Die Klärung wird fortgeführt
Im Januar 2023 hatte sich ein Teil von der KO abgespalten. Gegenstand der Auseinandersetzung war unter anderem die Klärung der Kriegs- und Imperialismusfrage und wie sie umgesetzt werden soll. Wir haben beschlossen, weiter an der Beantwortung der Fragen unserer vierten Vollversammlung zu arbeiten, weil wir sie weiterhin für sehr wichtig halten und denken, dass sie Teil der Auseinandersetzung in der Internationalen Kommunistischen Bewegung sind und von großem Interesse für die Arbeiterbewegung insgesamt. Dabei handelt es sich um folgende Fragen:
„Wie ist der Militäreinsatz bzw. der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, der am 24.02.22 begonnen wurde, einzuschätzen? Ist er ein imperialistischer Angriff? Ist der Krieg imperialistisch, weil Russland ein imperialistisches Land ist? Ist der Krieg eine Verteidigungsmaßnahme?“ (Zitat aus Beschluss)
Spätestens nach dem Kommunismus-Kongress im September 2022 war klar, dass es große inhaltliche Differenzen in der Organisation gab. Wir hatten beschlossen, den Dissens in der Organisation systematisch zu erfassen und in einem organisierten, kollektiven und wissenschaftlichen Prozess zu bearbeiten. Jeder Genosse verfasste darauf einen schriftlichen Aufschlag, in dem die Fragen zur Einschätzung des Kriegs als erster Schritt von jedem selbst beantwortet werden sollten. Unterbrochen wurde diese Arbeit von dem zersetzenden Fraktionierungsprozess der Spalter, in dem ein Teil der Organisation der gemeinsamen Klärung eine Absage erteilte.
In der Auswertung dieser Aufschläge wurden in der Organisation nun zentrale Argumentationen identifiziert, die sich allesamt an der Frage der Verteidigung und in diesem Zusammenhang am Charakter des Krieges scheiden. Diese inhaltliche Spaltung spiegelt die Spaltung in der internationalen Kommunistischen Bewegung wider und war daher kein Zufall, auch weil wir uns in den Monaten zuvor intensiv mit den verschiedenen Positionen und Analysen befasst hatten.
Welche Argumentationen stehen sich gegenüber?
Unter den Argumentationen, die die Militäroperation (MOP) als Verteidigungsmaßnahme Russlands einschätzen gibt es folgende zentrale und im folgenden vereinfachte Argumentationsstränge:
a) Die MOP sei eine Verteidigung Russlands gegen die NATO-Aggression. Es wird davon ausgegangen, dass die Ruinierung Russlands, ggf. sogar die territoriale Zerstückelung das lang angelegte Ziel der NATO sei. Zu diesem Ziel wurde die Ukraine spätetens seit dem faschistischen Putsch 2014 als Rammbock aufgebaut. Es wird auch teilweise davon ausgegangen, dass ein unmittelbarer Angriff seitens der Ukraine auf die Volksrepubliken im Frühjahr 2022 mit Unterstützung der NATO kurz bevor stand. Dieser stand im Zusammenhang mit militärischen Plänen zur Rückeroberung der Krim und Manövern im Schwarzen Meer, die eine weitere Eskalation bewirkt hätten. Der eigentliche Kriegsbeginn sei die ukrainische Intervention in der Ostukraine 2014. Die MOP hat also den Charakter einer Offensiv-Verteidigung.
b) Zwischenimperialistischer Krieg zwischen den USA und der BRD/EU, der auf Kosten Russlands (und der Ukraine) ausgetragen werde, so lautet die Diagnose eines zweiten Argumentationsstrangs. Im Kern geht es hier um die These, dass den USA die wirtschaftliche Zusammenarbeit insbesondere zwischen Deutschland und Russland lange ein Dorn im Auge gewesen sei, der deutsche Imperialismus insgesamt aber auch in seine Schranken gewiesen werden solle. Durch den Krieg in der Ukraine (und nicht zuletzt mit der Sprengung von NordStream) werde das wirtschaftliche Verhältnis zwischen den Ländern stark beschädigt. Außerdem sei Deutschland militärisch gebunden und werde an seinen untergeordneten Platz in der NATO verwiesen. Es ist klar, dass dieser Argumentationsstrang nicht der Argumentation von a) widerspricht.
