn kein Mitgliedsstaat angegriffen wurde und auch außerhalb des NATO-Gebietes wird das Kriegsbündnis aktiv werden. Und wurde es in Jugoslawien dann auch prompt. Diese weltweiten Ambitionen werden im aktuellen Strategiepapier nochmals unterstrichen. So ist es auch kein Wunder, dass am Gipfel der transatlantischen Allianz neben den NATO-Ländern auch Australien, Japan, Südkorea und Neuseeland teilgenommen haben. Die summierte militärische Kapazität wird unter Führung der USA, weltweit, aggressiv eingesetzt. Dafür erweitert die NATO sich in den asiatischen Raum, als ein Instrument. Die USA besitzen freilich weitere mit AUKUS und QUAD.

Schlussfolgerung

Ich fasse zusammen und spitze auf die Frage der Bewertung der Losung zu:

Wenngleich das Kriegsbündnis aus der Perspektive der USA seit seiner Gründung dem Ziel gegolten hat, Deutschland unten und Russland rauszuhalten, braucht der deutsche Imperialismus die NATO und nutzt die NATO für seine Großmachtbestrebungen. Es ist wohl nicht wahrscheinlich, angesichts der Kräfteverhältnisse in diesem Land, dass ein Austritt Deutschlands aus der NATO unter fortschrittlichen Vorzeichen geschieht. Wenn der deutsche Imperialismus aus der NATO austritt, dann wird das ziemlich sicher reaktionär oder im Kontext, gegenwärtig nicht absehbarer, wirklich revolutionärer Klassenkämpfe geschehen.

Von einem grundsätzlichen Potential oder der Möglichkeit einer Entwicklung aus, die Losungen für heute zu bestimmen, bedeutet allerdings, eben keine Losungen für heute zu geben. Als Parallele: Nur weil Russland potenziell in ebensolcher Art imperialistisch agieren möchte und wohlmöglich irgendwann könnte, wie es die alten Imperialisten tun, ist die Handlung der RF heute unter den konkreten Bedingungen und ihrem Verhältnis zu den führenden imperialistischen Ländern zu beurteilen und daraus Schlüsse zu ziehen für die Kampfrichtung und die Bestimmung des Hauptstoßes unserer Bewegung.

Der Kampf gegen die NATO ist in der gegenwärtigen weltpolitischen Konstellation wohl die entscheidendste Kampflinie für fortschrittliche Kräfte, international. Diesen Kampf abzuschwächen, weil man befürchtet, damit souveränistischen Teilen des deutsches Finanzkapitals in die Karten zu spielen ist gefährlich. Insgeheim meint vielleicht sogar der ein oder andere Gegner dieser Losung: „Besser, dass Deutschland in der NATO bleibt, so sind dem gefährlichen Raubtier Ketten angelegt.“ – Eine Kapitulationserklärung für den Klassenkampf heute, der Kampf gegen die NATO ist damit abgesagt, im Gegenteil rutscht man schnurstracks, auf Basis einer vermeintlichen Gegnerschaft zum deutschen Imperialismus, auf pro-NATO Linie. Zwar wurden dem deutschen Imperialismus durch die USA gewisse Grenzen, beispielsweise auf eine selbstständige nukleare Bewaffnung gesetzt, das „Einhegen“ oder „unten halten“ Deutschlands aus Sicht der USA ist allerdings widersprüchlich, geht es doch mit massiven Aufrüstungsforderungen einher. Es bleibt dabei: Aus der Perspektive unseres Hauptfeindes ist die NATO in erster Linie ein notwendiges Mittel für seine Großmachtbestrebungen. Wenn wir unsere Gegnerschaft zum deutschen Imperialismus ernstnehmen, dann bedeutet es, dass wir uns heute gegen diese Strategie der Bundesrepublik, also gegen die Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO stellen. Eine Anti-NATO Position als „Antiamerikanismus“ und Ablenkung von den Gefahren des deutschen Imperialismus abzutun wird der widersprüchlichen Beziehung nicht gerecht.

Es ist zudem unsere internationale Pflicht nicht nur die Kriegspolitik des deutschen Imperialismus, sondern auch diejenige, die von deutschem Boden aus vorbereitet und durchgeführt wird zu bekämpfen. US-Militärbasen und militärische Infrastruktur (Drohnenmorde aus Ramstein, Nuklearwaffen im Fliegerhorst Büchel, AFRICOM in Stuttgart, etc.) müssen von uns bekämpft werden.