Die Argumentationen, die sich gegen die Verteidigungsthese wenden, sind im folgenden ebenfalls kurz dargestellt. Es sind Argumentationen, die vor allem von denjenigen vertreten wurden, die sich Ende letzten Jahres von der KO abgespalten haben. Der Vollständigkeit halber und weil sie Gegenstand der Klärung sind, werden sie dennoch hier dargestellt:
a) Imperialistische „Verteidigung“ Russlands. In diesem Strang wird zwar von einer NATO-Aggression ausgegangen, jedoch sei diese Frage unerheblich, da der grundlegende Charakter des Krieges imperialistisch sei. Im Imperialismus, dem monopolkapitalistischen Stadium des Imperialismus, sei das Wesensmerkmal aller Kriege der Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Wer dabei aus einer stärkeren Position heraus agiere, sei für die grundsätzliche Einschätzung des Wesens eines Krieges nicht bestimmend. In allen Kriegen gehe es um imperialistische Einflussnahme auf wirtschaftlichem, geostrategischem und militärischem Gebiet. Eine Unterscheidung in Verteidigung oder Aggression entspräche der Logik kapitalistischer/imperialistischer Staaten, und nicht der Logik der Arbeiterklasse (siehe auch „Zwischenimperialistischer Krieg“).
b) Bei der MOP handele es sich um einen imperialistischen Angriff seitens Russlands zur Erweiterung seines Einflusses in der Ukraine, oder gar zur Unterwerfung der Ukraine. Der Ausbau insbesondere des wirtschaftlichen Zugriffs auf die Ukraine sei das Ziel des Krieges. So wolle sich der russische Imperialismus gegen seine westlichen Konkurrenten stärken.
c) Der Ukraine-Krieg sei ein zwischenimperialistischer Krieg zwischen der US-geführten NATO und der aufstrebenden imperialistischen Macht Russland. In einem imperialistischen Krieg sei die Frage, wer angefangen habe, nicht relevant für die Arbeiterklasse und die Kommunisten. Die Prämisse lautet hier, dass imperialistische Länder ausschließlich imperialistische Kriege führen können.
Argumentation a), b) und c) fußen allesamt auf der Annahme, dass Russland ein imperialistischer Staat sei. Dies wird mit der Vorannahme begründet, dass sich im entwickelten monopolistischen Stadium des Kapitalismus in fast allen Staaten Monopolkapital und eine Monopolbourgeoisie entwickelt habe. Die Unterschiede zwischen den Ländern seien deswegen nur noch quantitativer Natur. Russland bewege sich sogar unter den stärksten imperialistischen Ländern. Die These, dass nur eine Handvoll imperialistischer Staaten die Welt beherrsche, sei überholt.
d) Eine dritte Variante der „Keine Verteidigungsmaßnahme“-These geht davon aus, dass Russland zwar kein imperialistischer Staat, aber eine starke Regionalmacht sei. Das Kriegsziel Russlands sei dennoch die territoriale Expansion.
Die Auseinandersetzungen um diese Fragen sind nicht akademischer Natur. Es sind die zentralen Fragen, die momentan in der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung für Spaltung sorgen. Es sind die Fragen, deren Vermeidung zur Lähmung oder gar kompletten Auflösung der Friedensbewegung führen können. Eine klare Analyse von dem Charakter des Krieges zu erarbeiten und in die Friedensbewegung und an die Arbeiterklasse zu tragen, ist die Aufgabe von Kommunisten heute.
An der Einschätzung des Krieges hängt untrennbar die Frage nach der Taktik und den Kampflosungen der Arbeiterklasse. Klar ist zwar, dass keine Analyse „automatisch“ zu einer bestimmten Taktik- oder gar Strategiebestimmung führt. Dennoch macht es für die Arbeiterklasse einen Unterschied, ob die nationale Souveränität ihres Landes akut bedroht ist oder „ihre“ Bourgeoisie einen aggressiven Eroberungskrieg vom Zaun gebrochen hat. Die Arbeiterbewegung muss in jedem Fall alle Zusammenhänge, alle Verhältnisse und Widersprüche, alle relevanten Daten und Fakten kennen, damit sie richtig handeln kann. Dafür muss sie in einem Krieg die Frage beantworten können, ob es sich um eine Verteidigung handelt und ob darin gar progressives Potential im Kampf gegen den Imperialismus liegt.
Die Einschätzung des Krieges hängt auch an unserer Imperialismusanalyse. In der Diskussion in der KO haben wir festgestellt, dass unterschiedliche Interpretationen der leninschen Imperialismusanalyse verschiedene Schlussfolgerungen in Bezug auf den Krieg und insgesamt in Bezug auf den Charakter der internationalen Weltordnung nahelegen. Wie aber an den oben skizzierten Argumentationssträngen auch deutlich wurde, resultiert keine Analyse des imperialistischen Weltsystems automatisch in einer bestimmten Auffassung vom Krieg – auch wenn wir einen engen Zusammenhang zwischen beiden Fragenkomplexen festgestellt haben.
Es ist keine neue Feststellung, dass in weiten Teilen der kommunistischen Bewegung die Debatte um diese Fragen vermieden oder aber nur in einem heftigen Schlagabtausch geführt wird. Wir sind weiterhin der Überzeugung, dass eine wissenschaftliche und faktenbasierte Auseinandersetzung mit den Entstehungshintergründen des Krieges ein notwendiger Beitrag zur Bildung einer Front gegen die NATO und die Kriegspolitik des deutschen Imperialismus ist und eine wichtige Voraussetzung zur Orientierung der Arbeiterbewegung international darstellt.