Fragt man aus der Perspektive der Weltarbeiterklasse, so ist der Hauptfeind dasjenige Finanzkapital, welches an führender Stelle die Ausbeutung organisiert und seine Macht mit allen Mitteln der Diplomatie, der Finanzpolitik und des Militärs durchzusetzen sucht und auch durchsetzt. Das sind die USA. Sie tun dies in Allianz und gleichzeitiger Konkurrenz mit und zum deutschen Imperialismus. Für die deutsche Arbeiterklasse gilt es, den international zu richtenden Hauptstoß gegen die USA, mit dem Kampf gegen unseren Hauptfeind, den deutschen Imperialismus in Einheit zu bringen. Losungen gegen die NATO in Verbindung mit einer klaren Position gegen den deutschen Militarismus sind hierbei hilfreich und orientieren die Bewegung korrekt gegen unseren Gegner. Ändern sich die Beziehungen des deutschen Imperialismus und tritt der Gegensatz zu den USA in den Vordergrund, ändern sich auch unsere Kampflosungen. Es sind keine immerwährenden Positionen, sondern Reaktionen auf konkret befundene Entwicklungen und Verhältnisse. Eine klare Kontraposition gegen die NATO ist heute unabdinglich und möglich ohne Illusionen in die Zerbrechlichkeit und Zeitlichkeit der Kriegsallianz zu haben und ohne die Großmachtbestrebungen des deutschen Imperialismus aus den Augen zu verlieren.

Dabei sind die hier ausgeführten Gedanken und Zusammenhänge für ein umfassendes Verständnis der Strategie des deutschen Imperialismus und seinem Verhältnis zum USA-Imperialismus selbstverständlich unzureichend. Es wäre weiter und insbesondere auf Basis einer Betrachtung der ökonomischen Kapazität des deutschen Finanzkapitals, zu untersuchen welches Fundament die strategische Autonomie einer deutsch-geführten EU hat. Wie stehen die Chancen, dass die EU und Deutschland tatsächlich auf dem Gebiet der Rüstungsproduktion, der Digitalisierung, der Energiepolitik und anderer zentraler Industriezweige ggü. den USA und auch ggü. China aufschließt? Und welche Teile des Finanzkapitals sind es die eine solche Position vorantreiben? Was ist die Strategie des deutschen Imperialismus und wo liegen dafür die zentralen Hindernisse?

Eine genaue Erfassung dieser widersprüchlichen Bewegung, vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus, hat das Potential souveränistischen Positionen die unter falscher Flagge segeln, den Wind aus den Segeln zu nehmen.


[1] Lafontaine, Oska: „Ami, it’s time to go! – Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“, 2022, S.14

[2] https://www.jungewelt.de/artikel/447723.niedergang-der-linkspartei-gysi-rechts-überholt.html

[3] ebenda

[4] Neues vom Hauptfeind, 2012, S.34

[5] Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 7, S.287f.

[6] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/rede-von-bundeskanzler-scholz-an-der-karls-universitaet-am-29-august-2022-in-prag-2079534

[7] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/230569/zwischen-gestaltungsmacht-und-hegemoniefalle/

[8] https://ecfr.eu/publication/the-art-of-vassalisation-how-russias-war-on-ukraine-has-transformed-transatlantic-relations/

[9] ebenda

[10] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/rede-von-bundeskanzler-scholz-im-rahmen-der-diskussionsreihe-this-is-europe-im-europaeischen-parlament-am-9-mai-2023-in-strassburg-2189408

[11] https://www.imi-online.de/2022/06/10/ein-strategischer-kompass-fuer-europas-rueckkehr-zur-machtpolitik/

[12] Stellvertretend dafür steht „DEU MARFOR“ und Baltic Maritim Component (BMCC). Merle Weber schreibt im März 2023: „In Rostock untermauert Deutschland seinen militärischen Führungsanspruch in der Ostseeregion, stärkt seine Stellung innerhalb der NATO und baut gleichzeitig für Strategische Autonomie notwendige europäische militärische Führungsfähigkeiten auf.“ https://www.imi-online.de/2023/03/21/wieder-bereit-zu-fuehren/

[13] https://www.nato.int/strategic-concept/

[14] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9024

Aktuelles

Palästina und die DDR – Befreiungskampf als Staatsräson?

Während in der BRD die bedingungslose Unterstützung Israels als „Ersatz- Antifaschismus" spätestens ab 1952 zunehmend zur „Staatsräson" wurde, erkannten sich die DDR und Israel bis zur Konterrevolution 1989/90 nicht gegenseitig an. Stattdessen wurde die DDR zu einem wichtigen Alliierten der palästinensischen Befreiungsbewegung.

Interview: „The crisis in Germany“

Two of our comrades were guests on the Marx, Engels, Lenin Institute podcast to discuss the current political and economic situation in Germany. Starting with the end of the ‘Ampel’ coalition government, and moving on to an assessment of the AfD and BSW and the development of the German economy, we talk about topics and issues that continue to cause controversy and raise questions within the left-wing and communist movement in Germany.