Inhaltliche Arbeitsgruppen
In der nun begonnenen Phase der Klärung werden diese Thesen und die vorgebrachten Argumente auf ihre Kohärenz geprüft und in 13 Vertiefungsgruppen bearbeitet.
Die Themen sind nicht willkürlich gewählt, sondern setzen insbesondere an den Punkten in den Argumentationssträngen an, an denen wir Lücken oder direkten Dissens identifiziert haben. Dies soll kurz am folgenden Beispiel der zentralen Argumentationslinie der NATO-Aggression veranschaulicht werden:
Für diese Argumentation ist die Annahme eines unmittelbar bevorstehenden ukrainischen Angriffs auf die Volksrepubliken und in einem zweiten Schritt auf die Krim im Frühjahr 2022 durch direkte oder indirekte Beteiligung der NATO und/oder die Feststellung, dass mittelfristig die NATO einen offenen Krieg gegen die RF vorbereitet sehr zentral. So habe Russland den Krieg nicht gewollt und wurde von der NATO in diesen hinein gezwungen.
Das angreifende Gegenargument gegen diese Annahme lautet: „Es stand gar kein Angriff der NATO bevor“. Hier stehen sich nun Aussage gegen Aussage gegenüber.
Wie soll nun an die Beantwortung dieser Frage herangegangen werden?
Der Beantwortung der Frage nach der Forcierung des Krieges durch die NATO arbeiten nun mehreren Gruppen zu: Zum einen hat sich eine Gruppe gebildet, die sich die Indizien für einen geplanten ukrainischen Angriff im Frühjahr 2022 (beispielsweise das Dekret 117 der ukrainischen Regierung) und eine mögliche Unterstützung der NATO genauer anschaut. Eine zweite Gruppe wertet für einen größeren Zeitraum NATO-Strategien gegen Russland, Manöver und die Einbindung der Ukraine in der NATO aus und bringt diese in Zusammenhang mit der Frage nach der Kriegsgefahr. Auch andere Formen der nicht-militärischen Kriegsführung (Stichwort „Wirtschaftskrieg“) müssen mit einbezogen werden. Diese Gruppen sichten nun in einem ersten Schritt die Debatte, werten Quellen unterschiedlicher Art aus und prüfen auf dieser Grundlage die vorgebrachten Argumente.
Durch diesen Prozess der Identifzierung von zentralen Lücken oder gegeneinanderstehenden Argumenten und Annahmen haben wir Fragen erarbeitet, die in den folgenden thematisch gegliederten Gruppen bearbeitet werden sollen:
Charakter Russland
* Die Entwicklung des russischen Kapitalismus
* Die Rolle der nationalen russischen Bourgeoisie
* Russlands internationale Rolle
* Russische Kriegsführung
Ukraine
* Ukrainischer Faschismus
* Die Gefahr eines ukrainischen Angriffs vor dem 24. Februar
Der westliche Block
* NATO-Strategien gegen Russland
* Deutschlands Russland-Strategien
* US-Strategien gegenüber Deutschland
* Chinastrategien der USA im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg
Theoretische und historische Fundamente im Zusammenhang mit der Kriegs- und Imperialismusdiskussion
* Die nationale Frage & der Kampf um Souveränität in der Geschichte der kommunistischen Bewegung
* Lenins Imperialismusschrift im Spiegel der aktuellen Debatten
Die Gruppen erarbeiten in einem ersten Schritt den Dissens in der Bewegung, sichten den bestehenden Forschungsstand und entwickeln eine genauere Forschungsfrage, mit der dann weitergearbeitet wird.
Alle Forschungsfragen der Gruppen werden bald veröffentlicht, ebenso wie laufende Kurzberichte über den Stand der Arbeit in den Gruppen. Die Ergebnisse der Gruppen werden wir im Sommer in Form von Thesen öffentlich vorstellen. Auf dem Zweiten Kommunismuskongress im Oktober 2023 wollen wir außerdem die Ergebnisse der Gruppen in Form von Kolloquien gemeinsam mit der Bewegung diskutieren und qualifizieren.
Mitmachen & auf dem Laufenden bleiben
Bereits jetzt ist es möglich, sich an der Klärung der Fragen zu beteiligen. Sei es, weil ihr relevante Literatur kennt, einen eigenen inhaltlichen Beitrag leisten wollt oder auch direkt in einer der Vertiefungsgruppen mitarbeiten wollt. Schreibt uns in jedem Fall einfach eine Mail mit eurem Anliegen: info@kommunistische-organisation.de
In der Zukunft wird es in diesem Bereich auf unserer Website mehr Infos zu den einzelnen Vertiefungsgruppen geben.